Kapitel 2

Die Foracha, die Bark von Kapitän Ross aus Ros Ailithir, kam auf ihrer Reise entlang der Südküste des irischen Königreiches Muman flott voran. Ihre Segel blähten sich im eisigen Ostwind, der das Schiff fast zum Beidrehen zwang und der durch die Seile der Takelage pfiff, als spiele er auf dem straff gespannten Tauwerk wie auf den Saiten einer Harfe. Der Tag versprach sehr schön zu werden, abgesehen von den stürmischen Winden, die von der fernen Küste übers Meer heranbrausten. Ein Schwarm Seevögel umkreiste das kleine Schiff und peitschte mit den Flügeln gegen die Sturmböen an, um nicht weggeweht zu werden. Möwen stießen ihre seltsam traurigen Klageschreie aus. Kormorane, unempfindlich gegen die Kälte, stürzten sich in die Wellen und tauchten mit ihrer Beute wieder auf, ohne die eifersüchtigen Schreie der Möwen und Sturmschwalben zu beachten. Unter den Seevögeln befanden sich auch einige Exemplare der Spezies, nach der die Foracha benannt war - Lummen mit ihren dunkelbraunen Ober- und leuchtendweißen Unterseiten. In strenger Formation inspizierten sie das Schiff und drehten dann zu ihren dichtbevölkerten Kolonien an den steilen Hängen der Klippen ab.

Neben dem Steuermann an der Ruderpinne stand breitbeinig Ross, der Kapitän des Schiffes, und hielt sich mühelos im Gleichgewicht, während der Wind die Wellen gegen die kleine barc peitschte, die nach Steuerbord krängte und allmählich immer stärker ins Schlingern geriet, bis sie unausweichlich in die Katastrophe zu treiben schien. Doch dann hob sich ihr Bug jedes Mal über die Welle, sackte nach unten und richtete sie wieder nach Backbord auf. Trotz der schlingernden Bewegungen des Schiffes stand Ross freihändig da. Vierzig Jahre auf See hatten ihn gelehrt, jedes Stampfen und Rollen mit einer automatischen Verschiebung des Körpergewichts auszugleichen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. An Land reagierte Ross oft launisch und gereizt, auf dem Wasser dage-gen war er in seinem Element: er spürte selbst die kleinsten Stimmungsschwankungen des Meeres und wurde so zum lebenden Bestandteil seiner schnell dahinsegelnden barc. In seinen tiefgrünen Augen spiegelten sich die wechselhaften Launen der See, und ihr Blick ruhte anerkennend auf den sechs Männern seiner Besatzung, die unbeirrbar ihre Arbeit verrichteten.

Seinen hellen Augen entging nichts, weder unten im Wasser noch oben am Himmel. Einige der hoch über ihm flatternden Vögel bekam man im Winter nur selten zu sehen, und Ross führte ihre späte Anwesenheit auf das milde Herbstwetter zurück, das erst vor kurzem der winterlichen Kälte gewichen war.

Kapitän Ross war ein kleiner, untersetzter Mann mit leicht ergrautem, kurzgeschnittenem Haar, und der Seewind hatte seine Haut tief gebräunt. Er war ein mürrischer Mensch, der sogleich losbrüllte, wenn ihm etwas mißfiel.

Der hochgewachsene Steuermann neben ihm, dessen knotige Hände beinahe zärtlich auf der Ruderpinne lagen, kniff plötzlich die Augen zusammen und warf einen Blick zu Ross hinüber.

»Käpt’n ...«, begann er.

»Ich sehe es, Odar«, entgegnete Ross, bevor der andere auch nur ausreden konnte. »Ich habe es schon seit einer halben Stunde beobachtet.«

Odar, der Steuermann, schluckte und schaute seinen Kapitän überrascht an. Bei dem Gegenstand, über den sie sprachen, handelte es sich um ein hochseetüchtiges Schiff mit hohen Masten, das etwa eine Meile von der kleineren barc entfernt dahinsegelte. Es war schon seit geraumer Zeit in Sichtweite gewesen, doch erst vor wenigen Minuten war dem Steuermann aufgefallen, daß irgend etwas mit dem Schiff nicht stimmte: es fuhr mit vollen Segeln und ragte auffallend hoch aus dem Wasser heraus. Nicht viel Ballast an Bord, hatte er bei sich gedacht, doch das Merkwürdigste war, daß es scheinbar ziellos dahinfuhr und schon zwei Mal so plötzlich und unberechenbar den Kurs geändert hatte, daß Odar befürchtete, es werde gleich kentern. Ihm war auch nicht entgangen, daß das Topsegel nicht ordnungsgemäß befestigt war und beliebig in alle Richtungen schwenkte, so daß er sich entschloß, den Kapitän darauf aufmerksam zu machen.

