Kapitel 14

Die gerichtliche Untersuchung zum Tode von Sir John Farnleigh fand am folgenden Tag statt und endete mit einer solchen Sensation, daß die Presse in ganz Großbritannien kopfstand.

Inspektor Elliot ist, wie die meisten Polizisten, kein Freund solcher Untersuchungen, und dies aus praktischen Gründen. Brian Pages Abneigung ist eher ästhetischer Art: Man erfährt nie etwas, was man nicht vorher schon wußte, nur selten schlagen die Gefühle hoch, und das Urteil, ganz gleich, wie es ausfällt, trägt in der Regel nichts dazu bei, das Rätsel zu lösen.

Aber in diesem Falle, das mußte er zugeben, folgte die Untersuchung – die am Vormittag des 31. Juli, eines Freitags, stattfand – nicht dem üblichen Muster. Es schien von vornherein festzustehen, daß das Urteil auf Selbstmord lauten würde. Und doch war die Anspannung so groß, daß ein ausgewachsener Streit im Gange war, bevor der erste Zeuge noch zehn Worte gesagt hatte, und als das Urteil schließlich gefällt wurde, konnte Inspektor Elliot nur noch fassungslos dabeisitzen.

Page begann den Tag mit sehr schwarzem Kaffee und einem Stoßseufzer darüber, daß es nach den Ereignissen des Vortags nicht noch eine zweite solche Untersuchung gab. Betty Harbottle hatte den Schreck überstanden. Doch für eine Weile, nachdem sie der Hexe zum zweitenmal ins Auge geblickt hatte, hatte man um ihr Leben fürchten müssen, und nun war sie erst recht nicht mehr in der Lage, eine Aussage zu machen. Nach dem Sturz hatte Elliot alle Anwesenden unerbittlich verhört, doch alles drehte sich im Kreise. »Haben Sie ihm den Stoß gegeben?« – »Nein, das schwöre ich; ich weiß nicht, wer es war; wir standen auf dem schiefen Fußboden, und vielleicht ist es ja von selbst losgegangen.«

Elliot und Dr. Fell saßen bis spätabends bei Pfeife und Bier beisammen, und Elliot hielt Resümee. Page hatte Madeline nach Hause gebracht, darauf bestanden, daß sie etwas aß, einen hysterischen Anfall im Keime erstickt, und bei allem waren ihm tausend Dinge zugleich durch den Kopf gegangen. Als er wieder eintrat, war der Inspektor eben beim Fazit angelangt.

»Wir stecken fest«, sagte er. »Wir können nicht das mindeste beweisen, und das bei allem, was geschehen ist! Victoria Daly wird ermordet – vielleicht von einem Landstreicher, vielleicht auch nicht; andere finstere Machenschaften sind anscheinend im Spiel, auf die wir jetzt nicht eingehen müssen. Das war vor einem Jahr. Sir John Farnleigh wird mit durchschnittener Kehle gefunden. Betty Harbottle wird auf eine Weise, über die wir nichts wissen, ›angegriffen‹ und vom Dachboden nach unten geschafft; ihre zerrissene Schürze findet sich oben in der Bücherkammer. Ein Heft mit Fingerabdrücken verschwindet und kommt zurück. Schließlich versucht noch jemand, Sie zu ermorden, indem er diese Maschine die Treppe hinunterstößt – ein Versuch, dem Sie nur um Haaresbreite und mit der Gnade Gottes entgangen sind.«

»Und ich weiß es zu schätzen, das können Sie mir glauben«, versicherte Dr. Fell ihm grimmig. »Es war einer der schlimmsten Augenblicke meines Lebens, als ich mich umblickte und dieses Monstrum auf mich zukommen sah. Ich war selbst schuld daran. Ich habe zuviel geredet. Und doch …«

Elliot sah ihn aufmerksam an.

