Kapitel 15

»Das verstößt gegen sämtliche Regeln der Gastfreundschaft«, platzte Ross voller Entrüstung heraus. »Das ist unerhört. Wenn Händler ihren Geschäften nicht mehr nachgehen können, ohne befürchten zu müssen, als Sklaven verschleppt zu werden, dann hat die Welt wahrhaftig einen bedauernswerten Zustand erreicht.«

»Unerhört war nicht der Ausdruck, der dem gallischen Kapitän entfuhr«, bemerkte Eadulf bitter.

»Hat denn niemand Widerstand geleistet?« fragte Fidelma.

»Wir wurden vollkommen überrumpelt. Der junge Häuptling erklärte uns zwar alle zu seinen Geiseln, doch das Wort Sklaven wäre zutreffender gewesen. Die Besatzung wurde zur Arbeit in den Kupferminen gezwungen, nur mir als Mönch wurden mehr Privilegien zuteil als den anderen. Man brachte mich in eine Hütte, wo ich auf Schwester Comnat traf - angekettet wie ein Tier. Es war furchtbar.«

Schwester Comnat meldete sich zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung zu Wort.

»Bruder Eadulf hat recht. Ich war seit mindestens drei Wochen ihre Gefangene. Gott sei Dank seid Ihr gekommen, Schwester. Ich hoffte die ganze Zeit, es möge Schwester Almu gelingen, Hilfe zu holen.«

Fidelma hielt tröstend die zitternde Hand der Älteren.

»Es war nicht Schwester Almu, die uns alarmierte.«

»Wie habt Ihr uns dann gefunden?«

»Das ist eine lange Geschichte, und im Augenblick bin ich mehr daran interessiert, von Euren Erlebnissen zu hören, denn davon hängt eine Menge ab. Wie ich erfahren habe, Schwester Comnat, seid Ihr und Schwe-ster Almu vor drei Wochen in der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen aufgebrochen. Was ist seither passiert?«

Die alte Bibliothekarin zögerte.

»Wißt Ihr etwas über Schwester Almus Verbleib?« beharrte sie.

Fidelma beschloß, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Ich glaube, Schwester Almu ist tot. Es tut mir leid.«

Die alte Frau war sichtlich erschüttert. Sie schwankte, und Bruder Eadulf streckte die Hand aus, um sie zu stützen.

»Ihr seid unter Freunden, gute Schwester«, versicherte er ihr. »Das ist Fidelma von Kildare, eine Advokatin der Gerichtsbarkeit. Ich kenne sie gut. Habt keine Angst. Erzählt ihr Eure Geschichte, so wie Ihr sie mir erzählt habt.«

Es gelang Schwester Comnat, sich zusammenzureißen, auch wenn man ihr ihren Kummer ansah. Sie fuhr sich mit zitternden Fingern über die Stirn, als müsse sie die Erinnerung erst suchen.

»Fidelma von Kildare? Dieselbe Fidelma, die die geheimnisvollen Morde in Ros Ailithir aufgeklärt hat?«

»Ja. Ich bin Fidelma.«

»Dann seid Ihr die Schwester von Colgu, dem König von Cashel. Ihr müßt Euern Bruder warnen. Sofort.« Die Stimme der Alten klang plötzlich schrill, und Fidelma mußte beschwichtigend ihre Hand ergreifen.

»Ich verstehe nicht. Wovor muß ich ihn warnen?«

»Sein Königreich ist in Gefahr. Er muß gewarnt werden«, wiederholte Schwester Comnat.

»Ich möchte alles verstehen. Was ist passiert, seit Ihr und Schwester Almu die Abtei verlassen habt?«

Schwester Comnat nahm ihre fünf Sinne zusammen und atmete tief durch.

»Vor gut drei Wochen brach ich mit Schwester Al-mu zur Abtei in Ard Fhearta auf, um die Kopie eines Buches, die wir angefertigt hatten, dorthin zu bringen. Wir erreichten Gulbans Festung und wollten dort übernachten. Man nahm uns auch gastfreundlich auf, doch am nächsten Morgen bemerkten wir, daß innerhalb der Festungsmauern zahllose Krieger Übungen abhielten, darunter viele fremdländische Soldaten.

