Kapitel 7

Am frühen Nachmittag des folgenden Tages, an dem ein grauer, warmer Regen das Land verfinsterte, saß Page von neuem am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer; doch die Gedanken, die ihm nun durch den Kopf gingen, waren ganz anderer Art als am Tage zuvor.

Auf und ab im Zimmer, so gleichmäßig wie der Regen selbst, schritt Detective-Inspector Elliot.

Und im größten Sessel saß wie auf einem Thron Dr. Gideon Fell.

Das donnernde Lachen des Doktors klang heute gedämpft. Er war am Morgen in Mallingford angekommen, und was er vorfand, schien ihm nicht zu behagen. Er hatte sich in dem großen Sessel zurückgelehnt und schnaufte leise vor sich hin. Seinen Zwicker an dem langen schwarzen Band hatte er auf der Nase, und seine Augen waren voller Konzentration auf eine Ecke des Tisches gerichtet. Sein Banditenschnurrbart sträubte sich, als sei er zu jedem Streit bereit, und das wirre, grau melierte Haar war ihm auf der einen Seite über das Ohr gefallen. Auf einem Stuhl neben ihm lagen sein Schlapphut und der Krückstock mit dem Elfenbeingriff. Er hatte einen großen Krug Bier neben sich stehen, doch nicht einmal das schien seine Laune zu heben. Und auch wenn sein rotes Gesicht in der Julihitze röter war denn je, suchte man seine übliche joviale Art vergebens. Page fand, daß er in Körpergröße und -umfang noch mächtiger war, als man ihn ihm beschrieben hatte; als er in seinem weiten Umhang in das Häuschen getreten war, füllte er es ganz aus und schien selbst die Möbel noch zu verdecken.

Aber auch sonst gab es in der Gegend von Mallingford und Soane niemanden, der bei diesem Vorfall kein grimmiges Gesicht gemacht hätte. Das ganze Dorf wirkte verschlossen, und es war nicht einmal ein beredtes Schweigen. Inzwischen wußten alle, daß der Fremde, der als »Folkloreforscher« im Bull and Butcher abgestiegen war, Inspektor bei der Kriminalpolizei war. Doch kein Wort fiel darüber. Im Schankraum sprachen diejenigen, die zu ihrem Morgentrunk kamen, ein wenig leiser als sonst und waren schneller wieder fort; das war alles. Dr. Fell war nicht mehr im Gasthaus untergekommen – beide Zimmer waren belegt –, und Page hatte ihm mit Freuden die Gastfreundschaft seines Hauses angeboten.

Auch Inspektor Elliot war, fand Page, ein sympathischer Mann. Andrew MacAndrew Elliot hätte man den Folkloreexperten ebensogut abgenommen wie den Inspektor bei Scotland Yard. Er war noch eher jung, kräftig gebaut, strohblond und sehr ernst. Er stritt sich gern, und auf eine raffinierte Art, mit der er sich Superintendent Hadley nicht zum Freund gemacht hatte. Er hatte eine durch und durch schottische Erziehung genossen, die in puncto Gründlichkeit keine Kompromisse kennt. Nun ging er in Pages Arbeitszimmer auf und ab, während draußen der graue Regen fiel, und versuchte zu resümieren.

»Hmpf, gewiß«, brummte Dr. Fell. »Aber was haben Sie denn überhaupt bisher unternommen?«

Elliot überlegte. »Captain Marchbanks, der hiesige Polizeichef, übergab die Sache heute morgen dem Yard und wusch seine Hände in Unschuld«, sagte er. »Normalerweise hätten sie natürlich einen Chefinspektor hergeschickt. Aber da ich nun einmal zufällig schon hier war und in einer Sache ermittelte, die womöglich mit dieser zusammenhängt …«

(Der Mord an Victoria Daly, dachte Page. Aber wo ist der Zusammenhang?)

