Kapitel 5

Als Schwester Bronach Fidelma weckte, war es noch dunkel, doch am Himmel zeigten sich bereits die Vorboten der herannahenden Morgendämmerung. Eine Schüssel warmes Wasser war für ihre Morgentoilette bereitgestellt, und eine brennende Kerze sollte ihr diese Verrichtung erleichtern. Zu dieser frühen Stunde war es schneidend kalt. Fidelma hatte sich kaum angekleidet, da hörte sie langsames, harmonisches Glok-kenläuten, die traditionelle »Totenglocke«, die nach altem Brauch das Dahinscheiden einer christlichen Seele verkündete. Einen Augenblick später kehrte Schwester Bronach zurück, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet.

»Zeit für die Totenmesse, Schwester«, flüsterte sie.

Fidelma nickte und folgte ihr aus dem Gästehaus in die duirthech, wo sich die Gemeinschaft vollständig versammelt zu haben schien. Sie war überrascht, daß der Schnee vom Vorabend auf dem Abteigelände geschmolzen war, die umliegenden Wälder und Hügel jedoch unter einer dünnen Schneedecke lagen. Ein weißes Leuchten tauchte den frühen Morgen in ein unheimliches Licht.

Im Inneren der hölzernen Kapelle war es so kalt, daß man ein Feuer angezündet hatte, das in einer Kohlenpfanne im Hintergrund flackerte. Von dem mit Steinplatten ausgelegten Boden stiegen Feuchtigkeit und Kälte auf. Äbtissin Draigen kniete hinter dem Altar mit seinem großen, ungemein prunkvollen goldenen Kreuz, das fast bis an die Decke der Kapelle reichte. Vor dem Altar, genau vor den Versammelten, stand die fuat, die Totenbahre mit dem Leichnam des unbekannten Mädchens.

Fidelma nahm in der letzten Bank neben Schwester Bronach Platz. Sie war dankbar für die Wärme des ganz in der Nähe brennenden Kohlenfeuers. Anerkennend betrachtete sie die verschwenderische Einrichtung der Kapelle. Passend zur Pracht des Altarkreuzes waren auch die Wände mit zahlreichen Ikonen geschmückt, und ihre Goldverzierungen waren überall zu sehen. Sie nahm an, daß das Leichenbegängnis seit dem Vorabend abgehalten worden war. Jetzt war der Leichnam in ein racholl, ein weißes, linnenes Totenhemd, gehüllt. An jeder Ecke der Bahre flackerte eine Kerze in der leichten Morgenbrise.

Äbtissin Draigen erhob sich und begann nach Art der traditionellen lamb-comairt, der Totenklage, langsam in die Hände zu klatschen. Dann stimmten die Schwestern ein leises Wehklagen an - den caoine, den Klagegesang. Im Dämmerlicht des frühen Morgens klang er bedrückend, und Fidelma bekam Gänsehaut, obwohl sie ihn schon so oft gehört hatte. Das Beweinen der Toten war ein Brauch aus uralten Zeiten, lange bevor das Christentum die Verehrung der alten Gottheiten verdrängt hatte.

Nach zehn Minuten brach der caoine ab.

Äbtissin Draigen trat vor. An dieser Stelle der Zeremonie folgte gewöhnlich das amra oder Klagegedicht.

Da ertönte plötzlich ein seltsames Geräusch unter dem Steinfußboden der Kapelle. Ein leises, sonderbares Kratzen, ein dumpf dröhnendes Poltern, als stießen zwei Holzboote gegeneinander. Die Mitglieder der Gemeinschaft blickten sich furchtsam an.

Äbtissin Draigen hob Ruhe gebietend ihre schlanke Hand.

»Schwestern, Ihr vergeßt Euch«, mahnte sie.

Dann beugte sie den Kopf, um mit der Messe fortzufahren.

»Schwestern, wir haben eine Tote zu beklagen, die wir noch nicht einmal kennen, und können deshalb kein Klagegedicht anläßlich ihres Dahinscheidens sprechen. Eine unbekannte Seele hat sich in Gottes heilige Umarmung verabschiedet. Gott aber kennt sie, und das genügt. Die Hand, die dieses Leben ausgelöscht hat, ist Gott mit Sicherheit ebenfalls bekannt. Wir beklagen das Dahinscheiden dieser Seele, sind jedoch froh über die Gewißheit, daß sie sich nun in Gottes Obhut befindet.«

Auf ein Zeichen der Äbtissin traten sechs Schwestern vor, hoben die Totenbahre auf ihre Schultern und verließen, von Draigen angeführt, die Kapelle, während der Rest der Gemeinschaft ihnen in Zweierreihen folgte.

Fidelma wartete, um sich dem Ende des Zuges anzuschließen. Ihr fiel auf, daß noch eine Nonne, offenbar in der gleichen Absicht, ebenfalls zögerte: Schwester Bronach. Sie blieb an ihrem Platz, um gemeinsam mit einer anderen Außenseiterin dem Trauerzug zu folgen. Zuerst dachte Fidelma, die Frau sei besonders klein gewachsen, doch dann bemerkte sie, daß sie einen Stock umklammerte und sich mit einem sonderbar schaukelnden Gang fortbewegte. Ihre Beine waren mißgestaltet, ihr Oberkörper jedoch wohlgeformt.

Mit Bedauern stellte Fidelma fest, daß sie noch jung war, ein breites, eher nichtssagendes Gesicht hatte und wässrige blaue Augen. Sie schaukelte von einer Seite zur anderen, zog sich mit Hilfe ihres Schwarzdorn-steckens vorwärts und konnte so mit der Prozession gut Schritt halten. Fidelma empfand Mitleid mit dem Unglück der jungen Schwester und fragte sich, welches Mißgeschick ihre Gehbehinderung verursacht haben mochte.

Inzwischen war es hell geworden, hell genug, damit der Trauerzug sich seinen Weg zwischen den Gebäuden der Abtei und hinaus in den dahinterliegenden Wald bahnen konnte. Eine der Schwestern begann mit leiser Sopranstimme in Latein zu rezitieren, während die anderen Schwestern den Chor anstimmten:


Cantemus in omni die

continentes uarie,

conclamantes Deo dignum

hymnum sanctae Mariae


Fidelma übersetzte sich die Worte flüsternd, während sie weiters chritten: »Laßt uns singen jeden Tag, laßt uns vor Gott vielstimmig jauchzen, laßt uns lobsingen der heiligen Maria.«

Sie hielten auf einer kleinen Lichtung, wo, nach den zahlreichen Gedenksteinen und Kreuzen zu urteilen, eine Grabstätte für die Gemeinschaft angelegt worden war. Der Boden war hie und da mit Schneeflocken bestäubt. Die Äbtissin hatte die Prozession zu einer ent-legenen Ecke des Friedhofs dirigiert. Hier hoben die Schwestern, die die Bahre äußerst geschickt getragen hatten - so, als seien sie sehr geübt darin -, den Leichnam herunter und senkten ihn in das Grab hinab, das offensichtlich schon am Vortag vorbereitet worden war.