Schwester Almu erkannte unter Gulbans Begleitern Torcan von den Ui Fidgenti. Wir wissen, daß die Ui Fidgenti dem Volk der Loigde nicht wohlgesonnen sind, und fragten uns deshalb, was das zu bedeuten hatte. Almu traf eine junge Frau, die sie noch aus der Zeit vor ihrem Eintritt in die Abtei kannte, und die erzählte uns, Gulban habe mit Eoganan von den Ui Fidgenti ein Bündnis geschlossen.«

»Ein Bündnis? Zu welchem Zweck denn?« fragte Ross besorgt.

»Gulban schien sehr erbost über die Entscheidung auf der Versammlung der Loigde, Bran Finn, den Sohn von Mael Ochtraighe, zum Häuptling und Nachfolger Salbachs zu wählen.«

»Ich weiß, daß Gulban selbst Anspruch auf das Amt des Häuptlings erhob, nachdem Salbach in Ungnade gefallen und abgesetzt worden war«, erklärte Fidelma. »Ich war bei der Versammlung dabei.«

»Da Gulban bei den dort Anwesenden nicht genug Unterstützung fand und Bran Finn jetzt Häuptling ist, scheint er nun zu anderen Mitteln zu greifen«, warf Ross ein.

»Hat er etwa vor, mit Hilfe der Ui Fidgenti Bran Finn anzugreifen?«

»Schlimmer«, antwortete Schwester Comnat. »Die Prinzen der Ui Fidgenti sind sehr mächtig, wie Ihr sicher wißt. Sie wollen nach Cashel marschieren und König Colgu stürzen. Im Gebiet der Ui Fidgenti wird ein ganzes Heer zusammengezogen, das Cashel angreifen soll - unter Führung von Eoganan. Sobald Colgu gestürzt ist, wird Eoganan Gulban belohnen und ihn zum Herrscher über die Loigde und über den ganzen Süden von Muman ernennen.«

»Seid Ihr ganz sicher?« Fidelma war überrascht von dem Doppelspiel der Ui Fidgenti, auch wenn sie den lange gehegten Wunsch ihres Prinzen, die Macht in Cashel an sich zu reißen, nur allzu gut kannte.

»Wenn ich den Worten der jungen Frau nicht vertraut hätte, die uns für Gefolgsleute Gulbans hielt, und wenn ich meinen eigenen Augen nicht getraut hätte, die sahen, wie Gulbans Krieger unter Anleitung Torcans von den Ui Fidgenti ausgebildet wurden, dann hätte spätestens unsere Gefangennahme bewiesen, daß die Geschichte stimmte.«

»Wie und warum wurdet Ihr gefangengenommen?«

»Schwester Almu und ich besprachen das Gehörte und überlegten, was zu tun sei. Wir sind treue Untertanen von Bran Finn, der wiederum Colgu in Cashel treu ergeben ist. Uns war klar, daß wir sie vor dieser Revolte warnen mußten. Doch wir handelten unüberlegt und erregten das Mißtrauen von Gulbans Männern, denn wir gingen die Straße in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren, anstatt weiterzugehen nach Ard Fhearta, das wir ihnen als Ziel genannt hatten.«

»Also nahm Gulban Euch beide gefangen?«

»Er hat das zweifellos angeordnet, auch wenn wir ihn nicht zu sehen bekamen. Seine Krieger brachten uns zu den Kupferminen, wo Ihr mich gefunden habt. Wir sollten uns um die seelischen und gesundheitlichen Bedürfnisse der Geiseln kümmern, die in den Minen schufteten, bis Gulban über unser weiteres Schicksal befunden hatte.«

Nun mischte sich Bruder Eadulf ein.

»Dort habe ich Schwester Comnat getroffen«, wiederholte er. »Eine Woche, nachdem ihre Gefährtin geflohen war.«

»Wißt Ihr, wie Eoganan gegen Cashel vorgehen will?« fragte Fidelma Schwester Comnat.