Es war beileibe keine eitle Angeberei, wenn Ross behauptete, das Schiff schon seit einer halben Stunde beobachtet zu haben. Als er es bemerkte, war ihm fast augenblicklich klar gewesen, daß es entweder von unfähigen Seeleuten gesteuert wurde oder daß an Bord etwas nicht stimmte. Mit jedem neuen Windstoß blähten sich die Segel und fielen wieder in sich zusammen, ohne daß jemand den Kurs des Schiffes korrigierte.

»Wenn es weiter in diese Richtung fährt, Käpt’n«, brummte Odar, »wird es bald auf die Felsen auflaufen.«

Ross antwortete nicht, denn er war bereits zu dem gleichen Schluß gelangt. Er wußte, daß etwa eine Meile entfernt, halb vom Wasser bedeckt, schwarze Granitfelsen lagen, an denen die Gischt schäumend ablief, wenn die Wellen mit Donnertosen über ihnen zusammenschlugen. Unter Wasser waren die Granitsäu-len von einem Ring von Riffen umgeben, die ein Schiff mit geringem Tiefgang, wie seine barc, leicht passieren konnte, während das Hochseeschiff dort keine Chance hatte.

Ross seufzte leise.

»Haltet Euch klar zum Beidrehen, Odar«, knurrte er den Steuermann an und schrie dann seiner Mannschaft zu: »Alles klar zum Losmachen des Hauptsegels!«

Gewandt und präzise änderte die Foracha ihren Kurs, so daß sie vor dem Wind segelte und regelrecht über die Wellen flog. Sie raste auf das riesige Schiff zu, bis sie nur noch eine Taulänge entfernt war. Dann trat Ross vorn an die Reling und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund.

»Ahoi!« schrie er. »Ahoi!«

Von dem hoch aufragenden, dunklen Schiff kam keine Antwort.

Plötzlich, ohne Vorwarnung, drehte der Wind. Der hohe, dunkle Bug des Hochseeschiffes schwenkte genau in ihre Richtung, die Segel blähten sich, und es hielt auf sie zu wie ein rasendes Seeungeheuer.

Ross schrie dem Steuermann zu: »Hart nach Steuerbord!«

Mehr konnte er nicht tun, während er hilflos zusehen mußte, wie das größere Schiff unbarmherzig auf sie zukam.

Mit quälender Langsamkeit, gleichsam widerwillig, drehte der Bug der Foracha bei, und das Hochseeschiff krachte gegen die Steuerbordseite der Bark und scheuerte daran entlang, so daß sie sich schlingernd auf die Seite legte und schließlich im Kielwasser des vorbeifahrenden Schiffes schaukelte.

Ross stand vor Wut zitternd da und starrte dem Schiff hinterher. Der Wind hatte sich unversehens gelegt, die Segel des größeren Schiffes waren erschlafft, und es kam allmählich zum Stillstand.

»Möge der Käpt’n dieses Schiffes weder den Kukkuck noch den Wachtelkönig jemals wiedersehen! Möge die Seekatze ihn holen! Möge er brüllend sterben! Möge er in seinem Grab verfaulen!«

Die Flüche sprudelten nur so aus Ross hervor, als er wutentbrannt dastand und mit der Faust zu dem Schiff hinüber drohte.

»Einen Tod ohne Priester für ihn in einer Stadt ohne Geistlichen .«

»Kapitän!« Die Stimme, die seinen Redefluß unterbrach, war weiblich und ruhig, aber bestimmt. »Ich glaube, Gott hat vorläufig genug Flüche gehört und weiß, daß Ihr aufgebracht seid. Was ist der Grund für Euer Fluchen?«

Ross wirbelte herum. Er hatte vollkommen vergessen, daß unten in der Hauptkajüte der Foracha eine Mitreisende untergebracht war.

Nun stand auf dem Achterdeck neben Odar, dem Steuermann, eine hochgewachsene Nonne und betrachtete ihn mit mißbilligendem Stirnrunzeln. Die junge Frau war groß und wohlproportioniert - eine Tatsache, die selbst die düstere Farbe ihrer Kleidung und der mit Biberpelz besetzte wollene Umhang, der sie fast vollständig verhüllte, nicht verbergen konnten. Widerspenstige Strähnen roten Haares schossen unter ihrer Kopfbedeckung hervor und flatterten im Seewind. Ihre blassen Gesichtszüge waren ebenmäßig und ihre Augen hell, doch ließ sich nur schwer bestimmen, ob sie blau oder grün waren, so sehr veränderten sie je nach Gefühlslage ihre Farbe.