Fidelma wußte, was als nächstes kam. Es war ein uralter Brauch. Die hölzerne Bahre, auf der die Tote gelegen hatte, wurde von zwei Schwestern mit Hämmern kurz und klein geschlagen. Entsprechend einem alten Aberglauben, den das Christentum bisher noch nicht hatte ausmerzen können, mußte die Bahre vollständig zerstört werden, sonst könnten die Geister sie benutzen, um den Leichnam bei ihren nächtlichen Streifzügen fortzutragen. War die Bahre vernichtet, ließen sie die Toten in Ruhe.

Eine ungewöhnlich junge Schwester von anmutiger Erscheinung trat näher. Sie trug ein riesiges Bündel grüner, buschiger Birkenzweige. Fidelma erkannte in ihr Schwester Lerben, die Novizin, die sie am vergangenen Abend zum Gemach der Äbtissin geführt hatte. Neben dem Grab stellten sich die Schwestern in einer Reihe vor ihr auf, und jede, die an ihr vorbeiging, nahm einen kleinen Zweig entgegen, blieb an der offenen Grube stehen und warf ihn hinein. Fidelma und die gehbehinderte Nonne, der Schwester Bronach behilflich war, standen als letzte in der Reihe an. Mit freundlichem Lächeln ließ Fidelma den beiden anderen den Vortritt, bevor sie einen der restlichen Zweige von Schwester Lerben entgegennahm, ihn in das Grab legte und an ihren Platz zurückkehrte. Der Birkenzweig wurde ses safais genannt und diente nicht nur dazu, die Toten zu bedecken, bevor die Erde ins Grab geschaufelt wurde, sondern nach alter Überlieferung auch zum Schutz des Leichnams vor bösen Mächten.

Äbtissin Draigen trat vor, um den letzten Birkenzweig in die offene Grube zu legen. Während zwei Schwestern das Grab mit Erde zu füllen begannen, stimmte die Äbtissin Psalm ii8 an, der auf Irisch Biait genannt wurde, Dankbares Bekenntnis, nach dem Wort >Danket< aus dem ersten Vers. Er galt als die machtvollste Fürbitte für die Erlösung der leidenden Seele. Äbtissin Draigen brachte das Dankbare Bekenntnis jedoch nicht in seiner vollen Länge zu Gehör, sondern trug nur ausgewählte Verse vor:

In der Angst rief ich den HERRN an; / und der HERR erhörte mich und tröstete mich.

Der HERR ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; / was können mir Menschen tun?

Der HERR ist mit mir, mir zu helfen; / und ich will meine Lust sehen an meinen Feinden.

Es ist gut, auf den HERRN zu vertrauen / und nicht sich verlassen auf Menschen.

Es ist gut, auf den HERRN zu vertrauen / und nicht sich verlassen auf Fürsten.

Fidelma runzelte die Stirn angesichts der ungestümen Heftigkeit, mit der die Äbtissin die Worte hervorstieß, als hätten sie noch eine andere, tiefere Bedeutung.

Dann war der Pflicht Genüge getan. Der arme, kopflose Leichnam war begraben, die angemessenen Gebete und Segenssprüche waren gesprochen, alles gemäß den Riten des Christentums.

Die Sonne stand inzwischen höher am Himmel, und Fidelma konnte die milde Wärme ihrer frühmorgendlichen Winterstrahlen auf ihrem Antlitz spüren. Die Wälder waren zum Leben erwacht, das melodische Zwitschern der Vögel, das leise Rascheln trockener Blätter und das Knacken von Zweigen, die in der Morgenbrise ihre Schneelast abwarfen, verwandelten die Förmlichkeit der Zeremonie in freudige Heiterkeit.

Fidelma bemerkte, daß die Schwestern sich langsam auf den Rückweg zur Abtei begaben und daß die gehbehinderte Nonne in Begleitung von Schwester Bronach mit ihrem Stecken den Pfad entlang hinter den anderen hereilte. Ein heiseres Husten ließ sie herumfahren, und sie erblickte die Äbtissin und neben ihr die junge Nonne, die während der gesamten Zeremonie zu ihrer Rechten gestanden hatte.

»Guten Morgen, Schwester«, grüßte Draigen und trat näher.

Fidelma erwiderte den Gruß.

»Was war das für ein merkwürdiges Geräusch in der Kapelle?« fragte sie ohne Umschweife. »Die Schwestern wirkten ziemlich beunruhigt.«

Äbtissin Draigen verzog verächtlich das Gesicht.

»Sie müßten es eigentlich besser wissen. Ich habe Euch unser subterraneus gezeigt.«

»Ja, aber Geräusche von dort wären doch in der Ka-pelle sicherlich nicht zu hören? Die Höhle erstreckt sich doch nicht bis unterhalb der duirtbech. «

»Das stimmt. Es soll jedoch, wie ich Euch erzählt habe, unter der Abtei noch weitere Höhlen geben. Abgesehen von unserer Vorratshöhle haben wir ihre Eingänge bis heute nicht gefunden. Zweifellos liegt unter der Kapelle ein Hohlraum, der wahrscheinlich von Zeit zu Zeit überflutet wird. Dabei entsteht das Geräusch, das wir gehört haben.«

Fidelma gab zu, daß das durchaus möglich war.

»Ihr habt es also schon früher gehört?«

Äbtissin Draigen wirkte plötzlich ungeduldig.

»Mehrere Male während der Wintermonate. Aber das ist doch ganz unwichtig.« Es lag auf der Hand, daß sie von dem Thema genug hatte. Sie wandte sich zu ihrer Begleiterin um. »Das ist Schwester Siomha, meine Verwalterin, die zusammen mit Schwester Bronach den Leichnam entdeckt hat.«

Fidelma betrachtete die ebenmäßigen Gesichtszüge Schwester Siomhas mit einiger Überraschung. Sie hatte das Antlitz eines jungen, engelhaften Mädchens und konnte sicher nicht über die Erfahrung verfügen, die Fidelma bei einer rechtaire, der Verwalterin einer Gemeinschaft, voraussetzte. Mit einem verspäteten Lächeln versuchte Fidelma, ihre Überraschung zu überspielen, spürte jedoch im Gegenzug keinerlei Wärme, als die junge Verwalterin das Wort an sie richtete: »Ich habe meine Pflichten zu erledigen, Schwester. Womöglich könntet Ihr mir Eure Fragen deshalb gleich hier stellen.« Das klang beinahe unwirsch und wurde in einem Tonfall gesagt, den Fidelma von dem liebreizend aussehenden Mädchen nicht erwartet hatte, so daß sie zusammenzuckte und im ersten Moment sprachlos war.

