Kapitel 7

Schwester Fidelma verließ den Turm durch die Bibliothek. Sie wollte gerade den Innenhof der Abtei überqueren, als sie auf halber Strecke eine untersetzte Gestalt bemerkte, die mit Hilfe eines Stocks auf sie zugeschwankt kam. Es war die gehbehinderte Nonne, die sie bei dem Begräbnis zusammen mit Schwester Bronach gesehen hatte, und sie versuchte offensichtlich, die ddlaigh abzufangen. Fidelma blieb stehen und wartete, bis die Schwester sie eingeholt hatte. Wieder verspürte sie Mitleid, während sie das breite, ziemlich nichtssagende Gesicht des Mädchens mit den blassen, wässrigen Augen betrachtete. Trotz allem - es war ein junges, intelligentes Gesicht. Als die Schwester anfing zu sprechen, bemerkte Fidelma neben ihrer anderen Behinderung auch noch ein nervöses Stottern. Sie verzerrte den Mund und sämtliche Muskeln, als sei das Sprechen für sie eine schmerzhafte Übung.

»Schwes... Schwester Fidelma? Schwes... Schwes. Lerben su. sucht nach Euch ... Die Mu... Mu... Mutter Oberin ... bittet Euch, unverz... unverzüglich in ihrem Ge. Gemach zu erscheinen.«

Fidelma versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, verspürte jedoch eine grimmige Genugtuung. Sie hatte schon vermutet, daß sich Schwester Siomha auf der Stelle bei Äbtissin Draigen über sie beschweren würde. Es lag auf der Hand, weshalb die Äbtissin sie zu sehen wünschte.

»Sehr wohl. Würdet Ihr mir den Weg zeigen? Ich habe vergessen, wo das Gemach der Äbtissin liegt, Schwester ...?«

Fragend hob sie ihre Augenbrauen.

»Ich bin Schwes. Schwes. Schwester Berrach«, antwortete das Mädchen.

»Vielen Dank, Schwester Berrach. Wenn Ihr mir den Weg zeigen würdet?«

Die junge Nonne nickte mehrmals eifrig, bevor sie sich umdrehte und - auf den kurzen, mißgebildeten Beinen hin und her schaukelnd - über den Innenhof vorausging, hinüber zu der Ansammlung von Steinhäusern, in denen sich Äbtissin Draigens Gemächer befanden. Vor einer schweren Eichentür blieb sie stehen und klopfte zaghaft mit ihrem Stock dagegen. Dann öffnete sie die Tür.

»Schwes. Schwes. Schwester Fidelma, Mu. Mutter Oberin«, keuchte das Mädchen, drehte sich sichtlich erleichtert um, als sei sie froh, ihren Auftrag erledigt zu haben, und verschwand.

Fidelma trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Äbtissin Draigen war allein und saß an ihrem dunklen Arbeitstisch aus Eiche. Der Raum war düster, durch die Fenster drang nur wenig Licht. Obwohl es erst früher Nachmittag war, brannte auf dem Tisch eine Talgkerze, in deren Schein die Äbtissin las. Die Miene, mit der sie Fidelma begrüßte, wirkte im Licht der flackernden Kerze unfreundlich und verhärmt.

»Mir wurde berichtet, daß Ihr Euch meiner rechtaire gegenüber äußerst unhöflich verhalten habt. Eine Hausverwalterin verdient Respekt. Sicherlich muß ich Euch daran nicht erst erinnern?«

Fidelma trat vor und nahm gegenüber der Äbtissin Platz. Zunächst zeigte sich Erstaunen auf Äbtissin Draigens Gesicht, dann Entrüstung.

»Schwester, Ihr scheint Euch zu vergessen. Ich habe Euch nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.«

Normalerweise respektierte Fidelma Regeln und legte keinen allzu großen Wert auf Förmlichkeiten, doch wenn sie spürte, daß es ihr dienlich war, ihre Stellung zu betonen und dadurch einen Vorteil zu erzielen, war sie sich keineswegs zu schade dafür.

»Äbtissin Draigen, ich bin nicht in der Stimmung, über Formalien zu streiten. Muß ich Euch daran erinnern, daß ich den Rang einer anruth innehabe und deshalb sogar in Gegenwart von Unterkönigen sitzen und gleichberechtigt mit ihnen debattieren darf? Selbst der Oberkönig kann mich einladen, in seiner Gegenwart Platz zu nehmen, wenn er das wünscht. Ich bin nicht hier, um Fragen des guten Benehmens zu erörtern, sondern um einen Fall rechtswidriger Tötung zu untersuchen.«

Falls Äbtissin Draigen beabsichtigt hatte, Fidelma ihre Autorität zu demonstrieren, so hatte diese ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Fidelmas betont kühle Antwort schien der Äbtissin die Sprache verschlagen zu haben. Sie starrte Fidelma wortlos an, und ihre Miene drückte Feindseligkeit aus.

Fidelma verspürte plötzlich Gewissensbisse ob ihres Benehmens. Sie wußte, daß sie es an Respekt fehlen ließ, auch wenn ihr dies als ddlaigh durchaus zustand, doch ihr ging so vieles durch den Kopf, daß sie für die peinlich genaue Beachtung von Anstandsregeln einfach nicht die Zeit hatte. Sie beschloß, die Förmlichkeit ein wenig abzulegen, beugte sich vertraulich vor und schenkte der Äbtissin ein freundliches Lächeln.