Zu seiner Verteidigung deutete Ross auf das andere Schiff.

»Es tut mir leid, wenn ich Euch gekränkt habe, Schwester Fidelma«, murmelte er. »Aber dieses Schiff dort hätte uns beinahe versenkt.«

Ross wußte, daß es sich bei seiner Mitreisenden nicht um eine gewöhnliche Nonne handelte, sondern um die Schwester von Colgu, dem König von Muman. Sie war, wie er aus früheren Begegnungen wußte, eine ddlaigh, eine Advokatin der Gerichtsbarkeit der fünf Königreiche von Éireann, mit dem Rang einer anruth, der zweithöchsten Qualifikation, die die Universitäten und kirchlichen Hochschulen verleihen konnten.

»Ihr habt mich nicht gekränkt, Ross«, antwortete Fidelma lächelnd. »Obschon Eure Verwünschungen Gott gekränkt haben mögen. Meiner Meinung nach verschwendet man beim Fluchen häufig Energie, die für etwas Sinnvolleres eingesetzt werden könnte.«

Ross nickte widerwillig. In Gesellschaft von Frauen fühlte er sich stets unbehaglich und hatte sich - wohl nicht zuletzt deshalb - für ein Leben auf See entschieden. Einmal war er verheiratet gewesen, doch am Ende hatte seine Frau ihn und ihre gemeinsame Tochter verlassen. Doch selbst seine Tochter, um die er sich fortan kümmerte und die jetzt etwa in Fidelmas Alter sein mußte, hatte ihm den Umgang mit dem anderen Geschlecht nicht erleichtert. In Gesellschaft der jungen Nonne war ihm besonders unwohl. Durch ihr ruhiges, bestimmtes Auftreten fühlte er sich zuweilen wie ein Kind, dessen Benehmen ständig beurteilt wird. Das Schlimmste war, daß sie auch noch recht hatte: den unbekannten Kapitän zu verwünschen half niemandem weiter.

»Was ist der Grund für Euer Fluchen?« wiederholte Fidelma ihre Frage.

Ross gab ihr rasch eine Erklärung und deutete dabei auf das große Hochseeschiff, das jetzt in eine Flaute geraten war.

Fidelma musterte das Schiff neugierig.

»An Bord scheint sich nicht das geringste zu regen, Ross«, bemerkte sie. »Habe ich nicht gehört, wie Ihr gerufen habt?«

»Doch«, erwiderte Ross, »aber ich erhielt keine Antwort.«

Tatsächlich war Ross selbst gerade erst zu dem Schluß gekommen, daß eigentlich jemand an Bord des Schiffes seine barc bemerkt oder seinen Ruf erwidert haben müßte. Brummend wandte er sich an Odar: »Versucht, uns längsseits zu manövrieren.«

Der Steuermann nickte, wendete langsam den Bug der barc und betete, daß es windstill bleiben möge, bis er die gewünschte Position erreicht hatte. Odar war ein schweigsamer Mann und an den Küsten Mumans für seine Geschicklichkeit bekannt. Es dauerte nicht lange, bis sie mit dem Rumpf gegen das größere Schiff stießen und Ross’ Männer nach den Seilen griffen, die an den Seiten herunterhingen.

Schwester Fidelma lehnte auf der anderen Seite der Foracha, wo sie nicht im Wege stand, an der Reling und blickte mit sachlichem Interesse zu dem hochauf-ragenden Schiff hinauf.

»Dem Aussehen nach zu urteilen ein gallisches Handelsschiff«, rief sie Ross zu. »Hängt das Topsegel nicht gefährlich schief?«

Widerwillig warf Ross ihr einen anerkennenden Blick zu. Er hatte es aufgegeben, sich über das Wissen zu wundern, das die junge Advokatin an den Tag legte. Dies war das zweite Mal, daß er sie auf seinem Schiff mitnahm, und inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, daß sie über Kenntnisse verfügte, die für ihr Alter höchst ungewöhnlich waren.

»Es stammt aus Gallien, ganz richtig«, bestätigte er. »Die schweren Spanten und die Takelage sind typisch für die Bauweise in den Häfen von Morbihan. Und das Topsegel ist, wie Ihr richtig bemerkt habt, nicht ordnungsgemäß befestigt.«

Er schaute besorgt gen Himmel.