»Das wird leider nicht gehen«, erwiderte sie schließlich mit ausdrucksloser Stimme.

Zu ihrer klammheimlichen Freude sah sie so etwas wie Fassungslosigkeit über Schwester Siomhas Antlitz huschen.

Fidelma wandte sich um und schloß sich den anderen Nonnen an.

»Wie bitte, Schwester?« Siomhas Stimme war eine Spur lauter geworden und klang verdrossen, während sie Fidelma zögernd einen Schritt folgte.

Fidelma blickte über die Schulter.

»Ich kann Euch heute mittag empfangen. Ihr findet mich im Gästehaus.« Fidelma setzte ihren Weg fort, bevor Schwester Siomha antworten konnte.

Die Äbtissin eilte ihr gleich darauf hinterher und schloß sich ihr an. Sie war etwas außer Atem geraten.

»Ich verstehe nicht, Schwester«, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich dachte, Ihr hättet gestern abend den Wunsch geäußert, mit meiner Verwalterin zu sprechen.«

»Das möchte ich auch, Mutter Oberin«, erwiderte Fidelma. »Doch habe ich, wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, Adnar versprochen, heute früh mit ihm die Morgenmahlzeit einzunehmen. Die Sonne ist bereits aufgegangen, und ich muß sehen, wie ich zu seiner Festung übersetzen kann.«

Draigen blickte mißbilligend drein.

»Ich glaube nicht, daß Euer Besuch bei Adnar notwendig ist. Diese Angelegenheit fällt nicht in seine Zuständigkeit, und dafür danke ich Gott.«

»Warum das, Mutter Oberin?« erkundigte sich Fidelma.

»Weil er ein boshafter, gehässiger Mann ist und zu jeder Verleumdung fähig.«

»Meint Ihr Verleumdungen Eurer Person?«

Äbtissin Draigen zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht, und ich mache mir auch nichts daraus. Adnars Geschwätz interessiert mich wenig. Aber ich glaube, er kann es kaum erwarten, Euch seinen Klatsch und Tratsch mitzuteilen.«

»Ist er deshalb bei der Ankunft von Ross’ Schiff mit Euerm Boot um die Wette gefahren?«

»Warum denn sonst? Er ist bestimmt gekränkt darüber, daß er als bo-aire, als Friedensrichter in dieser Angelegenheit nichts zu sagen hat. Er hätte gern Macht über unsere Gemeinschaft.«

»Warum das?«

Äbtissin Draigen schürzte zornig die Lippen.

»Weil er eitel ist, darum. Er liebt sein kleines bißchen Autorität.«

Fidelma blieb plötzlich stehen und musterte eingehend das Gesicht der Äbtissin.

»Adnar ist Häuptling in diesem Gebiet. Seine Festung liegt genau am anderen Ufer der Meerenge, und deshalb muß die Gemeinschaft Abgaben an ihn entrichten. Dennoch spüre ich eine große Feindseligkeit zwischen der Abtei und Adnar.«

Fidelma war bemüht, das Problem nicht mit der Person der Äbtissin gleichzusetzen.

Äbtissin Draigen errötete.

»Ich habe keinen Einfluß auf Eure Gedanken, Schwester, oder auf Eure Deutung der Dinge, die Ihr hier seht.« Sie wollte sich gerade abwenden, hielt jedoch inne. »Wenn Ihr vorhabt, heute mit Adnar das Morgenmahl einzunehmen, steht Euch ein langer Fußmarsch bevor, am Ufer entlang bis zu der Landzunge, auf der seine Festung steht. An unserem Kai ist jedoch ein kleines Boot festgemacht, das Ihr benutzen könnt, wenn Ihr wollt. Es dauert nur zehn Minuten, von dort über die Bucht zu rudern.«

Fidelma wollte ihr gerade danken, da war die Äbtissin schon verschwunden.

Äbtissin Draigen hatte recht: es war eine kurze, angenehme Überfahrt, vorbei an der Mündung des kleinen Flusses, der sich in die Meerenge ergoß - genau zwischen der Landzunge, auf der die Abtei errichtet worden war, und dem kahlen Felsvorsprung, auf dem die runde, aus Stein erbaute Festung Adnars stand. Wie hatte Ross sie genannt? Die Festung der Kuh-Göttin -Dun Boi. Fidelma konnte nicht umhin, die Weitsicht ihrer Erbauer zu bewundern, denn der Vorsprung, auf dem sie errichtet war, beherrschte nicht nur die offene Durchfahrt zum Meer, sondern die gesamte Meerenge mit ihrer Breite von mehreren Meilen. Die Wälder auf dem Felsvorsprung waren gerodet worden, so daß man einen ungehinderten Blick über die Bucht hatte, und nach den Holzgebäuden zu urteilen, die hinter den grauen Granitmauern sichtbar wurden, waren die gefällten Bäume beim Bau der Festung sinnvoll genutzt worden.

Als Fidelma über die seichte Bucht ruderte, hörte sie Rufe. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah eine dunkle Gestalt auf der Festungsmauer und eine zweite Gestalt, die davonrannte. Ihre Ankunft war offensichtlich bemerkt worden und wurde Adnar nun unverzüglich gemeldet.

Tatsächlich, als Fidelma mit ihrem kleinen Boot längsseits des hölzernen Piers unterhalb der Festung anlegte, stand dort Adnar höchstpersönlich mit einigen seiner Krieger, um sie willkommen zu heißen. Er verbeugte sich lächelnd und war die Höflichkeit selbst, während er ihr aus dem Boot half.

»Willkommen, Schwester. War die Überfahrt nicht anstrengend?«

Fidelma erwiderte sein Lächeln.

»Überhaupt nicht. Es ist nur eine kurze Entfernung«, fügte sie, auf das Offensichtliche verweisend, hinzu.

»Ich dachte, ich hätte heute morgen eine Totenglocke läuten hören?« Die Bemerkung war eher als Frage formuliert.

»In der Tat, das habt Ihr«, bestätigte Fidelma. »Es war die Totenmesse für den Leichnam, der gefunden wurde.«

Adnar wirkte verblüfft.

»Soll das heißen, daß Ihr die Identität der Toten festgestellt habt?«

Fidelma schüttelte den Kopf. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob im Tonfall des Häuptlings nicht eine Spur Besorgnis mitgeschwungen hatte.