»Äbtissin Draigen, laßt mich offen sprechen, denn die Dringlichkeit der Angelegenheit verbietet jedes säumige Vorgehen. Ich habe mich gegenüber Schwester Siomha schroff verhalten, weil ich ihre Eitelkeit durchbrechen mußte, um Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Sie ist sehr jung für das Amt der Verwalterin. Vielleicht zu jung?«

Äbtissin Draigen schwieg einen Augenblick und erwiderte dann eisig: »Wollt Ihr meine Wahl der Hausverwalterin in Frage stellen?«

»Ihr wißt am besten, wie Ihr zu entscheiden habt, Mutter Oberin«, entgegnete Fidelma. »Ich stelle lediglich fest, daß Schwester Siomha noch sehr jung ist und wenig Lebenserfahrung hat. Ihre Unerfahrenheit macht sie hoffärtig. Andere Mitglieder Eurer Gemeinschaft wären doch sicher genauso befähigt, das Amt der rechtaire zu bekleiden? Schwester Bronach zum Beispiel?«

Äbtissin Draigen kniff die Augen zusammen.

»Schwester Bronach? Sie ist in sich gekehrt und ungeschickt. Ich habe mir meine Wahl gründlich überlegt. Ihr mögt zwar eine ddlaigh der Gerichtsbarkeit sein, doch hier bin ich die Äbtissin, und ich treffe die Entscheidungen.«

Fidelma breitete beschwichtigend die Hände aus.

»Es würde mir im Traum nicht einfallen, mich einzumischen. Doch ich sage, was ich denke. Schwester Siomhas Selbstüberschätzung und ihre Überheblichkeit haben mich zu meinem Verhalten veranlaßt.«

Äbtissin Draigen rümpfte die Nase.

»Ihr schient andeuten zu wollen, daß es eine Verbindung zwischen Schwester Siomha und der Toten gibt. Das hat doch wohl kaum etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun.«

Fidelma mußte lächeln. Schwester Siomha war nicht dumm und hatte Draigen zweifellos einen lük-kenlosen Bericht erstattet.

»Sie gab mir einige Antworten, mit denen ich nicht zufrieden war«, räumte sie ein. »Und da wir gerade darüber sprechen - ich würde Euch ebenfalls gerne ein paar Fragen stellen.«

Äbtissin Draigens Lippen wurden schmal.

»Ich bin noch nicht fertig mit den Beschwerden von Schwester Siomha.«

»Wir kommen gleich darauf zurück«, versicherte ihr Fidelma mit einer abweisenden Handbewegung. »Wie lange seid Ihr hier schon Äbtissin?«

Angesichts dieser unvermittelten Wende des Gespräches zuckte die Äbtissin verblüfft zusammen und musterte Fidelma eingehend. Als sie deren ruhige Entschlossenheit sah, lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück.

»Ich bin seit sechs Jahren Äbtissin dieser Gemeinschaft. Davor war auch ich hier rechtaire.«

»Wie lange?«

»Vier Jahre.«

»Und davor?«

»Lebte ich schon über zehn Jahre in dieser Abtei.«

»Also seid Ihr hier insgesamt seit zwanzig Jahren? Stammt Ihr aus diesem Teil Irlands?«

»Ich verstehe nicht, was das mit der Angelegenheit zu tun hat, die Ihr untersucht?«

»Es geht lediglich darum, etwas über Euren Hintergrund zu erfahren«, redete ihr Fidelma begütigend zu. »Stammt Ihr aus dieser Gegend?«

»Ja. Mein Vater war ein oc-aire, ein freier Hofbauer und Mitglied eines Stammes hier in der Nähe; er besaß zwar eigenes Land, doch warf es kaum genug ab, um davon leben zu können.«

»Also tratet Ihr in diese Gemeinschaft ein?«

Äbtissin Draigens Augen funkelten vor Zorn.

»Ich war nicht dazu gezwungen, falls Ihr das andeuten wollt! Ich konnte frei entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.« »Ich habe nichts derartiges behauptet.«

»Mein Vater war ein stolzer Mann. Man nannte ihn Adnar Mhor - Adnar den Großen.«

Äbtissin Draigens Mund klappte zu, als sei ihr gerade bewußt geworden, daß sie zuviel gesagt hatte.

»Adnar?« Fidelma rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und musterte Draigen prüfend. Jetzt begriff sie, was ihr in den Gesichtern der Äbtissin und ihres Nachbarn, des bo-aire, von Anfang an aufgefallen war.

»Adnar von Dun Boi ist Euer Bruder?«

Äbtissin Draigen stritt das nicht ab.

»Ihr versteht Euch nicht gerade gut mit ihm.«

Es war nur eine Feststellung, doch Äbtissin Draigen versuchte nicht, ihren Abscheu zu verbergen.

»Mein Bruder Adnar wird seinem Namen in keiner Hinsicht gerecht«, stieß sie zwischen zusammengepreßten Lippen hervor.

Fidelma lächelte verständnisvoll. Der Name Adnar bedeutete »der Bescheidene«.

»Da Ihr so auf die Bedeutung von Namen achtet, nehme ich an, Ihr wart die Stütze Eurer Familie?«

Draigens Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Ihr Name bedeutete »Schwarzdorn«, und sie mußte zugeben, daß Fidelma ihr, wenn es um Wortspiele ging, eine ebenbürtige Gegnerin war.