»Hat man Ihnen die Chance gegeben«, sagte Dr. Fell. »Wunderbar.«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Elliot, »ich habe meine Chance bekommen.« Nachdenklich stützte er sich mit sommersprossiger Hand auf den Tisch. »Und diese Chance will ich nutzen, so gut es geht. So etwas bekommt man nicht alle Tage geboten. Es ist – aber das wissen Sie ja.« Er seufzte. »Und Sie können sich vorstellen, wie schwierig es wird. Die Leute hier sind verschlossener als ihre Fenster. Man versucht hineinzusehen, aber sie ziehen den Vorhang zu. Sie trinken ihr Glas Bier, sie reden wie zuvor, aber sobald man etwas wissen will, sind sie fort. Beim hiesigen Landadel« – er sprach das Wort ein wenig verächtlich aus – »ist es sogar noch schwerer – war es schon, bevor das hier geschah.«

»Als Sie noch wegen der anderen Sache ermittelten, meinen Sie?« fragte Dr. Fell und öffnete ein Auge.

»Wegen der anderen Sache. Die einzige, die mir überhaupt geholfen hat, ist eine Miss Dane, Madeline Dane. Das«, erklärte Inspektor Elliot mit Nachdruck und als wäge er jedes Wort ab, »ist eine Frau. Ein Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Keines von diesen eiskalten Weibern, die einem Rauch ins Gesicht blasen und schon ihren Anwalt rufen, wenn man auch nur seine Visitenkarte abgibt. Nein. Eine echte Frau ist das; erinnert mich an ein Mädel, das ich früher bei uns zu Hause gekannt habe.«

Dr. Fell öffnete beide Augen, und bei Inspektor Elliot fingen (wenn man so sagen konnte) die Sommersprossen an zu tanzen vor Verlegenheit darüber, daß er das gesagt hatte. Doch Brian Page verstand ihn gut und war ganz seiner Meinung. Er spürte sogar, so absurd das war, einen Anflug von Eifersucht.

»Aber Sie werden wissen wollen«, fuhr der Inspektor fort, »wie es auf Farnleigh Close aussieht. Ich habe von allen, die gestern abend dort waren, die Aussagen aufgenommen. Von der Dienerschaft bisher nicht. Kurze Aussagen. Einige der Anwesenden mußte ich erst ausfindig machen. Mr. Burrows ist über Nacht im Herrenhaus geblieben, damit er uns heute zur Verfügung stehen kann. Aber der Herausforderer, dieser Mr. Patrick Gore, und sein Anwalt (ein gewisser Welkyn) sind nach Maidstone zurückgekehrt.« Er blickte sich zu Page um. »Ich nehme an, Sir, es flogen die Fetzen – oder sagen wir, es herrschte eine gewisse Anspannung, nachdem das Heft mit den Fingerabdrücken gestohlen worden war?«

Page bestätigte es mit einigem Nachdruck.

»Da erst recht«, erwiderte er. »Das Merkwürdige war, daß alle außer Molly sich mehr um den verschwundenen Beweis sorgten als darum, daß John Farnleigh ermordet worden war – wenn es Mord war.«

Ein Funken Interesse glomm in Dr. Fells Blick. »Wie war denn die Stimmung bei dieser Frage nach Mord oder Selbstmord?«

»Sehr zurückhaltend. Ich fand es seltsam, daß keiner sich festlegen wollte. Die einzige, die eindeutig sagte (brüllte, besser gesagt), es sei Mord gewesen, war Molly – Lady Farnleigh, meine ich. Ansonsten gingen die Anschuldigungen, daß falsch gespielt werde, kreuz und quer – auf eine Weise, an die sich heute hoffentlich keiner mehr erinnert. Ich selbst weiß auch nicht mehr alles, und da bin ich froh. Wahrscheinlich war es ja nur natürlich. Vorher waren wir alle so verbissen höflich zueinander gewesen, daß das Pendel nun ein wenig zu sehr in die andere Richtung ausschlug. Offenbar sind selbst Anwälte doch Menschen. Murray rief zur Ordnung, aber er wurde niedergeschrieen. Und dem Sergeant von der hiesigen Polizeiwache erging es nicht viel besser.«

»Ich mühe mich«, sagte Dr. Fell und schnitt dazu eine gräßliche Grimasse, »eine Bresche für die Frage zu schlagen, um die es eigentlich geht. Sie sagen, Inspektor, im Grunde zweifeln Sie nicht daran, daß es Mord war?«

Da war sich Elliot sicher.

