Der Gong ertönte zwölf Mal, und seine Schläge rissen Schwester Bronach aus ihren Gedanken. Dann hörte sie einen weiteren Gongschlag, hell und durchdringend. Seufzend erhob sie sich, als sie sich der späten Stunde bewußt wurde, aus ihrer knieenden Haltung vor der Statue des Leidenden Christus. Hastig und ohne nachzudenken beugte sie die Knie, drehte sich um und verließ die duirthech, die aus Holz gebaute Kapelle der Abtei, auch Eichenhaus genannt.
In dem mit Steinen gepflasterten Gang vor der Kapelle hielt sie inne und lauschte. Sie hörte das seltsame Schlurfen lederbesohlter Sandalen auf dem Steinboden. Um die Ecke am anderen Ende des dämmrigen Korridors, der von qualmenden Fettkerzen in eisernen Kerzenhaltern an den Wänden erhellt wurde, bog eine Prozession von Vermummten, die, in dunkle Gewänder und Kapuzen gehüllt, in Zweierreihen näherkamen. Die Schwestern wurden von der imposanten, hochgewachsenen Gestalt der Oberin des Ordens angeführt und sahen aus wie Gespenster, die im Halbdunkel des Ganges ihr Unwesen trieben. Sie gehörten zur Gemeinschaft der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen - eine Umschreibung für den Namen Christi. Gesenkten Hauptes, ohne aufzublicken, schlurften sie an Schwester Bronach vorbei. Nicht einmal Äbtissin Draigen nahm von ihrer Anwesenheit Notiz. Die Schwestern betraten schweigend die Kapelle, um dort ihr Mittagsgebet zu verrichten. Die letzte hielt kurz inne und schloß hinter der Prozession die Tür.
Während sie an ihr vorbeischritten, hatte Schwester Bronach mit gefalteten Händen und ehrfürchtig gesenktem Kopf gewartet. Erst als die Kapellentür leise hinter ihnen ins Schloß fiel, blickte sie auf. Es war kein Zufall, daß Schwester Bronach, die Sorgenvolle, diesen Namen trug: ihre Miene wirkte tatsächlich zutiefst bekümmert. Niemand hatte die Nonne in mittleren Jahren je lächeln sehen, geschweige denn irgendeine Gefühlsregung bei ihr wahrgenommen. Die Linien ununterbrochener, schmerzlicher Betrachtungen schienen sich tief in ihre Gesichtszüge eingegraben zu haben. Unter ihren Mitschwestern kursierte die respektlose Redensart, wenn Bronach je lächelte, könne die Wiederkunft des Erlösers nicht mehr weit sein.
Seit fünf Jahren war Schwester Bronach die doirseor, die Pförtnerin der Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen. Diese war vor mehreren Generationen von der Heiligen Necht, der Reinen, gegründet worden. Das Kloster lag am Fuß der Berge in einer schmalen, bewaldeten Meeresbucht auf einer entlegenen Halbinsel im Süden des irischen Königreiches Muman, dem südwestlichsten der fünf Königreiche von Éireann. Bronach war der Gemeinschaft vor dreißig Jahren beigetreten, als junge, schüchterne Frau mit wenig Unternehmungsgeist. Sie hatte hier Zuflucht gesucht, genau genommen eine Alternative zu dem harten und mühsamen Leben in ihrem abgelegenen Inseldorf. Jetzt, in mittleren Jahren, war Bronach noch genauso schüchtern und ohne Unternehmungsgeist wie damals. Sie war es zufrieden, ihr Leben nach dem Gongschlag zu richten, der von dem kleinen Turm der Abtei ertönte, wo die Zeitnehmerin die Wasseruhr überwachte. Das Kloster war im ganzen Königreich berühmt für seine bemerkenswerte Methode der Zeitmessung. Immer, wenn der Gong geschlagen wurde, hatte die Pförtnerin bestimmte Pflichten zu erfüllen. Die Bezeichnung für ihr Amt, doirseor, klang zwar recht hochtrabend, bedeutete jedoch nicht viel mehr als >Mädchen für alles<. Dennoch schien Bronach mit ihrem Los zufrieden.