»Mein Bruder Adnar ließ meinen Vater genau in dem Moment im Stich, als er dringend Hilfe bei der Landarbeit brauchte. Meine Mutter war gestorben, und meinen Vater hatten die Kräfte verlassen ... und auch der Wille, den Kampf gegen den kargen Boden weiterzuführen und sich davon zu ernähren. Adnar ging fort, um dem Häuptling von Beara zu dienen -Gulban, dem Falkenauge, der gegen die Stämme im Norden kämpfte. Als er zurückkam und einen beachtlichen Viehbestand mitbrachte - die Belohnung für seine Dienste -, war mein Vater bereits tot. Ich war inzwischen in diese Gemeinschaft eingetreten, das Land meines Vaters war verkauft und der Erlös der Abtei gestiftet worden. Deshalb wurde mein Bruder bo-aire - ein Vieh-Häuptling, ein Häuptling ohne Land, doch mit einem gewissen Wohlstand, den er durch seine Dienste für Gulban zu mehren weiß.«

Draigens Erregung verriet, daß sie diese Geschichte noch nie erzählt hatte und daß Fidelma ihr zum ersten Mal die Gelegenheit bot, der Wut über ihren Bruder freien Lauf zu lassen.

»Ich kann in Euerm Bericht keinen Grund erkennen, warum Ihr und Adnar Euch so unerbittlich hassen solltet, es sei denn, es hätte Streit über den Verkauf des väterlichen Landes gegeben?«

Draigen leugnete ihre feindseligen Gefühle gegenüber ihrem Bruder nicht.

»Hassen? Haß ist vielleicht ein zu krasses Wort. Ich verachte Adnar. Mein Vater und meine Mutter hätten auf ihrem Grund und Boden zusammen alt werden und erleben sollen, wie ihr Sohn sie für seine Gesundheit und die Geborgenheit seiner Kindheit belohnte, indem er weiterhin das Land bestellte, das sie der Natur mühsam abgerungen hatten. Doch sie sind viel zu früh gestorben. Die Plackerei, für die er nicht mehr kräftig genug war, hat meinen Vater umgebracht. Aber die Feindschaft zwischen uns begann erst, als Adnar bei seiner Rückkehr Anspruch auf das Land unserer Eltern erhob.«

»Also gebt Ihr Eurem Bruder die Schuld am Tode Eures Vaters? Und er gibt Euch die Schuld für den Verlust des Landes, das seiner Meinung nach ihm zustand?«

»Über Adnars Forderung wurde vor einem Bre-hon-Gericht verhandelt. Sein Anspruch wurde zurückgewiesen.«

»Aber Ihr gebt ihm die Schuld am Tod Eures Vaters. Ist das denn logisch?«

»Logik? Das ist doch nur eine trostlose Gefängniszelle für menschliche Gefühle.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Logik ist der Mechanismus, der der Wahrheit zum Sieg verhilft. Ohne sie lebten wir in einer nicht erklärbaren Welt.«

»Mit Gefühlen kann ich ohne Probleme leben -auch mit denen für meinen Bruder«, teilte ihr Draigen mit.

»Ah ... facilis descensus Averno«, seufzte Fidelma.

»Ich habe es nicht nötig, mir Zitate aus Vergils Aeneis anzuhören. Mich braucht man nicht davor zu warnen, wie leicht man in die Hölle kommt. Predigt Euer Latein doch lieber meinem Bruder.«

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Fidelma. »Die Worte sind mir einfach in den Sinn gekommen. Ich bedaure Euch, Draigen. Im Haß wird soviel Energie verschwendet. Ihr habt Eure Gründe genannt, Euren Bruder zu hassen ... zu verachten«, korrigierte sie sich, als sie Draigens Gesichtsausdruck bemerkte, »ihn zu verachten, aber erklärt mir nun, warum er Euch so haßt?«

Sie fragte sich, ob sie Draigen von Adnars Behauptung erzählen sollte, seine Schwester unterhalte Beziehungen zu jüngeren Mitgliedern der Gemeinschaft; daß er sogar so weit ging zu unterstellen, Draigen könnte eine ihrer früheren Geliebten ermordet haben, um die Affäre zu vertuschen. Sie fragte sich, wie ein Bruder in so erbitterter Feindschaft mit seiner Schwester leben konnte, daß er eine solche Anschuldigung vorbrachte. Doch sicher nicht nur wegen eines Streits um Landbesitz?

»Ich kümmere mich nicht um seinen Haß. Er und sein sogenannter Seelen-Freund - mögen sie qualvoll dahinsiechen. Ich bete, daß Unglück über das Haus meines Bruders komme!«

»Ihr kennt also Bruder Febal?«

»Ihn kennen?« Äbtissin Draigen stieß ein hohles Lachen hervor. »Ihn kennen? Er war mein Mann.«

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit war Fidelma schockiert. Daß Adnar Draigens Bruder war, hatte sie überrascht. Daß Febal sich nun als ihr früherer Ehemann entpuppte, war fast schon absurd. Hier verbarg sich ein weit tieferes Geheimnis.