»Nein«, antwortete sie mit Bedauern. »Schwester Almu und ich wurden jeden Abend angekettet, genau, wie Ihr mich gefunden habt. Almu war jünger und tatkräftiger als ich und beschloß, einen Fluchtversuch zu wagen. Ich unterstützte ihre Entscheidung und drängte sie, die nächstbeste Fluchtmöglichkeit zu ergreifen. Das Wichtigste war, in die Abtei zurückzu-kehren und die Gemeinschaft zu warnen. Meine Rettung konnte warten.«

»Und ihr gelang die Flucht?«

Schwester Comnat stieß einen langen Seufzer aus.

»Beim ersten Mal nicht. Sie versuchte zu fliehen, wurde jedoch wieder eingefangen und ausgepeitscht, um uns allen eine Lektion zu erteilen. Sie wurde mit einer Birkenrute auf den Rücken geschlagen! Worte reichen nicht aus, um diesen Frevel zu beschreiben. Es dauerte mehrere Tage, bis sie sich davon erholte.«

Fidelma erinnerte sich an die Striemen auf dem Rücken der Toten. Weitere Erkennungsmerkmale waren jetzt nicht mehr vonnöten.

»Vor zehn Tagen«, fuhr Schwester Comnat fort, »kehrte sie abends nicht in unsere Hütte zurück. Später hörte ich, daß sie verschwunden war, während sie die Kranken versorgte - sie war in den Wald geflohen. Es herrschte große Aufregung. Ich glaube aber, daß ihr jemand bei der Flucht geholfen hat. Sie erzählte mir, sie habe sich mit einem jungen Mann von den Ui Fidgenti angefreundet, der ihr aufgrund seiner Stellung behilflich sein konnte.«

»Das könnte bedeuten, daß er ein gewisses Ansehen bei seinen Leuten genoß«, bemerkte Fidelma nachdenklich. »Hat sie denn keinerlei Andeutung gemacht, daß sie erneut fliehen wollte?«

»In gewisser Weise schon.«

»In gewisser Weise?«

»Ja. Als sie an jenem Morgen aufbrach, lächelte sie mich an und sagte sinngemäß, sie ginge Wildschweine jagen. An die genauen Worte kann ich mich nicht erinnern. Das ergab Ja alles überhaupt keinen Sinn.«

»Wildschweine?« wiederholte Fidelma verblüfft.

»Wie auch immer, sie kehrte nicht zurück. Ich erfuhr, daß die Wachen sich nicht einmal die Mühe machten, Suchtrupps hinter ihr her zu schicken. Jeden Tag betete ich für das Gelingen ihrer Flucht, auch wenn das Gerücht verbreitet wurde, sie sei wahrscheinlich in den Bergen zugrunde gegangen. Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf. Ich wartete auf das Eintreffen unserer Retter.« Die alte Frau hielt einen Augenblick inne und fuhr schließlich fort: »Dann kamen leider noch mehr Gefangene, hauptsächlich Gallier, und dieser sächsische Mönch hier, Eadulf, der unsere Sprache so gut beherrscht.«

»Was Schwester Comnat berichtet, stimmt mit meinen Erlebnissen haargenau überein«, fügte Eadulf hinzu. »Mit dem Kapern des gallischen Schiffes mit den tormenta an Bord, meine ich. Ich schätze, Gulban hat die Waffen im Auftrag der Ui Fidgenti gekauft.«

»Waffen, mit denen Eoganan Cashel besiegen will?« erkundigte sich Ross mit großen Augen.

»Ausgezeichnete Belagerungswaffen«, bestätigte Eadulf.