Der Gong hatte gerade die Mittagsstunde angekündigt, und es war nun Schwester Bronachs Pflicht und Schuldigkeit, Wasser aus dem Brunnen zu holen und in Äbtissin Draigens Gemächer zu bringen. Nach den Mittagsgebeten und der Mahlzeit nahm die Äbtissin gern ein heißes Bad. Deshalb pflegte sich Bronach, anstatt gemeinsam mit den anderen Schwestern dem Gottesdienst beizuwohnen, zurückzuziehen und um das Wasser zu kümmern.
Die Hände unter dem Gewand gefaltet und begleitet vom Klappern ihrer Ledersandalen auf den Granitsteinen eilte Schwester Bronach hinaus auf den großen Innenhof, um den herum die Wohngebäude der Gemeinschaft standen. Am frühen Morgen hatte es kurz geschneit, doch war der Schnee bereits geschmolzen, und das Pflaster unter dem Schneematsch war glitschig. Sie ging jedoch sicheren Schrittes über den Platz, vorbei an der bronzenen Sonnenuhr, die in seiner Mitte auf einem Sockel aus poliertem Schiefer stand.
Trotz des kalten, winterlichen Wetters war der Himmel von einem durchscheinenden Blau, und die blasse Sonne stand hoch oben inmitten einer Schar vereinzelt dahinschwebender Wölkchen. Am Horizont sammelten sich schwere, tiefhängende Schneewolken, und Bronach spürte die eisige Luft an den Ohren und zog ihre Kapuze schützend enger um den Kopf.
Am Ende des Hofes ragte ein hohes Granitkreuz auf, das dem Kloster geweiht war. Bronach schritt durch eine schmale Pforte dahinter und betrat ein kleines Felsplateau, von dem aus man die geschützte Bucht gut überblicken konnte. Auf diesem natürlichen Felsenthron, nur drei Meter oberhalb des steinigen Ufers, hatte die Heilige Necht in einer Öffnung des zerklüfteten Bodens eine sprudelnde Quelle entdeckt und sie geweiht. Das war auch dringend nötig gewesen, denn zahlreichen Überlieferungen zufolge galt der Brunnen in früheren Zeiten als heiliger Ort der Druiden, die dort Wasser zu schöpfen pflegten.
Schwester Bronach näherte sich der Quelle, die jetzt von einer niedrigen Steinmauer umschlossen war. Darüber hatten die Mitglieder der Gemeinschaft eine Vorrichtung gebaut, mit deren Hilfe man einen Eimer in das dunkle Wasser tief unten hinablassen und durch Drehen einer Kurbel, an der ein Seil befestigt war, wieder heraufziehen konnte. Schwester Bronach konnte sich noch an Zeiten erinnern, da man zwei bis drei Schwestern brauchte, um Wasser aus dem Brunnen zu ziehen, während jetzt, nachdem es die Vorrichtung gab, selbst eine ältere Schwester wie sie diese ohne große Mühe bedienen konnte.
Schwester Bronach hielt einen Augenblick schweigend inne und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Es war eine merkwürdig ruhige Tageszeit, eine Zeitspanne unerklärlicher Stille, in der kein Vogel singt, kein Lebewesen sich regt, in der das Leben stillzustehen scheint - eine Atmosphäre gespannter Erwartung. Ein Warten darauf, daß etwas passiert. Es war, als hätte die Natur beschlossen, den Atem anzuhalten. Der eisige Wind hatte sich gelegt und rauschte nicht einmal mehr zwischen den hochaufragenden Granitfelsen hinter der Abtei. Die Schafe zogen über ihre rauhen, steinigen Weiden wie wandernde weiße Findlinge, und einige kräftige schwarze Rinder nagten am harten Gras. In den Senken zwischen den Hügeln sah Schwester Bronach die geheimnisvollen blauen Schatten der tiefhängenden Wolken.