»Die Äbtissin kam zu dem Schluß, daß die Tote ohne Namen beerdigt werden sollte. Hätte sie noch länger gezögert, wäre daraus eine Gefahr für die Gesundheit der Gemeinschaft entstanden.«

»Eine Gefahr?« Adnar schien eine Weile mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, doch dann begriff er, was sie meinte. »Ah, ich verstehe. Also seid Ihr in der Angelegenheit bisher noch zu keinen Schlußfolgerungen gelangt?«

»Nein.«

Adnar drehte sich um und wies mit der Hand den kurzen Pfad hinauf, der vom Pier zu einem kleinen Holztor in der grauen Festungsmauer führte.

»Laßt mich vorausgehen, Schwester. Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid - ich war mir gar nicht so sicher.«

Fidelma runzelte die Stirn.

»Ich sagte Euch doch, daß ich heute das Morgenmahl mit Euch einnehmen würde. Und was ich verspreche, das halte ich auch.«

Der großgewachsene, schwarzhaarige Häuptling breitete entschuldigend die Arme aus, als er beiseite trat, um sie als erste durch das Tor gehen zu lassen.

»Ich wollte Euch nicht beleidigen, Schwester. Es ist nur so, daß Äbtissin Draigen mich nicht gerade liebt.«

»Das kann ich seit gestern höchstpersönlich bezeugen«, erwiderte Fidelma.

Adnar schritt eine kurze Steintreppe hinauf zu einem großen Holzgebäude aus mächtigen Eichenbalken. Die Flügeltüren waren mit Schnitzereien reich verziert. Die beiden Krieger, die sie unauffällig begleitet hatten, bezogen jetzt am Fuß der Treppe Posten, während Adnar die Tür aufstieß.

Der Anblick, der sich Fidelma zur Begrüßung bot, verschlug ihr fast den Atem. Adnars Festsaal war gut geheizt, in einer großen Feuerstelle prasselte ein riesiges Feuer. Der ganze Raum war reich geschmückt und weitaus prunkvoller, als sie das bei einem einfachen bo-aire, einem Kuh-Häuptling ohne Landbesitz, erwartet hätte. Das Gebäude bestand überwiegend aus Eiche, doch die Wände waren mit Paneelen aus poliertem Eibenholz getäfelt. Überall hingen brünierte Schutzschilde aus Bronze und Silber zwischen kostbaren Wandteppichen aus aller Herren Länder. Es gab sogar mehrere Büchertaschen sowie ein Lesepult, um die Bücher zu lesen. Felle von Ottern, Hirschen und Bären lagen auf dem Boden verstreut. Ein runder Tisch war bereits für das Mahl gedeckt, überladen mit Früchten, Fleisch und Käse und mit Krügen voll Wasser und Wein.

»Ihr führt einen ausgezeichneten Haushalt, Adnar«, bemerkte Fidelma und starrte dabei auf den großzügig gedeckten Tisch.

»Das tut er nur, wenn er weiß, daß erlesene Gäste sich bei Tisch die Ehre geben, Schwester.«

Fidelma drehte sich beim Klang der angenehmen, dunklen Männerstimme jäh um.

Ein schmalgesichtiger junger Mann hatte den Raum betreten. Fidelma empfand augenblicklich eine Abneigung gegen ihn. Er war frisch rasiert, doch die nachwachsenden Bartstoppeln lagen wie ein blauer Schatten auf seinen hageren Wangen. Sein ganzer Körper war mager, die Nase spitz, der Mund rot und schmal wie ein Schlitz. Seine Augen, zwei große, schwarze Kugeln, standen nie länger als ein paar Sekunden still, sondern zuckten ständig hin und her und verliehen ihm einen hinterhältigen Gesichtsausdruck. Über seinem safrangelben Hemd trug er ein ärmelloses Wams aus Schaffell mit einem Gürtel um die Taille. Eine Kette aus Rotgold zierte seinen Hals. Fidelma entging nicht, daß er an der Seite einen juwelenbesetzten Dolch in einer ledernen Scheide trug. Nur jemand von hohem Rang durfte einen Dolch in einen Festsaal mitbringen, wo normalerweise keine größeren Waffen zugelassen waren.

Der junge Mann war noch nicht lange über das Alter der Reife hinaus. Fidelma schätzte ihn auf achtzehn, im Höchstfall vielleicht neunzehn Jahre.

Adnar trat einen Schritt vor.

»Schwester Fidelma, gestattet mir, Euch Olcan vorzustellen, den Sohn von Gulban, dem Falkenauge, dem Prinzen und Oberhaupt der Beara, auf deren Gebiet Ihr Euch hier befindet.«

Die Hand, die der junge Mann ihr reichte, war feucht und schlaff. Fidelma spürte, wie ein leichtes Schaudern ihren Körper durchlief, als sich ihre Hände zur Begrüßung berührten. Ihr war, als berührte sie einen Leichnam.

Fidelma wußte, daß es falsch war, lediglich aufgrund seines Äußeren Abneigung gegen Olcan zu empfinden. Wie lautete noch gleich der Vers von Ju-venal? Fronti nulla fides. Auf die Erscheinung kann man sich nicht verlassen. Von allen Menschen sollte doch gerade sie sich vor übereilten Beurteilungen hüten, die nur auf bloßem Augenschein beruhten.

»Willkommen, Schwester. Willkommen. Adnar hat mir berichtet, daß Ihr eingetroffen seid und warum.«

Sie war Olcan noch nie begegnet, doch sie wußte, daß sein Vater Gulban seinen Stammbaum bis zu Ai-lill Olum, dem großen König von Muman, zurückverfolgen konnte, der vor drei oder vier Jahrhunderten regierte und von dem auch ihre Familie abstammte. Aufgrund dieser Herkunft saß nun ihr Bruder auf dem Thron von Cashel. Gulban war lediglich Häuptling eines einzelnen Clans des größeren Stammes der Loigde.

»Ich hatte keine Ahnung, daß Ihr hier wohnt, Ol-can«, sagte sie.

Der junge Mann schüttelte rasch den Kopf.

»Ich wohne nicht hier. Ich bin nur zu Besuch und genieße Adnars Gastfreundschaft. Ich bin zum Fischen und Jagen hierhergekommen.«

Er wandte sich halb um, als ein gekünsteltes Hüsteln aus dem Halbschatten ertönte.

Hinter ihm erschien ein breitschultriger, gutaussehender Mann, etwa Anfang bis Mitte vierzig, im Habit eines Mönchs. Fidelma registrierte seine angenehmen Gesichtszüge. Die helleren Strähnen seines rotgolde-nen Haares blitzten wie poliertes Metall in der Sonne, die durch die Fenster fiel. Er trug die Johanneische Tonsur: der vordere Teil des Kopfes war völlig kahlrasiert. Seine Augen waren groß und blau, die Nase etwas vorstehend, der Mund jedoch rot und humorvoll. Seine Erscheinung wirkte dennoch ein wenig unheimlich, denn er hatte sich - einem alten Brauch folgend, der angeblich noch aus den Zeiten der Druiden stammte - die Augenlider mit Beerensaft schwarz gefärbt. Wie er übernahmen viele irische Mönche diese Sitte, besonders, wenn sie als Missionare andere Länder bereisten.