Äbtissin Draigen hatte sich wieder ganz in der Gewalt und sagte kalt: »Ich denke, Ihr habt jetzt genug in meinem Privatleben herumgeschnüffelt, Schwester. Wie Ihr selbst so treffend sagtet: Ihr seid hier, um einen Mord zu untersuchen. Dabei scheint Ihr ein Talent zu entwickeln, Unbeteiligte zu belästigen, einschließlich meiner Verwalterin und mir. Vielleicht widmet Ihr Euch jetzt endlich Euren Ermittlungen.«

Fidelma zögerte, denn sie wollte die Lage nicht noch weiter zuspitzen. Dann kam sie zu dem Schluß, daß sie alle Hinweise verfolgen mußte, die sich aus ihren Nachforschungen ergaben.

»Ich war durchaus der Meinung, Äbtissin Draigen, daß ich mich den Ermittlungen widme. Vielleicht interessiert es Euch, daß sowohl Euer Bruder als auch Febal unterstellen, Ihr könntet in den Mord an dem Mädchen, das in Eurem Brunnen entdeckt wurde, verwickelt sein.«

Die Augen der Äbtissin funkelten vor Zorn.

»Ach Ja? Und warum?«

»Sie deuteten an, daß Ihr in einem gewissen Ruf steht.«

»In einem Ruf?«

»Über Eure sexuellen Vorlieben. Sie mutmaßten, daß das Verbrechen möglicherweise begangen wurde, um gewisse Fehltritte zu vertuschen.«

Äbtissin Draigen konnte den Ausdruck von Abscheu auf ihrem Gesicht nicht verbergen.

»Das hätte ich mir denken können - mein Bruder und sein Speichellecker. Zur Hölle mit ihnen! Mögen sie ersaufen wie junge Katzen!«

»Mutter Oberin, für jemanden in Eurer Stellung geziemt es sich nicht, solcherlei Flüche auszustoßen. Ich muß meine Frage wiederholen: aus welchem Grund sollten Euer Bruder und Febal derartige Beschuldigungen gegen Euch vortragen oder solche Gerüchte über Euch verbreiten? Eure Reaktion legt nahe, daß sie jeglicher Grundlage entbehren.«

»Fragt doch Adnar und seinen Speichellecker Febal, wenn es Euch interessiert. Ich bin sicher, sie werden eine passende Geschichte erfinden.«

»Mutter Oberin, seit meiner Ankunft hier stoße ich immer wieder auf Arroganz und Falschheit, auf abgrundtiefen Haß und drohendes Unheil. Wenn es noch etwas gibt, was ich über den Hintergrund dieser Angelegenheit wissen sollte, ersuche ich Euch dringend, es mir jetzt zu sagen. Am Ende finde ich es doch heraus. Das kann ich Euch versichern.«

Äbtissin Draigens Miene war wie versteinert.

»Und ich kann Euch versichern, Schwester Fidelma, daß die Entdeckung eines unbekannten Leichnams in dieser Abtei nicht das Geringste mit der gegenseitigen Abneigung zwischen meinem Bruder, mir und meinem früheren Mann, Bruder Febal, zu tun hat.«

Fidelma versuchte, in Draigens ausdrucksloser Miene zu lesen, konnte jedoch nichts entdecken.

»Ich muß all diese Fragen stellen«, sagte sie, während sie sich erhob. »Ansonsten kann ich meine Aufgabe hier nicht erfüllen.«

Draigen folgte ihr mit den Augen.

»Ihr mögt tun, was Ihr für nötig haltet, Schwester.

Ich begreife jetzt, wozu Ihr Schwester Siomha Fragen stelltet, die mich betrafen. Ich kann Euch versichern, daß ich keines Verbrechens schuldig bin. Sonst hätte ich sicherlich nicht Broce, den Abt von Ros Ailithir, gebeten, einen Anwalt der Gerichtsbarkeit hierherzuschicken, um den Mord zu untersuchen.«

»Ich kann Eurer Argumentation durchaus folgen, Mutter Oberin, aber Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, welch raffinierte Methoden Menschen manchmal entwickeln, um den Verdacht von sich abzulenken.«

Draigen schnaubte angewidert.

»Dann müßt Ihr tun, was Ihr für richtig haltet. Weder ich noch Schwester Siomha haben die Wahrheit zu fürchten.«

Schwester Fidelma hatte die Tür schon fast erreicht, als der letzte Satz der Äbtissin sie innehalten ließ. Sie wirbelte herum und sah Äbtissin Draigen ins Gesicht.

»Da Ihr es nun erwähnt: ich habe in Schwester Siomhas Augen Angst gesehen. Als ich sie fragte, ob sie den kopflosen Leichnam erkannt hat ...«

Sie brachte Draigen, die sofort Einwände erheben wollte, mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Man kann Tote auch erkennen, wenn der Kopf nicht vorhanden ist.«

»Ich bin sicher, Schwester Siomha erkannte sie nicht.«

»Das hat sie mir gesagt. Aber warum sollte sie diese Frage fürchten?«

Äbtissin Draigen zuckte mit den Achseln.

»Das ist nicht meine Angelegenheit.«

»Natürlich nicht. Ihre Angst verstärkte sich noch, als ich fragte, ob Ihr über alle Schwestern dieser Gemeinschaft Rechenschaft ablegen könnt.«

Äbtissin Draigen stieß erneut ihr kehliges Lachen aus.