»Verzeiht, Schwester, aber wir müssen an Bord gehen und nachsehen, was da nicht stimmt, bevor wieder Wind aufkommt.«

Fidelma hob die Hand zum Zeichen der Einwilligung.

Ross bedeutete Odar, das Ruder einem anderen Besatzungsmitglied zu überlassen und ihn mit einigen seiner Männer zu begleiten. Behende schwangen sie sich über die Außenseiten, kletterten die Seile hinauf und verschwanden oben an Deck. Fidelma wartete. Sie konnte sie an Bord des größeren Schiffes rufen hören und sah, wie Ross’ Männer eilends in die Takelage stiegen und die Segel einholten, offensichtlich für den Fall, daß wieder Wind aufkam. Bald darauf erschien der Kapitän an der Außenseite des Schiffes, schwang sich hinüber und landete katzengleich auf dem Deck der Foracha. Fidelma bemerkte seinen verwirrten Gesichtsausdruck.

»Was ist los, Ross?« fragte sie. »Wütet etwa eine Krankheit an Bord?«

Ross trat einen Schritt vor. Verriet sein Blick nicht nur Bestürzung, sondern auch heimliche Furcht?

»Schwester, würde es Euch etwas ausmachen, mich auf das gallische Schiff zu begleiten? Ich möchte, daß Ihr es Euch anseht.«

»Ich bin kein Seemann, Ross. Wozu sollte ich es mir ansehen? Wütet irgendeine Krankheit an Bord?« wiederholte sie stirnrunzelnd.

»Nein, Schwester.« Ross zögerte einen Augenblick. Ihm war äußerst unbehaglich zumute. »Um ehrlich zu sein ... es ist niemand dort.«

Nur ihr Blinzeln verriet Fidelmas Überraschung. Schweigend folgte sie Ross zur Außenseite des Schiffes.

»Laßt mich vorausklettern, Schwester, dann kann ich Euch an diesem Tau hinaufziehen.«

Er deutete auf ein Seil, das er zu einer Schlinge band, während er sprach.

»Stellt einfach Euern Fuß in die Schlinge und haltet Euch fest, wenn ich’s Euch sage.«

Er drehte sich um und kletterte am Tau hinauf auf das Deck des Handelsschiffes. Fidelma wurde ohne Zwischenfälle die kurze Strecke hochgezogen. Tatsächlich, an Deck des Schiffes befand sich niemand außer Ross und seiner Mannschaft, die inzwischen die Segel festgezurrt hatte. Einer von Ross’ Männern war an der Ruderpinne postiert, um das Schiff unter Kontrolle zu halten. Fidelma sah sich auf dem verlassenen, aber ordentlichen und sauber geschrubbten Deck neugierig um.

»Seid Ihr sicher, daß niemand an Bord ist?« fragte sie mit einem Anflug von Ungläubigkeit in der Stimme.

Ross nickte.

»Meine Männer haben überall nachgesehen, Schwester. Welche Erklärung gibt es für dieses Rätsel?«

»Ich habe nicht genügend Informationen, um das auch nur erraten zu können, mein Freund«, erwiderte Fidelma und musterte weiterhin prüfend das saubere, gepflegte Erscheinungsbild des Schiffes. Sogar die Taue waren ordentlich aufgerollt. »Gibt es denn gar kein Durcheinander an Bord? Kein Anzeichen dafür, daß das Schiff gezwungenermaßer verlassen wurde?«

»Mittschiffs ist sogar noch ein Rettungsboot befestigt«, erwiderte Ross kopfschüttelnd. »Gleich, als ich das Schiff erblickte, fiel mir auf, daß es hoch aus dem Wasser ragte und nichts darauf hindeutete, daß es zu sinken drohte. Soweit ich feststellen kann, hat es nirgendwo ein Leck. Nein, es gibt keinen Hinweis darauf, daß es verlassen wurde, weil man befürchtete, es könne sinken. Die Segel waren alle ordnungsgemäß gehißt, vom Topsegel einmal abgesehen. Was mag bloß mit der Besatzung geschehen sein?«

»Was ist mit dem Topsegel?« fragte Fidelma. »Es war nicht richtig befestigt und hätte von einem heftigen Windstoß abgerissen werden können.«

»Noch lange kein Grund, ein Schiff zu verlassen«, erwiderte Ross.