Wieder war es Adnar, der rasch vortrat und sie miteinander bekanntmachte.

»Das ist Bruder Febal, Schwester«, verkündete er. »Er ist mein anam-chara und kümmert sich um die religiösen Bedürfnisse meiner Gemeinschaft.«

In der irischen Kirche hatten alle Gläubigen einen »Seelen-Freund«, dem sie ihre geistlichen Probleme und Verwirrungen anvertrauten. Darin unterschied sie sich von der Kirche Roms, wo die Gläubigen dazu angehalten wurden, ihre Sünden einem Priester zu beichten. In Irland war der anam-chara jedoch eher ein Vertrauter und geistiger Führer als jemand, der einfach nur Strafen für die Übertretung religiöser Vorschriften verhängte. Der stattliche Glaubensbruder lächelte freundlich, sein Händedruck war kräftig und sicher. Dennoch, gestand sich Fidelma ein, hatte der Mann etwas an sich, was ihr wenig vertrauenswürdig erschien. Etwas, was sie an die Schlafgemächer von Damen erinnerte und an Türgriffe, die sich kaum merklich drehten. Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln.

Olcan schien die Rolle des Gastgebers in Adnars Festsaal übernommen zu haben und bedeutete Fidelma, neben ihm Platz zu nehmen, während sich Adnar und Bruder Febal ihnen gegenüber an den runden Tisch setzten. Sobald sie sich niedergelassen hatten, eilte ein junger Diener herbei, um ihnen Wein einzuschenken.

»Geht es Eurem Bruder Colgu gut?« fragte Olcan. »Wie kommt unser neuer König denn so zurecht?«

»Es ging ihm gut, als ich ihn zuletzt in Ros Ailithir sah«, erwiderte Fidelma vorsichtig. »Er kehrte nach Cashel zurück, kurz bevor ich abreiste.«

»Ah, Ros Ailithir!« Olcan warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Ganz Muman war entzückt von der Nachricht, daß Ihr dort den geheimnisvollen Mord an dem Ehrwürdigen Dacan aufklären konntet.«

Fidelma wurde vor Verlegenheit unruhig. Sie mochte es nicht, wenn man ihre Arbeit für etwas Außergewöhnliches hielt.

»Es ging lediglich darum, ein Rätsel zu lösen. Als Advokatin der Gerichtsbarkeit ist es meine Aufgabe, Geheimnisse aufzuklären und die Wahrheit zu erkennen. Wie dem auch sei, Ihr sagtet, ganz Muman war entzückt. Ich bezweifle, daß dies auch auf Euer Volk zutrifft, die Loigde? Salbach, Euer früherer Häuptling, ist nicht besonders gut dabei weggekommen.«

»Salbach war ein ehrgeiziger Narr.« Ob ihrer Entgegnung verzog Olcan mürrisch die Lippen. »Mein Vater Gulban hatte bei den Stammesversammlungen häufig Auseinandersetzungen mit ihm. Salbach war in diesem Land nicht gern gesehen.«

»Dennoch ist das Volk der Beara ein Stamm der Loigde«, betonte Fidelma.

»Zu allererst sind wir Gulban zur Untertanentreue verpflichtet, und er wiederum ist dem Häuptling treu ergeben, der in Cuan Doir residiert. Wie dem auch sei, unser Häuptling heißt jetzt nicht mehr Salbach, sondern Brann Finn Mael Ochtraighe. Ich persönlich interessiere mich überhaupt nicht für Politik. Deshalb haben mein Vater und ich ...«, er grinste, »uns entfremdet. Meiner Ansicht nach soll man das Leben genießen, und welch besseren Zeitvertreib gibt es als die Jagd ...?« Er wollte schon weitersprechen, zögerte jedoch und sagte dann abschließend: »Ihr tatet wohl daran, unser Volk von einem ehrgeizigen Nichtskönner zu befreien.«

»Wie ich bereits sagte, ich habe lediglich meine Pflicht als Advokatin erfüllt.«

»Eine Aufgabe, für die nicht jeder das Geschick hat. Ihr habt Euch den Ruf erworben, äußerst beschlagen zu sein. Adnar erzählte mir, ein ähnliches Rätsel habe Euch auch hierhergeführt. Ist das wahr?«

Er reichte ihr einen Teller mit Fleisch, den sie dankend ablehnte; sie bediente sich lieber aus einer Schüssel mit Getreideflocken und Nüssen und nahm danach einen Apfel.

»So ist es«, mischte sich Adnar schnell ein.

Bruder Febal schien sich nicht für das Gespräch zu interessieren und konzentrierte sich mit gesenktem Kopf auf seine Mahlzeit.

»Ich bin auf Ersuchen von Äbtissin Draigen gekommen«, bestätigte Fidelma. »Sie bat Abt Broce, einen ddlaigh in ihre Abtei zu entsenden.«

»Oh«, seufzte Olcan laut und studierte den letzten Schluck Wein in seinem Pokal, als fessle dieser seine ganze Aufmerksamkeit. Dann sah er Fidelma unverwandt an. »Ich habe gehört, die Äbtissin genießt hierzulande einen gewissen Ruf. Sie gilt nicht gerade als, wie soll ich mich ausdrücken, >geistig hochstehend<. Ist es nicht so, Bruder Febal?«

Febal hob jäh den Kopf, zögerte, ließ seine blauen Augen zu Fidelma wandern und sah sie einen Augenblick an, bevor er wieder auf seinen Teller hinunterstarrte.

»Es ist, wie Ihr sagt, mein Prinz. Es heißt, Äbtissin Draigen habe unnatürliche Neigungen.«

Fidelma beugte sich vor, und ihre Augen verengten sich, als sie sich Bruder Febal direkt zuwandte.

»Vielleicht seid Ihr so gut und drückt Euch etwas deutlicher aus, Bruder?«

Verblüfft riß Bruder Febal den Kopf hoch und blickte nervös zu Olcan und Adnar. Dann setzte er seinen maskenhaften Gesichtsausdruck wieder auf.

»Sua cuique sunt vitia«, rezitierte er.

»In der Tat, wir alle haben unsere Laster«, pflichtete ihm Fidelma bei, »aber vielleicht erzählt Ihr uns, welches aus Eurer Sicht die Laster der Äbtissin sind?«

»Ich glaube, wir alle wissen, was Bruder Febal meint«, unterbrach Adnar sie gereizt, als ärgere er sich über ihre Begriffsstutzigkeit. »Also, wenn in der Abtei der Leichnam einer jungen Frau gefunden würde und ich die Untersuchung durchzuführen hätte, ich würde den Täter innerhalb der Abtei suchen, und als Tatmotiv käme ausschließlich primitive, pervertierte Leidenschaft in Betracht.«

Schwester Fidelma lehnte sich zurück und musterte Adnar neugierig.