»Zwanzig von diesen schrecklichen Vernichtungsvorrichtungen, und dazu fränkische Soldaten, die sie zu benutzen wissen«, murmelte Ross, »würden Cashel in Angst und Schrecken versetzen. Ich sehe es schon vor mir. Solche Waffen sind in den fünf Königreichen noch nie eingesetzt worden. Unsere Krieger kämpfen noch Mann gegen Mann, mit Schwert, Speer und Schild, doch mit diesen Kriegsgeräten könnten Eoga-nan oder Gulban durchaus die Überlegenheit auf dem Schlachtfeld erringen.«

»Sind die Franken und ihre tormenta uns denn wirklich so überlegen?« fragte Eadulf. »Man kennt diese Waffen doch überall: in den sächsischen Königreichen, in Franken und anderswo.«

»Ich bin seit vielen Jahren Kaufmann«, erwiderte Ross ernst, »doch als der König von Cashel einst seine Gefolgschaft zu den Waffen rief, folgte ich seinem Ruf. Ich war damals noch jung und kämpfte während des Pfingstfestes in der Schlacht von Carn Conaill. Vermutlich erinnert Ihr Euch nicht mehr daran, Fidelma? Nein? Damals versuchte Guaire Aidne von Connacht, den Oberkönig Dairmait Mac Aedo Slaine zu stürzen. Selbstverständlich eilte Cuan - der Sohn von Almal-gaid, dem damaligen König von Cashel - an der Spitze des Heeres von Muman dem Oberkönig zu Hilfe. Doch sein Namensvetter Cuan - der Sohn von Conall, dem Prinzen der Ui Fidgenti - unterstützte Guaire. Die Ui Fidgenti waren schon damals Querköpfe und versuchten, auf dem schnellsten Weg an die Macht zu kommen. Es war ein blutiger Kampf. Beide Cuans wurden getötet, aber Guaire floh vom Schlachtfeld, und der Oberkönig ging als Sieger hervor. Das war meine erste Begegnung mit der blutigen Kunst des Krieges. Gott sei Dank war es auch meine letzte.«

Fidelma bemühte sich, ihre Ungeduld zu zügeln.

»Was hat das alles mit den tormenta zu tun?«

»Leicht zu erklären«, erwiderte Ross. »Ich habe das Töten kennengelernt und weiß, welch schrecklicher Schaden durch solche Waffen angerichtet werden kann. Unsere Krieger würden zu Hunderten niedergemetzelt, und Cashel könnte sich nicht dagegen wehren. Die Vernichtungsvorrichtungen können sogar eine Bresche in die Festungsmauern schlagen. Ihre Reichweite beträgt, wie der Sachse schon sagte, über fünfhundert Meter. Soviel ich auf meinen Handelsreisen in Gallien gehört habe, waren die Römer dank solchen Kriegsgerätes fast unbesiegbar.«

Fidelma musterte sie alle mit ernster Miene.

»Deshalb also durfte die Einführung der tormenta nicht bekannt werden. Gulban und Eoganan von den Ui Fidgenti wollen sie als Geheimwaffe einsetzen, aller Wahrscheinlichkeit nach als Vorausabteilung bei einem Überraschungsangriff auf Cashel.«

»Jetzt ergibt alles einen Sinn«, seufzte Eadulf. »Und erklärt außerdem, warum Gulbans Männer, gleich nachdem die Franken mit ihren Waffen an Land gebracht waren, sich des gallischen Schiffes samt Besatzung sowie meiner Wenigkeit als einzigem Passagier bemächtigten. Sie wollten verhindern, daß die Kunde über die Fracht dieses Schiffes nach außen dringt. Wahrlich ein schlechter Tag, als ich die Überfahrt auf diesem Schiff buchte.«

»Erzählt mir, wie der gallische Kapitän entkommen konnte«, forderte Fidelma ihn plötzlich auf.

»Woher wißt Ihr davon?« erkundigte sich Eadulf. »Ich wollte Euch gerade darüber berichten.«

»Auch das ist eine lange Geschichte, doch mag es vorerst genügen, zu erwähnen, daß wir das gallische Schiff geborgen haben.«

»Die Leute, mit denen ich sprach, haben einen gallischen Gefangenen an Bord gesehen«, erklärte Ross. »Sie erzählten, daß er geflohen und mitsamt dem Schiff verschwunden sei, während die Krieger der Ui Fidgenti sich an Land aufhielten.«

Fidelma bedeutete ihm zu schweigen.

»Laßt Eadulf berichten.«

»Also gut«, begann der Mönch. »Vor ein paar Tagen gelang es dem Kapitän und zwei seiner Matrosen, aus den Minen zu entfliehen. Sie nahmen ein kleines Boot und ruderten zu einer Insel vor der Küste ...«

»Doirse«, unterbrach Ross.