Es war nicht das erste Mal, daß Bronach angesichts der Umgebung und dieser geheimnisvollen Stunde erwartungsvoller Ruhe ein Gefühl von Ehrfurcht überkam. Die Welt schien stillzustehen, als harre sie auf das Signal der altertümlichen Hörner, die die uralten Götter Irlands herbeiriefen, auf daß sie sich zeigten und von den umhegenden, schneebedeckten Berggipfeln herabstiegen. Und die großen grauen Granitfindlinge, hie und da an den Berghängen verstreut wie geduckte menschliche Gestalten im kristallklaren Licht, würden sich plötzlich in Kriegshelden aus längst vergangener Zeit verwandeln. Sie würden sich erheben und mit ihren Speeren, Schwertern und Schilden hinter den Göttern hermarschieren, und sie würden eine Erklärung dafür verlangen, warum die Kinder von Éire, der Göttin der Herrschaft und der Fruchtbarkeit, nach der dieses Land vor Urzeiten benannt worden war, sich vom alten Glauben und den Traditionen abgewandt hatten.
Schwester Bronach schluckte heftig und warf rasch einen schuldbewußten Blick in die Runde, als könnten ihre Glaubensgefährtinnen ihre frevlerischen Gedanken hören. Hastig beugte sie die Knie, als wolle sie Abbitte für ihre Sünde leisten - ihre sündhaften Gedanken an die alten, heidnischen Götter. Dennoch konnte sie ihre Gefühle nicht verleugnen. Ihre eigene Mutter - möge sie in Frieden ruhen - hatte sich nicht zum Christentum bekehren lassen, sondern am althergebrachten Glauben festgehalten. Suanach! Sie hatte schon lange nicht mehr an ihre Mutter gedacht, und sie bereute es sogleich. Die Erinnerung traf sie wie eine scharfe, wütende Klinge, auch wenn Suanachs Tod schon zwanzig Jahre zurücklag. Was hatte diese Erinnerung eigentlich ausgelöst? Ach Ja, ihr Nachsinnen über die alten Götter. Dieser kurze Moment, in dem die Anwesenheit der uralten Gottheiten spürbar wurde. Dies war für die Heiden die Stunde der Trauer, der Melancholie aus den tiefsten Tiefen der menschlichen Seele, der Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten, des Klagegesangs für die verlorenen Generationen des Volkes von Éire.
Aus der Ferne ertönte der Gong der Abtei.
Schwester Bronach zuckte zusammen.
Eine volle pongc, die irische Zeiteinheit für eine Viertelstunde, war seit dem Mittagsgebet verstrichen. Nach jeder pongc wurde der Gong einmal geschlagen; jede volle Stunde wurde durch die entsprechende Anzahl von Gongschlägen angekündigt; alle sechs Stunden wurde das Tagesviertel, das cadar, ebenfalls durch die entsprechende Anzahl von Schlägen verkündet. Dann war es auch Zeit für die Wachablösung an der Wasseruhr, denn keine Zeitnehmerin durfte diese beschwerliche Aufgabe länger als ein cadar ausüben.
Bronach fiel ein, wie sehr Äbtissin Draigen Nachlässigkeit verabscheute, und sie gab sich einen Ruck und sah sich nach dem Eimer um. Er stand nicht an seinem üblichen Platz. Erst jetzt bemerkte sie, daß das Seil bereits im Brunnen hing. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Jemand hatte den Eimer an den Haken gehängt und hinuntergelassen, ihn dann jedoch aus unerfindlichen Gründen nicht wieder hochgezogen. Eine derartige Vergeßlichkeit war unverzeihlich.
Seufzend unterdrückte Bronach ihren Unmut und packte die Kurbel. Sie fühlte sich eiskalt an und erinnerte sie an die Kälte des winterlichen Tages. Zu ihrer Überraschung ließ sie sich so schwer drehen, als sei ein Gewicht an ihr befestigt. Bronach unternahm einen erneuten Versuch, doch trotz Aufbietung ihrer ganzen Kraft ließ sich die Kurbel kaum bewegen, und nur langsam, unendlich langsam, konnte sie das Seil aufwickeln.
