Kapitel 18

Sie waren zum Anlegesteg hinuntergegangen, um die Neuankömmlinge zu empfangen: Fidelma und Eadulf, Äbtissin Draigen und Schwester Lerben, die von Draigen - entgegen Fidelmas Rat - in ihrem Amt als rechtaire der Abtei bestätigt worden war. Sie sahen zu, wie das kleine Boot von Ross’ barc am Kai festmachte.

Ross wurde von einem großen, fast weißhaarigen Mann von imposanter Erscheinung begleitet. Trotz seines Alters sah er noch immer gut aus und strotzte nur so vor Energie. Über seinem Umhang trug er eine goldene Amtskette. Hätte ihn nicht schon seine auffällige Erscheinung aus der Masse hervorgehoben, so hätte man ihn spätestens an seiner Kette als hochrangige Persönlichkeit erkannt.

Ross strahlte vor Erleichterung, als er Fidelma unter den Wartenden erspähte. Er vergaß das Protokoll, überging die Äbtissin und begrüßte die ddlaigh als erste.

»Gott sei Dank seid Ihr in Sicherheit und wohlauf, Schwester. Seit meiner Abreise habe ich nur schlaflose Nächte verbracht.« Bruder Eadulf begrüßte er mit einem kurzen Lächeln.

»Wir sind wohlauf und in Sicherheit, Ross«, erwiderte Fidelma seinen Gruß.

»Deo adjuvante!« murmelte der ältere Beamte. »Deo adjuvante! Euer Bruder würde mir niemals verzeihen, wenn Euch etwas zugestoßen wäre.«

Ross beantwortete die Frage, die er Fidelma von den Augen ablas.

»Das ist Beccan, oberster Brehon und Richter vom Stamm der Loigde.«

Der betagte Brehon streckte Fidelma beide Hände entgegen. Seine Miene war ernst, doch seine Augen funkelten humorvoll.

»Schwester Fidelma! Ich habe schon viel von Euch gehört. Man hat mich gebeten, an Stelle von Bran Finn, dem Häuptling der Loigde, hierherzukommen und darüber zu befinden, wer sich im Zusammenhang mit dieser Verschwörung welcher Verbrechen schuldig gemacht hat.«

Fidelma begrüßte den Brehon. Sie hatte schon damit gerechnet, daß Bran Finn seinen höchsten Beamten der Gerichtsbarkeit entsenden würde, um in diesem Fall als Richter zu fungieren. Dann stellte sie ihm Eadulf vor.

Beccan sprach mit großem Ernst: »Selbst wenn außer Eurer Gefangennahme kein weiteres Verbrechen begangen worden wäre, Bruder, hätten wir es mit einer schwerwiegenden Angelegenheit zu tun. In unserem Königreich sind wir der Ansicht, daß die Nichtbeachtung des Gastrechts gegenüber Fremden ein schlechtes Licht auf uns alle wirft, vom Oberkönig angefangen bis zum Geringsten in unserem Land. Deshalb möchte ich mich bei Euch in aller Form entschuldigen und verspreche, daß Ihr angemessen entschädigt werdet.«

»Die einzige Entschädigung, die ich verlange«, erwiderte Eadulf genauso ernst, »ist, daß die Gerechtigkeit obsiegt und die Wahrheit sich durchsetzt.«

»Wohl gesprochen, Sachse«, erwiderte Beccan, dessen Augen sich vor Staunen weiteten, da Eadulf die irische Sprache so fließend beherrschte. »Eurer Redegewandtheit nach zu urteilen müßt Ihr an unseren Hochschulen studiert haben. Ihr sprecht unsere Sprache ausgezeichnet.«

»Ja, ich habe einige Jahre in Durrow und Tuam Brecain verbracht«, bestätigte Eadulf.

Äbtissin Draigen war verärgert, daß niemand sie beachtete, und schaltete sich ein. Unter normalen Umständen hätte sie - so wollte es das Protokoll - den Brehon als erste begrüßt.

»Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid, Beccan. Hier gibt es vieles aufzuklären. Bedauerlicherweise scheint die junge ddlaigh, die uns Broce geschickt hat, dazu nicht in der Lage zu sein.«

Beccan hob fragend die Augenbrauen.

»Das ist die Äbtissin der Gemeinschaft«, stellte Fidelma Draigen vor, »und das ist ihre rechtaire.«

Der Brehon begrüßte sie höflich, ohne jedoch die Enttäuschung zu beachten, die sich auf Draigens Miene widerspiegelte, weil man sie Beccan erst vorstellen mußte.

»Kommt, Äbtissin, laßt uns zusammen mit Eurer jungen Verwalterin ein Stück gehen und dabei besprechen, was als nächstes zu tun ist.«

Er nickte Fidelma lächelnd zu und führte die Äbtissin und ihre Untergebene davon.