Fidelma spähte hinauf zu dem Mast, an dem das Topsegel jetzt festgezurrt war. Sie runzelte die Stirn und rief Odar, der die Segel gerefft hatte.

»Was ist das da oben für ein Stück Stoff, dort in der Takelage, ungefähr sieben Meter über uns?« fragte sie.

Odar warf Ross einen raschen Blick zu, bevor er antwortete.

»Ich weiß es nicht, Schwester. Wünscht Ihr, daß ich es hole?«

Es war Ross, der ihn an ihrer Stelle anwies, nach oben zu steigen.

Mit geübter Leichtfüßigkeit kletterte Odar die Takelage hinauf und war einen Augenblick später bereits wieder unten, ein zerrissenes Stück Stoff in der Hand.

»Es ist an einem Nagel im Mast hängengeblieben, Schwester«, erklärte er.

Fidelma sah, daß es sich um ein Stück einfaches Leinen handelte, einen Stoffetzen, der von einem Hemd stammen könnte. Sie interessierte vor allem die Tatsache, daß er stellenweise voller Blut war und daß es sich um relativ frische Blutflecken handelte, noch nicht völlig braun und eingetrocknet, sondern von deutlich erkennbarem Rot.

Fidelma blickte einen Augenblick gedankenvoll nach oben, trat unter die Takelage und spähte zu dem eingerollten Topsegel hinauf. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf die Reling - auf einen verschmierten Abdruck getrockneten Blutes, der deutlich eine Handfläche erkennen ließ. Nachdenklich starrte sie darauf. Wer auch immer diesen Abdruck hinterlassen hatte, mußte die Reling von der Seeseite her umklammert haben. Sie seufzte leise und steckte das abgerissene Stück Leinen in ihr marsupium, den großen Beutel, den sie stets an ihrem Gürtel trug.

»Bringt mich in die Kapitänskajüte«, bat Fidelma, als ihr klar wurde, daß es auf Deck nichts Neues mehr herauszufinden gab.

Ross wandte sich zum Heck des Schiffes, zur Hauptkajüte unterhalb des erhöhten Achterdecks. Eigentlich gab es dort zwei Kajüten. Beide wirkten ordentlich aufgeräumt, die Kojen waren gemacht, und in einer der Kajüten war der Tisch gedeckt. Teller und Tassen waren allerdings ein wenig durcheinandergeraten, und Ross, der Fidelmas fragenden Blick bemerkte, erklärte, die Ursache hierfür sei wahrscheinlich das unberechenbare Schwanken des Schiffes, als es ohne Steuermann vor dem Wind schwoite.

»Es ist ein Wunder, daß es bisher noch nicht an den Felsen zerschellt ist«, fügte er hinzu. »Gott weiß, wie lange es schon ohne steuernde Hand über die Meere treibt. Und es fährt unter vollen Segeln, so daß ein heftiger Windstoß genügt, wenn niemand da ist, die Segel zu bergen oder zu reffen.«

Nachdenklich preßte Fidelma die Lippen aufeinander.

»Man hat fast den Eindruck, als sei die Besatzung einfach verschwunden«, fuhr Ross fort. »Als hätte man sie weggezaubert .«

Fidelma hob zynisch eine Augenbraue.

»Solche Dinge passieren nicht in der wirklichen Welt, Ross. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Zeigt mir den Rest des Schiffes.«

Ross führte sie hinaus.

Unter Deck wich der frische, scharfe Salzgeruch des Meeres dem drückenden Gestank, der sich entwickelt, wenn Männer jahrelang auf engstem Raum zusammenleben. Der Abstand zwischen den Decks war so gering, daß Fidelma sich bücken mußte, um sich den Kopf nicht an den Balken zu stoßen. Kein noch so intensives Schrubben mit Salzwasser konnte den schalen Schweißgeruch und den bittersüßen Uringestank beseitigen, der sich in den Aufenthaltsräumen der Besatzung festgesetzt hatte. Das einzig Positive war, daß es dort unten wärmer war als oben auf dem kalten, zugigen Deck.

Dennoch wirkten die Mannschaftsquartiere recht reinlich, wenn auch nicht ganz so gepflegt wie die Kajüten, die vermutlich den Offizieren vorbehalten wa-ren. Es gab jedoch auch hier keinerlei Anzeichen von Unordnung oder hastigem Aufbruch. Die Ausrüstung war fein säuberlich verstaut.