Nach einer Weile hielt sie inne, blickte sich um und hoffte, eine ihrer Gefährtinnen in der Nähe zu entdecken, damit sie sie um Unterstützung bitten könnte. Noch nie war ihr ein Eimer voll Wasser so schwer erschienen wie dieser. Wurde sie etwa krank? Ließen ihre Kräfte nach? Nein, sie fühlte sich gesund und stark wie eh und je. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die fernen Berge und schauderte, allerdings nicht vor Kälte, sondern vor Angst wegen ihrer abergläubischen Gedanken. Wollte Gott sie für ihre ketzerischen Betrachtungen über die alte Religion bestrafen?
Ängstlich schaute sie zum Himmel empor, bevor sie sich, ein Bußgebet murmelnd, wieder zu ihrer Arbeit beugte.
»Schwester Bronach!«
Eine hübsche junge Nonne eilte von den Gebäuden der Abtei herüber in Richtung Brunnen.
Schwester Bronach stöhnte insgeheim, als sie Schwester Siomha erkannte, die tyrannische rechtaire oder Verwalterin der Gemeinschaft, ihre unmittelbare Vorgesetzte. Schwester Siomhas Auftreten paßte ganz und gar nicht zu den großen Unschuldsaugen in ihrem schönen Gesicht. Trotz ihrer Jugend galt Siomha unter den Schwestern als strenge Aufseherin, und das aus gutem Grund.
Schwester Bronach hielt erneut inne und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Kurbel, um sie in ihrer Position zu halten. Dem deutlichen Mißfallen der gerade Eingetroffenen begegnete sie mit höflicher Miene. Schwester Siomha blieb stehen und rümpfte mißbilligend die Nase.
»Ihr seid spät dran mit dem Wasser für unsere Äbtissin, Schwester Bronach«, schimpfte die jüngere Schwester. »Sie mußte mich extra losschicken, um Euch zu erinnern, wie spät es ist. Tempori parendum.«
Bronachs Miene blieb unverändert.
»Ich weiß sehr wohl, wie spät es ist«, erwiderte sie in unterwürfigem Tonfall. Daß ihr jemand erzählen wollte, >man müsse der Zeit gehorchen<, wo doch ihr ganzes Leben von den Schlägen der Wasseruhr bestimmt wurde, wirkte selbst auf eine so ängstliche Person wie sie als Provokation. Eine solche Erwiderung aus ihrem Munde bedeutete die höchstmögliche Auflehnung, zu der sie fähig war. »Ich kann den Eimer nicht hochziehen. Irgend etwas scheint ihn zu blockieren.«
Schwester Siomha rümpfte erneut die Nase, war sie doch überzeugt, Schwester Bronach suche nur nach einer Ausrede für ihre Säumigkeit.
»Unsinn. Ich habe heute Vormittag Wasser geholt und hatte keinerlei Schwierigkeiten mit der Kurbel. Der Eimer läßt sich ganz leicht hochziehen.«
Sie trat vor, und schon ihre Körpersprache genügte, damit die ältere Schwester ihr Platz machte. Ihre zarten und doch kräftigen Hände ergriffen die Kurbelstange und drückten dagegen. Verwundert blickte sie auf, als sie den Widerstand spürte.
»Ihr habt recht«, räumte sie voller Staunen ein. »Vielleicht schaffen wir beide es zusammen. Kommt und drückt, wenn ich’s Euch sage.«
Nun versuchten sie es mit vereinten Kräften, doch obwohl sie sich auf das Äußerste anstrengten, begann sich der Griff nur langsam zu drehen. Sie mußten häufig innehalten und Atem schöpfen, der dann als weiße Wölkchen in die kristallklare Luft stieg und verschwand. In die Vorrichtung war eine Bremse eingebaut, um das Seil, wenn es ganz hochgezogen war, befestigen zu können. Man konnte so den Eimer vom Haken nehmen, ohne befürchten zu müssen, daß sein Gewicht ihn wieder in den Brunnen hinuntersausen ließ. Die beiden Schwestern zerrten und zogen, bis das Seil ganz aufgewickelt war; dann betätigte Schwester Siomha die Bremse.
