Epilog

Am Ausgang der Kapelle traf Fidelma auf Bruder Cillin.

»Herzlichen Glückwunsch, Schwester. Ihr habt einen komplizierten Fall großartig gelöst.«

»Febal ist anscheinend nicht der einzige hier, der vom Glauben abgefallen ist«, bemerkte Fidelma spitzfindig.

Bruder Cillin folgte Fidelmas Blick und sah Äbtissin Draigen, die heftig auf Schwester Lerben einredete.

»Ach Ja. Die Eitelkeit der Äbtissin. Vanitas vanita-tum, omnis vanitas. Abt Broce hat mich ermächtigt, Äbtissin Draigen auf eine Pilgerreise zu schicken, damit sie wieder lernt, was wahre Demut ist. Unter meiner Führung wird Schwester Bronach die Leitung der Abtei übernehmen.«

»Ich hatte verstanden, daß Ihr in Gulbans Hauptstadt jenseits der Berge zu reisen gedenkt?«

»Richtig. Ich habe die Absicht, dort ein neues Kloster aufzubauen, und diese Abtei wird, wenn sie erst einmal von der Sünde des Stolzes befreit ist, von dort Anweisungen erhalten. Laßt uns beten, daß Äbtissin Draigen die Lektion annimmt und daraus lernt.«

»War es nicht Syrus, der sagte: Vincit qui se vincit -der siegt, der sich selbst besiegt?«

Bruder Cillin lachte.

»Wer sich selbst kennt und seine Probleme überwindet, kann im Leben viel erreichen. Das ist ein schöner Gedanke. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät und Draigen ist nicht so eitel, daß sie die Absicht mißdeutet.«

»Werdet Ihr darauf bestehen, daß sie gehorcht? Man kann schließlich nicht davon ausgehen, daß sie lammfromm Eure Anweisungen befolgt.«

»Da ist noch die Sache, von der Ihr mir erzählt habt -wie sie Schwester Lerben zum Mord anstiftete. Womöglich wäre es sogar zu dem Verbrechen gekommen, hättet Ihr nicht beherzt eingegriffen und Schwester Berrach beschützt. Ich werde Draigen klarmachen, daß sie die Wahl hat, entweder in Demut zu gehorchen oder sich in Ros Ailithir vor einer Versammlung von Kirchenvertretern für ihr Verhalten zu verantworten.«

»In diesem Fall wird sie mit Sicherheit die Pilgerfahrt vorziehen. Draigen ist zwar eitel, doch hinter ihrem Hochmut verbirgt sie ein Leben, das zerstört wurde, bevor es richtig begann. Eitelkeit ist nur die Rüstung, die sie trägt, um sich vor dem Leben zu schützen.«

Cillin warf Fidelma einen schiefen Blick zu.

»Soll ich etwa Mitleid mit ihr haben? Sicher ist ihre Eitelkeit ihr Trost genug?«

»Es wäre traurig, wenn wir für Menschen, die Schiffbruch erlitten haben, kein Mitleid mehr empfinden würden.«

»Ich empfinde eher Mitleid mit ihrer Tochter, Schwester Lerben. Ihre Mutter wurde ihr zum Verhängnis, und das Verhalten ihres Vaters brachte ihr auch nur tiefes Leid. Welche Hoffnung gibt es denn für sie?«

»Das wird von Euch abhängen, Cillin«, erwiderte Fidelma. »Von jetzt an wird Eure Hand die Geschicke dieser Menschen lenken.«

»Das ist eine große Verantwortung«, stimmte der Mönch ihr zu. »Ich würde lieber zu den Barbaren pilgern, die das Wort Christi noch nicht vernommen haben, als die geistigen und seelischen Konflikte dieser Menschen hier zu lösen. Ich werde Schwester Lerben nach Ard Fhearta schicken, wo sie mit Älteren zusammensein und von ihnen lernen kann.«

»Arme Lerben. Sie war so stolz darauf, rechtaire zu sein.«

»Sie muß noch viel lernen, bevor sie andere anleiten oder über sie bestimmen darf.« Bruder Cillin streckte die Hand aus. »Vade inpace, Fidelma von Kildare.«

»Vale, Cillin von Mullach.«

Im Innenhof der Abtei gesellte sich Fidelma zu Ea-dulf.