»Ihr glaubt, daß es sich bei der kopflosen Toten um eine unserer Schwestern handelt? Kommt schon, Schwester Fidelma, Ihr beherrscht Euer Handwerk doch sicher besser, als daß Ihr annehmen könntet, wir wüßten nichts davon, wenn eine unserer Schwestern ermordet, enthauptet und dann in unseren Trinkwasserbrunnen geworfen worden wäre!«

»Das wäre eine logische Annahme. Andererseits sind Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft nicht so ohne weiteres in der Lage, einen nackten Körper ohne Kopf wiederzuerkennen, da sie normalerweise nur die Gesichter der anderen zu sehen bekommen.«

»Das ist wahr. Aber wir können über alle hier Rechenschaft ablegen«, bestätigte Äbtissin Draigen.

»Also befinden sich alle Mitglieder der Gemeinschaft auf dem Gelände der Abtei?«

Äbtissin Draigen zögerte.

»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß wir über alle Mitglieder der Gemeinschaft Rechenschaft ablegen können.«

Fidelma fühlte, wie ihr Blutdruck plötzlich stieg.

»Ich begreife nicht ganz, was diese Feinheiten in der Wortwahl zu bedeuten haben.«

»Mitglieder unserer Gemeinschaft sind häufig in einer Mission zu anderen Abteien unterwegs.«

»Ah.« Fidelma straffte sich. »Also sind Mitglieder Eurer Gemeinschaft zur Zeit unterwegs?«

»Nur zwei.«

»Warum hat mir das niemand gesagt?«

»Ihr habt die entsprechende Frage nicht gestellt, Schwester«, erwiderte die Äbtissin.

Fidelma preßte sie Lippen zusammen.

»Es gibt in diesem Mordfall schon genügend Ungereimtheiten, auch ohne Spielchen wie Gedankenlesen und Wortklaubereien. Erklärt mir, wer sich zur Zeit nicht in der Abtei aufhält und warum.«

Angesichts der Schärfe in Fidelmas Stimme zuckte Äbtissin Draigen zusammen.

»Schwester Comnat und Schwester Almu. Sie sind mit einem Auftrag unterwegs zur Abtei des Heiligen Brendan in Ard Fhearta.«

»Wann sind sie aufgebrochen?«

»Vor drei Wochen.«

»Warum?«

Äbtissin Draigen antwortete gereizt: »Ihr wißt vielleicht nicht, daß wir in dieser Abtei für unsere Schreibkunst recht berühmt sind. Wir kopieren auch Bücher für andere Klöster. Die Schwestern haben gerade eine Kopie von Murchüs Lebensgeschichte des Heiligen Patrick von Ard Macha fertiggestellt. Schwester Comnat ist unsere leabhar coimedach, unsere Bibliothekarin, Almu ihre Gehilfin. Sie wurden damit betraut, die Kopie des Buches nach Ard Fhearta zu bringen.«

»Warum hat Schwester Siomha mir nichts davon erzählt?« stieß Fidelma hervor.

»Vermutlich, weil ...«

»Ich bin es leid, Vermutungen zu hören, Äbtissin Draigen«, fiel Fidelma ihr ins Wort. »Laßt Schwester Siomha rufen, sofort.«

Die Äbtissin hielt einen Augenblick inne, als müsse sie zunächst ihre Reaktion auf Fidelmas Wut mäßigen, dann biß sie die Zähne zusammen und läutete mit einer kleinen silbernen Glocke, die auf ihrem Tisch stand. Schwester Lerben trat gleich darauf ein, und die Äbtissin trug ihr auf, die rechtaire um ihr sofortiges Erscheinen zu ersuchen.

Kurz darauf war ein Klopfen zu vernehmen, die Tür schwang auf und Schwester Siomha trat ein. Als sie Fidelma sah, verzog sich ihr Mund zu einem Grinsen unverhohlener Verachtung.

»Ihr habt mich rufen lassen, Mutter Oberin?«

»Ich habe Euch vorgeladen«, antwortete Fidelma barsch.

Schwester Siomha starrte sie verblüfft an, und ihr selbstgefälliger Gesichtsausdruck verschwand.

»Vor kurzem habe ich Euch gefragt, ob Ihr über alle Mitglieder der Gemeinschaft Rechenschaft ablegen könnt. Ihr sagtet, daß dem so sei. Nun erfahre ich, daß dies bei zwei Schwestern keineswegs zutrifft: Schwester Comnat und Schwester Almu. Warum wurde ich falsch informiert?«

Schwester Siomha war errötet und blickte schnell zur Äbtissin hinüber, die kaum merklich zu nicken schien.

»Ihr müßt die Mutter Oberin nicht um Erlaubnis bitten, bevor Ihr meine Fragen beantwortet«, belehrte sie Fidelma mit schneidender Stimme.

»Wir können über alle Mitglieder unserer Gemeinschaft Rechenschaft ablegen«, verteidigte sich Schwester Siomha. »Ich habe Euch nicht falsch informiert.«

»Ihr habt mir nichts von Comnat und Almu erzählt.«

»Was hätte ich Euch auch erzählen sollen? Sie sind in einer Mission nach Ard Fhearta unterwegs.«

»Sie sind nicht in der Abtei.«

»Aber wir können über sie Rechenschaft ablegen.«

Fidelma stöhnte verzweifelt auf.

»Spitzfindigkeiten!« spottete sie. »Ist Euch die Wissenschaft der Bedeutungsunterschiede, sind Euch Wortbildung und -beugung denn wichtiger als die Wahrheit?«

»Ihr habt nicht ...«, begann Schwester Siomha, doch diesmal war es Äbtissin Draigen, die ihr ins Wort fiel.

