Kapitel 10

Die jungen Nonnen, die sich dort am Ende des Korridors zusammendrängten und Berrachs Namen riefen, wirkten wie Besessene. Ihre Hysterie war kaum noch unter Kontrolle zu halten, und Fidelma wurde wütend, als sie erkannte, daß Draigen rein gar nichts unternommen hatte, um die verängstigten Gemüter zu beruhigen. Lerben schien die Raserei, die jeglicher Logik widersprach, noch geschürt zu haben und gebärdete sich als Anführerin der Gruppe, die sich von einer Zusammenrottung des Pöbels kaum noch unterschied. Von der Äbtissin war keine Spur zu sehen.

»Die Schwestern haben beschlossen?« fragte Fidelma in gefährlich drohendem Tonfall.

Schwester Lerben sprach sehr eindringlich. »Die Sache ist ganz einfach. All die Jahre hat die Abtei einer Zauberin Zuflucht gewährt, und sie hat es mit Mord und heidnischem Götzendienst vergolten. Sie wird ihre gerechte Strafe erhalten. Eure Aufgabe ist hiermit erfüllt.«

Die Nonnen, die sich hinter Lerben drängten, murmelten zustimmend. Fidelma erkannte, daß die meisten von ihnen sich einfach nur fürchteten und daß ihre Hysterie ganz einfach auf Angst beruhte. Lerben hatte dafür gesorgt, daß ihre entfesselten Gefühle sich gegen Berrach wendeten. Die Schwestern waren kaum noch im Zaum zu halten. Es sah aus, als würden sie jeden Augenblick losstürmen. Fidelma postierte sich entschlossen im Korridor und hob ihre Hand.

»Im Namen Gottes, merkt Ihr denn nicht, was Ihr da tut?« überschrie sie ihre Rufe. »Ich bin eine Advokatin der Gerichtsbarkeit, von Euerm König und vom Bischof damit beauftragt, diesen Fall zu untersuchen. Wollt Ihr Euch eines schrecklichen Verbrechens schuldig machen, indem Ihr die Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmt?«

»Das ist unser Recht«, widersprach Schwester Ler-ben.

»Und wieso?« verlangte Fidelma zu wissen. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß jedes Gespräch besser war als blinde Gewalt. »Was habt Ihr denn für Rechte? Ihr seid lediglich eine Novizin in dieser Abtei, ohne höhere Position. Wo ist Eure Äbtissin? Vielleicht kann sie Euch über Eure Rechte aufklären?«

Schwester Lerbens Augen funkelten vor Zorn.

»Äbtissin Draigen hat sich zum Gebet in ihre Gemächer zurückgezogen. Sie muß sich erst von diesem entsetzlichen Schock erholen und hat mich mit den Aufgaben einer rechtaire betraut. Jetzt trage ich hier die Verantwortung. Übergebt uns endlich die Mörderin.«

Fidelma erschrak über die Arroganz des jungen Mädchens.

»Ihr seid jung, Lerben. Viel zu jung, um die Verantwortung für dieses Amt zu übernehmen. Was Ihr verlangt, widerspricht dem irischen Gesetz. Beruhigt Euch also und gebt Anweisung, daß die Schwestern sich zerstreuen.«

Zu ihrer Überraschung gab Lerben sich noch nicht geschlagen.

»Hat nicht Ultan, Erzbischof von Armagh und Oberster Apostel der Christenheit in den fünf Königreichen, verfügt, daß unsere Kirche die Gesetze der Peterskirche in Rom befolgen soll? Nun, wir haben über unsere sündige Schwester zu Gericht gesessen und sie für schuldig befunden - nach römischem Kirchenrecht.«

»Nach welchem Recht?« Fidelma traute ihren Ohren kaum. Sicher hatte jemand die Novizin, die jetzt behauptete, als Verwalterin der Abtei zu handeln, aufgewiegelt, sämtlichen irischen Gesetzen zuwiderzuhandeln. Sie fühlte sich wie in einem Streit mit jemandem, der die Meinung vertrat, tags sei es dunkel und nachts sei es hell: wo fand man denn da noch einen logischen Anknüpfungspunkt?

»Nach dem Recht der Heiligen Schrift!« antwortete Lerben völlig unbeeindruckt von Fidelmas Autorität. »Heißt es nicht im Zweiten Buch Mose: >Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen

»Hat Euch die Äbtissin das beigebracht, Lerben?« forderte Fidelma sie heraus.

»Wollt Ihr etwa mit der Heiligen Schrift rechten?« entgegnete die Novizin stur.

»Laut dem Matthäus-Evangelium hat Unser Herr gesagt: >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.<« Fidelma schleuderte Lerben das Zitat entgegen und wandte sich dann an die plötzlich still gewordenen Schwestern hinter ihr. »Schwestern, man hat Euch in die Irre geführt. Beruhigt Euch und kehrt in Eure Schlafräume zurück. Ber-rach ist nicht die Schuldige.«

Ein Raunen ging durch die Versammelten. Lerben versuchte, ihre Autorität wiederherzustellen. Ihr Gesicht war rot vor Zorn, hatte sie doch gehofft, durch ihre Belesenheit die unumstrittene Achtung und Ergebenheit der anderen Schwestern zu gewinnen.

»Ihr weist also Ultans Entscheidung zurück?« fragte sie Fidelma.

»Sicher, wenn sie nicht der Wahrheit und dem irischen Gesetz entspricht.«

»Draigen ist hier Äbtissin, und ihr Wort ist das Gesetz!« entgegnete das Mädchen.