»Was jetzt?« fragte der sächsische Mönch besorgt.

»Jetzt? Ich habe kein Verlangen, noch länger an diesem traurigen Ort zu verweilen. Ich kehre nach Cas-hel zurück.«

»Dann reisen wir zusammen«, stellte Eadulf hocherfreut fest. »Bin ich nicht als Emmissär im Auftrag des Theodor von Canterbury zu Euerm Bruder in Cashel unterwegs?«

Am Kai wurden sie von Ross bereits erwartet. Etwas abseits standen Schwester Bronach und Schwester Berrach, die sich auf ihren schweren Stecken stützte. Ganz offensichtlich wollten die beiden mit ihr sprechen. Fidelma entschuldigte sich bei Eadulf und Ross, ging hinüber und begrüßte sie.

»Ich wollte nicht, daß Ihr abreist, bevor ich mit Euch reden konnte«, begann Schwester Bronach zögernd. »Ich wollte Euch danken ...«

»Es gibt nichts, wofür Ihr mir danken müßtet«, protestierte Fidelma.

»Außerdem wollte ich mich entschuldigen«, fuhr die Nonne mit der ernsten Miene fort. »Ich dachte, irgendwie hättet Ihr mich im Verdacht .«

»Es gehört zu meinem Beruf, jeden zu verdächtigen, Schwester, aber heißt es nicht: Vincit omnia veritas - Die Wahrheit besiegt alles?« antwortete sie.

Schwester Berrach schnaubte verächtlich und deutete hinüber zu den Gebäuden der Abtei.

»Solltet Ihr als Schlußwort nicht besser den Ausspruch des römischen Dichters Terenz wählen - veritas odium parit. «

Fidelmas Augen blitzten auf.

»Wahrheit zeugt Haß?« Sie warf einen Blick in Richtung Abtei. Dort war die Äbtissin in eine hitzige Debatte mit Bruder Cillin vertieft. »O Ja. Ich fürchte, das liegt in der Natur der Sache: Viele Menschen ver-suchen, die Wahrheit voreinander zu verbergen, doch der weitaus schlimmere Haß entsteht, wenn jemand die Wahrheit vor sich selbst nicht mehr zugibt.«

Schwester Berrach beugte den Kopf. Das war ihre Art, Fidelmas Weisheit anzuerkennen.

»Ich möchte Euch danken, Fidelma. Wäret Ihr nicht gewesen, hätte man mich zu Unrecht beschuldigt und aus purer Voreingenommenheit verurteilt.«

»Heraklit sagte, daß Hunde die Menschen anbellen, die sie nicht kennen. In der Tat, Vorurteile entstehen aus Unwissen. Oft hassen die Menschen einander, weil sie sich nicht kennen. Ich kann Euch keinen Vorwurf daraus machen, aber Ihr habt selbst zu diesem Unwissen beigetragen, indem Ihr die Rolle, die die anderen Euch zugedacht hatten, brav gespielt habt, anstatt unerschütterlich Ihr selbst zu bleiben. Ihr gabt vor, einfältig zu sein, zu stottern und weder lesen noch schreiben zu können, und habt Euch nur in den wenigen Stunden, da niemand Euch beobachten konnte, den Büchern gewidmet.«

»Wir können Vorurteile nicht ausmerzen«, verteidigte sich Schwester Berrach.

»Wissen ist das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Schwester Comnat wird sich nach einer neuen Bibliotheksgehilfin umsehen. Wenn sie von Eurer Beschlagenheit wüßte, Schwester Berrach, würde sie Euch diesen Posten mit Sicherheit anbieten.«

Berrach antwortete mit einem breiten Lächeln.