»Ein kluger Mann«, bemerkte Ross. »Er weiß, daß wir Zeit brauchen, um miteinander zu reden, ohne daß Draigen uns zuhört.« Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Ehrlich, Fidelma, ich habe mir große Sorgen um Eure Sicherheit gemacht. Ich fürchtete, Ihr könntet in den Aufstand verwickelt worden sein.«

»Was gibt’s darüber Neues? Was ist passiert?« fragte Fidelma mit banger Ungeduld.

»Ich bin mit Schwester Comnat nach Ros Ailithir gesegelt. Nur etwa eine halbe Tagesreise von hier entfernt trafen wir, wie es der Zufall wollte, auf ein Kriegsschiff der Loigde. Der Kapitän, ein guter Bekannter, entschloß sich, unverzüglich Gulbans Kupferminen anzusteuern. Wir setzten unsere Reise fort und begaben uns in Ros Ailithir auf schnellstem Wege zu Abt Broce und Bran Finn. Dieser wiederum versetzte seinen Stamm sofort in Alarmbereitschaft und schickte Boten zu Euerm Bruder nach Cashel. Außerdem stellte er mir ein Kriegsschiff als Geleitschutz zur Verfügung, und wir kehrten mit dem Brehon hierher zurück, so schnell wir konnten. Schwester Comnat bestand darauf, ebenfalls mitzukommen.«

»Haben die Aufständischen Cashel denn schon angegriffen?« unterbrach Eadulf, der wußte, wieviel Sorgen sich Fidelma um ihren Bruder machte.

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Ross. »Beccan hat den Auftrag, Adnar und alle, die Gulban unterstützen, einzusperren. Er wird die Abtei beschützen, bis er neue Anweisungen von Bran Finn erhält. Sobald wir erfahren, wie es um Cashel steht, kann Beccan über die Morde in der Abtei zu Gericht sitzen.«

Fidelma überlegte.

»Das ist ganz in meinem Sinne«, stimmte sie zu. »Tatsächlich ist die Verzögerung sogar von Vorteil, denn ich möchte noch einige Dinge klären, bevor ich in dem Fall die Anklage vorbringe. Aber sind wir hier denn sicher vor Gulbans Männern?«

Ross deutete wortlos auf das Kriegsschiff, das unter der Flagge von Cashel in der Meerenge vor Anker lag.

»Keine schlechte Garantie«, brummte Eadulf. Dann wurden seine Augen schmal. »Hier kommt Adnar, der hiesige Häuptling, um sich mit dem Brehon bekannt zu machen.«

Vom Kai vor Dun Boi legte ein Boot ab und überquerte die Bucht. Im Heck war die schwarzhaarige Gestalt des bo-aire zu erkennen.

»Ich glaube, ich würde gern mit auf Eure barc kommen und noch einmal mit Schwester Comnat sprechen, Ross«, sagte Fidelma, der ein erneutes Zusammentreffen mit Adnar im Augenblick nicht sehr gelegen kam.

Ross half Fidelma ohne Zögern in sein Boot, und zusammen mit Eadulf fuhren sie los, bevor Adnars Gefährt am Kai anlegte.

Schwester Comnat saß in der Kajüte. Sie wirkte etwas abgespannt, schien jedoch bei wesentlich besserer Gesundheit zu sein als beim letzten Mal, da Fidelma sie gesehen hatte.

»Ist alles in Ordnung?« fragte sie sofort, kaum daß Fidelma und Eadulf die Kajüte betreten hatten.

»Wahrscheinlich erfahren wir das erst in ein bis zwei Tagen, Schwester«, erwiderte Fidelma. »Jedenfalls können wir die Liste der Todesfälle in der Abtei um einen Namen ergänzen - Torcan von den Ui Fid-genti.«

»Der Sohn von Eoganan? Er war in der Abtei?« fragte die Bibliothekarin besorgt.

Fidelma nahm auf der Koje Platz und bedeutete Comnat, sich wieder zu setzen.

»Ihr habt erzählt, daß Ihr beobachten konntet, wie er Gulbans Männer trainierte, bevor Ihr zusammen mit Schwester Almu gefangengenommen wurdet?«

»Ja.«

»Und Bruder Eadulf hat in ihm den jungen Häuptling wiedererkannt, der in den Kupferminen das Kommando hatte.«

»Ja, dort war er auch.«

»Schwester Comnat, Ihr seid doch sehr gebildet -sagt, kennt Ihr die Bedeutung des Namens Torcan?«

Schwester Comnat war sprachlos.