»Das ist nicht richtig«, erwiderte Fidelma mit entschlossener Stimme. Sie begriff, daß sie die Versammelten so schnell wie möglich zerstreuen mußte. Je länger die Erregung andauerte, desto leichter konnte die Situation außer Kontrolle geraten. Fidelma hatte offenbar richtig vermutet: Draigen mußte Lerben ermutigt haben, die Angst vor Berrach noch zu schüren. Sie konnte die gefährliche Situation nur entschärfen, indem sie ihre ganze Autorität in die Waagschale warf. Klar und deutlich wiederholte sie: »Ich bin kürzlich von Eurem Oberkönig berufen worden. Ich bin auf Ersuchen Eures Königs und Eures Bischofs hierhergekommen. Und vermittels der Autorität des Abtes von Ros Ailithir, falls Ihr andere Autoritäten nicht respektiert. Solltet Ihr Berrach etwas zuleide tun, so werdet Ihr und alle, die sich daran beteiligen, Euch für den Mord an einer Glaubensschwester zu verantworten haben.«

Bestürztes Gemurmel lief durch die Reihen der Schwestern. Sie kannten das Gesetz gut genug, um zu wissen, daß der Mord an seinem Nächsten nach dem irischen Strafgesetzbuch als eines der schwersten Verbrechen galt. Sogar der Oberkönig würde durch einen solchen Mord sein Anrecht auf sein Amt und seine Würde verwirken. Die Kreuzigung Christi galt in Irland als Präzedenzfall für einen Mord an seinem Nächsten, denn man betrachtete die Juden als Christi Angehörige mütterlicherseits. Sämtliche Gesetze und gelehrten Bücher betonten seit unvordenklichen Zeiten, wie verdammungswürdig ein Mord an seinem Nächsten sei; eine solche Tat war ein Schlag gegen die Grundfesten der Gesellschaftsstruktur und ihren Kern, die Familie.

»Ihr würdet es wagen ...?« begann Schwester Ler-ben unsicher. »Ihr würdet es wagen, uns anzuklagen?« Doch schon schwand ihre Unterstützung in diesem Konflikt.

»Schwestern«, wandte sich Fidelma nun an alle, die sich unsicher hinter Lerben zusammendrängten. Da sie ihr jetzt aufmerksam zuhörten, hatte es wenig Sinn, das Wort weiterhin an die unerfahrene, arrogante Novizin zu richten.

»Schwestern, ich habe Schwester Berrach verhört, und ich bin überzeugt davon, daß sie an der Ermordung Siomhas unschuldig ist. Sie ist zufällig auf den Leichnam gestoßen, genau wie Äbtissin Draigen kurz nach ihr, und sie trägt ebensowenig Schuld an dem Verbrechen wie Eure Äbtissin. Laßt Euern Verstand nicht von Furcht vernebeln. Es ist so leicht, sich gegen das zu wenden, was man fürchtet, und es zu vernichten. Zerstreut Euch in Eure Schlafräume, und laßt uns dies alles vergessen - es war nur der Wahn eines Augenblicks.«

Die Schwestern sahen einander an wie hilflose Schäfchen in der Finsternis, und einige begannen sich zurückzuziehen.

Lerben trat einen Schritt vor, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt, doch Fidelma war entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen. In diesem Augenblick tauchte die besorgte Schwester Bronach im Hintergrund der Gruppe auf.

»Schwester Bronach, ich möchte, daß Ihr Schwester Lerben zu ihrem Gemach begleitet, während ich die Äbtissin aufsuche. Das ist ein Befehl kraft meines Ranges«, fügte sie hinzu, als Bronach zögerte. Dann wandte sie den Versammelten bewußt den Rücken zu und trat wieder in Berrachs Gemach. Gleich hinter der Tür blieb sie stehen, mit geschlossenen Augen und rasendem Herzschlag, und fragte sich, ob es ihr gelungen war, die Situation restlos zu entschärfen. Würde Lerben einen weiteren Versuch unternehmen, ihre Anhängerinnen um sich zu scharen und Berrach zu ergreifen? Aus dem Korridor hörte sie Gemurmel und Fußgetrappel, dann Stille. Fidelma öffnete die Augen.

Schwester Berrach saß auf dem Bett und zitterte am ganzen Leibe.

Fidelma warf einen raschen Blick in den Korridor. Er war leer. Sie stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.

»Alles in Ordnung«, sagte sie und setzte sich neben das Mädchen aufs Bett. »Sie haben sich zerstreut.«

»Wie können sie nur so böse sein?« Berrach schauderte.

»Sie wollten mich hier rausholen und mich töten.«

Fidelma legte tröstend eine Hand auf ihren Arm.

»Sie sind nicht wirklich böse. Sie haben einfach Angst. Von allen menschlichen Gefühlen trübt Furcht die Urteilskraft am meisten, besonders, wenn man so jung und unerfahren ist wie Lerben.«

Das Mädchen schwieg eine Weile.