»Das gallische Handelsschiff lag noch im Hafen. Die Wachen nahmen die Verfolgung auf. Sie setzten Segel und jagten mit dem Schiff hinter dem Boot her. Tags darauf kehrten sie zurück - ohne das Schiff und ohne die drei Gallier.«

»Wißt Ihr, was passiert ist?«

Eadulf zuckte die Achseln.

»Unter den Gefangenen kursierten Gerüchte, die ich hier und dort aufschnappte, während ich mich um sie kümmerte . wenn man Gerüchten überhaupt glauben darf. Es hieß, die Krieger hätten das kleine Boot verfolgt und versenkt und dabei die beiden Matrosen getötet. Der Kapitän wurde gerettet und erneut gefangengenommen. Da es schon beinahe dunkel war, liefen sie den kleinen Inselhafen an. Sie gingen alle an Land, um die Gastfreundschaft des dortigen Häuptlings zu genießen, das heißt, alle außer einem - und dem gallischen Kapitän. Während der Nacht konnte der Gallier ein zweites Mal entkommen. Es hieß, er habe seinen Bewacher getötet. Er war ein erfahrener Seemann, und es gelang ihm, ganz allein die Segel zu setzen und in die Nacht hinauszufahren. Ich hatte gehofft, er würde Rettung für seine Besatzung holen. Doch Ihr sagtet, Ihr habt ihn und sein Schiff geborgen?«

Fidelma verneinte.

»Ihn nicht, Eadulf. Er hat nicht überlebt. Wir trafen am nächsten Morgen auf das Handelsschiff, das mit aufgezogenen Segeln fuhr, doch es war niemand an Bord.«

»Niemand? Was ist denn passiert?«

»Ich glaube, ich kenne jetzt das Geheimnis«, erwiderte Fidelma leise. Ross und Odar beugten sich vor, und ihre Augen traten vor Neugier fast aus den Höhlen, während sie auf die Auflösung des Rätsels warteten, das sie tagelang im dunkeln tappen ließ.

»Könnt Ihr die geheimnisvollen Ereignisse wirklich erklären?« fragte Ross.

»Ich kann nur Vermutungen anstellen, bin jedoch ziemlich sicher, daß sie der Wahrheit entsprechen. Der gallische Kapitän war ein tapferer Mann. Kennt Ihr seinen Namen, Eadulf?«

»Er hieß Waroc.«

»Also, Waroc war ein tapferer Mann«, wiederholte Fidelma. »Er floh von der Insel Doirse, wo das Schiff vertäut lag. Wir kennen diesen Teil der Geschichte aufgrund der Informationen, die Ross dort gesammelt hat und die Euern Bericht bestätigen, Eadulf. Waroc war seinen Häschern erneut entkommen und beschloß, den Versuch zu wagen und sein Schiff ganz allein zu segeln. Ein tapferes, aber tollkühnes Unterfangen. Vielleicht wollte er nur ein Stück die Küste entlangsegeln und in einem befreundeten Hafen Hilfe holen.«

»Wie hat er das geschafft?«

»Er kappte die Ankertaue mit der Axt. Wir sahen die durchtrennten Taue, als wir das Schiff durchsuchten.«

Odar nickte grimmig. Er erinnerte sich, wie er Ross und Fidelma die abgeschnittenen Tauenden gezeigt hatte.

»Dann ließ er sich wahrscheinlich von der Strömung aus der Meerenge treiben«, sagte Ross, der die Gewässer dort gut kannte.