»Was hat das damit zu tun?«

»Bitte.«

»Na schön, laßt mich überlegen ... wahrscheinlich handelt es sich um eine Ableitung von torce, einem wilden Eber.«

»Habt Ihr nicht erwähnt, daß Schwester Almu vor ihrer Flucht etwas zu Euch sagte, worauf Ihr Euch keinen Reim machen konntet?«

»Ja, sie sagte ...« Comnat verstummte, als sie den Zusammenhang begriff. »Vielleicht habe ich ihre Bemerkung auch falsch verstanden. Almu sagte etwas über einen wilden Eber, zumindest glaube ich das . Wollt Ihr behaupten, daß Torcan ihr zur Flucht ver-half und sie dann ermordete? Aber warum? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«

»Ihr habt auch erwähnt, daß Almu mit Siomha befreundet war, richtig?«

»Sehr sogar.«

»Falls Almu die Abtei wohlbehalten erreicht hätte, wäre es für sie doch naheliegend gewesen, zuallererst Schwester Siomha aufzusuchen, vielleicht sogar noch, bevor sie mit Äbtissin Draigen gesprochen hätte, nicht wahr?«

»Möglich.«

»Versetzt Euch mit mir noch einmal zurück an jenen Tag, an dem der alte Bettler Euch die Abschrift von Teagasg Ri verkaufte, des Werkes, das Oberkönig Cormac verfaßt hat. Erinnert Ihr Euch?«

Schwester Comnat sah sie verdutzt an. Am liebsten hätte sie gefragt, warum die Rechtsgelehrte so sprunghaft das Thema wechselte, doch sie wußte das Funkeln in Fidelmas Augen richtig zu deuten.

»Ja«, antwortete sie. »Das war in der Woche, bevor Schwester Almu und ich nach Ard Fhearta aufbrachen.«

»Kam der Bettler direkt in die Bibliothek?«

»Nein. Er ging zuerst zur Äbtissin und gab ihr das Buch. Sie schickte nach mir und fragte mich, ob es sich lohnte, den Band zu kaufen. Äbtissin Draigen hat zwar viele Stärken, aber ein Verständnis für Bücher und Bibliotheken gehören nicht dazu. Ich sah sofort, daß die Abschrift gut war.«

»Waren irgendwelche Seiten des Buches beschädigt oder herausgetrennt?«

»Nein. Für ein so altes Buch war es in einem ausgezeichneten Zustand. Es hatte sogar noch einen besonderen Wert, denn im Anhang war eine Kurzbiographie des Oberkönigs hinzugefügt. Also stimmte ich zu, daß die Abtei das Buch kaufen oder von dem Alten gegen Nahrungsmittel eintauschen sollte.«

»Ich verstehe. Hat die Äbtissin das Buch behalten?«

»Nein, ich kümmerte mich darum und brachte es sofort in die Bibliothek. Dort bat ich Schwester Almu, es durchzusehen und in den Bestand einzuordnen.«

»War Schwester Almu trotz ihrer Jugend eine gelehrige Schülerin?«

»Sie war sehr gelehrig. Sie hatte eine sehr schöne Handschrift und konnte Griechisch, Latein und Hebräisch.«

»Kannte sie auch die Oghamschrift und die Sprache der Féine?«

»Selbstverständlich. Ich selbst habe sie darin unter-richtet. Sie hatte eine rasche Auffassungsgabe. Bei allem Respekt für die Verblichene - Almu hatte sich zwar nicht mit Leib und Seele der Verbreitung des Glaubens verschrieben, doch sie war eine begeisterte Büchernärrin und interessierte sich besonders für alte Chroniken.«

»Also hat Almu das Buch durchgesehen?«

»Ja.«

»Wenn ihr irgend etwas Ungewöhnliches an dem Buch aufgefallen wäre, mit wem hätte sie darüber gesprochen?«

Schwester Comnat runzelte die Stirn.

»Ich bin die Bibliothekarin.«

»Aber«, Fidelma wählte ihre Worte mit Bedacht, »falls sie Euch nicht damit behelligen wollte, könnte sie sich dann auch ihrer Freundin, Schwester Siomha, anvertraut haben?«

»Schon möglich. Ich wüßte aber nicht, warum sie das hätte tun sollen.«

Unvermittelt erhob sich Fidelma und lächelte.

»Macht Euch keine Gedanken, Schwester Comnat. Ich glaube, so langsam wird mir alles klar.«

Draußen an Deck fragte sie Ross, ob einer seiner Matrosen sie unverzüglich zu Adnars Festung rudern könnte. Auf dem Weg dorthin gestand ihr Eadulf, daß ihm die Lage höchst verworren erschien, obwohl Fidelma mit ihm alles besprochen hatte, was seit ihrer Ankunft in der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen passiert war. Eadulf kannte Fidelmas entrückten Blick bereits und wußte, was ihr undurchdringlicher, gelas-sener Gesichtsausdruck zu bedeuten hatte. Je dichter Fidelma ihrer Beute auf den Fersen war, desto weniger war sie geneigt, ihre Gedanken preiszugeben.