»Schwester Lerben hat mich nie gemocht. Jetzt muß ich fort von hier. Habt Ihr gehört, was sie gesagt hat? Äbtissin Draigen hat sie zur Verwalterin der Abtei ernannt, zur Nachfolgerin Schwester Siomhas.«

»Eine unkluge, Ja, geradezu unüberlegte Wahl«, räumte Fidelma ein. »Ich werde mit der Äbtissin darüber sprechen. Lerben ist zu jung, um rechtaire zu sein. Habt ein wenig Geduld, Berrach. Die Schwestern werden zur Besinnung kommen, und dann werden sie alles bereuen.«

»Wenn sie mich so sehr fürchten, dann wird diese Furcht nicht nachlassen, sondern sich in Haß verwandeln. Ich werde hier niemals sicher sein.«

»Gebt ihnen eine Chance. Gestattet mir zumindest, mit Äbtissin Draigen zu sprechen.«

Schwester Berrach schwieg, und Fidelma beschloß, dies als Zeichen der Zustimmung zu werten.

Sie erhob sich und warf von der Tür aus noch rasch einen Blick zurück.

»Kann ich Euch kurz allein lassen?« fragte sie.

Schwester Berrach schaute finster drein.

»Deo favente«, antwortete sie. »So Gott will.«

Fidelma verließ die Zelle und machte sich auf den Weg zu Draigens Gemächern. Nun, da sie über das Verhalten der Äbtissin nachdachte, schoß ihr vor Zorn das Blut in den Kopf. Wie konnte Draigen der blutjungen Lerben nur soviel Macht übertragen? Wie konnte sie die Novizin dazu veranlassen, die Schwestern zu einem Mord anzustiften, dem schlimmsten aller Verbrechen? Wie stark mußte der Haß sein, den die Äbtissin gegen Berrach hegte? Worauf auch immer Fidelma bei ihren Nachforschungen stieß, alles an diesem Ort lag unter einem Mantel von Haß. Sie war wütend, doch dann fiel ihr ein, wie leicht es war, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Hatte nicht Publilius Syrus gefordert, man solle den Zorn stets meiden? Zorn macht die Menschen blind und dumm. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Mentors, des Brehon Morann von Tara: Wer die glühende Hitze des Zornes erlebt, wird danach die eisige Kälte der Reue empfinden. Es ist stets besser, Ruhe zu bewahren.

Kaum hatte sie diesen Entschluß gefaßt, da stand sie auch schon vor der Tür zu Äbtissin Draigens Gemächern.

Sie stieß sie auf und marschierte hinein, ohne anzuklopfen.

Die Äbtissin saß kerzengerade an ihrem Tisch, die Lippen entschlossen zusammengepreßt. Neben dem Feuer stand Schwester Lerben. Offensichtlich hatte sie sich Schwester Bronachs Begleitung entzogen. Sie blickte voller Abneigung auf, als Fidelma eintrat und den Raum mit festen Schritten durchmaß.

»Ich möchte Euch allein sprechen, Mutter Oberin.«

»Ich bin ...«, begann Schwester Lerben.

»Ihr seid entlassen«, fauchte Schwester Fidelma.

Äbtissin Draigen warf dem Mädchen einen nervösen Blick zu und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie allein zu lassen. Die junge Frau verkniff sich eine Erwiderung, was ihr sichtlich schwerfiel. Hocherhobenen Hauptes verließ sie den Raum.

Bevor Fidelma sprechen konnte, verzog sich Äbtissin Draigens Gesicht vor Zorn.

»Dies ist bereits das zweite Mal, daß Ihr Euch in Anweisungen einer von mir autorisierten Person eingemischt habt. Ich habe Schwester Lerben an Stelle von Schwester Siomha zur stellvertretenden rechtaire ernannt.«

Fidelma lächelte matt, trotz ihrer Wut.

»Angst führt unwürdige Seelen in die Irre«, erwiderte sie, während sie Platz nahm.

Äbtissin Draigen verzog erneut das Gesicht.

»Dies ist auch das zweite Mal, daß Ihr Eure lateinischen Philosophen zitiert.«

»Ihr habt mir nicht einmal Zeit gelassen, Euch von meiner Befragung Schwester Berrachs zu berichten, bevor Ihr Lerben die Erlaubnis erteiltet, die Ängste der Schwestern in Eurer Gemeinschaft zu schüren«, sagte Fidelma, ohne auf Draigens Erwiderung einzugehen. »Was dachtet Ihr eigentlich, was sie durch eine derartige Anstiftung zum Mord erreichen würde? Habt Ihr geglaubt, Ihr, die Ihr als Äbtissin verantwortlich für solches Handeln seid, würdet ungestraft davonkommen?«

Äbtissin Draigen erwiderte unerschrocken ihren Blick.

»Ich wußte, daß Lerben und ihre Mitschwestern Berrach verurteilt hatten. Sie handelten in Übereinstimmung mit Gottes Gesetz, und ich unterstützte ihre Entscheidung. Ich glaube, daß Berrach des Mordes an Schwester Siomha schuldig ist. Die heidnischen Symbole bedeuteten Böses. Im Fünften Buch Mose steht geschrieben, daß alle, die derart Böses praktizieren, der Gotteslästerung schuldig sind und vertrieben werden müssen. Schwester Lerben handelte in Übereinstimmung mit den Lehren von Erzbischof Ultan. Ich billige ihr Handeln. Ich unterstehe der Autorität von Armagh.«

Fidelma kam zu dem Schluß, daß Aristoteles große Weisheit bewiesen hatte, als er sagte, jeder könne sich vom Zorn hinreißen lassen, das Geheimnis bestehe jedoch darin, genau zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Person wütend zu sein, und das im richtigen Ausmaß und in der richtigen Weise. In Wirklichkeit war es die Äbtissin, mit der sie sich auseinandersetzen mußte. Schwester Lerben war lediglich ihr Sprachrohr und von Draigen zweifellos genauestens instruiert worden. Jetzt war jedoch nicht der Zeitpunkt, auf Äbtissin Draigen wütend zu sein, denn Fidelmas Wut würde an der Äbtissin abprallen wie an einer Mauer.