»So ist es, Sir. Wir haben drei Schnitte quer über den Hals, und bisher hat sich nirgends eine Waffe gefunden, weder im Teich noch in der näheren Umgebung. Zugegeben«, fügte er vorsichtiger hinzu, »der Bericht des Arztes steht noch aus. Ich will nicht behaupten, daß es unmöglich wäre, daß jemand sich solche Wunden selbst beibringt. Aber wenn keine Waffe da ist, wäre die Sache doch eindeutig genug.«

Einen Moment lang hörten sie nur den Regen und den schweren Atem von Dr. Fell, der nicht überzeugt schien.

»Sie halten es nicht für möglich«, sagte der Doktor, »ich – ahemm – will das nur zu bedenken geben: Sie halten es nicht für möglich, daß er sich umbrachte und mit der letzten Zuckung die Waffe so weit von sich warf, daß Sie sie nicht gefunden haben? So etwas ist, glaube ich, schon vorgekommen.«

»Ganz unmöglich ist es nicht. Aber er kann sie nicht ganz aus dem Garten geschleudert haben, und wenn sie irgendwo dort ist, dann wird Sergeant Burton sie finden.« Elliot sah den Doktor fragend an. »Glauben Sie denn, daß es Selbstmord war, Sir?«

»Aber nein, nein«, erwiderte Dr. Fell mit Nachdruck, als schockiere ihn der Gedanke. »Doch selbst wenn ich davon ausgehe, daß es Mord ist, muß ich doch wissen, welche Frage sich uns jetzt überhaupt stellt.«

»Die Frage, wer Sir John Farnleigh umgebracht hat.«

»Gewiß. Aber Sie sehen immer noch nicht, in was für ein Dornendickicht wir da geraten. Ich sorge mich, weil der Täter gegen alle Spielregeln verstößt. Nichts stimmt, denn er hat sich den Falschen als Opfer ausgesucht. Wenn es doch nur Murray gewesen wäre! (Verstehen Sie mich nicht falsch – das ist rein akademisch gesprochen.) Teufel noch mal, das wäre vernünftig gewesen! Wäre es ein Mörder, wie man ihn erwarten konnte, dann hätte Murray das Opfer sein müssen. Daß Murray hier ist, schreit doch geradezu nach einer solchen Tat. Er kommt her mit dem Beweismaterial in der Tasche, mit dem sich die entscheidende Frage auf Anhieb beantworten läßt; ja, er könnte wahrscheinlich sogar ohne Beweismittel bestimmen, welcher von beiden Kandidaten der echte ist: Das ist doch der Mann, der in einem solchen Falle geradezu zwingend umgebracht werden muß. Trotzdem krümmt der Mörder ihm kein Haar, und die Frage nach der Identität der beiden Männer ist rätselhafter denn je, nun wo der eine tot ist. Stimmen Sie mir soweit zu?«

»Ja«, sagte Inspektor Elliot grimmig.

»Dann lassen Sie uns ein wenig mehr von dem Dickicht roden«, drängte Dr. Fell. »Ist es zum Beispiel denkbar, daß die ganze Sache ein Irrtum des Mörders ist? Sollte Sir John Farnleigh (wenn wir bei diesem Namen bleiben wollen) gar nicht das Opfer sein? Hat der Mörder ihn für jemand anderen gehalten?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Elliot und blickte Page an.