Fidelma legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm.

»Die Voruntersuchung kann erst stattfinden, wenn Beccan so weit ist«, sagte sie. »Das gibt Euch reichlich Zeit, Euch Klarheit zu verschaffen.«

»Wollt Ihr behaupten, Almu und Siomha wußten von einem Geheimnis, hinter dem Torcan her war? Von einem Geheimnis, dessentwegen er sie ermordete und auch uns getötet hätte?«

»Ihr habt eine rasche Auffassungsgabe, Eadulf«, erwiderte Fidelma lächelnd. Da legte das Boot auch schon am Kai von Dun Boi an.

Ein Krieger wollte ihnen den Zutritt zur Festung verwehren.

»Adnar weilt drüben in der Abtei, Schwester. Er ist nicht hier.«

»Ich möchte auch nicht Adnar sprechen, sondern Olcan.«

»Olcan ist unser Gefangener. Ich habe nicht die Befugnis, Euch zu ihm vorzulassen.«

Fidelma blickte ihn finster an.

»Als ddlaigh der Gerichtsbarkeit habe ich die Befugnis, mit ihm zu sprechen, das werdet Ihr doch wohl einsehen.«

Der Krieger zögerte, doch da er sah, daß sich auf ihrer Stirn ein Gewitter zusammenbraute, trat er hastig den Rückzug an.

»Hier entlang, Schwester«, murmelte er eilfertig.

Olcan war in einer Zelle im Kellergewölbe eingesperrt. Er wirkte ungepflegt und wütend.

»Schwester Fidelma! Was geht hier eigentlich vor?« rief er und sprang von seinem Strohsack auf. »Warum hält man mich hier gefangen?«

Fidelma wartete, bis der Krieger die Zelle verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie dem jungen Mann antwortete.

»Hat Adnar Euch das nicht gesagt?«

Gulbans Sohn blickte von Fidelma zu Eadulf und breitete hilflos die Arme aus.

»Er beschuldigt mich irgendeiner Verschwörung.«

»Euer Vater Gulban hat sich heimlich mit den Ui Fidgenti verbündet, um Cashel zu stürzen.«

»Mein Vater?« stieß Olcan verbittert hervor. »Mein Vater pflegt mich nicht in seine Pläne einzuweihen. Werde ich beschuldigt, nur weil ich der Sohn meines Vaters bin?«

»Nicht deshalb. Adnar behauptet, daß Ihr und Tor-can in die Verschwörung verwickelt wart. Wollt Ihr bestreiten, von dem Komplott gewußt zu haben? Obwohl Euer Freund Torcan daran beteiligt war?«

Olcans Gesicht war von Wut verzerrt.

»Torcan weilte zu Gast bei meinem Vater. Nur auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin habe ich ihn zum Jagen und Fischen begleitet, ihm Gesellschaft geleistet und ihm jede erdenkliche Gefälligkeit erwiesen.«

»Warum seid Ihr neulich in die Abtei gekommen und habt mich ausgefragt, und warum habt Ihr danach Odar auf dem gallischen Schiff aufgesucht und auch ihm all diese Fragen gestellt?«

»Weil Torcan mich darum gebeten hat.«

Die Antwort überraschte Fidelma.

»Pflegt Ihr Torcan immer zu gehorchen, ohne eine Erklärung dafür zu verlangen, warum Ihr ihm als Laufbursche dienen sollt?«

»Nein, so war es nicht. Torcan sagte, er habe den Verdacht, daß Ihr und Ross etwas im Schilde führt ... Er meinte, Ihr hättet verhindert, daß Adnar bei der Bergung des gallischen Schiffes seinen rechtmäßigen Anteil erhielt.«

»Und das habt Ihr geglaubt?«

»Ich wußte, daß hier etwas Merkwürdiges im Gange ist, und ich wußte, daß Ihr und Ross daran beteiligt wart.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr nichts von dem geplanten Aufstand wußtet, bevor Adnar Euch hier einsperren ließ?«

»Wirklich nicht. Ich lag gestern morgen noch im Bett und schlief, als mich Adnars Männer weckten und hierherbrachten. Später tauchte er bei mir auf und erzählte, er habe Torcan getötet. Er sagte, mein Vater sowie Torcan und Eoganan von den Ui Fidgenti hätten gemeinsam ein Komplott geschmiedet, um die Macht in Cashel an sich zu reißen. Beim heiligen Kruzifix, Schwester, ich interessiere mich nicht für Machtspielchen und Herrschaftsbereiche. Ich habe nichts davon gewußt.«

Fidelma schüttelte verwundert den Kopf.