»Laßt uns eines klarstellen: gegenwärtig sprechen genauso viele Beweise für Schwester Berrachs Schuld an der Ermordung Schwester Siomhas wie für Eure oder Schwester Bronachs Schuld. Ihr habt Lerben zur Gewalt angestiftet und die heimlichen Ängste geschürt, die die Behinderung der bedauernswerten Ber-rach bei ihren Mitschwestern auslöst. Das entspricht keineswegs der Art und Weise, wie ein Christ handeln sollte. Deshalb verlange ich von Euch die Garantie, daß Berrach kein Leid zugefügt wird, bis ich meine Untersuchung abgeschlossen habe.«

Äbtissin Draigen spitzte die Lippen.

»Ich werde nicht schwören, denn das verbietet die Bibel.«

Fidelma lächelte zynisch.

»Ich kenne den Passus, auf den Ihr Euch bezieht, Mutter Oberin. Er steht im fünften Kapitel bei Matthäus. Christus sagt zwar, man solle nicht schwören, schon gar nicht bei etwas Heiligem, doch er ermahnt die Menschen, mit >Ja< oder >Nein< zu antworten. Deshalb will ich Euch ermahnen, >Ja< zu sagen und damit die Sicherheit Berrachs zu garantieren. Die andere Antwort wäre >Nein<, und falls Ihr ablehnt, werde ich Abt Broce in Ros Ailithir von der Angelegenheit in Kenntnis setzen und Schwester Berrach persönlich beschützen müssen.«

Äbtissin Draigen schnaubte wütend.

»Dann sollt Ihr Euer >Ja< bekommen. Ich werde nichts mehr dazu sagen, nur, daß auch ich jemanden von der Angelegenheit in Kenntnis setzen werde -nicht Broce, sondern Ultan von Armagh persönlich.«

Fidelmas Augen wurden schmal.

»Soll das heißen, daß Ihr es vorzieht, in unserem Land den Lehren Roms zu folgen?«

»Ich bin Anhängerin der Schule Roms«, gab die Äbtissin zu.

»Dann wissen wir wenigstens, wo wir stehen«, erwiderte Fidelma leise.

Schwester Fidelma war sich des sich zuspitzenden Konfliktes zwischen der Kirche der fünf Königreiche von Éireann und der Kirche Roms sehr wohl bewußt. Auch die Debatte über die dazugehörigen Rechtssysteme wurde immer erbitterter. Irland konnte auf eine lange Rechtstradition zurückblicken, seit vor eintausendzweihundert Jahren Oberkönig Ollamh Fodhla angeordnet hatte, die Gesetze der Brehons, der irischen Richter, zu einem einheitlichen Gesetzbuch zusammenzufassen. Doch mit dem Neuen Glauben waren auch neue Ideen ins Land gekommen. Von Rom aus hatten die Vertreter des Christentums ihr eigenes Kirchenrecht aufgestellt und die Gesetze der Länder, die sie bekehrten, verunglimpft. Das kanonische Recht beruhte auf Entscheidungen, die auf den Synoden der Bischöfe und Äbte getroffen wurden. Es bezog sich angeblich zwar nur auf die Leitung der Kirchen und des Klerus und auf das Spenden der Sakramente, begann mittlerweile aber auch, das jeweilige Zivilrecht in Frage zu stellen.

In einigen wenigen Fällen hatten religiöse Institutionen den Anspruch erhoben, ihre Gesetze über das Zivilrecht, Ja sogar über das Strafrecht zu stellen. Derlei geschah allerdings höchst selten. Fidelma wußte jedoch, daß Ultan von Armagh einen engeren Zusammenschluß mit Rom begünstigte und das Kirchenrecht unterstützte. Ultan selbst war zu einer umstrittenen Figur geworden: seit er vor sechs Jahren als Nachfolger Commenés zum Erzbischof ernannt wurde, hatte sich immer wieder erwiesen, daß er die Kirche in den fünf Königreichen nach dem Modell Roms zu zentralisieren wünschte.

»Ich folge den Lehren Ultans und den Beweisen, die er vorgelegt hat und die deutlich zeigen, daß wir uns nicht nach den Gesetzen der Brehons richten sollten«, erklärte Draigen.

»Beweise?«

Die Äbtissin schob ihr ein kleines, handgeschriebenes Büchlein zu, das auf ihrem Tisch lag.

Fidelma warf einen Blick darauf: »Die Bischöfe Patrick, Auxilnus und Isernius grüßen die Priester, Dia-kone und alle Geistlichen ...«. Sie legte das Büchlein beiseite.

»Es ist kein Geheimnis, daß Erzbischof Ultan dieses Dokument in Umlauf gebracht hat«, bemerkte sie. »Er behauptet, es handele sich um den Bericht über ein Konzil, an dem vor zweihundert Jahren all jene teilnahmen, die bei der Bekehrung Irlands zum Christentum eine führende Rolle spielten. Nach Ultans Darstellung bilden die fünfunddreißig Erlasse dieser angeblichen Synode die Grundlage für das Kirchenrecht. Der erste Erlaß besagt, daß jedes Mitglied der Kirche, das sich an die weltliche Gerichtsbarkeit von Éireann wendet, exkommuniziert werden muß.«

Äbtissin Draigen musterte sie überrascht.