»Habt Ihr mich zu Euch eingeladen, um mir das zu sagen?«

Adnar nickte bestätigend.

»Ursprünglich habe ich Euch eingeladen, um dagegen zu protestieren, daß die Kirche jemanden aus ihren eigenen Reihen geschickt hat, um den Fall aufzuklären, und das auch noch auf Ersuchen der Hauptverdächtigen. Ich dachte, Ihr wäret gekommen, um die Äbtissin zu entlasten.«

»Und jetzt habt Ihr Eure Meinung geändert?« Fidelma war die sorgfältige Wortwahl des bo-aire nicht entgangen.

Adnar warf einen unbehaglichen Blick zu Olcan hinüber.

»Olcan hat mir von Euerm ausgezeichneten Ruf berichtet und mir versichert, daß Ihr das Vertrauen des Oberkönigs sowie von Königen und Prinzen anderer Länder genießt. Ich bin deshalb einverstanden, den Fall in Euren Händen zu lassen, und vertraue darauf, daß Ihr niemanden deckt, den anzuklagen sich geziemte.«

Fidelma musterte ihr Gegenüber eingehend und bemühte sich, ihre Überraschung zu verbergen. Daß eine derartige Beschuldigung gegen das Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft vorgebracht wurde, war eine schwerwiegende Angelegenheit.

»Laßt mich eines klarstellen, Adnar«, sagte sie langsam und deutlich. »Ihr behauptet in aller Öffentlichkeit, daß Äbtissin Draigen für den Mord an diesem jungen Mädchen verantwortlich ist und daß sie ihn beging, um ihre sexuellen Neigungen zu verschleiern?«

Adnar setzte gerade zu einer Antwort an, als Olcan sich einmischte.

»Nein, ich glaube nicht, daß Adnar eine offizielle Anklage vorbringt. Er weist nur darauf hin, daß die Richtung, die Eure Nachforschungen nehmen sollten, auf der Hand liegt. In dieser Gegend scheint weit und breit bekannt zu sein, daß Äbtissin Draigen eine Vorliebe für attraktive junge Nonnen hat und sie zum Eintritt in ihre Abtei ermuntert. Das ist jedoch nur allgemeines Gerede. Jetzt wurde dort der Leichnam einer jungen Frau gefunden. Meiner Meinung nach will Adnar Euch lediglich darauf hinweisen, daß Ihr gut daran tut, zu untersuchen, ob innerhalb der Abteimauern unstatthafte Dinge geschehen sind.«

Fidelma musterte den jungen Mann. Er schien mit aufrichtiger Überzeugung und Offenheit zu sprechen, war aber auch klug genug, Adnar von einem gefährlichen Weg abzubringen, auf dem er wegen Verleumdung der Äbtissin juristisch belangt werden konnte.

Bruder Febal machte den Eindruck, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nichts an, und aß in aller Ruhe weiter. Olcan schien es lediglich darum zu gehen, sie über die ganze Tragweite der Situation zu informieren.

Fidelma seufzte.

»Na schön. Die Unterhaltung bleibt unter uns«, erklärte sie sich schließlich einverstanden. »Ich werde jeder Spur nachgehen, die zu dem Schuldigen führen könnte, und zwar ohne Rücksicht auf Amt und Stellung der Verdächtigen.«

Erleichtert lehnte Olcan sich zurück.

»Das ist alles, worum es Euch geht, nicht wahr, Adnar?«

Der Häuptling nickte.

»Ich bin sicher, Ihr werdet hier in der Gegend jede Menge Leute finden, die unsere Ansichten über Äbtissin Draigen teilen. Bruder Febal spricht als ein Mann der Kirche. Er ist äußerst beunruhigt wegen der Geschichten, die ihm über die Äbtissin zu Ohren kommen, und um den guten Ruf des Christentums besorgt.«

Fidelma sah den Mönch scharf an.

»Kursieren denn viele Geschichten?«

»Einige«, bestätigte Bruder Febal.

»Und gibt es Beweise?«

Bruder Febal hob gleichgültig die Schultern.

»Es kursieren einige Geschichten«, wiederholte er. »Valeat quantum valerepotest.«

Das war ein Satz, den man stets hinzufügte, wenn man unbewiesene Informationen weitergab: »Nehmt es für das, was es wirklich ist.«

Fidelma schnaufte mißtrauisch.

»Na schön. Doch sollte Eure Beschuldigung zutreffen, müßt Ihr davon ausgehen, daß in der Abtei ein stillschweigendes Einverständnis mit der Äbtissin herrscht. Die logische Schlußfolgerung daraus lautet: falls die Äbtissin eine Affäre mit dem ermordeten Mädchen hatte, muß jemand davon gewußt haben. Und falls die Tote ein Mitglied der Gemeinschaft war, wußte mit Sicherheit jemand in der Abtei darüber Bescheid, handelte jedoch in heimlichem Einverständnis. Andernfalls stammte das Mädchen entweder hier aus der Gegend, und warum ist ihr Verschwinden dann nicht Euch, Adnar, als bo-aire gemeldet worden? Oder sie war eine Fremde, vermutlich ein Gast der Abtei. Auch davon hätte die Gemeinschaft gewußt.«

Bruder Febals Augen zuckten unruhig.

»Wir dürfen gerade eine Probe Eurer Fähigkeiten im Schlußfolgern miterleben, Schwester«, bemerkte er in freundlichem Ton. »Meine Gebieter verlangen doch nur, daß Ihr Euer Talent unvoreingenommen einsetzt, um den Schuldigen zu finden. Res in cardine est. «

Fidelma fühlte sich durch den herablassenden Tonfall des Bruders allmählich provoziert. Auch seine fragwürdigen lateinischen Redensarten ärgerten sie. Die Floskel >die Angelegenheit liegt auf einer Türangel sollte wohl darauf hinweisen, daß Fidelma die Wahrheit sehr bald herausfinden würde. Er hatte jedoch bewußt ihre Unvoreingenommenheit angezwei-felt, und sie beschloß, diese Beleidigung nicht unwidersprochen zu lassen.

»Noch nie hat jemand die Gültigkeit meines Eides als Advokatin der irischen Gerichtsbarkeit in Frage gestellt«, erwiderte sie angriffslustig.

Olcan legte sofort beruhigend seine Hand auf ihren Arm.