»Wir müssen Schwester Fidelma helfen, so gut wir können, Schwester Siomha«, sagte sie, woraufhin ihr die junge Schwester einen überraschten Blick zuwarf. »Sie ist schließlich eine ddlaigh der Gerichtsbarkeit.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Wie Ihr meint, Mutter Oberin«, entgegnete Schwester Siomha und senkte den Kopf.

»Nun, soweit ich verstanden habe«, begann Fidelma entschlossen, »halten sich zwei Mitglieder der Gemeinschaft zur Zeit nicht in der Abtei auf?«

»Ja.«

»Und sie sind die beiden einzigen Nonnen, über die Ihr keine Rechenschaft ablegen könnt?«

»Wir können über sie Rechenschaft ...«, setzte Schwester Siomha an, unterbrach sich jedoch, als sie den auflodernden Zorn in Fidelmas Miene bemerkte. »Es hält sich zur Zeit sonst niemand außerhalb der Abtei auf«, bestätigte sie.

»Ich habe gehört, daß sie vor drei Wochen nach Ard Fhearta aufgebrochen sind.«

»Ja.«

»Sicher dauert die Reise dorthin und zurück nicht so lange? Wann wurde ihre Rückkehr erwartet?«

Es war Äbtissin Draigen, die gestand: »Es ist wahr, Schwester. Sie sind überfällig.«

»Überfällig?« Fidelma hob verächtlich eine Augenbraue. »Und niemand dachte daran, mich davon in Kenntnis zu setzen?«

»Es ist in dieser Angelegenheit nicht von Belang«, warf die Äbtissin ein.

»Ich beurteile, was in dieser Angelegenheit von Belang ist und was nicht«, entgegnete Fidelma mit eisiger Stimme.

»Habt Ihr seit ihrer Abreise irgendeine Nachricht von den Schwestern erhalten?«

»Nein«, antwortete Schwester Siomha.

»Und wann wurden sie zurückerwartet?«

»Nach zehn Tagen.«

»Habt Ihr den zuständigen bo-aire informiert?« Die Frage war an Äbtissin Draigen gerichtet. »Was immer Ihr von Adnar haltet mögt, er ist hier der Friedensrichter.«

»Er wäre uns keine Hilfe«, verteidigte sich Draigen.

»Aber Ihr habt natürlich trotzdem recht. Wir werden ihn über ihr Verschwinden informieren. Zwischen seiner Festung und der von Gulban, die auf dem Weg nach Ard Fhearta liegt, sind häufig Boten unterwegs.«

»Ich werde Adnar in Kürze treffen, um mich mit ihm über die Angelegenheit zu unterhalten, die wir vorhin angesprochen haben, Äbtissin. Ich werde ihn über die überfällige Rückkehr der zwei Schwestern in Kenntnis setzen. Könnt Ihr so freundlich sein und mir die beiden beschreiben?«

»Schwester Comnat ist seit mindestens dreißig Jahren hier. Sie ist über sechzig und seit fünfzehn Jahren unsere Bibliothekarin und beste Kalligraphin. Sie ist eine Expertin auf ihrem Gebiet.«

»Ich brauche eher eine Art Personenbeschreibung«, beharrte Fidelma.

»Sie ist klein und schlank«, erwiderte Draigen. »Ihr Haar ist grau, doch ihre Augenbrauen sind noch so schwarz wie in jungen Jahren, und ihre Augen sind ebenfalls dunkel. Sie hat eine auffällige Narbe auf der Stirn, die von einem Schwertstreich stammt.«

In Gedanken schloß Fidelma aus, daß es sich bei der Toten ohne Kopf um die Bibliothekarin handeln könnte.

»Und Schwester Almu?«

»Sie sollte Schwester Comnat nicht nur deshalb begleiten, weil sie ihre Gehilfin ist, sondern auch, weil sie jung ist und stark. Sie ist etwa achtzehn. Blond und blauäugig, mit einem hübschen Gesicht. Nicht sehr groß.«

Fidelma schwieg einen Augenblick.

»Die Tote ohne Kopf könnte achtzehn Jahre alt gewesen sein. Sie wirkte eher hellhäutig und war von kleinem Wuchs.«

»Wollt Ihr etwa behaupten, daß es sich bei der Leiche ohne Kopf um Schwester Almu handelt?« fragte die Äbtissin ungläubig.

»Sie ist es nicht!« stieß Schwester Siomha hervor.

»Almu war eine enge Freundin meiner Verwalterin«, erklärte Draigen. »Ich bin sicher, daß sie Almus Körper erkennen würde.«

Fidelma verschränkte entschlossen die Arme.

»Da wir so gern mit Worten spielen, Mutter Oberin, laßt mich eines festhalten: ich behaupte, es könnte Schwester Almu sein. Ihr sagt, Almu ist die Gehilfin der Bibliothekarin, und ihre Arbeit besteht darin, Bücher zu kopieren?«

»Ja. Schwester Almu könnte eine unserer besten Schreiberinnen werden. Sie ist ausgesprochen tüchtig und versteht ihr Handwerk.«

»Die Finger des Leichnams wiesen blaue Verfärbungen auf. Wäre das nicht ein Hinweis darauf, daß die Tote mit einer Schreibfeder gearbeitet hat?«

»Verfärbungen?« fiel Schwester Siomha ihr ärgerlich ins Wort. »Was für Verfärbungen?«

»Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt die blaue Färbung an Daumen und Zeigefinger und entlang der Kante des kleinen Fingers, wo er auf dem Papier aufliegt, nicht bemerkt? Das Schwarzblau der Tinte? Genau die Art von Färbung, die man bei einer Schreiberin vorfinden könnte?«

»Aber Schwester Almu ist mit Schwester Comnat in Ard Fhearta«, protestierte die Äbtissin.