»Ihr scheint das Werk gut zu kennen, Schwester Fidelma«, gab sie vorsichtig zu.

Fidelma zuckte die Achseln.

»Gut genug, um seine Echtheit zu bezweifeln. Wären in diesem Land vor zweihundert Jahren solche Regelungen getroffen worden, hätten wir zweifellos davon gewußt.«

Draigen beugte sich verärgert vor.

»Es liegt auf der Hand, daß der Bericht zurückgehalten wurde, und zwar von denen, die den Anspruch Roms auf die führende Rolle in der Kirche zurückweisen.«

»Aber niemand hat je das Originalmanuskript zu sehen bekommen, nur die Kopien, die auf Anweisung Ultans angefertigt wurden.«

»Ihr wagt es, Erzbischof Ultan in Frage zu stellen?«

»Ich habe jedes Recht dazu. Dieses Buch enthält Erlasse, die zwar mit Rom übereinstimmen, dafür aber gegen die irischen Zivil- und Strafgesetze verstoßen.«

»Ganz genau«, stimmte Draigen selbstgefällig zu. »Genau deshalb vertreten wir auch den Standpunkt, daß die Anhänger des Glaubens das Zivilrecht nicht beachten und sich dem Kirchenrecht unterwerfen sollten, dem einzigen Weg der Wahrheit. Wie schon die Gesetze des Heiligen Patrick besagen: kein Christ darf einen weltlichen Richter anrufen, sonst droht ihm die Exkommunikation.«

Fidelma schaute sie belustigt an.

»Dann ist mir der ganze Streit ein Rätsel, denn ist nicht überliefert, daß Patrick einen eigenen Brehon beschäftigte, Erc von Baile Shlaine, der ihn in allen Rechtsstreitigkeiten vor den irischen Gerichten vertrat?«

Äbtissin Draigen war erstaunt.

»Ich habe keine ...«

»Noch verblüffender«, unterbrach sie Fidelma, ihren Vorteil nutzend, »ist Patricks schriftliche Bestätigung der Gesetze unseres Landes. Dieses Büchlein hier ist nichts weiter als eine Fälschung, die von Eurer pro-römischen Fraktion in Umlauf gebracht wurde. Schon allein deshalb, weil Patrick selbst, zusammen mit seinen beiden Gefährten, den Bischöfen Benignus und Cairenech, der Kommission aus neun hochangesehenen Persönlichkeiten angehörte, die auf Bitten des Oberkönigs Laoghaire zusammentrat und die Gesetze der Brehons studierte und überarbeitete, bevor sie in der neuen, lateinischen Schrift zu Papier gebracht wurden. Das war im Jahre des Herrn vierhundertachtundreißig. Ihr werdet sicher zugeben, Draigen, daß es für Patrick und seine Glaubensgefährten undenkbar gewesen wäre, über das irische Zivil- und Strafrecht zu beraten und es öffentlich zu unterstützen und gleichzeitig ein dem entgegenstehendes Regelwerk aufzustellen und dann noch - unter Androhung der Exkommunikation - zu verlangen, daß sich kein Mitglied der Kirche auf die Gesetze der Brehons beruft?«

Eine Weile herrschte Schweigen. Man sah Äbtissin Draigen an, wie verzweifelt sie sich bemühte, logische Argumente vorzubringen, um das Gesagte zu widerlegen. Fidelma lächelte ihr freundlich in ihr hochrotes Gesicht und klopfte mit dem Zeigefinger auf Ultans Büchlein.

»In den einleitenden Zeilen dieser Fälschung findet Ihr übrigens ein Körnchen Weisheit: Es ist besser, zu streiten als wütend zu sein.«

Die Äbtissin schwieg empört, während Fidelma ihren Angriff fortsetzte.

»Eines würde mich noch interessieren, Mutter Oberin. Wenn Ihr das glaubt, was Ihr behauptet, warum habt Ihr dann überhaupt Abt Broce gebeten, einen Brehon zu schicken, der den Fall untersucht? Ihr re-spektiert die weltlichen Gesetze doch gar nicht und wollt sie auch nicht anerkennen.«

»Noch unterstehen wir der weltlichen Gerichtsbarkeit«, erwiderte die Äbtissin in angriffslustigem Ton. »Als bo-aire bekleidet Adnar auch das Amt des Friedensrichters. Ich würde mich sogar der Macht des Teufels beugen, wenn ich dadurch die Macht meines Bruders eindämmen und seine Einmischung in die Angelegenheiten dieser Abtei unterbinden könnte.«

Fidelmas Mimik verriet Enttäuschung.

»Ihr erkennt das Gesetz der Brehons also nur an, wenn es Euch nützlich ist? Damit geht Ihr Eurer Gemeinschaft nicht gerade mit gutem Beispiel voran.«

Draigen brauchte eine Weile, bevor sie sich erholte.

»Ihr könnt mich nicht überzeugen. Ich stehe zu Ul-tans Erklärung, daß dieses Buch rechtsgültig ist.«

Fidelma neigte den Kopf.

»Das steht Euch frei, Mutter Oberin. In diesem Fall sollte ich Euch allerdings darauf hinweisen, daß die Gesetze der römischen Kirche, auf die Lerben heute morgen Bezug nahm, hier keinerlei Rechtmäßigkeit besitzen.«

»Und welche sind das?« wollte Draigen wissen.