»Unmöglich«, sagte Page. »Ich habe es mir auch schon durch den Kopf gehen lassen. Aber glauben Sie mir: Das wäre undenkbar gewesen. Dazu war das Licht noch zu gut. Farnleigh sah keinem der anderen ähnlich, und er war auch nicht wie die anderen angezogen. Selbst aus der Ferne hätte man ihn nicht verwechseln können, und schon gar nicht, wenn man so nahe an ihn herankam, wie man muß, wenn man ihm die Kehle durchschneiden will. Es war dies seltsam verwaschene Zwielicht, bei dem alle Details schon undeutlich sind, aber alle Umrisse noch klar.«

»Das heißt, er hatte es eindeutig auf Farnleigh abgesehen«, sagte Dr. Fell mit einem geräuschvollen Räuspern. »Nun gut. Was können wir sonst noch an Gestrüpp beseitigen, an dummem Gerede? Ist es zum Beispiel denkbar, daß der Mord überhaupt nichts mit der Auseinandersetzung um Titel und Besitz zu tun hat? Schlich sich jemand, den die Debatte überhaupt nicht interessierte – jemand, dem es egal war, ob der Mann John Farnleigh war oder Patrick Gore –, in diesem Augenblick in den Garten und brachte ihn aus einem ganz anderen Grunde um, den wir nicht kennen? Möglich. Möglich ist es, wenn die Götter ihre Launen haben. Aber ich für meinen Teil werde mir darum nicht groß Gedanken machen. Diese Dinge hängen zusammen; eines ist auf das andere angewiesen. Denn Ihnen wird nicht entgangen sein, daß das Heft mit den Fingerabdrücken in dem Augenblick entwendet wurde, in dem Farnleigh den Tod fand.

Nun gut. Farnleigh wurde also ermordet, und das mit Bedacht und aus einem Grunde, der mit der Frage nach dem rechtmäßigen Erben von Titel und Besitz zusammenhängt. Aber noch immer haben wir nicht wirklich bestimmt, was von uns überhaupt gefordert ist. Unsere Aufgabe hat nach wie vor zwei Seiten, geradezu janusköpfig, könnte man sagen. Wenn der Ermordete ein Hochstapler war, dann kann es zwei oder auch drei verschiedene Gründe für den Mord an ihm geben. Sie werden sie sich selbst zusammenreimen können. Wenn er aber der echte Erbe war, dann werden die zwei oder drei Motive, die in Frage kommen, gänzlich anderer Art sein. Auch auf diese werden Sie selbst kommen. Von da gelangt man auf verschiedene Seiten, zu verschiedenen Blickwinkeln, verschiedenen Hintergründen. Welcher von beiden ist also der Hochstapler? Bevor wir das nicht wissen, können wir auch nicht sagen, welchen Weg wir überhaupt einschlagen sollen. Ahemm.«

Die Züge von Inspektor Elliot verhärteten sich.

»Sie meinen, der Schlüssel ist dieser Mr. Murray?«

»Das meine ich. Mein alter Freund Kennet Murray, undurchschaubar wie eh und je.«

»Und Sie meinen, er kann den echten vom falschen unterscheiden?«

»Da habe ich keinen Zweifel«, brummte Dr. Fell.

»Ich auch nicht«, sagte der Inspektor nur. »Lassen Sie uns überlegen.« Er holte sein Notizbuch hervor und schlug es auf. »Alle scheinen sich einig – und es ist ja auffällig, wie oft sich alle einig sind –, daß sie Mr. Murray gegen zwanzig nach neun allein in der Bibliothek zurückließen. Korrekt, Mr. Page?«

»Korrekt.«

»Der Mord (lassen Sie es uns so nennen) geschah gegen halb zehn. Zwei der Anwesenden machen genaue Zeitangaben: Murray und der Anwalt Harold Welkyn. Nun sind zehn Minuten keine lange Zeit. Aber ein paar Fingerabdrücke zu vergleichen ist, auch wenn man sich vor voreiligen Schlüssen hüten muß, nicht ganz die abendfüllende Beschäftigung, als die Murray sie Ihnen hingestellt hat. Keiner kann mir weismachen, daß er nicht wenigstens wußte, in welche Richtung es ging. – Meinen Sie, er macht uns etwas vor, Sir?«

»Nein«, sagte Dr. Fell und betrachtete mit gerunzelter Stirn den Krug Bier. »Ich glaube, er möchte nur gern ein wenig den Meisterdetektiv spielen. Und in ein paar Minuten werde ich Ihnen sagen, worum es für meine Begriffe bei dieser Sache geht. Sie sagen, Sie haben Aussagen von allen, aus denen wir erfahren, was sie in jenen zehn Minuten getan haben?«