»Dann will ich dafür sorgen, daß sie davon erfährt.«

Fidelma nickte und sagte dann mit einem Blick auf Bronach leise: »Eure Mutter kann stolz darauf sein, eine solche Tochter zu haben, Schwester Berrach.«

Über Schwester Bronachs ernste Miene huschte ein Ausdruck ehrfürchtigen Staunens.

»Ihr wißt sogar das?«

»Wenn Ihr Eure Mütterlichkeit nicht schon durch Eure Art, in Berrachs Nähe zu bleiben und ihr beizustehen, bewiesen hättet, dann wäre ich spätestens durch die Geschichten, die Ihr beide mir erzählt habt, darauf gekommen. Ihr spracht davon, daß Suanach Eure Mutter war und daß Ihr dieser Gemeinschaft beigetreten seid, während Suanach weiterhin den alten Traditionen anhing. Ihr seid in die Abtei gekommen, habt einen Mann kennengelernt und ein Kind bekommen. Doch Ihr konntet Euch hier nicht richtig um Eure Tochter kümmern und brachtet sie zu Eurer Mutter, die sie aufzog. Warum war es für Euch so schwierig, in dieser Gemeinschaft ein Kind zu erziehen? Weil das Kind eine körperliche Behinderung hatte und deshalb ständiger Fürsorge bedurfte.«

Schwester Bronach war blaß geworden, stand jedoch hocherhobenen Hauptes da.

»Das stimmt«, gab sie zu. »Erzählt mir bloß nicht noch mehr Wahrheiten.«

Berrach klammerte sich an den Arm ihrer Mutter.

»Ich weiß schon seit einiger Zeit Bescheid. Ihr habt recht, Schwester Fidelma. Mein Vater wollte meiner Mutter nicht helfen, mich zu versorgen. Nur meine Großmutter unterstützte uns, bis ich drei Jahre alt war. Sie hatte damals noch ein Kind in Pflege, ein älte-res Kind. Dieses Kind steckte voller Bosheit und Eifersucht und tötete meine Großmutter in einem Wutanfall, so daß ich gänzlich hilflos zurückblieb. Da beschloß Bronach, sich über die Wünsche meines Vaters hinwegzusetzen. Sie nahm mich mit in die Gemeinschaft und zog mich auf - trotz der Behinderung.«

Schwester Bronach verzog das Gesicht.

»Allerdings unter der Bedingung, daß ich niemals verraten würde, wer ihr Vater war. Ich habe mich an diese Bedingung gehalten. Wenn Berrach es wüßte, würde es ihr nicht gerade zur Freude gereichen.«

»Ich bin froh, nichts darüber zu wissen«, versicherte Berrach. »Das ist kein großer Verlust.«

»Es ist jedoch eine Ironie des Schicksals, daß das Kind, das meine Mutter tötete, ebenfalls in die Gemeinschaft eintreten durfte und schließlich unsere Äbtissin wurde.«

»Sie wird nicht mehr lange hier sein. Ebensowenig wie Schwester Lerben.«

Schwester Berrach umklammerte Fidelmas Hand.

»Aber Ihr erzählt unsere Geschichte doch nicht weiter?«

»Nein«, versicherte Fidelma dem Mädchen. »Was mich betrifft, ist Euer Geheimnis begraben und vergessen.«

Schwester Bronach wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln.

»Vielen Dank, Schwester.«

Fidelma nahm die Hände der beiden Frauen in die ihren.

»Sorgt in Zukunft ebensogut füreinander, Schwestern, wie in der Vergangenheit.«

Das Segel aus schwerer Leinwand fiel krachend am Mast herunter, bis es richtig hing. Ross beobachtete seine Männer mit kritischen Blicken, während sie hinaufkletterten und es ordnungsgemäß festzurrten. Ein scharfer, kalter Wind brauste über die Meerenge und trieb Schneeböen vor sich her. Der Himmel war fast schwarz, die Luft feucht und eisig kalt, doch Ross hatte keinerlei Bedenken, in See zu stechen, obwohl der Wellengang selbst in der Meerenge heftig war und die barc besorgniserregend auf dem Wasser schaukelte. Als die Segel schließlich gesetzt waren, nahm das Schiff, mit Odar am Steuer, rasch Fahrt auf.