»Sämtliche Gesetze, die, wie Lerben behauptet, ihr die Vollmacht geben, Schwester Berrach gefangenzunehmen und zu töten, falls sie des Verbrechens, dessen Ihr sie anklagt, für schuldig befunden würde. Zweifelsohne habt Ihr Lerben, die noch sehr jung ist, in diesen Fragen Anweisungen erteilt. Sie hat das Buch Mose, Kapitel zweiundzwanzig, Vers siebzehn zitiert.«

Draigen nickte.

»Ihr kennt die Bibel gut. Ja, so lautet das Gesetz: die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen. Auf dieser Grundlage könnte Berrach, sofern bewiesen wird, daß sie eine Zauberin ist und heidnische Rituale praktiziert, hingerichtet werden.«

»Wenn Ihr jedoch zu Ultans Erklärung steht und wenn Ihr in diesem Text, der vorgibt, seit Patricks erster Synode in diesem Land Gesetzeskraft zu besitzen, eine Rechtfertigung sucht, dann nehmt ihn zur Hand und lest mir das sechzehnte Gesetz vor.«

Verunsicherung beschlich die Äbtissin, während sie den Blick der jüngeren Frau erwiderte. Nach kurzem Zögern nahm sie das Buch und begann zu lesen.

»Würdet Ihr das Gesetz laut vorlesen?« drängte Fidelma.

»Ihr kennt es doch ohnehin«, entgegnete Draigen ärgerlich.

Fidelma nahm ihr freundlich das Buch aus der Hand und begann zu lesen.

»Jeder Christ, der glaubt, daß es auf der Welt so etwas wie Zauberinnen gibt, und der jemanden der Zauberei bezichtigt, wird exkommuniziert und nicht wieder in die Kirche aufgenommen, bevor er - durch persönliche Erklärung - seine verbrecherische Anschuldigung widerrufen und mit aller Strenge Buße getan hat.«

Bedächtig schloß Fidelma das Büchlein und legte es wieder hin. Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete die Äbtissin nachdenklich.

»Steht Ihr noch immer zu Ultans Erlässen? Denn wenn dem so ist, müßt Ihr auch akzeptieren, daß Ihr Euch diesem Kirchenrecht voll und ganz zu unterwerfen habt.«

Äbtissin Draigen antwortete nicht. Sie war offensichtlich verwirrt.

»Die Konsequenzen sind eindeutig festgelegt.« Fidelma sprach leise, doch in verächtlichem Tonfall. »Exkommunikation oder öffentliche Widerrufung der Anschuldigungen und Buße mit aller Strenge.«

Äbtissin Draigen schluckte.

»Ihr seid listig wie eine Schlange«, zischte sie kaum hörbar. »Ihr bestreitet, daß man diesem Gesetz zu gehorchen hat, und benutzt es dennoch, um mich zur Strecke zu bringen.«

»Keineswegs«, erwiderte Fidelma, ohne auf die Beleidigung einzugehen. »Veritas simplex oratio est - die Sprache der Wahrheit ist einfach.«

»Dennoch erkennt Ihr das Gesetz, das Ihr jetzt anwenden wollt, grundsätzlich nicht an«, wiederholte die Äbtissin stur.

»Aber Ihr behauptet, daß Ihr es anerkennt. Wenn Euer Denken irgendeiner Logik folgt, habt Ihr dem Gesetz zu gehorchen. Denn Ihr wart doch diejenige, die darauf Bezug genommen hat, und zwar als Rechtfertigung für ein Verbrechen, das hier beinahe begangen worden wäre.«

Die Glocke auf dem Turm hatte zu läuten begonnen.

Schwester Lerben trat ein. Sie bedachte Fidelma mit einem hochmütigen Blick.

»Ich nehme an, Ihr legt Wert darauf zu erfahren, daß die Glocke zum Frühgottesdienst läutet. Die Gemeinde erwartet Euch.«

»Ich habe Ohren, Lerben. Wenn meine Tür geschlossen ist, solltet Ihr anklopfen, bevor Ihr eintretet«, bellte Äbtissin Draigen gereizt. Die Novizin wirkte bestürzt. Sie hatte diese Reaktion offensichtlich nicht erwartet und errötete. Bevor sie etwas sagen konnte, fing sie den wütenden Blick der Äbtissin auf und zog sich hastig zurück.

»Möchtet Ihr Ultans Lehren verwerfen ...?« drängte Fidelma. »Vielleicht braucht Ihr den Rat Eurer anam-chara, Eurer Seelen-Freundin?«

Da sprang Äbtissin Draigen wütend auf.

»Schwester Siomha war meine anam-chara«, erwiderte sie kurz angebunden. Sie hätte den Streit am liebsten fortgesetzt, schluckte ihren Ärger jedoch hinunter. »Wie Ihr wünscht. Ich werde meine Anklage gegen Berrach widerrufen.«

Auch Fidelma erhob sich.

»Das ist gut so. Es muß vor der versammelten Gemeinschaft geschehen, da auch die Anklage vor der Gemeinschaft erhoben wurde. Erklärt die Anschuldigung für nichtig, leistet öffentlich Abbitte und tut Buße.«

Über Äbtissin Draigens Gesicht huschte ein gehässiger Ausdruck.

»Ich habe bereits gesagt, daß ich das tun werde.«

»Gut. Dann ist jetzt, da sich die Gemeinschaft zum Frühgottesdienst versammelt, genau der richtige Zeitpunkt dafür. Ich werde Schwester Berrach zur Kapelle geleiten, denn sie hat möglicherweise Angst, ihre Zelle zu verlassen. Immerhin wurde ihr Gewalt angedroht -Gewalt«, fügte sie leise hinzu, »in einer heiligen Stätte der Christenheit.«

Mit diesen Worten verließ sie Draigens Gemach.