»Immerhin ist es ein Beweis, Sir, daß Sie auf der richtigen Spur waren. Der Mörder begriff, daß Sie zuviel wußten. Worum es sich bei dieser Spur handelt … Sir, wenn Sie Vermutungen haben, wäre es an der Zeit, es mir zu sagen. Wenn sich nicht bald etwas Neues ergibt, werde ich nach London zurückbeordert.«

»Oh, Sie werden es bald erfahren«, brummte Dr. Fell. »Ich will ja kein Geheimnis daraus machen. Aber selbst wenn ich Ihnen sage, was ich vermute, und selbst wenn es sich als richtig herausstellt, hätten wir immer noch keinen Beweis. Und in einer Beziehung weiß ich nicht, ob Sie sich nicht täuschen. Es schmeichelt mir, gewiß. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Automat wirklich die Treppe hinuntergestoßen wurde, um mir, wie es so schön heißt, das Lebenslicht auszublasen.«

»Weswegen denn sonst? Der Täter konnte nicht damit rechnen, daß er das Mädchen noch einmal erschrecken konnte, Sir. Es war nicht abzusehen, daß die Maschine zur Tür ihres Zimmers hereinkommen würde.«

»Ich weiß«, sagte Dr. Fell stur und fuhr sich mit den Fingern durch den üppigen graumelierten Haarschopf. »Und doch – und doch – welchen Beweis …«

»Das meine ich ja gerade. Wir haben eine ganze Kette von Ereignissen, die alle miteinander zusammenhängen, und nicht ein einziges darunter, bei dem ich etwas beweisen kann! Ich habe nichts in der Hand, womit ich zu meinen Vorgesetzten gehen kann: ›Hier, bitte sehr‹. Kein Indiz, das sich nur so und nicht auch anders deuten ließe. Ich kann nicht einmal beweisen, daß die Sachen überhaupt miteinander zusammenhängen – und das ärgert mich besonders. Nehmen Sie die gerichtliche Untersuchung morgen. Selbst das, was wir selbst vorlegen, fordert ja geradezu zum Urteil auf Selbstmord heraus …«

»Läßt sich die Untersuchung nicht verschieben?«

»Natürlich. Normalerweise hätte ich das getan und immer wieder neu Aufschub gefordert, bis wir entweder beweisen können, daß es Mord war, oder die Sache ganz fallenlassen. Aber da haben wir den letzten und größten Haken. Was habe ich denn von weiteren Ermittlungen noch zu erhoffen, so wie die Dinge jetzt stehen? Der Superintendent ist so gut wie überzeugt, daß Sir John Farnleighs Tod ein Selbstmord war, und der Assistant Commissioner auch. Als sie nun noch hörten, daß sich auf dem Taschenmesser, das Burton in der Hecke entdeckt hat, Spuren von Fingerabdrücken des Toten fanden …«

(Davon hatte Page noch nichts gehört, und damit schien der Urteilsspruch auf Selbstmord so gut wie besiegelt.)

»… war die Sache praktisch entschieden«, bestätigte Elliot ihm. »Worauf kann ich denn noch hoffen?«

»Betty Harbottle?« schlug Page vor.

»Gut, stellen wir uns vor, sie erholt sich und kann ihre Geschichte erzählen. Stellen wir uns vor, sie berichtet, wie sie jemanden oben in der Bücherkammer gesehen hat. Und was tat er da? Und was soll das zu bedeuten haben? Was hat das mit dem Selbstmord im Garten zu tun? Beweise, mein Junge. Das Heft mit den Fingerabdrücken, kann uns das weiterhelfen? Keiner hat je behauptet, daß es aus dem Besitz des Toten stammt; was hat es also überhaupt mit dem Fall zu tun? Nein, Sir; Sie dürfen es nicht vernünftig ansehen – sehen Sie es mit den Augen eines Juristen an. Es steht hundert zu eins, daß ich am Abend zurückgerufen werde, und der Fall kommt zu den Akten. Sie und ich, wir wissen, daß hier ein Mörder umgeht und sich so raffiniert getarnt hat, daß er tun und lassen kann, was er will, bis ihm jemand das Handwerk legt – oder ihr. Und scheinbar gibt es niemanden, der das kann.«

»Und was werden Sie jetzt tun?«

Elliot stürzte einen halben Krug Bier hinunter, bevor er antwortete.