»Von jedem nur ein paar Zeilen«, sagte Elliot, plötzlich ärgerlich. »Keine Meinungen. Alle erklärten, sie wüßten nicht, was sie dazu sagen sollten. Nun, ich werde weiterfragen, und ich werde auch hören, was für eine Meinung sie zu der Sache haben. Merkwürdige Leute sind das. Natürlich klingt es immer ziemlich karg, wenn die Polizei eine Aussage zusammenfaßt, denn man reiht die Fakten auf, wie man sie aus ihnen herausbekommt, ohne den ganzen Leerlauf dazwischen; und man muß ja dankbar für alles sein, was man überhaupt bekommt. Hören Sie sich das an. Gerade ist einer von ihnen ermordet worden, und das haben sie dazu zu sagen.«

Er wandte sich dem Notizbuch zu.

»Aussage von Lady Farnleigh: ›Als wir die Bibliothek verließen, war ich erregt und ging hinauf auf mein Zimmer. Mein Mann und ich haben unsere Schlafzimmer im ersten Stock des neuen Flügels, über dem Eßzimmer. Ich wusch mir Gesicht und Hände. Ich ließ mir von meiner Kammerzofe ein neues Kleid herauslegen, mir war, als hätte ich geschwitzt. Ich legte mich aufs Bett. Nur eine schwache Nachttischlampe brannte. Die Fenster meines Zimmers zum Balkon mit Blick zum Garten standen offen. Ich hörte ein Geräusch, als rängen Leute miteinander, dann ein Schlurfen und eine Art Schrei, danach ein Platschen. Ich lief hinaus auf den Balkon und sah meinen Mann. Er lag, wie es schien, im Teich und schlug um sich. Zu dem Zeitpunkt war niemand mehr bei ihm. Das konnte ich deutlich sehen. Ich lief die Haupttreppe hinab und nach draußen zu ihm hin. Im Garten habe ich nichts Verdächtiges gesehen oder gehört.‹

Als nächstes hätten wir:

Aussage von Kennet Murray: ›Ich blieb von neun Uhr zwanzig bis neun Uhr dreißig in der Bibliothek. Niemand kam herein, und ich habe niemand anderen gesehen. Ich saß mit dem Rücken zum Fenster. Ich hörte die Geräusche (ähnliche Beschreibung). Ich kam nicht auf den Gedanken, daß etwas Schlimmes geschehen sein könnte, bis ich jemanden die Treppe herunterlaufen hörte. Ich hörte, wie Lady Farnleigh nach dem Butler rief; sie fürchte, Sir John sei etwas zugestoßen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr; es war genau neun Uhr dreißig. Ich ging hinaus und schloß mich in der Halle Lady Farnleigh an; wir gingen hinaus in den Garten und fanden ihren Mann, die Kehle durchschnitten. Zum Thema der Fingerabdrücke und meines Vergleichs dieser Abdrücke habe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts zu sagen.‹

Freundlich und hilfreich, finden Sie nicht auch? Dann kommt:

Aussage von Patrick Gore, Herausforderer: ›Ich bin im Park spazierengegangen. Zuerst war ich auf dem vorderen Rasen und rauchte. Dann ging ich an der Südseite des Hauses entlang zum Garten hier. Ich habe keine Laute gehört außer dem Platschen, und auch das nur sehr leise. Ich glaube, es war, als ich gerade um die Hausecke kam. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Als ich in den Garten kam, hörte ich laute Stimmen. Mir war nicht nach Gesellschaft zumute, und so blieb ich auf dem Pfad, der entlang der hohen Eibenhecke rund um den Garten verläuft. Dann hörte ich, was die Stimmen sagten. Ich horchte. Ich ging erst zu dem Teich, als alle mit Ausnahme eines Mannes namens Page ins Haus zurückgekehrt waren.‹

Und schließlich noch:

Aussage von Harold Welkyn: ›Ich blieb im Speisezimmer und verließ es zu keiner Zeit. Ich verzehrte fünf kleine Sandwiches und trank ein Glas Portwein. Es ist mir bewußt, daß vom Speisezimmer verglaste Türen hinaus in den Garten führen und daß man durch eine dieser Türen geradewegs zum Teich blicken kann, der nicht weit entfernt liegt. Aber im Eßzimmer waren sämtliche Lichter eingeschaltet, und der Kontrast war so groß, daß ich draußen nichts sehen konnte …‹

Es geschieht vor seiner Nase. Erdgeschoß, die Hecken nur hüfthoch, keine zehn Meter zu der Stelle, an der ein Mann umgebracht wird.« Elliot schnippte nach seinem Notizbuch. »Aber er sieht nicht das geringste, ›der Kontrast war zu groß‹. Und es geht noch weiter:

›Als die Standuhr im Speisezimmer halb zehn schlug, hörte ich Laute, als ob Leute miteinander rängen, und einen unterdrückten Schrei. Dann mehrere laute Platscher. Ich vernahm auch ein Rascheln im Gebüsch oder in der Hecke, und ich hatte das Gefühl, als sähe mich durch eine der Glasscheiben etwas an, und zwar durch eine der untersten gleich über dem Boden. Ich fürchtete, daß draußen gewisse Dinge im Gange waren, aber es waren Dinge, die mich nichts angingen. Ich blieb sitzen und wartete ab, und dann kam Mr. Burrows und berichtete, der Mann, der sich als Sir John Farnleigh ausgegeben hatte, habe Selbstmord begangen. In dieser Zeit habe ich nichts weiter getan, außer daß ich noch ein Sandwich aß.‹«

Dr. Fell brachte sich schnaufend in eine aufrechtere Haltung, griff nach dem Bierkrug und nahm einen großen Schluck. Die Augen funkelten hinter den Brillengläsern, eine Art verblüffter Freude.

»O Bacchus!« seufzte er andächtig. »›Karg‹, sagen Sie? Finden Sie das wirklich? Also, mir läuft es bei der Aussage unseres Mr. Welkyn kalt den Rücken herunter. Aber warten Sie. Welkyn! Welkyn! Wo habe ich den Namen schon einmal gehört? Ich bin sicher, daß ich ihn schon gehört habe, und er fordert einen ja geradezu heraus, seine Witze damit zu machen, und deshalb würde er mir auch im Gedächtnis bleiben. Aber was ist schon ein Name? Nichts als Schall und Rauch. Und was sind Schall und Rauch? Nichts als Namen. Ich bitte um Verzeihung, ich schweife ab. Haben Sie noch etwas?«

»Es waren noch zwei weitere Gäste da, Mr. Page hier und Mr. Burrows. Was Mr. Page weiß, hat er Ihnen schon selbst erzählt, und im Grunde auch alles, was in Mr. Burrows’ Aussage steht.«

»Lassen Sie sie uns trotzdem noch einmal hören.«

Inspektor Elliot runzelte die Stirn.

»Aussage von Nathaniel Burrows: ›Ich hätte gern etwas gegessen, aber Welkyn war im Eßzimmer, und ich hätte es nicht angebracht gefunden, zu jenem Zeitpunkt mit ihm zu sprechen. Ich ging zum Salon am anderen Ende des Hauses und wartete dort. Dann fand ich aber doch, daß es sich gehörte, Sir John Farnleigh Gesellschaft zu leisten, der in den Südgarten gegangen war. Ich nahm mir aus der Schublade des Tisches in der Eingangshalle eine elektrische Taschenlampe. Ich tat dies, weil ich im Dunkeln nicht gut sehe. Ich war im Begriff, die Tür zum Garten zu öffnen, da sah ich Sir John. Er stand neben dem Teich. Er schien mit etwas beschäftigt, bewegte sich ein wenig hin und her. Von der Tür bis zum ihr zugewandten Ufer des Teiches sind es etwa zwölf Meter. Ich hörte das Schlurfen, die Laute, dann das Platschen und das Schlagen im Wasser. Ich lief hin und fand ihn dort. Ob eine zweite Person draußen gewesen war, das kann ich nicht sagen. Ich wüßte nicht, wie ich die Bewegung beschreiben sollte, die er machte. Es war, als hätte ihn etwas an den Füßen gepackt.‹