Als sie zurücktrat, sah sie auf der sonst stets mißmutigen Miene ihrer Gefährtin einen merkwürdigen Ausdruck. Noch nie hatte jemand so entgeistert und entsetzt dreingeschaut wie jetzt Schwester Bronach, die auf den Überbau des Ziehbrunnens hinter Siomha starrte. Tatsächlich hatte sie niemals etwas anderes als ergebenen Gehorsam in der ausdrucklosen Miene der älteren Schwester wahrgenommen. Schwester Siomha drehte sich langsam um und fragte sich, worauf Bronach wohl so entsetzt starren mochte.
Was sie dann sah, ließ sie die Hand vor den Mund schlagen, als wolle sie einen Schreckensschrei unterdrücken.
An dem Seil, das normalerweise den Eimer trug, hing, an einem Knöchel festgebunden, der nackte Körper einer Frau. Er hing - weiß und glänzend von der Nässe des eiskalten Brunnenwassers - mit dem Kopf nach unten, so daß Oberkörper, Kopf und Schultern hinter der Umrandung des Brunnens ihren Blicken verborgen blieben. Dennoch ließen die Körperpartien, die sie sehen konnten - sie waren bleich und leblos, mit widerlichem rotem Schlamm beschmiert, den das Eintauchen in den Brunnen nicht hatte abwaschen können, und über und über mit Striemen bedeckt -, keinen Zweifel daran, daß es sich um eine Leiche handelte.
Schwester Siomha beugte langsam die Knie.
»Gott beschütze uns vor allem Bösen!« flüsterte sie. Dann trat sie einen Schritt vor. »Schnell, Schwester Bronach, helft mir, diese arme Unglückliche abzuschneiden.«
Schwester Siomha ging zum Brunnenrand, spähte hinein und wollte die Tote aus dem Brunnen heben. Mit einem schrillen Schrei und schreckensbleicher Miene wandte sie sich ab.
Neugierig trat Schwester Bronach vor und spähte ebenfalls in die Tiefe. Im Dämmerlicht sah sie, daß dort, wo der Kopf der Leiche hätte sein sollen, nichts war. Man hatte die Tote enthauptet. Hals und Schultern - oder das, was davon übrig war - waren mit dunklem Blut beschmiert.
Sie wandte sich unvermittelt ab und würgte, um den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
Schwester Bronach begriff, daß Siomha zu bestürzt war, um weitere Entscheidungen zu treffen. Also riß sie sich zusammen, bezwang ihren Abscheu und versuchte, die Leiche zum Rand des Brunnens zu ziehen, doch war dieses Vorhaben für sie allein nicht zu bewerkstelligen.
Sie blickte rasch zu Schwester Siomha hinüber.
»Ich brauche Eure Hilfe, Schwester. Wenn Ihr die Leiche festhaltet, werde ich das Seil durchschneiden, an dem die Unglückliche hängt«, gab sie behutsam Anweisung.
Schwester Siomha schluckte heftig und versuchte, ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Dann nickte sie und faßte den kalten, nassen Körper widerwillig um die Taille. Sie konnte ihren Ekel nicht verhehlen, als sie das starre, leblose Fleisch berührte.
Mit einem kleinen Messer, das die Schwestern der Abtei stets bei sich trugen, durchschnitt Bronach die Fesseln, mit denen der Knöchel der Toten am Brunnenseil befestigt war. Dann half sie Schwester Siomha, den kopflosen Körper über die niedrige Schutzmauer des Brunnens zu hieven und auf den Boden zu legen. Eine Weile starrten die beiden Nonnen auf den Leichnam - unschlüssig, was als nächstes zu tun sei.
»Ein Gebet für die Tote«, murmelte Bronach voller Unbehagen. Gemeinsam begannen sie zu beten, ohne sich jedoch der Bedeutung der Worte bewußt zu werden. Danach verfielen sie in längeres Schweigen.