Anschließend führte Ross sie in den großen Laderaum des Schiffes. Dort stach Fidelma ein anderer Geruch in die Nase - nach dem muffigen, beißenden Gestank in den Mannschaftsquartieren ein neuer Sinnesreiz. Fidelma hielt inne, runzelte die Stirn und versuchte, den Duft, der in ihre Nasenlöcher drang, einzuordnen: eine Mischung aus verschiedenen Gewürzen, vor allem aber der Geruch von abgestandenem Wein. Suchend schaute sie sich im Dämmerlicht des Laderaums um. Er schien leer zu sein.

Ross hantierte mit Feuerstein und Zunder und zündete eine Öllampe an, damit sie den Innenraum besser sehen konnten. Er seufzte leise.

»Wie ich bereits sagte, das Schiff ragte hoch aus dem Wasser heraus, wodurch es bei einem Unwetter doppelt anfällig ist. Ich dachte mir schon, daß der Laderaum leer sein muß.«

»Warum hatten sie keine Ladung an Bord?« fragte Fidelma, während sie sich umsah.

Ross war sichtlich ratlos.

»Ich habe keine Ahnung, Schwester.«

»Das Handelsschiff kommt aus Gallien, sagtet Ihr?«

Der Seemann nickte.

»Könnte das Schiff ohne Ladung von Gallien losgesegelt sein?«

»Ah«. Ross verstand sofort, worauf sie hinauswoll-te. »Nein, es wäre sicher nur mit Ladung losgefahren. Und genauso wahrscheinlich hätte es eine Ladung aus einem irischen Hafen auf die Rückreise mitgenommen.«

»Also haben wir keine Ahnung, wann die Besatzung es verlassen hat? Es könnte auf dem Weg nach Irland oder auf dem Rückweg nach Gallien gewesen sein? Und es könnte auch sein, daß die Besatzung die Ladung mitnahm, als sie das Schiff verließ?«

Ross kratzte sich nachdenklich die Nase.

»Das sind gute Fragen. Allerdings haben wir keine Antworten darauf.«

Fidelma betrat den leeren Laderaum und begann im Dämmerlicht mit ihrer Untersuchung.

»Was hat ein Schiff wie dieses normalerweise geladen?«

»Wein, Gewürze und andere Waren, die in unserem Land nicht so leicht zu finden sind, Schwester. Seht her, hier sind Regale für die Weinfässer, aber sie sind alle leer.«

Ihr Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Neben den leeren Regalen türmte sich allerlei Gerümpel am Boden, darunter abgesplittertes Holz und ein mit Eisen beschlagenes Wagenrad mit einer gebrochenen Speiche. Und noch etwas lag dort, was sie verwundert betrachtete. Es ähnelte einem großen Holzzylinder, der fest mit einer groben, dicken Schnur umwickelt war. Der Zylinder war gut einen halben Meter lang und hatte einen Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimetern. Sie bückte sich und berührte die Schnur, und ihre Augen weiteten sich erstaunt. Die Schnur bestand aus einem Strang tierischer Gedärme.

»Was ist das, Ross?« fragte sie.

Der Seemann bückte sich, untersuchte den Gegenstand und zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung. Ich wüßte an Bord eines Schiffes keine Verwendung dafür, auch nicht, um irgend etwas festzubinden. Der Strang ist zu nachgiebig, er würde sich dehnen, sobald er unter Spannung stünde.«

Fidelma, die noch immer kniete, hatte noch etwas anderes entdeckt: Bröckchen von rotbraunem Lehm, die auf den Planken des Laderaums verstreut lagen.

»Was ist das, Schwester?« fragte Ross und hielt die Lampe hoch über sie.

Fidelma nahm ein paar Lehmbröckchen in die Hand und untersuchte sie eingehend.

»Nichts. Nur roter Lehm. Vermutlich wurde er beim Verstauen der Ladung vom Strand hereingetragen. Es gibt hier eine ganze Menge davon.«

Sie erhob sich und ging durch den kahlen Lagerbereich hinüber zu einer Luke auf der anderen Seite, Richtung Bug. Plötzlich hielt sie inne und drehte sich zu Ross um.

»Gibt es eine Möglichkeit, sich unter diesem Deck zu verstecken?« fragte sie und deutete auf den Decksboden.

Im Dämmerlicht verzog Ross das Gesicht.

»Nur für Wasserratten. Hier drunter liegt nur noch der Kielraum.«

»Trotzdem, ich halte es für das beste, das ganze Schiff zu durchsuchen.«

»Ich werde das sofort veranlassen«, stimmte Ross zu. Er akzeptierte ihre natürliche Autorität ohne Murren.