»Sie ist jedenfalls nicht unter den Anwesenden in der Abtei, soviel steht fest«, bemerkte Fidelma trok-ken. »Seid Ihr sicher, daß niemand die Tote erkannt hat?«

»Wie kann jemand einen Leichnam ohne Kopf erkennen?« wollte Schwester Siomha wissen. »Wenn es Almu wäre, müßte ich das doch wissen. Sie war eine gute Freundin von mir, wie die Äbtissin schon sagte.«

»Vielleicht habt Ihr recht«, räumte Fidelma ein. »Aber was das Erkennen eines Leichnams ohne Kopf betrifft, nun, eine Methode der Identifikation habe ich Euch gerade erläutert. Ich gebe zu, das Gesicht ist das erste und normalerweise einzige, was man innerhalb einer religiösen Gemeinschaft von den Schwestern oder Brüdern im Glauben zu sehen bekommt. Aber ist Euch - besonders, da die Rückkehr der beiden Schwestern überfällig ist und bei der Leiche Anzeichen für ihre Zugehörigkeit zum Christentum gefunden wurden - denn niemals der Gedanke gekommen, daß immerhin die Möglichkeit besteht, bei der Toten könnte es sich um Eure Bibliotheksgehilfin handeln?«

»Nicht im Traum«, erwiderte Schwester Siomha steif. »Auch Eure Andeutung ändert daran nichts. Ihr habt keinen einzigen Beweis dafür, daß es sich um Almus Leichnam handelt.«

»Da habt Ihr recht«, stimmte Fidelma zu. »Im Augenblick kann ich nur Hypothesen aufstellen anhand der Dinge, die ich bis jetzt erfahren habe. Dinge, die ...«, sie fixierte Äbtissin Draigen und wandte sich dann Schwester Siomha zu, die die Augen senkte, »Dinge, die Ihr mir freimütig hättet erzählen müssen, anstatt durch unverzeihliche Rücksicht auf Euch selbst meine Zeit zu verschwenden.«

»Warum sollte jemand Schwester Almu erstechen und enthaupten und ihre Leiche in einen Brunnen werfen?« wollte die Äbtissin wissen. »Falls es sich überhaupt um ihren Leichnam handelt, heißt das.«

»Bis jetzt konnten wir nicht beweisen, daß es sich um Almu handelt. Das können wir zweifellos auch nicht, bevor wir nicht den anderen Teil des Leichnams finden.«

»Ihr meint ihren Kopf?« fragte die Äbtissin.

»Mir wurde berichtet, daß nach dem Bergen der Toten aus dem Brunnen niemand dort Wasser schöpfen durfte und daß Ihr seither die anderen Quellen in der Umgebung benutzt?«

Äbtissin Draigen nickte.

»Ist jemand unten im Brunnenschacht gewesen, um nachzusehen, ob auch der Kopf dort liegt?«

Die Äbtissin blickte in Schwester Siomhas Richtung.

»Die Antwort lautet - Ja«, erwiderte Siomha. »Als Verwalterin gehörte es zu meinen Pflichten, mich um die Reinigung des Brunnens zu kümmern. Ich habe eines unserer kräftigsten Mädchen hinuntergeschickt.«

»Wen denn?«

»Schwester Berrach.«

Fidelmas Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Aber Schwester Berrach ist ...«. Sie biß sich auf die Zunge und bereute, was sie gerade hatte sagen wollen.

»Ein Krüppel?« ergänzte Schwester Siomha. »Ihr habt sie also kennengelernt?«

»Ich habe nur bemerkt, daß Schwester Berrach gehbehindert ist. Wie kann sie da so kräftig sein?«

»Berrach lebt seit ihrem dritten Lebensjahr hier in der Abtei«, erklärte die Äbtissin. »Kurz bevor ich hierherkam, wurde sie von der Gemeinschaft aufgenommen. Trotz der Wachstumsstörung ihrer Beine entwickelte sie in den Armen und im Rumpf eine erstaunliche Kraft.«

»Hat sie denn im Brunnen irgendwas gefunden? Vielleicht sollte sie mir das selbst erzählen?«

Äbtissin Draigen läutete erneut die Glocke.

»Dann fragt sie doch, Schwester.«

Wieder öffnete Schwester Lerben, die hübsche Novizin, fast augenblicklich die Tür.

»Lerben«, befahl die Äbtissin, »holt Schwester Ber-rach.«

Die Novizin nickte und verschwand. Kurz darauf war ein schüchternes Klopfen zu hören, und als Äbtissin Draigen antwortete, spähte Berrach argwöhnisch um den Türpfosten.

»Kommt herein, Schwester«, sprach Draigen sie beinahe tröstend an. »Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Kennt Ihr Schwester Fidelma? Ja, natürlich kennt Ihr sie.«

»W. W. Wie kann ich hel... helfen?« stotterte Berrach und kam mit ihrem schweren Schwarzdornstecken hereingewankt.