»Eure Geschichte klingt dermaßen unglaubwürdig, Olcan, daß Ihr womöglich tatsächlich die Wahrheit sagt. Ein Verschwörer, der obendrein noch zum Mörder wurde, würde sich eine sorgfältiger durchdachte Geschichte zurechtlegen.«

Eadulf sah Fidelma überrascht an. Er hatte gerade darüber sinniert, wie verdächtig sich Olcan durch seine Darstellung machte.

»Fidelma«, unterbrach er sie, »wir haben von Schwester Comnat erfahren, daß Torcan Gulbans Hauptstadt in ein Heerlager verwandelte und dort seine Männer trainierte. Wie kann es sein, daß Olcan nichts davon gewußt hat?«

»Ich habe meinen Vater seit Monaten nicht gesehen. Wir verstehen uns nicht besonders gut, das habe ich Euch doch längst erklärt.«

»Wie lange seid Ihr schon bei Adnar zu Gast?« fragte Fidelma.

»Ich bin zwei Tage vor Euch hier angekommen. Ich glaube, das habe ich Euch gegenüber bereits erwähnt.«

»Ihr wart also gar nicht hier, als die Leiche ohne Kopf gefunden wurde?«

»Nein. Auch das habe ich Euch bereits gesagt.«

»Wo wart Ihr vorher?«

»Ich weilte als Gast beim Häuptling der Duibhne.«

»Wie lange?«

»Drei Monate.«

»Wir brauchen nur jemanden zu diesem Häuptling zu schicken, um das zu überprüfen.«

»Dann schickt doch jemanden hin. Ich habe nichts zu verbergen.«

»Wann seid Ihr also in das Gebiet der Beara zurückgekehrt?«

»Einige Tage, bevor ich bei Adnar eintraf. Ich bin auf mehr oder weniger direktem Wege hierhergekommen, denn ich wußte, daß Adnar mich wesentlich freundlicher empfangen würde als mein Vater. Der hat bereits einen meiner Cousins als tdnaiste adoptiert, als seinen auserwählten Thronfolger. Ich habe keinerlei Ambitionen, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.«

»Wie konnte Gulban Euch dann bitten, für Torcan den Gastgeber zu spielen?« wollte Eadulf wissen.

»Am Morgen nach Schwester Fidelmas Ankunft in der Abtei traf Torcan hier ein. Er überbrachte mir ein Schreiben meines Vaters, in dem dieser mich bat, Tor-can bei der Jagd zu begleiten. Mein Vater weiß, daß Jagen meine Lieblingsbeschäftigung ist. Wahrscheinlich habe ich den Brief noch in meinem Gepäck.«

»Und Ihr habt weder Gespräche noch Gerüchte über eine Verschwörung oder einen Aufstand gehört?«

»Nein! Das kann ich beschwören!«

»Wie hat Adnar von dem Komplott gegen Cashel erfahren?« fragte Eadulf.

»Vermutlich von Torcan oder einem seiner Männer. Ich weiß es nicht.«

»Aber er hat gesagt .« begann Eadulf.

Von der Zellentür her hörten sie ein Geräusch. Bruder Febal stand plötzlich im Eingang. Seine sonst so ebenmäßigen Gesichtszüge waren wutverzerrt.

»Was hat das zu bedeuten? Mit welchem Recht seid Ihr hier eingedrungen, Schwester?« fragte er, als er Fidelma erkannte. »Dieser junge Mann hier ist Adnars Gefangener. Ihm wird vorgeworfen, sich an einer Verschwörung gegen Cashel beteiligt zu haben.«

»Aufgrund meiner Stellung und Machtbefugnisse habe ich das Recht, ihn zu verhören«, erwiderte Fidelma ruhig. »Ihr solltet das eigentlich wissen, Febal.«

»Ohne Adnars Zustimmung kann ich das nicht gestatten.«

»Das braucht Ihr auch nicht.« Fidelma warf einen langen, nachdenklichen Blick auf Gulbans Sohn. »Ich habe keine weiteren Fragen mehr, Olcan. Demnächst wird der Fall vor dem obersten Brehon der Loigde verhandelt. Bis dahin müßt Ihr Euch mit Eurer neuen Unterkunft abfinden.«

»Aber ich bin unschuldig!« protestierte Olcan.