»Werte Schwester, ich glaube, Bruder Febal hat sich bloß etwas ungeschickt ausgedrückt. Ich bin überzeugt, er möchte in dieser Situation nur seine Besorgnis zum Ausdruck bringen. Tatsächlich sind auch Ad-nar und ich äußerst beunruhigt. Schließlich ist der Mord in Adnars Bezirk geschehen, und Ihr werdet sicher nicht abstreiten, daß er als Friedensrichter zu Recht alarmiert ist. Adnar ist ein ergebener Untertan meines Vaters Gulban, dessen Interessen ich zu vertreten habe. Daher teile auch ich seine Befürchtungen.«

Fidelma seufzte insgeheim. Sie wußte, daß ihr Zorn manchmal allzu leicht mit ihr durchging.

»Selbstverständlich«, erwiderte sie und zwang sich zu einem kurzen Lächeln. »Ich muß jedoch sehr auf meinen Ruf achten, wenn es um Recht und Gesetz geht.«

»Wir schätzen uns glücklich, die Angelegenheit in Euren fähigen Händen zu wissen«, bestätigte Olcan. »Ich bin sicher, Bruder Febal bedauert es, falls seine Worte schlecht gewählt waren ...?«

Bruder Febal setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

»Peccavi«, murmelte er und legte seine Hand aufs Herz, um zu unterstreichen, daß er, wie sein lateinischer Ausspruch besagte, gesündigt hatte. Fidelma machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.

Olcan überspielte die peinliche Situation.

»Nun, laßt uns über andere Dinge sprechen. Ist dies Euer erster Besuch im Land der Beara?«

Fidelma bejahte die Frage, denn sie war noch nie auf der Halbinsel gewesen.

»Es ist ein schönes Land, selbst mitten im Winter. In diesem Land hat unser Volk seinen Ursprung«, schwärmte Olcan. »Wußtet Ihr, daß dies hier die Küste ist, wo Mil, der erste Kelte, landete, und wo Amairgen, der Druide, den drei Göttinnen vom Volk der Danu - Banba, Fodhla und Éire - versprach, daß das Land in alle Ewigkeit nach ihnen benannt sein werde?«

Fidelma empfand plötzlich Belustigung ob der Begeisterung des jungen Mannes für seine Heimat.

»Vielleicht kann ich, wenn ich hier fertig bin, Euer Land noch etwas besser kennenlernen«, erwiderte sie ernst.

»Dann wird es mir eine Ehre sein, Euch zu begleiten«, erbot sich Olcan. »Vom Abhang des Berges dort hinter uns kann ich Euch die ferne Insel zeigen, wo Donn, der Herr der Toten, die Seelen der Verblichenen versammelte und von wo er sie auf seinem großen schwarzen Schiff gen Westen mitnahm, in die Anderwelt. Adnar kennt sich in der Geschichte dieser Gegend auch sehr gut aus, nicht wahr, Adnar?«

Der Häuptling nickte steif.

»Wie Olcan schon sagte: solltet Ihr den Wunsch verspüren, die Stätten unserer Altvorderen zu besuchen, dann wäre es uns ein Vergnügen, Euch unsere Begleitung anzubieten.«

»Ich freue mich schon darauf«, erwiderte Fidelma, denn die alten irischen Legenden faszinierten sie sehr. »Doch jetzt sollte ich besser zur Abtei zurückkehren und mit meiner Untersuchung fortfahren.«

Sie erhob sich vom Tisch, und die anderen folgten zögernd ihrem Beispiel.

Olcan schob seine Hand vertraulich unter Fidelmas Ellbogen und geleitete sie aus dem Festsaal. Bruder Febal schien es zufrieden, ohne Abschiedsgruß wieder Platz zu nehmen und seine Mahlzeit fortzusetzen, während Adnar ihnen hinterhereilte.

»Es war uns ein Vergnügen, Euch kennenzulernen, Fidelma«, sagte Olcan, als sie die Außentreppe erreichten und für einen Augenblick stehenblieben. »Allerdings ist es sehr bedauerlich, daß diese Begegnung von einem so schrecklichen Ereignis herbeigeführt wurde.« Die Meerenge lag im fahlen Sonnenlicht. Ol-can blickte hinüber zu der Stelle, wo das gallische Handelsschiff ankerte, das einzige in der Bucht.

»Ist dies das Schiff, mit dem Ihr von Ros Ailithir gekommen seid?« fragte er und betrachtete seinen fremdartigen Umriß mit plötzlich erwachtem Interesse.

Fidelma schilderte ihm den rätselhaften Vorfall in groben Zügen.

Dann wurden sie von Adnar unterbrochen.

»Heute nachmittag schicke ich meine Männer zu dem gallischen Schiff hinüber«, erklärte er entschlossen.

Fidelma wandte sich erstaunt zu ihm um.

»Wozu?«

Adnar setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf.

»Sicher seid Ihr vertraut mit den Bergegesetzen?«

Auf seinen Tonfall reagierte Fidelma sofort ungehalten.

»Falls Ihr sarkastisch werden wollt, Adnar, würde ich Euch davon abraten. Im Streit ist Sarkasmus der Logik stets unterlegen«, erwiderte sie kalt. »Ich kenne die Bergegesetze und frage Euch noch einmal, auf welcher Grundlage Ihr vorhabt, Eure Männer hinüberzuschicken und Anspruch auf das gallische Schiff zu erheben?«

Olcan lächelte ironisch über Adnars Verlegenheit, die ihm das Blut ins Gesicht trieb.

Grollend preßte Adnar die Lippen zusammen.

»Ich stütze mich auf die Texte des Mur-Bretha, Schwester. In diesen Fragen kenne ich mich aus, schließlich bin ich hier der Friedensrichter. Sämtliches Bergegut, das an den Stranden dieser Küste anlandet, gehört mir ...«.

Olcan wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Fidelma.

»Wo er recht hat, hat er recht, nicht wahr, Schwester? Aber nur, wenn der Wert des Bergegutes auf höchstens fünf séts oder Kühe geschätzt wird. Ist der Wert höher, wird der Überschuß geteilt: ein Drittel für den bo-aire, ein Drittel für den Herrscher über dieses Gebiet, meinen Vater, und ein Drittel für die Oberhäupter der größten Stämme in der Gegend.«

Fidelma musterte den triumphierenden Gesichtsausdruck Adnars und wandte sich mit nachdenklicher Miene wieder Olcan zu.

»Bei Eurer Auslegung des Seefahrtsrechtes vergaßt Ihr hinzuzufügen, daß Euer Vater ebenfalls ein Viertel seines Anteils an den König dieser Provinz, meinen Bruder, abzugeben hätte, und der König der Provinz wiederum müßte ein Viertel des Anteils an den Oberkönig weiterleiten. So jedenfalls schreibt es das Bergegesetz vor.«

Olcan lachte laut und zeigte damit seine Anerkennung für Fidelmas genaue Kenntnis der gesetzlichen Bestimmungen.