»Für meine Begriffe gibt es nur eine Chance: die Untersuchung vor dem Coroner mit allem, was dazugehört. Die meisten unserer Verdächtigen werden als Zeugen aussagen. Eine gewisse Hoffnung besteht, daß einer von ihnen sich unter Eid verplappern wird. Keine große Hoffnung, das gebe ich zu – aber so etwas ist schon vorgekommen (erinnern Sie sich an Waddington, die Krankenschwester?), und es könnte noch einmal geschehen. Wenn nichts anderes weiterführt, bleibt uns das als letztes.«

»Wird der Coroner mitspielen?«

»Wenn ich das wüßte«, sagte Elliot nachdenklich. »Dieser Burrows führt etwas im Schilde, das weiß ich. Aber er vertraut sich mir nicht an, und ich habe nichts aus ihm herausbekommen können. Er ist beim Coroner gewesen, aber ich weiß nicht, weswegen. Wenn ich es recht verstanden habe, mögen Burrows und der Coroner sich nicht besonders, und der Mann war auch kein Freund des verstorbenen ›Farnleigh‹. Persönlich ist er anscheinend überzeugt, daß es Selbstmord war, aber er wird fair spielen, und sie werden alle gegen den Außenseiter zusammenhalten – das bin ich. Das Ironische ist, daß Burrows ja selbst gern beweisen würde, daß es Mord war, denn ein Urteil auf Selbstmord kann man mehr oder weniger auch als Urteil nehmen, daß sein Klient ein Hochstapler war. Das Ganze wird eine einzige große Boulevardkomödie um verschollene Erben werden, und wie sie ausgeht, steht schon fest: Selbstmord, ich werde abberufen, und die Geschichte ist erledigt.«

»Na, na«, sagte Dr. Fell tröstend. »Übrigens, wo ist eigentlich der Automat geblieben?«

»Sir?«

Elliot riß sich aus seinem Selbstmitleid und starrte sein Gegenüber an.

»Der Automat? Den habe ich in einen Schrank geschoben. Nach den Stößen, die er abbekommen hat, bleibt da wohl nur noch der Schrottplatz. Ich wollte ihn ja gern noch genauer untersuchen, aber ich fürchte, selbst der beste Mechaniker wird jetzt nicht mehr herausfinden können, wie er funktioniert hat.«

»So ist es«, seufzte Dr. Fell und griff nach seiner Kerze für den Nachttisch. »Deswegen hat der Mörder ihn ja die Treppe hinuntergestoßen.«

Page verbrachte eine unruhige Nacht. Außer der Untersuchung gab es noch andere Dinge am nächsten Tag, die ihm Sorgen machten. Nat Burrows, dachte er, hatte nicht das Kaliber seines Vaters; selbst Dinge wie die Vorkehrungen für das Begräbnis hatte er an Page delegiert. Anscheinend war Burrows ganz mit einem anderen Aspekt der Affäre beschäftigt. Und ihm ging die Frage durch den Kopf, ob man Molly »allein« in einem Haus von so sinistrer Atmosphäre lassen konnte, zumal die Dienerschaft fast geschlossen mit Kündigung drohte.

All diese Dinge quälten ihn, bis die Sonne zu einem heißen und strahlenden Tag aufging. Die Flut der Automobile setzte gegen neun Uhr ein. Er hatte noch nie so viele Wagen auf einmal in Mallingford gesehen; erst als er die Massen an Vertretern von Presse und Welt draußen einfallen sah, begriff er, welches Aufsehen dieser Fall jenseits ihrer Haustür erregt hatte. Es ärgerte ihn. Schließlich ging das, fand er, niemand anderen etwas an. Es fehlte nur noch, daß sie Schaukeln und Karussells aufstellten und heiße Würstchen feilboten. Sie stürmten den Bull and Butcher, in dessen »Saal« – einem langgestreckten Schuppen, in dem sich sonst die Arbeiter vergnügten, die zur Hopfenernte kamen – die Verhandlung stattfinden sollte. An der Straße glitzerten unzählige Objektive in der Sonne. Viele der Schaulustigen waren Frauen. Der Hund des alten Mr. Rowntree jagte jemanden die ganze Straße hinunter bis zu Major Chambers; er bellte den ganzen Vormittag über wie toll, und niemand konnte ihn beruhigen.