Und das ist alles, Sir. Ein paar Sachen werden Ihnen aufgefallen sein. Mr. Burrows war der einzige, der das Opfer wirklich sah, bevor es angegriffen wurde und in den Teich fiel oder hineingezogen wurde; Mr. Gore, Mr. Murray, Mr. Welkyn und Mr. Page sahen ihn alle erst danach – so steht es zumindest in ihrer Aussage. Und es werden Ihnen noch andere Dinge aufgefallen sein?« stocherte er.

»Hm?« fragte Dr. Fell gedankenverloren.

»Ich wollte wissen, was Sie davon halten.«

»Nun, ich will Ihnen sagen, was mir durch den Kopf ging. ›Ein Garten ist ein köstlich Ding, fürwahr‹«, sagte Dr. Fell. »Und wie war es mit dem Nachspiel? Nach dem Mord wurde, nehme ich an, das Heft mit den Abdrücken aus der Bibliothek entwendet, als Murray nach draußen ging, um zu sehen, was geschehen war. Haben Sie darüber von den Anwesenden Aussagen bekommen – was sie taten, wer der Dieb gewesen sein könnte?«

»Aussagen habe ich«, erwiderte Elliot, »aber ich werde sie Ihnen nicht vorlesen, Sir. Und warum nicht? Weil nichts drinsteht, nicht das Geringste. Kurz zusammengefaßt lauten die Aussagen: Jeder könnte das Heft gestohlen haben, und in der Aufregung hat keiner gesehen, wer es war.«

»O je!« stöhnte Dr. Fell, nachdem er noch einen Moment lang überlegt hatte. »Dann wäre es also tatsächlich so.«

»Was wäre tatsächlich so?«

»Das, was ich schon die ganze Zeit habe kommen sehen – daß wir es mit einem rein psychologischen Rätsel zu tun haben. Es gibt nicht die geringsten Widersprüche, bei denen wir ansetzen könnten, weder in den Aussagen noch in den Zeitangaben, nicht einmal in den Deutungsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Die einzige echte Ungereimtheit ist die eine große psychologische Frage: nämlich, warum mit solcher Sorgfalt der Falsche umgebracht wurde. Führen Sie sich doch nur vor Augen, wie wenig materielle Indizien wir haben – keine Manschettenknöpfe, Zigarettenstummel, Theaterkarten, keine Feder, keine Tinte, kein Papier. Hmpf. Wenn wir nicht noch etwas Handfesteres finden, an das wir uns halten können, bleibt uns nur, mit vereinten Kräften nach dem flüchtigen Schmetterling zu haschen, der die menschliche Psyche nun einmal ist. Bei wem könnte man sich am ehesten vorstellen, daß er den, der ermordet wurde, ermordet hätte? Und aus welchem Grund? Und wer paßt, psychologisch gesehen, am besten in jenes Netz finsterer Machenschaften, das Sie um den Mord an Victoria Daly gesponnen haben?«

Elliot pfiff durch die Zähne. Dann fragte er: »Hätten Sie da Kandidaten, Sir?«

»Lassen Sie mich überlegen, ob ich die entscheidenden Fakten im Fall Victoria Daly noch im Kopf habe«, murmelte Dr. Fell. »Alter fünfunddreißig, unverheiratet, stets freundlich, nicht gerade intelligent, lebte allein. Hmpf. Ha. Ja. Ermordet gegen elf Uhr fünfundvierzig abends am 31. Juli letzten Jahres. Stimmt’s, mein Junge?«

»Stimmt.«

»Ein Bauer, der auf dem Heimweg an ihrem Häuschen vorbeikommt, schlägt Alarm. Hört Schreie aus dem Haus. Fahrradpolizist, ebenfalls noch nächtens unterwegs, folgt ihm nach. Beide sehen einen Mann – in der Gegend bekannten Landstreicher – auf der Rückseite aus einem Erdgeschoßfenster klettern. Viertelmeile Verfolgungsjagd. Landstreicher versucht seinen Verfolgern zu entkommen, springt über Schranke, um Bahnschienen noch vor herannahendem Güterzug der Southern Railway zu überqueren, schnelles, wenn auch unschönes Ende. Alles richtig?«