»Gebt mir die Lampe, dann mache ich hier weiter.« Fidelma nahm die Laterne und trat durch die Luke in den vorderen Teil des Schiffes, während Ross, der wie alle Seeleute ausgesprochen abergläubisch war, ängstlich um sich blickte und schließlich nach einem seiner Besatzungsmitglieder rief.

Das Licht von Fidelmas Lampe fiel auf eine schmale Stiege; sie führte über ein Kabelgatt, in dem der Anker des großen Schiffes verstaut war. Am Ende der Treppe lagen zwei weitere Kajüten, auch sie leer und peinlich sauber wie die anderen. Erst jetzt fiel Fidelma auf, was hier eigentlich fehlte. Alles war aufgeräumt - zu aufgeräumt, ohne die geringste Spur von persönlichen Dingen, die dem Kapitän, der Mannschaft oder etwaigen Mitreisenden gehört haben mochten, es gab weder Kleidung noch Rasierzeug, nichts außer einem blitzblanken Schiff.

Sie drehte sich um und ging einen kurzen Niedergang hinauf an Deck, um Ross zu suchen. Dabei glitt ihre Handfläche über das polierte Geländer, und sie spürte, wie sich dessen Beschaffenheit veränderte. Bevor sie sich näher damit befassen konnte, hörte sie jemanden an Deck nach ihr rufen. Sie trat ans Tageslicht.

Ross stand mit finsterer Miene neben der Tür zum Niedergang und kam sogleich auf sie zu.

»Im Kielraum ist niemand, Schwester, außer Ratten und Unrat, wie zu erwarten war. Auf jeden Fall keine Menschen«, berichtete er grimmig. »Weder lebend noch tot.«

Fidelma starrte auf ihre Handfläche. Sie war verfärbt, wie mit einem blaßbraunen Gewebe überzogen. Sie wußte sofort, worum es sich handelte, und streckte sie Ross entgegen.

»Getrocknetes Blut. Vor nicht allzu langer Zeit vergossen. Das ist die zweite Blutspur auf diesem Schiff. Kommt mit.« Fidelma lenkte ihre Schritte wieder zu den Kajüten hinunter, Ross folgte dicht hinter ihr. »Vielleicht sollten wir in den Kabinen darunter nach einer Leiche suchen?«

Sie hielt auf der Treppe inne und hob die Lampe. Das Geländer war blutverschmiert, die Treppenstufen mit getrocknetem Blut und die Seitenwände mit Blutspritzern bedeckt. Dieses Blut war älter als das auf dem Stück Leinen und das am Handlauf des Schiffes.

»Es gibt keine Blutflecken auf Deck«, bemerkte Ross. »Wer auch immer verletzt war, muß auf dieser Treppe verletzt worden und dann nach unten gegangen sein.«

Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen.

»Beziehungsweise wurde unten verletzt und kam hier herauf, wo er jemandem begegnete, der die Wunde verband oder auf andere Weise verhinderte, daß das Blut aufs Deck tropfte. Trotzdem, laßt uns nachsehen, wohin die Spur führt.«

Am Ende des Niedergangs bückte sich Fidelma, um die Decksplanken im Lichtschein der Laterne zu un-tersuchen. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und unterdrückte einen Aufschrei.

»Hier unten sind noch mehr Spuren getrockneten Blutes.«

»Das gefällt mir gar nicht, Schwester«, murmelte Ross und blickte erneut ängstlich um sich. »Vielleicht spukt das Böse auf diesem Schiff herum?«

Fidelma richtete sich auf.

»Das einzig Böse ist, wenn überhaupt, das Böse, das von den Menschen kommt«, wies sie ihn zurecht.

»Aber Menschen allein könnten nicht eine ganze Besatzung samt Schiffsladung wegzaubern«, protestierte Ross.

Fidelma lächelte matt.

»Allerdings, das könnten sie. Und sie haben ihre Arbeit nur stümperhaft erledigt. Sie haben Blutflecken hinterlassen, die uns verraten, daß hier in der Tat Menschen am Werk waren. Geister, ob böse oder nicht, haben es nicht nötig, Blut zu vergießen, wenn sie Menschen vernichten wollen.«

Sie hob die Laterne und machte kehrt, um die beiden Kajüten am unteren Ende des Niedergangs in Augenschein zu nehmen.

Jemand hatte dem oder der Verwundeten - sie nahm an, daß das viele Blut von einem Schwerverletzten stammte - mit einem Messer oder einer anderen scharfen Waffe eine klaffende Wunde beigebracht, und zwar entweder am Fuße des Niedergangs oder in einer der Kajüten. Sie wandte sich der ersten zu, während Ross ihr widerwillig folgte.