»Es gelang ihm, das Großsegel zu hissen«, fuhr Fidelma fort. »Am schwierigsten war das Hissen des Marssegels. Wir wissen nicht, wodurch er verletzt wurde, ob von seinen Häschern, bei einem seiner Fluchtversuche oder bei seinen Bemühungen, ganz allein die Segel zu setzen. Wie dem auch sei, er kletterte in die Takelage, und beinahe hätte er es geschafft. Vielleicht geriet das Schiff ins Schlingern, vielleicht erwischte ihn ein Windstoß oder er verlor den Halt, wer kann das wissen? Waroc stürzte, und beim Absturz zerriß eine Spiere oder ein Nagel sein Hemd und vielleicht auch sein Fleisch. Wir fanden ein blutbeflecktes Stück Leinen im Tauwerk und auch Blut an den Tauen. Noch im Fallen versuchte er verzweifelt, sich irgendwo festzuklammern. Er bekam die Reling zu fassen - wir fanden dort den blutigen Abdruck einer Hand. Dann konnte er sich nicht mehr halten. In dem eisigen Wasser kann er nicht lange überlebt haben. Vielleicht war er bereits nach wenigen Minuten tot.«

Es entstand ein kurzes, betretenes Schweigen, bevor Fidelma zum Schluß kam.

»Einige Stunden später, am nächsten Vormittag, traf Ross’ barc auf das Handelsschiff, das herrenlos von der Strömung hin- und hergetrieben wurde. Ross ist ein ausgezeichneter Seemann und konnte Eure Spur anhand der Gezeiten und Winde zurückverfolgen. Und ich war entschlossen, Euch zu finden, Ea-dulf.«

Eadulf sah sie überrascht an.

»Ihr wart an Bord dieser barc?«

»Ich hatte den Auftrag, zu Schwester Comnats Abtei zu reisen und Nachforschungen anzustellen über einen Leichnam, den man dort entdeckt hatte.«

»Aber woher wußtet Ihr denn, daß ich auf dem Schiff war? Ach so!« Man sah ihm an, daß er plötzlich begriffen hatte. »Ihr habt meine Büchertasche in der Kajüte gefunden, richtig?«

»Ich habe Euer Meßbuch an mich genommen«, bestätigte Fidelma. »Es liegt in Schwester Comnats Abtei, nicht weit von hier. Wir müssen vor Tagesanbruch dort sein, sonst stellt man uns nur unnötig viele Fragen.«

Schwester Comnat musterte Fidelma erschrocken.

»Ihr spracht von einem Leichnam? Und Ihr sagtet, Schwester Almus Flucht sei nicht geglückt . Ihr habt gesagt, sie sei tot.«

Fidelma legte erneut ihre Hand auf den Arm der älteren Nonne und drückte ihn tröstend.

»Ich weiß es noch nicht mit letzter Gewißheit, Schwester, aber ich bin ziemlich sicher, daß es sich bei der Toten, die vor über einer Woche gefunden wurde, um Schwester Almu handelt.«

»Aber irgend jemand muß die Leiche doch erkannt haben?«

Fidelma wollte der Schwester nicht noch mehr Kummer bereiten, doch es hatte keinen Sinn, ihr die Wahrheit zu verschweigen.

»Die Tote wurde enthauptet, und der Kopf ist verschwunden. Es handelte sich um den Leichnam eines jungen Mädchens, kaum achtzehn Jahre alt. An der rechten Hand hatte sie Tintenflecke, an Daumen und Zeigefinger und an der Außenseite des kleinen Fingers. Daraus schließe ich, daß sie als Kopistin oder in einer Bibliothek arbeitete. Außerdem war deutlich zu sehen, daß sie erst vor kurzem eine Fußfessel getragen hatte und ausgepeitscht worden war.«

Schwester Comnat holte tief Luft.

»Dann ist es tatsächlich Schwester Almu, aber ... wo wurde der Leichnam entdeckt?«

»Im Hauptbrunnen der Abtei.«

»Das verstehe ich nicht. Wenn sie von Gulbans Leuten oder von den Ui Fidgenti geschnappt wurde, warum sollten die den Leichnam im Brunnen der Abtei verstecken und so erst recht Aufmerksamkeit erregen?«

Fidelma lächelte verkrampft.