»Bei meiner Seele, Ihr haltet, was Euer Ruf verspricht, Schwester Fidelma.«

Um bei der Wahrheit zu bleiben, Fidelma hatte die Texte des Mur-Bretha erst vor kurzem gelesen, als sie den Fall in Ros Ailithir untersuchte. Damals hatte sie festgestellt, daß ihr Wissen über die Gesetze, die die Seefahrt betrafen, erbärmliche Lücken aufwies. Nur dank ihrer kürzlichen Lektüre konnte sie jetzt so sicher auftreten.

»Dann wird Euch auch bekannt sein«, fügte Adnar mit einer Dreistigkeit, die fast schon an Gerissenheit grenzte, hinzu, »daß ich als bo-aire eine Geldstrafe gegen Ross verhängen muß, weil er mich und die Häuptlinge dieses Bezirks nicht unverzüglich unterrichtet hat, als er das Schiff als Bergegut in unseren Hafen brachte. Auch das steht in dem Gesetz.«

Fidelma musterte Adnars grinsendes Gesicht, blieb jedoch ernst. Sie schüttelte langsam den Kopf und beobachtete dabei, wie sich seine Miene veränderte und er immer fassungsloser dreinblickte.

»Ihr müßt Eure Gesetze über frith-fairrgi oder >Funde auf See< genauer studieren.«

»Warum das?« fragte Adnar mit einer Stimme, die angesichts ihrer ruhigen Zuversicht nicht mehr ganz so selbstsicher klang.

»Weil Ihr, wenn Ihr den Text sorgfältig gelesen hättet, wüßtet, daß jeder, wenn er einen wertvollen Gegenstand, der auf See trieb, mitbringt - und das gilt für ein Schiff ebenso wie für einfaches Treibgut und über Bord geworfenes Gut -, und wenn dieser Gegenstand mehr als neun Wellen von der Küste entfernt geborgen wurde, ein Anrecht darauf hat, das ihm niemand, nicht einmal der Oberkönig, streitig machen kann. Deshalb gehört dieses Schiff Ross und keinem anderen. Nur wenn die Bergung innerhalb einer Entfernung von neun Wellen vor der Küste stattgefunden hätte, könntet Ihr einen Anspruch anmelden.«

Die Länge von neun Wellen entsprach der Länge eines Maßes, das man forrach nannte, und ein forrach wiederum entsprach einer Länge von etwa fünfzig Metern. Folglich hatte Ross’ Begegnung mit dem gallischen Schiff weit außerhalb der Küstengewässer auf hoher See stattgefunden.

Die Entfernung von neun Wellen hatte eine symbolische Bedeutung, die bis in die heidnische Zeit zurückreichte. Noch heute wurde das magische Symbol der neun Wellen selbst von zahlreichen Anhängern des christlichen Glaubens fraglos anerkannt. Vor zwei Jahren, als die furchteinflößende Gelbe Pest in den fünf Königreichen wütete, war Colman, der bedeutendste Gelehrte der Universität des Heiligen Finbarr in Cork, mit seinen Studenten auf eine Insel geflohen, um neun Wellen Abstand zum irischen Festland zu gewinnen. Er hatte behauptet, »die Pest reist nicht weiter als neun Wellen«.

Adnar starrte Fidelma entgeistert an.

»Treibt Ihr Scherze mit mir?« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Olcan sah, wie sich Fidelmas Augenbrauen zusammenzogen. »Natürlich nicht, Adnar«, sagte er lachend. »Kein Beamter der Gerichtsbarkeit treibt jemals Scherze mit dem Gesetz. Ihr, mein verehrter bo-aire, seid einfach falsch informiert.«

Adnar drehte sich empört zu dem jungen Prinzen um.

»Aber ...«, wollte er gerade protestieren, wurde jedoch durch einen kurzen, wütenden Blick von Olcan zum Schweigen gebracht.

»Genug! Ich bin der Sache ebenso überdrüssig wie vermutlich Schwester Fidelma.« Er lächelte sie freundlich an. »Wir müssen sie jetzt zur Abtei zurückkehren lassen. Werdet Ihr den Rat von Adnar und Bruder Febal beherzigen? Ja, das werdet Ihr«, fuhr er fort, bevor sie antworten konnte. »Wie auch immer, wenn Ihr während Eures Aufenthaltes im Land der Beara irgendeinen Wunsch habt, braucht Ihr ihn nur zu äußern. Ich spreche damit nicht nur in meinem Namen, sondern auch in dem meines Vaters Gulban.«

»Das ist gut zu wissen, Olcan«, erwiderte Fidelma ernst. »Und jetzt werde ich meine Aufmerksamkeit drängenderen Problemen zuwenden. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Adnar . und für Euern Rat.«

Sie war sich bewußt, daß die beiden ihr von den Festungsmauern aus mit den Blicken folgten, als sie zum Pier hinunterschritt, wo ihr ein wortkarger Krieger ins Boot half. Sie sah, wie sie sie immer noch beobachteten, während sie sich in die Riemen legte und das kleine Boot mit rhythmischen Schlägen über die Bucht zur Abtei zurückruderte. Fidelma fühlte sich unbehaglich. Ihr Besuch in Adnars Festung bereitete ihr Kopfzerbrechen.

Adnar und Olcan waren durchaus angenehme Gesellschafter. Sie konnte ihre spontane Abneigung gegen die beiden nicht ganz begreifen. Olcans Äußeres fand sie zwar eher abstoßend, doch war er keineswegs unfreundlich. Adnar hatte versucht, sie hinsichtlich der Bergung des gallischen Schiffes auszustechen, aber sie sollte ihm das nicht zum Vorwurf machen. Was ihr die größte Sorge bereitete, war ihre fast irrationale Aversion gegen die beiden. Da war etwas, was ihr tiefstes Mißtrauen weckte und wogegen sie sich augenblicklich sträubte. Vielleicht nahm sie ihnen übel, daß sie sich zusammentaten und Gerüchte über Draigen verbreiteten. Sie würde bald herausfinden, ob die Geschichten über die Äbtissin der Wahrheit entsprachen. Und falls dem so war, bedeutete das dann nicht zwangsläufig eine Mitschuld der Schwestern in der Abtei? Denn falls Draigen Schuld auf sich geladen hatte, war es unmöglich, daß die gesamte Gemeinschaft nichts davon wußte.

Sie steuerte das Boot längsseits des hölzernen Anlegestegs der Abtei und fragte sich erneut, ob die Anschuldigungen wahr sein konnten.

Als sie das Boot festmachte und an Land kletterte, hörte sie das Schlagen des Gongs.

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