Auf der Schwelle hielt sie inne, blickte sich um und versuchte, einen Schlüssel zu dem Geheimnis zu entdecken.

»Käpt’n!«

Einer von Ross’ Männern kletterte zu ihnen hinunter.

»Käpt’n, Odar schickt mich, um Euch zu sagen, daß wieder Wind aufkommt und daß die Strömung uns gegen die Felsen treibt.«

Ross wollte schon wieder fluchen, doch als sein Blick dem Fidelmas begegnete, begnügte er sich mit einem Knurren.

»Also gut. Befestigt ein Seil am Bug des Schiffes und sagt Odar, er soll sich bereithalten, es zu steuern. Ich werde es zu einem sicheren Ankerplatz schleppen.«

Der Mann eilte hinaus, und Ross wandte sich wieder an Fidelma.

»Am besten, Ihr kommt mit hinüber auf die barc, Schwester. Es wird nicht leicht sein, dieses Schiff zum Ufer zu manövrieren. Auf meiner Bark ist es sicherer.«

Fidelma wollte ihm gerade zögernd folgen, da fiel ihr Blick auf etwas, was ihr vorher entgangen war. Die offene Kajütentür hatte es verdeckt, solange sie mitten im Raum stand. Jetzt, da sie sich zum Gehen wandte, sah sie an einem Haken hinter der Tür etwas Ungewöhnliches hängen. Ungewöhnlich insofern, als es sich um eine tiag liubhair handelte, eine lederne Büchertasche. Fidelma war erstaunt, ausgerechnet in einer Schiffskajüte einen solchen Gegenstand zu entdecken. In Irland bewahrte man Bücher nicht in Regalen auf, sondern in Taschen, die an Haken oder Gestellen entlang der Wände der Bibliotheken aufgehängt waren und jeweils einen oder mehrere handgeschriebene Bände enthielten. Solche Taschen wurden auch benutzt, um Bücher von einem Ort zum anderen zu transportieren, zum Beispiel auf einer Missionsreise. Ein Missionar benötigte immer Evangelien, Gottesdienstordnungen und andere Schriften. Die tiag li-ubhair, die hinter der Kajütentür hing, wurde an einem Riemen um die Schulter getragen.

Fidelma merkte nicht, daß Ross am Fuße des Niederganges ungeduldig wartete.

Sie nahm die Tasche vom Haken und griff hinein. Darin befand sich eine kleine Pergamenthandschrift.

Plötzlich begann ihr Herz zu rasen, ihr Mund wurde trocken, sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Blut hämmerte gegen ihre Schläfen. Einen Augenblick lang glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das Buch mit den pergamentenen Seiten war eine kleine, unscheinbare Handschrift, in schweres Kalbsleder gebunden, das mit hübschen Mustern aus Spiralen und Kreisen geprägt war. Fidelma wußte, daß es sich um ein Meßbuch handelte, noch bevor sie die Titelseite aufschlug. Sie wußte auch, welche Widmung sie dort finden würde.

Es war jetzt über zwölf Monate her, daß Schwester Fidelma dieses Buch zum letzten Mal in ihren Händen gehalten hatte: an einem warmen Sommerabend in Rom, in dem von Kräuterduft erfüllten Garten des Lateranpalastes. Es war der Abend, bevor sie Rom verließ und nach Irland zurückkehrte. Sie hatte das Buch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham überreicht, ihrem Freund und wagemutigen Gefährten, einem Sachsen aus dem Land des Südvolkes. Bruder Eadulf, der ihr geholfen hatte, den rätselhaften Mord an Äbtissin Etain in Whitby aufzuklären und danach, in Rom, den Mord an Wighard, dem designierten Erzbischof von Canterbury.

Das Buch, das sie nun hier, auf diesem geheimnisvollen, verlassenen Schiff, wiedergefunden hatte, war ihr Abschiedsgeschenk an ihren engsten Freund und Gefährten. Ein Geschenk, das ihnen beiden so viel bedeutet hatte, damals, bei jenem traurigen Abschied.

Fidelma spürte, wie die Kajüte zu schwanken und sich zu drehen begann. Sie versuchte, die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, zu besänftigen und der fürchterlichen Angst, die ihr den Atem nahm, mit vernünftigen Argumenten zu begegnen. Benommen taumelte sie rückwärts und brach unvermittelt über der Koje zusammen.

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