»Richtig.«

»Miss Daly lag im hinteren Zimmer des Erdgeschosses – ihrem Schlafzimmer. Mit Schuhriemen erdrosselt. Als der Eindringling kam, war sie im Begriff, sich zur Ruhe zu begeben, aber noch nicht im Bett. Nachthemd, gesteppter Morgenmantel, Pantoffeln. Anscheinend ein eindeutiger Fall – Geld und Wertsachen beim Landstreicher gefunden –, bis auf eine Kleinigkeit. Arzt findet bei der Untersuchung des Leichnams den Körper eingerieben mit dunkler rußiger Substanz; selbe Substanz auch unter allen Fingernägeln. Hm? Erweist sich im Labor der Kriminalpolizei als Mischung aus Rübensaft, Eisenhut, Fingerkraut, Tollkirsche und Ruß.«

Page setzte sich mit einem Ruck auf. Was Dr. Fell resümierte, war in der Gegend alles bekannt genug – alles bis auf den letzten Punkt.

»Moment!« hakte er nach. »Das höre ich aber nun wirklich zum erstenmal. Die Leiche war mit einem Mittel eingerieben, das zwei tödliche Gifte enthielt?«

»Glauben Sie es uns ruhig«, meinte Elliot mit einem breiten Grinsen. »Natürlich war es nicht der hiesige Arzt, der das Zeug zur Analyse gab. Bei der gerichtlichen Untersuchung fand der Vorsitzende, daß es nichts zu bedeuten habe, und brachte es nicht einmal bei der Verhandlung auf. Wahrscheinlich hielt er es für eine Art Schönheitssalbe und fand es ungehörig, das zu erwähnen. Aber später gab der Arzt doch einen dezenten Hinweis, und …«

Page konnte es nicht glauben. »Eisenhut und Tollkirsche! Aber sie hatte das Mittel ja nicht geschluckt, oder? Nur vom Einreiben hätte es sie nicht umgebracht, nicht wahr?«

»Das nicht. Trotzdem ein recht eindeutiger Fall. Oder was meinen Sie, Sir?«

»Leider nur zu eindeutig«, bestätigte Dr. Fell.

Durch das Geräusch des Regens hindurch hörte Page ein Klopfen an der Haustür. In Gedanken noch bei dem, was er da gerade erfahren hatte, ging er hinaus auf den kleinen Flur und öffnete die Tür. Es war Sergeant Burton von der örtlichen Wache in Regenmantel und Kapuze, und unter dem Mantel hatte er etwas, das in Zeitungspapier geschlagen war. Seine Begrüßung brachte Pages Gedanken von Victoria Daly wieder zurück zu dem dringenderen Fall Farnleigh.

»Kann ich Inspektor Elliot und Dr. Fell sprechen, Sir?« fragte Burton. »Ich habe die Tatwaffe. Und …«

Er machte eine Kopfbewegung. Jenseits des Vorgartens, in dem schon die Pfützen standen, sah er einen bekannten Wagen am Tor warten. Es war ein alter Morris, und im Inneren konnte er zwei Fahrgäste ausmachen. Inspektor Elliot kam mit raschen Schritten zur Tür.

»Was höre ich da?«

»Ich habe die Waffe, mit der Sir John umgebracht wurde, Inspektor. Und noch etwas.« Wieder wies Sergeant Burton mit dem Kopf in Richtung Wagen. »Das sind Miss Madeline Dane und der alte Mr. Knowles, der drüben im Herrenhaus arbeitet. Früher war er beim besten Freund von Miss Danes Vater angestellt. Er wußte nicht, was er tun sollte, und hat Miss Dane um Rat gefragt; und die hat ihn zu mir geschickt. Er hat Ihnen etwas zu erzählen, das wahrscheinlich die ganze Sache aufklären wird.«


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