Vor der Tür hielt sie einen Augenblick inne und atmete tief durch. Zum ersten Mal spürte sie so etwas wie Mitleid mit Adnar: seine Schwester war wirklich eine sonderbare Frau. Ihr blieb keine andere Wahl, als Abt Broce über die Angelegenheit zu unterrichten, denn selbst wenn Draigen in allen anderen Punkten unschuldig war, hatte sie sich doch der Anstiftung zum Mord schuldig gemacht und zu diesem Zweck die jugendliche Begeisterungsfähigkeit einer dritten Person sowie deren Mangel an Wissen und Erfahrung mißbraucht. Das konnte man ihr nicht durchgehen lassen. In der Tat, es lag etwas Abgründiges in Drai-gens Charakter.

Die Glocke rief, und die Schwestern eilten in die duirthech. In Berrachs Zelle traf Fidelma sowohl die gehbehinderte junge Nonne an als auch Schwester Bronach, die ihr Trost zusprach. Sie berichtete ihnen kurz, was zwischen ihr und der Äbtissin vorgefallen war.

Als Fidelma mit Schwester Berrach, die sich mit Hilfe ihres Steckens und von der besorgten Schwester Bronach gestützt vorwärtsmühte, die Kapelle betrat, war die Gemeinschaft bereits versammelt. Die Äbtissin stand hinter dem Altar, genau hinter dem großen, reich verzierten, goldenen Kreuz, während eine Vorsängerin den lateinischen Lobgesang leitete, den die Gemeinde angestimmt hatte.


Munther Beara beata

fide fundata certa,

spe salutis ornata,

caritate perfecta.


Fidelma fragte sich, ob Äbtissin Draigen diesen Gesang absichtlich ausgewählt hatte. Die Worte waren einfach. »Die gesegnete Gemeinschaft von Beara, gegründet auf festem Glauben, geschmückt mit Hoffnung auf Rettung, vervollkommnet durch Barmherzigkeit.« Die Schwestern sangen, als seien sie felsenfest von ihrer Botschaft überzeugt.

Während Fidelma Schwester Berrach nach vorne geleitete, verloren die Stimmen ihren Gleichklang und erstarben schließlich eine nach der anderen. Köpfe hoben sich, und ängstliche Spannung breitete sich in den Reihen der Andächtigen aus.

Ermutigend drückte Fidelma Berrachs Arm.

Der Gesang verstummte gänzlich, und Äbtissin Draigen verließ majestätisch ihren Platz und trat vor den Altar.

»Meine Kinder, ich stehe hier vor Euch, um Euch um Verzeihung zu bitten, denn ich habe schweres Unrecht auf mich geladen und zugelassen, daß ein junger, unerfahrener Mensch auf meinen Rat hin unrecht handelt.«

Nach diesen einleitenden Worten wurde es plötzlich still. So still, daß selbst der rasselnde Atem der Erkälteten zu hören war.

»Außerdem habe ich einer unserer Schwestern eine schreckliche Ungerechtigkeit zugefügt.«

Die Versammelten begannen allmählich zu begreifen und warfen Schwester Berrach und Fidelma beschämte Blicke zu. Berrach stützte sich auf ihren Stek-ken und hatte die Augen gesenkt. Schwester Bronach stand hocherhobenen Hauptes da, als sei sie diejenige, an die die Entschuldigung sich richtete. Fidelma hatte ebenfalls den Kopf erhoben und die Augen auf die der Äbtissin geheftet.

»In dieser Abtei sind Dinge geschehen, die unter uns große Bestürzung ausgelöst haben. Bestürzung und Furcht. Heute morgen wurde, wie Ihr wißt, unsere rechtaire, Schwester Siomha, grausam ermordet. Ohne über umfassende Informationen zu verfügen, beschuldigte ich eine der Unsrigen, die Tat begangen zu haben. Ich war so von dem Gedanken besessen, die Person zu bestrafen, die ich für die Täterin hielt, daß ich darüber ganz die Lehren Unseres Herrn vergaß. Denn heißt es nicht im Johannes-Evangelium: >Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein

Sie drehte sich um und sah Schwester Lerben an. Die Novizin stand hocherhobenen Hauptes da, geradezu herausfordernd. Fidelma war besorgt über die Heftigkeit der unterdrückten Wut, die sich in ihrer Miene widerspiegelte. Mit Lerben wird es wohl bald Schwierigkeiten geben, dachte sie.

»Darüberhinaus habe ich unsere junge Schwester Lerben irregeleitet und sie, nachdem ich sie zu meiner neuen rechtaire ernannt hatte, gebeten, meinen Rat zu befolgen und entsprechend zu handeln. Dafür übernehme ich die volle Verantwortung. Lerben verfügte nicht über genügend Erfahrung, um zu erkennen, daß ich im Irrtum war. Ich entschuldige mich in ihrem Namen.«

Vor den erstaunten Augen der versammelten Schwestern verließ Lerben plötzlich geräuschvoll die Kapelle - wie ein trotziges Kind.

Äbtissin Draigen schaute ihr traurig nach. Es wurde still, bis sie ihre Aufmerksamkeit Schwester Berrach zuwandte.