»Dieses Rätsel muß ich noch lösen.«

»Wir sollten jetzt unser weiteres Vorgehen planen«, warf Ross dazwischen. »Bald wird es hell, und sobald das Verschwinden von Schwester Comnat und dem Sachsen dort auffällt, werden sie Suchtrupps losschik-ken.«

»Ihr habt ganz recht, Ross«, stimmte Fidelma ihm zu. »Jemand muß nach Ros Ailithir segeln und dort Bran Finn und meinen Bruder warnen. Sie müssen Krieger schicken, damit diese Höllenmaschinen - die tormenta, wie Eadulf sie nennt - vernichtet werden, bevor sie gegen Cashel zum Einsatz kommen.«

»Wir segeln alle dorthin. In der Abtei ist es jetzt sowieso zu gefährlich«, erwiderte Ross. »Falls Adnar Verdacht schöpft, seid Ihr dort nicht mehr sicher. Ad-nar lebt in der Festung direkt gegenüber der Abtei«, erklärte er Eadulf, »und im Augenblick weilen Gul-bans Sohn Olcan sowie Torcan von den Ui Fidgenti als Gäste bei ihm.«

Eadulf pfiff leise durch die Zähne.

»Das läßt nichts Gutes erwarten.«

»Falls Adnar in die Verschwörung verstrickt ist, hat er möglicherweise auch Komplizen in der Abtei«, fügte Fidelma nachdenklich hinzu.

»Deshalb sollten wir uns alle einschiffen und nach Ros Ailithir aufbrechen. Schon morgen abend könnten wir dort sein.«

»Nein, Ross. Ihr nehmt Schwester Comnat mit und segelt unverzüglich los, um Abt Broce zu informieren. Schwester Comnat ist Eure Zeugin. Außerdem müssen Boten zu meinem Bruder in Cashel geschickt werden, so daß er sich auf einen etwaigen Angriff der Ui Fidgenti vorbereiten kann. Gleichzeitig müßt Ihr Bran Finn bitten, seine Krieger so schnell wie möglich zu den Kupferminen zu entsenden, um die tormenta zu vernichten und die fränkischen Söldner gefangenzunehmen, noch bevor sie nach Cashel aufbrechen können.«

»Und was machen wir?« fragte Eadulf.

»Ich muß in die Abtei zurück, sonst wird man sofort wissen, daß das Komplott aufgeflogen ist, und Gulbans Männer würden Cashel vielleicht um so schneller angreifen. Aus diesem Grund muß auch das gallische Schiff bleiben, wo es ist, denn sein Verschwinden würde unsere Gegner sofort in Alarmbereitschaft versetzen. Ihr, Eadulf, begleitet Odarund geht mit ihm und einigen von Ross’ Männern sozusagen als Notbesatzung an Bord. Ihr werdet Euch dort verstecken. Sollte mir jemand auf die Schliche kommen, können Odar und seine Leute mir zur Flucht verhelfen.«

»Und wenn man Euch jetzt schon mißtraut? Sie wissen doch, daß Ihr Colgus Schwester seid«, protestierte Ross. »Sie könnten Euch als Geisel nehmen.«

»Das Risiko muß ich eingehen«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck. »Neben der Verschwörung gegen Cashel habe ich noch ein anderes Geheimnis aufzuklären. Ich muß bleiben, bis die Sache durchgestanden ist. Wenn alles gutgeht, Ross, könntet Ihr in drei Tagen zurück sein.«

»Und wer garantiert in diesen drei Tagen für Eure Sicherheit, Fidelma?« fragte Eadulf. »Wenn Ihr in der Abtei bleibt, sollte ich mich ebenfalls dort aufhalten.«

»Unmöglich!«

Doch Ross nickte zustimmend.

»Der Sachse hat recht, Schwester. Jemand sollte in Eurer Nähe bleiben.«

»Unmöglich!« wiederholte Fidelma. »Sobald sie die Flucht von Schwester Comnat und Bruder Eadulf entdecken, werden sie in der Abtei nach ihnen suchen. Eadulf würde auffallen wie ein bunter Hund. Nein, er bleibt bei Odar an Bord des gallischen Schiffes.«

»Das ist doch sicher genauso gefährlich«, wandte Odar ein.