»Dann betrachtet diese vorübergehende Unbill als eine Art Prüfung«, empfahl ihm Fidelma mit einem Lächeln. »In seinem Werk De Providentia warnt uns Seneca mit den Worten: Ignis aurum probat, miseria fortes viros - Feuer prüft Gold, Unglück tapfere Männer. Möget Ihr Euch als tapfer erweisen.«

Mit diesen Worten verließ sie die Zelle, Eadulf im Schlepptau.

Bruder Febal bedeutete einer Wache, die Tür zu schließen, und folgte den beiden.

»Ich werde Adnar darüber berichten müssen.«

»Ab sofort unterstehen alle Bewohner dieser Festung den Weisungen der Loigde, die entweder von ihrem Kriegsschiff, das in der Meerenge vor Anker liegt, erteilt werden, oder von Beccan, ihrem obersten Richter, der im Auftrag Eures Häuptlings Bran Finn handelt. Folglich obliegt es nicht mehr Adnar, seine Zustimmung zu geben oder nicht. Bei der Vorverhandlung werden wir die Wahrheit über die tragischen Ereignisse erfahren.«

Bruder Febal sah sie böse an.

»Auf diesen Augenblick wartet niemand sehnlicher als ich. Dann wird endlich alles, was ich über Draigen gesagt habe, ans Licht kommen.«

Bevor er weiterreden konnte, hatte Fidelma Eadulf schon zu dem kleinen Anlegesteg außerhalb der Festung geführt. Der Mönch war überrascht, als sie den wartenden Bootsführer bat, sie zu dem gallischen Handelsschiff zurückzurudern, und noch überraschter, als sie, dort angekommen, Odar aufforderte, sie unverzüglich zu begleiten.

»Ich möchte, daß Ihr mich zu dem Bauern bringt, bei dem Ihr die Pferde ausgeliehen habt«, erklärte sie ihm.

»Barr?«

»Ja, das ist der Mann. Wohnt er weit von hier?«

»Ein kleiner Spaziergang über den Berg, aber leicht zu bewerkstelligen, wenn wir ein gleichmäßiges Tempo vorlegen«, antwortete der Seemann.

Barr war ein untersetzter Mann mit einem buschigen braunen Bart und machte den Eindruck, als könne er ein Bad gebrauchen. Seine Kleider waren ebenso schmutzig wie sein Gesicht. Als sie eintrafen, arbeitete er gerade mit der Hacke auf einem Acker. Sein feistes Gesicht und die Art, wie er sie aus seinen kleinen, dunklen Augen ansah, brachte Fidelma auf den Gedanken, daß ein Schwein doch vergleichsweise ansehnlich war.

»Odar«, begrüßte sie der Bauer barsch, »falls Ihr wieder einmal gekommen seid, um Pferde zu mieten, die habe ich verkauft. In diesem eisigen Winter ist cu-irm ein weitaus besserer Trost für mich.«

»Wir sind nicht wegen der Pferde gekommen, Barr«, mischte sich Fidelma ein.

Der Mann sah sie fragend an und wartete.

»Habt Ihr Eure Tochter schon wiedergefunden?«

Barr stieß ein bellendes Lachen hervor.

»Ich habe gar keine Tochter. Was ...«

Dann weiteten sich seine Augen, und Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Barr war kein guter Lügner.

»Warum habt Ihr der Äbtissin erzählt, daß Eure Tochter verschwunden ist?«

Barr schwieg verwirrt.

»Man hat Euch aufgetragen, in die Abtei zu gehen, nicht wahr?«

»Das war doch nichts Verbotenes«, protestierte der Bauer.

»Der junge Herr befahl mir, hinzugehen und zu behaupten, daß meine Tochter verschwunden ist und daß ich den Leichnam sehen will, um festzustellen, ob sie es ist oder nicht.«

»Selbstverständlich. Hat er Euch Geld geboten?« »Genug, um drei gute Pferde zu kaufen.« Der Mann verzog das Gesicht. »Ich habe mit ihm gehandelt, versteht Ihr. Er war sehr an meinen Diensten interessiert.«

»Und was genau solltet Ihr tun?«

»Ich sollte mir nur die Leiche ansehen, allerdings sehr sorgfältig, und dem jungen Herrn dann eine genaue Beschreibung liefern.«

»Eine Beschreibung?« hakte Fidelma nach. »Und das war alles?«

»Ja. Es war leicht verdientes Geld.«

»Das Ihr bekamt, nachdem Ihr die Äbtissin und ihre Gemeinschaft belogen hattet«, betonte Fidelma. »Hattet Ihr den jungen Mann schon mal gesehen?«

»Nein. Nur einmal, als er über Nacht blieb und auf die Frau wartete.«

»Er blieb eine Nacht? Und wartete auf eine Frau?«

»Sie sollte ihn hier auf meinem Hof treffen, tauchte aber nicht auf. Am nächsten Morgen ritt er davon, kehrte jedoch tags darauf wieder zurück und gab mir diesen Auftrag.«

»Könnt Ihr den Mann beschreiben?«

»Nicht nur das. Er hatte Diener bei sich, und ich hörte, wie einer seiner Männer ihn rief. Es war der werte Torcan.«

Zwei Tage später, als die Schwestern der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen gerade aus dem Refektorium strömten, wo sie ihre Morgenmahlzeit eingenommen hatten, segelte ein zweites Kriegsschiff in die Bucht und bezog zwischen Ross’ barc, dem gallischen Handelsschiff und dem Kriegsschiff der Loigde Position. Auch an seinen Masten wehten die Banner der Loigde und des Königs von Cashel.