»Wer konnte so etwas bloß tun?« flüsterte Schwester Siomha schließlich.
»Es gibt viel Böses in der Welt«, erwiderte Schwester Bronach philosophisch. »Aber eine zweckdienlichere Frage wäre jetzt - wer ist die arme Unglückliche? Es handelt sich um den Körper einer jungen Frau, fast noch ein junges Mädchen.«
Endlich gelang es Schwester Bronach, den Blick von der blutigen, übel zugerichteten Stelle abzuwenden, an der der Kopf hätte sitzen müssen. Der Anblick der blutigen Masse wirkte auf sie faszinierend und abstoßend zugleich. Es handelte sich eindeutig um den Körper einer jungen und vor kurzem noch gesunden Frau, die gerade erst der Pubertät entwachsen war. Die einzige Verunstaltung, von dem fehlenden Kopf einmal abgesehen, war eine Wunde in der Brust. Oberhalb des Herzens zeigte sich ein bläulicher Bluterguß und, bei näherem Hinsehen, eine deutliche Stichwunde, wo die Spitze einer scharfen Klinge oder eines ähnlichen Tatwerkzeuges tief ins Herz gedrungen war. Die Wunde hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu bluten.
Schwester Bronach zwang sich, eine Hand der Toten zu ergreifen, um ihre Arme auf dem Leib übereinanderzulegen, bevor die Leichenstarre ein solches Unterfangen unmöglich machte. Plötzlich ließ sie den Arm fallen und keuchte vernehmlich, als habe sie einen Schlag auf den Solarplexus erhalten.
Alarmiert folgte Schwester Siomha mit den Augen Bronachs ausgestreckter Hand, die auf den linken Arm der Leiche deutete. Dort war etwas festgebunden, was ihnen bisher durch die Lage des Körpers verborgen geblieben war: ein kurzer Holzstab mit eingeritzten Kerben. Auf den ersten Blick erkannte Schwester Bronach die altertümliche irische Schrift, Ogham, die seit der Einführung des lateinischen Alphabetes in Irland nicht mehr allgemein gebräuchlich war. Doch die Bedeutung der Zeichen verstand sie nicht.
Als sie sich niederbeugte, um den Stab zu untersuchen, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand in der anderen Hand der Toten. Ein schmales, abgewetztes Lederband war um das rechte Handgelenk gewickelt und führte in die geballte Faust. Schwester Bronach wappnete sich erneut für ihr Unterfangen, kniete neben der Leiche nieder und ergriff die kleinen, weißen Hände. Sie konnte die leblosen Finger nicht mehr auseinanderbiegen, denn die Totenstarre hatte sie bereits für immer zur Faust geschlossen. Sie waren jedoch gerade so weit gespreizt, daß Bronach am Ende des Lederbändchens ein kleines, metallenes Kruzifix erkennen konnte.
Sie stöhnte leise auf und warf einen Blick über die Schulter, wo Schwester Siomha sich mit starrer Miene vorbeugte, um zu erspähen, was sie Neues entdeckt hatte.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Schwester Siomha streng, beinahe schroff.
Schwester Bronachs Gesicht war wie versteinert. Sie hatte ihr Mienenspiel inzwischen wieder unter Kontrolle.
Sie atmete tief durch, bevor sie bedächtig antwortete und dabei auf das nicht sehr kunstvoll geschmiedete Kruzifix aus poliertem Kupfer starrte. Niemand von Rang und Namen würde ein so billiges Stück besitzen.
»Es bedeutet, daß wir jetzt Äbtissin Draigen herbeirufen sollten, gute Schwester. Wer auch immer dieses arme, kopflose Mädchen war, ich bin überzeugt, daß es sich um eine der Unsrigen handelte. Um eine Schwester im Glauben.«
Aus der Ferne, von dem winzigen Turm, der sich über ihrer Abtei erhob, hörten sie das Schlagen des Gongs, der das Verstreichen einer weiteren Zeitspanne verkündete. Die Wolken wurden plötzlich dichter und verdeckten den Himmel. Eisiger Schnee trieb über die Berge.