»Ganz einfach«, schaltete sich Schwester Siomha ein. »Ich war dafür verantwortlich, den Brunnen der Heiligen Necht zu untersuchen, nachdem der Leichnam daraus entfernt worden war. Ihr werdet Euch erinnern, Berrach, daß ich Euch dabei um Eure Hilfe bat, nicht wahr?«

Berrach nickte eifrig, als sei sie vor allen Dingen darauf bedacht, die anderen zufriedenzustellen.

»Ihr habt mich gebeten, mich mit einer Laterne in den Brunnen abseilen zu lassen. Ich sollte die Brunnenwände abwaschen und mit dem Wasser reinigen, das von unserer Mutter Oberin gesegnet worden war.«

Sie formulierte ihre Sätze wie eine häufig wiederholte Lektion. Fidelma bemerkte, daß ihr Stottern während des Vertrags verschwand. Sie fragte sich, ob Schwester Berrach wirklich so einfältig war, wie sie vorgab - eine erwachsene Frau mit mißgestaltetem Körper und kindlichem Gemüt.

»So ist es«, bestätigte Schwester Siomha beifällig. »Und wie war es im Brunnen?«

Schwester Berrach schien einen Augenblick zu überlegen und lächelte, als ihr die Antwort einfiel.

»D. d... dunkel. Ja, es war sehr d... dunkel d... dort unten.«

»Aber Ihr hattet etwas, um die Dunkelheit zu erhellen«, sagte Fidelma in ermutigendem Tonfall und trat auf das Mädchen zu. Sie legte ihm freundlich eine Hand auf den Arm und fühlte unter dem Ärmel des Gewandes seine Stärke und Muskelkraft. »Ihr hattet eine Laterne, nicht wahr?«

Das Mädchen blickte nervös zu ihr auf und erwiderte ihr Lächeln.

»O Ja, man gab mir eine La. Laterne, und da. da. damit k. konnte ich ganz gut sehen. Aber es war n. n. nicht richtig hell d. d. dort unten.«

»Ja. Ich verstehe, was Ihr meint, Schwester Ber-rach«, sagte Fidelma. »Und als Ihr den Grund des Brunnens erreichtet, habt Ihr dort etwas gesehen, das . nun Ja . etwas, das dort unten nicht hingehörte?«

Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite und dachte gründlich nach.

»D. dort unten n. ni. nicht hingehörte?« wiederholte es langsam.

Schwester Siomha konnte ihre Ungeduld nicht länger zügeln.

»Den Kopf der Leiche«, erklärte sie unverblümt.

Schwester Berrach zitterte heftig.

»Es war ni. nichts weiter d. dort unten als die Dunkelheit und das Wasser. Ich habe n. ni. nichts gesehen.«

»Vielen Dank«, lächelte Fidelma. »Ihr könnt jetzt gehen.«

Nachdem Schwester Berrach draußen war, lehnte sich die Äbtissin zurück und musterte Fidelma prüfend.

»Was jetzt, Schwester Fidelma? Glaubt Ihr immer noch, daß es sich bei der Toten um Schwester Almu handelt?«

»Das habe ich nicht behauptet«, widersprach Fidelma. »In diesem Stadium der Untersuchung kann ich nur Vermutungen und Hypothesen aufstellen. Die Tatsache, daß Schwester Comnats und Schwester Almus Rückkehr in die Abtei überfällig ist, mag durchaus reiner Zufall sein. Trotzdem muß ich über sämtliche Vorfälle informiert werden, sonst komme ich nicht weiter. Ich dulde keine Spielchen mehr. Wenn ich Fragen stelle, erwarte ich wahrheitsgemäße Antworten.«

Sie blickte zu Schwester Siomha hinüber, ihre Worte waren jedoch an Äbtissin Draigen gerichtet. Sie sah, wie ein wütender Ausdruck über das Gesicht der rechtaire der Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen huschte.

»Das versteht sich von selbst, Schwester«, erwiderte die Äbtissin angespannt. »Könnten wir nun, da all unseren verletzten Eitelkeiten und dünkelhaften Wehwehchen Genüge getan wurde, endlich zu unseren jeweiligen Obliegenheiten zurückkehren?«

»Gern«, stimmte Schwester Fidelma zu. »Nur eine Sache noch .«

Äbtissin Draigen wartete mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Mir wurde berichtet, daß es hier in der Gegend Kupferminen gibt?«

Die Äbtissin hatte diese Frage nicht erwartet und wiederholte überrascht: »Kupferminen?«

»Ja. Stimmt das etwa nicht?«

»Doch. Ja, auf dieser Halbinsel gibt es viele Kupferminen.«

»Wo liegen sie, von der Abtei aus gesehen?«

»Die nächstgelegenen befinden sich jenseits der Berge in südwestlicher Richtung.«

»Und wem gehören sie?«

»Sie gehören zu den Ländereien von Gulban, dem Falkenauge«, erwiderte Draigen.

Fidelma hatte diese Antwort erwartet und nickte nachdenklich. »Vielen Dank. Ich will Euch nun nicht länger aufhalten.«

Als sie sich zum Gehen wandte, sah sie, wie Schwester Siomha ihr sichtlich erregt hinterherschaute. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie beinahe belustigt, dann wäre sie jetzt nicht mehr am Leben.

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