Fidelma und Eadulf folgten Äbtissin Draigen, Bec-can und Ross hinunter zum Anlegesteg und sahen, wie sich ein Boot von dem gerade eingelaufenen Schiff löste. Ein junger, muskulöser Matrose legte sich in die Riemen, und im Heck saß ein in sein Habit gehüllter Mönch ganz unpassend neben einem hageren Krieger. Als das Boot am Kai festmachte, sprang der behende Krieger als erster an Land, während der Matrose dem Mönch beim Aussteigen behilflich sein mußte.

Der Krieger trat auf Beccan zu, den er ganz offensichtlich kannte, und salutierte vor ihm.

»Das ist Mail vom Stamm der Loigde«, stellte Beccan ihn vor. Dann wartete er, bis sein Begleiter, ein junger Mönch mit unschuldigem, rosigem Gesicht, sich zu ihnen gesellte und sie alle mit einer ausladenden Geste begrüßte. Der Mönch hatte ein angenehmes Äußeres und trotz der geröteten Wangen und der weichen, kindlichen Züge eine gebieterische Ausstrahlung.

»Ich bin Bruder Cillin von Mullach«, verkündete er.

Mail, der Krieger, erachtete eine weitere Vorstellung für notwendig.

»Bruder Cillin war uns unlängst in Ros Ailithir sehr nützlich. Abt Broce und Bran Finn haben ihn hierhergeschickt, als sie von der bedenklichen Lage der Dinge erfuhren.«

Bruder Cillin musterte sie ernst.

»Man hat mir die Aufsicht über alle Nonnen und Mönche auf dieser Halbinsel übertragen.«

Äbtissin Draigen stieß ein hörbares Keuchen hervor, das Cillin keineswegs entging. Lächelnd warf er einen Blick in ihre Richtung.

»Abt Broce hat mich außerdem beauftragt, die Gemeinschaft neu zu organisieren und sie wieder auf den Weg des Glaubens und des Gehorsams gegenüber ihren rechtmäßigen Führern zu bringen. Ich werde allerdings nur ein, zwei Tage hierbleiben und mich dann nach Norden aufmachen, in Gulbans Hauptstadt.«

Fidelma entnahm Äbtissin Draigens Gesichtsausdruck, daß Cillin ihr alles andere als willkommen war.

»Bruder Cillin«, begrüßte Fidelma den Mönch, trat auf ihn zu und machte ihn mit den Anwesenden bekannt. »Bringt Ihr Neuigkeiten aus Ros Ailithir?«

»O Ja, Schwester. Die bringe ich wahrhaftig. Eoga-nan und seine Aufständischen haben ihren Plan in die Tat umgesetzt. Habt Ihr etwa noch nichts davon gehört?«

Angst schnürte Fidelma die Kehle zu.

»Hat sich Eoganan tatsächlich gegen Cashel erhoben? Was gibts es Neues von meinem Bruder Colgu?« Sie versuchte, sich ihre Angst beim Sprechen nicht anmerken zu lassen.

»Macht Euch keine Sorgen«, erwiderte Mail, der Krieger, sofort. »Colgu ist in Sicherheit. Der Aufstand ist vorüber. Eigentlich war er vorbei, noch bevor er begonnen hatte.«

»Wißt Ihr nähere Einzelheiten?« fragte Beccan. Fidelma brachte vor Erleichterung kein Wort heraus.

»Allem Anschein nach hat Colgu seine Krieger ausgeschickt, um gegen Eoganan und die Ui Fidgenti vorzugehen, bevor diese ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten. Der Aufstand sollte eigentlich erst im Frühjahr stattfinden, sobald der Boden fest genug wäre, um die Vernichtungsvorrichtungen aus Franken, die Gulban hat kommen lassen, transportieren zu können. Der Stamm der Arada führte Colgus Angriff direkt in das Gebiet der Ui Fidgenti.«

»Weiter«, drängte Fidelma. Sie wußte, daß das Land der Arada Cliach westlich von Cashel lag, genau zwischen der alten Hauptstadt und dem Gebiet der Ui Fidgenti. Die Arada waren für ihre Reitkunst bekannt und in früheren Zeiten als Streitwagenlenker in ganz Irland berühmt.