Schwester Fidelma und Bruder Eadulf standen zusammen mit Ross auf dem Achterdeck. Die Nonne und der Mönch umklammerten die Reling, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und beneideten Ross uni die Leichtigkeit, mit der er neben dem Ruder stand und mit gespreizten Beinen jede Neigung des Schiffsdecks auszugleichen vermochte. Der stämmige Seemann drehte sich zu ihnen um, sah sie beinahe entschuldigend an und schrie gegen den tosenden Wind: »Es wird wohl eine Weile so unruhig bleiben, aber sobald wir das offene Meer erreichen, wird es besser.«

Fidelma grinste den besorgt dreinblickenden Eadulf an.

»Ich bin lieber auf See, als noch länger in der schrecklichen Atmosphäre dieser Abtei eingesperrt zu sein«, erwiderte sie. Dann wandte sich Ross anderen Aufgaben zu.

»Mir fällt es auch nicht sonderlich schwer, hier abzureisen«, gestand Eadulf. »Es war nicht gerade meine beste Zeit.«

Fidelma blickte mitfühlend zu ihm auf. Dann fiel ihr Blick auf das große gallische Handelsschiff, das noch immer in der Meerenge vor Anker lag und allmählich hinter ihnen verschwand.

»Es war wirklich eine großzügige Geste, daß Ross auf das Schiff, das ihm als Bergungsgut zustand, verzichtet und es der gallischen Besatzung zurückgegeben hat, damit sie sicher nach Hause fahren kann.«

»Schade, daß Waroc das nicht mehr erleben konnte. Er war ein tapferer Mann.«

»Was glaubt Ihr, wie lange werdet Ihr in Cashel bleiben?«

Fidelma wechselte unvermittelt das Thema.

»Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich, bis ich Nachricht von Theodor von Canterbury erhalte.«

»Ich selbst habe vor, eine Weile dort zu bleiben«, bemerkte Fidelma beiläufig. »Es ist schon lange her, seit mein Bruder und ich ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten.«

»Nach dieser Sache braucht Ihr sicher erst mal Erholung«, stimmte Eadulf zu. »Von Komplotten und Aufständen einmal abgesehen, wimmelte es in der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen geradezu von eitlen, habgierigen und verschrobenen Menschen. Es ist bestimmt angenehm, wieder unter Freunden zu weilen.«

»Ihr beurteilt sie zu streng. Schwester Comnat ist eine aufrechte und vernünftige Frau. Und was Bronach und Berrach angeht ... sie wissen zumindest, was Liebe und Fürsorge bedeuten.«

»Ja. Die beiden tun mir besonders leid.«

»Mitleid? Ich würde eher sagen, man sollte neidisch auf sie sein. Es ist schließlich nicht vielen vergönnt, die selbstlose Liebe einer Mutter zu geben oder zu empfangen.«

Plötzlich runzelte Fidelma die Stirn, lehnte sich gegen die Reling und richtete den Blick hinaus aufs Meer.

»Ich frage mich, ob Bronach ihrer Tochter je den Namen ihres Vaters verraten wird.« Sie hatte Bronachs flehenden Blick gesehen und ihr stummes Gebet erhört, den Namen Febal nicht auszusprechen. Vielleicht war es tatsächlich besser so.

Eadulf hatte ihre Worte nicht verstanden.

»Was sagtet Ihr?«

Fidelma blickte zu dem hochgewachsenen sächsischen Mönch auf, und ihr Gesicht wirkte plötzlich entspannt und zufrieden.

»Ich freue mich, daß Ihr mit nach Cashel kommt, Eadulf«, antwortete sie.

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