»Sobald die Ui Fidgenti wissen, wo sich das verschwundene Schiff befindet, werden sie kommen und es zurückfordern.«

»Sie wissen schon seit Tagen, wo es vor Anker liegt«, entgegnete Fidelma. »Es wurde sicher entdeckt, sobald Ross es in die Meerenge von Dun Boi schleppte. Wahrscheinlich hat Adnar deshalb versucht, es unter Hinweis auf die Bergegesetze für sich zu beanspruchen. So hätte er es zurückbekommen, ohne Verdacht zu erregen. Ich glaube, es liegt ganz im Interesse unserer Gegner, es im Augenblick einfach weiter vor Dun Boi ankern zu lassen. Das gallische Schiff ist der letzte Ort, an dem sie nach Euch suchen werden, Ea-dulf. Ich werde mir ein Warnsystem ausdenken, um Euch und Odar zu informieren, falls es Schwierigkeiten gibt.«

»Eine gute Idee«, stimmte Odar schließlich nach reiflicher Überlegung zu. »Falls es Ärger gibt, müßt Ihr uns durch Signale verständigen, Schwester, oder zu uns an Bord kommen, damit wir davonsegeln können, wenn Gefahr droht.«

»Ich kann immer noch nicht nachvollziehen, wozu Ihr in der Abtei bleiben müßt«, wandte Eadulf ein.

»Ich habe meinen Eid als ddlaigh zu erfüllen«, erklärte Fidelma. »In der Abtei geschehen Verbrechen, die ich aufklären muß und die meiner Meinung nach nichts mit dem geplanten Umsturz zu tun haben. Dabei geht es um mehr als um das Verlangen nach politischer Macht. In der Abtei wurden zwei Morde verübt, die noch der Aufklärung bedürfen.«

Schwester Comnat entfuhr ein leises Stöhnen.

»Ein weiterer Mord außer dem an Schwester Almu? Welches Mitglied unserer Gemeinschaft ist denn noch verschieden?«

»Schwester Siomha, die rechtaire.«

Comnats Augen weiteten sich.

»Almus Freundin? Sie ist auch tot?«

»Auf die gleiche Weise umgebracht. In der Abtei verbirgt sich etwas abgrundtief Böses, das ich vernichten muß.«

»Wäre es nicht besser, damit zu warten, bis Ross zurückkommt und Verstärkung mitbringt?« schlug Eadulf vor. »Dann könnt Ihr Eure Untersuchung fortsetzen, ohne Angst vor einem Mörder oder Schlimmerem.«

Fidelma schenkte dem sächsischen Mönch ein Lächeln.

»Nein. Ich muß meine Arbeit beenden, bevor jemand Verdacht schöpft, daß die Verschwörung aufgeflogen ist, denn falls ich mich irre und doch ein Zusammenhang zwischen ihr und den Morden besteht, könnte der Mörder die Flucht ergreifen, bevor die Verbrechen aufgeklärt sind.«

Schwester Comnat schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Das ist auch nicht nötig. Wir müssen jetzt aufbrechen, und Ihr müßt Abt Broce in Ros Ailithir und Bran Finn, dem Häuptling der Loigde, alles erzählen, was Ihr über die Ereignisse hier wißt.«

Fidelma erhob sich und half der Älteren, aufzustehen. Sie sah, daß Ross immer wieder gen Himmel blickte und wegen der herannahenden Morgendämmerung äußerst besorgt war.

»Beruhigt Euch, Ross«, ermahnte sie ihn scherzhaft. »In seinen Oden fordert Horaz: Aequam memento rebus in arduis servare mentem - In Bedrängnis zeig dich beherzt und tapfer. Nehmt die gute Schwester mit auf Eure barc. Ich erwarte Euch in drei Tagen zurück.« Dann wandte sie sich an Odar. »Sobald Ihr Eadulf sicher an Bord des gallischen Schiffes gebracht habt, vergeßt nicht, die Pferde zurückzugeben. Wir wollen schließlich nicht, daß Barr nach ihnen sucht und dadurch Adnars Aufmerksamkeit erregt.«

Dann schwang sie sich aufs Pferd. In leichtem Galopp ritten sie los, gerade als sich im Osten am Horizont das allererste Tageslicht zeigte.

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