»Schwester Berrach, vor Gott und vor dieser Versammlung bitte ich Euch um Verzeihung. Angesichts des schrecklichen Todes von Schwester Siomha und der namenlosen Toten, die wir in unserem Brunnen entdeckten, veranlaßten mich Furcht und Abscheu, Euch als >Zauberin< zu beschimpfen und die hier Versammelten anzustiften, Euch etwas zuleide zu tun. Ich allein trage die Schuld an dieser Entgleisung, und an Euch wende ich mich nun und bitte Euch um Absolution.«

Jetzt richteten sich alle Augen auf Schwester Berrach.

Sie schlurfte einen Schritt vor. Es herrschte gespanntes Schweigen, während sie dastand, als zögere sie, ihre Entscheidung zu verkünden. Fidelma sah, daß die Gesichtsmuskeln der Äbtissin zuckten. Es fiel ihr offenbar nicht leicht, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Fidelma fragte sich, ob Berrach die Entschuldigung der Äbtissin annehmen würde. Dann begann das Mädchen zu sprechen.

»Mutter Oberin, Ihr habt die Worte des Evangelisten Johannes zitiert. Johannes hat gesagt, daß wir uns selbst betrügen, wenn wir behaupten, völlig frei von Sünde zu sein. Die Anerkennung unserer Sünden und die Beichte sind die ersten Schritte zur Erlösung. Ich kann Euch Eure Sünde vergeben ... doch davon lossprechen kann ich Euch nicht. Das kann allein Gott, der Allmächtige.«

Äbtissin Draigen sah aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Solche Worte hatte sie zweifellos nicht erwartet. Überraschtes Gemurmel ging durch die Reihen der Versammelten. Plötzlich hatten sie alle bemerkt, daß Berrach nicht mehr stotterte, sondern klar und deutlich und mit ausdrucksvoller Stimme sprach.

Schwester Berrach machte eine halbe Drehung, schaukelte langsam den Gang hinunter und verschwand durch den Ausgang.

Es war still, bis die Türen hinter ihr ins Schloß fielen.

»Ein wahres Wort: nur Gott allein kann uns von unseren Verfehlungen lossprechen. Wir Menschen können nur verzeihen.«

Alle Köpfe flogen herum, als Schwester Bronach einen Schritt vortrat. Sie hatte ohne Groll gesprochen.

»Amen!« fügte Fidelma laut hinzu, da sie sah, daß die Versammelten zögerten und nicht wußten, wie sie reagieren sollten.

Allmählich erhob sich zustimmendes Gemurmel. Äbtissin Draigen senkte den Kopf zum Zeichen, daß sie den Urteilsspruch der Versammlung annehmen werde, und kehrte an ihren Platz zurück.

Die Vorsängerin erhob sich und begann zu singen:


Maria de tribu Iuda

summi mater Domini,

opportunam dedit curam

aegrotanti homini...


»Maria vom Stamme Juda, Mutter des Allmächtigen, hat rechtzeitige Heilung für die kranke Menschheit uns gebracht.«

Rasch beugte Fidelma die Knie in Richtung Altar, drehte sich um und eilte hinter Schwester Berrach her nach draußen.

Rechtzeitige Heilung für die kranke Menschheit? Fidelma verzog spöttisch den Mund. Für die Krankheit, die in dieser Abtei um sich griff, schien es keine Heilung zu geben. Sie war nicht einmal sicher, um welche Krankheit es sich handelte, außer daß ihre Ursache blanker Haß war. Hier geschahen Dinge, die sie nicht verstand. Es handelte sich nicht um ein einfaches Problem, schon gar nicht um die einfache Frage: Wer hat wen ermordet - und warum?

Zwei Frauen waren gefunden worden, beide durch einen Stich ins Herz getötet, beide anschließend enthauptet, und beide mit einem Kruzifix in der rechten Hand und einem Espenholzstab mit einer Ogham-inschrift in der linken. Welche Verbindung bestand zwischen diesen beiden Frauen? Wenn sie das herausfand, konnte sie vielleicht das Motiv herausfinden. Bisher hatte ihre Untersuchung alles in allem kaum etwas Brauchbares enthüllt, was auf das Tatmotiv, geschweige denn auf den oder die Täter hinwies. Alles, was sie in Erfahrung gebracht hatte, war, daß die Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen von einer Frau mit einer äußerst starken Persönlichkeit geleitet wurde, deren Ansichten mehr als fragwürdig waren.

Zum Abschluß des Frühgottesdienstes wurden nun die Laudes gesungen, die Loblieder, die in der Kirche den Anbruch des Tages verkündeten. Die Stimmen der Schwestern erklangen mit seltsamer Inbrunst:

»Ihr Mund soll Gott erheben; / und sie sollen scharfe Schwerter in ihren Händen haben,

daß sie Rache üben unter den Heiden, / Strafe unter den Völkern,

ihre Könige zu binden mit Ketten / und ihre Edlen mit eisernen Fesseln,

daß sie ihnen tun das Recht, / davon geschrieben steht. / Solche Ehre werden alle seine Heiligen haben. Halleluja!«

Fidelma überlief ein Schauer.

Hatten die Worte etwa einen neuen Sinn bekommen, den sie nicht entschlüsseln konnte?

Doch die Laudes bestanden immer aus den Psalmen 148 bis 150, sie wurden jeden Morgen bei Tagesanbruch gesungen, hintereinander, wie ein einziger, langer Psalm.

Die Worte waren immer dieselben. Warum hörte sie heute eine unbestimmte Drohung heraus?

Sie wußte, daß irgend jemand hier seine Possen mit ihr trieb. Doch sie war sich nicht sicher, worüber diese Possen sie eigentlich hinwegtäuschen sollten.

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