Mail redete weiter - offenbar gefiel ihm seine Rolle als Überbringer von Neuigkeiten.

»Eoganan erkannte, daß er nicht auf Gulbans Hilfe warten konnte, sondern die Männer seines Stammes zusammentrommeln mußte, um sich zu verteidigen. Die beiden Streitmächte trafen am Fuß des Hügels von Ame aufeinander.«

Fidelma kannte den Hügel von Ame von ihren Reisen. Es war ein niedriger, einzeln stehender Berg, von dessen Gipfel aus eine alte Bergfestung die umliegende Ebene beherrschte. Es hieß, dort stehe auch der Thron der Göttin, deren Namen er trug.

»Es gab nur wenige Tote ...«

»Deo gratias!« warf Beccan ein.

»Die Arada und Cashel gingen als Sieger aus der Schlacht hervor. Die Ui Fidgenti flohen vom Schlachtfeld und ließen - neben anderen toten Aufständischen

- Eoganan, ihren Prinzen und selbsternannten König, zurück. Cashel droht jetzt keine Gefahr mehr, und Euer Bruder ist wohlauf.«

Fidelma stand lange mit gesenktem Kopf da und schwieg.

»Und welche Neuigkeiten habt Ihr von Gulban und seinen fränkischen Söldnern?« wollte Eadulf wissen.

Dieses Mal war es Cillin, der junge Mönch, der auf die Frage antwortete.

»Eines unserer Kriegsschiffe ist schon vor Tagen von Ross alarmiert worden und segelte unverzüglich zu Gulbans Kupferminen - gerade rechtzeitig, denn Gul-ban befehligte höchstpersönlich den Abtransport seiner verfluchten, unglückseligen Vernichtungsvorrichtungen. Wie heißen sie doch gleich? Tormenta? Die Krieger der Loigde griffen an, bevor Gulban eine Verteidigung organisieren konnte, und die tormenta wurden ausnahmslos verbrannt und zerstört. Die Franken - das heißt, die, die dabei nicht den Tod fanden - wurden gefangengenommen. Alle gallischen und sonstigen Gefangenen, auf die man dort stieß, sind inzwischen freigelassen.«

»Und wann war das?« fagte Fidelma.

»Vor vier Tagen«, erwiderte Mail mit gerunzelter Stirn. »Warum ist es Euch so wichtig, die genauen Daten zu erfahren? Schreibt Ihr etwa eine Chronik, Schwester?«

»Eine Chronik?« Fidelma war darüber so erheitert, daß sie laut lachte, und die anderen starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ach, mein Freund, Ihr seid der Wahrheit näher, als Ihr denkt. Vor vier Tagen?« Fidelma wirkte zufrieden. »Dann, Beccan«, wandte sie sich an den betagten Richter, »brauchen wir meiner Ansicht nach nicht länger zu warten. Ich bin in der Lage, den Fall darzulegen und zu beweisen, wer die schrecklichen Morde in der Abtei begangen hat, sobald Ihr das wünscht.«

»Was?« stieß Äbtissin Draigen hervor. »Die Angelegenheit ist doch längst geklärt, oder nicht? Der Sohn von Eoganan, Torcan von den Ui Fidgenti, ist der Mörder. Beccan ist einfach nur gleichzeitig ...«

»Ist denn Torcan, der Sohn von Eoganan, hier?« unterbrach Mail die Äbtissin mit eifriger Miene. »Ich habe Befehl, ihn nach Cashel zu bringen. Er ist unverzüglich gefangenzunehmen - wegen Beteiligung an der Verschwörung seines Vaters.«

»Er ist tot«, erklärte Fidelma. »Adnar, der hiesige Häuptling, hat Torcan getötet, als dieser mich umbringen wollte. Olcan, der Sohn von Gulban, hält sich ebenfalls hier auf und wurde von Adnar wegen seiner Verstrickung in den Aufstand gefangengenommen.«

»Ich verstehe.« Damit meinte Mail zweifellos, daß er nun überhaupt nichts mehr verstand.

»Ihr werdet noch verstehen«, bemerkte Fidelma mit einem Lächeln. »Zumindest hoffe ich das, wenn ich Beccan den Fall vortrage. Ich bin jetzt so weit.«

»Sehr schön«, willigte der Richter ein. »Heute nach-mittag tritt das Gericht in der Abtei zusammen. Gebt mir eine Liste mit all denen, deren Anwesenheit Ihr wünscht, Schwester, und wir werden ihr Erscheinen sicherstellen.«

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