Zwischen all dem bewegten sich die Einheimischen ohne ein Wort. Sie legten sich nicht fest. Jeder auf dem Lande ist auf die anderen angewiesen, man tauscht Dinge, hilft sich gegenseitig; in einem Fall wie diesem mußte man abwarten, was geschah, so daß alle auch nachher in Frieden miteinander leben konnten, ganz gleich, wie die Sache ausging. Von der Welt draußen hingegen kam der Tumult von DER TOTE ERBE – OPFER ODER BETRÜGER?, und um elf Uhr an jenem heißen Vormittag nahm die gerichtliche Untersuchung des Todesfalls ihren Anfang.

Der lange, niedrige, düstere Schuppen war vollgepackt mit Menschen. Es war, dachte Page, eindeutig ein Anlaß für einen gestärkten Kragen. Der Coroner, der die Untersuchung leitete – ein wackerer Jurist, der fest entschlossen war, sich keinerlei Launen der Farnleighs gefallen zu lassen –, hatte vor einem großen Stoß Papier an einem breiten Tisch Platz genommen, zu seiner Linken einen Stuhl für die Zeugen.

Zuerst wurde Lady Farnleigh aufgerufen, die als Witwe bezeugen mußte, daß es sich bei dem Toten wirklich um Sir John Farnleigh handelte. Schon hier – in der Regel nur eine Formalität – wurde Einspruch erhoben. Molly hatte kaum ein paar Worte gesprochen, als sich Mr. Harold Welkyn, im Gehrock, eine Gardenie im Knopfloch, im Namen seines Klienten erhob. Mr. Welkyn führte aus, aus formaljuristischen Gründen müsse er gegen die Identifizierung protestieren, da es sich bei dem Toten nicht um Sir John Farnleigh gehandelt habe; und da die Frage nach der Identität von entscheidender Bedeutung für das Urteil darüber sei, ob der Verstorbene sich selbst das Leben genommen habe oder ob er das Opfer eines Verbrechens geworden sei, bitte er respektvoll um Erlaubnis, diesen Punkt dem Gericht unterbreiten zu dürfen.

Es folgte eine lange Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Coroner unter Mithilfe des eisigen und empörten Burrows Mr. Welkyn gehörig in seine Schranken wies. Doch selbst bei diesem Rückschlag glänzte Welkyns Stirn noch vor Zufriedenheit. Er hatte angebracht, was er anbringen wollte. Er hatte das Tempo vorgegeben. Er hatte das eigentliche Schlachtfeld abgesteckt, und alle wußten das.

Er sorgte damit auch dafür, daß Molly eine Reihe von Fragen des Coroners beantworten mußte, die den Geisteszustand des Verstorbenen betrafen. Der Coroner war freundlich, aber doch fest entschlossen, alle Fakten auf den Tisch zu bringen, und Molly litt Höllenqualen. Wie die Sache stand, wurde Page allmählich klar, als der Coroner als nächstes nicht nach dem Fund der Leiche fragte, sondern Kennet Murray aufrief. Die ganze Geschichte kam ans Licht, und in der sanften, eindringlichen Art, in der Murray es vorbrachte, war das falsche Spiel des Verstorbenen so offensichtlich und eindeutig wie ein Fingerabdruck. Burrows bombardierte ihn mit Einwänden, erreichte damit jedoch nur, daß er den Coroner verärgerte.

Burrows und Page beschrieben, wie sie den Toten gefunden hatten (Page mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam). Als nächstes wurde der Arzt aufgerufen. Dr. Theophilus King sagte aus, daß er am Abend des 29. Juli, eines Mittwochs, auf einen Telefonanruf von Detective-Sergeant Burton hin nach Farnleigh Close gekommen sei. Mit einer ersten Untersuchung hatte er sich vergewissert, daß der Mann tot war. Die Leiche war ins Schauhaus gebracht worden, und am folgenden Tag hatte er auf Anordnung des Coroners zur Ermittlung der Todesursache eine Obduktion vorgenommen.

Der Coroner: Würden Sie nun bitte die Wunden beschreiben, Dr. King, die Sie am Hals des Toten fanden?

Der Doktor: Ich fand drei nicht allzu tiefe Wunden, beginnend auf der linken Seite der Kehle und endend unter dem rechten Kieferknochen. Sie verliefen in einer leichten Aufwärtsbewegung, zwei davon kreuzten einander.

C: Die Waffe wurde also von links nach rechts über die Kehle geführt?

D: So ist es.

C: Wäre das der zu erwartende Verlauf, wenn ein Mann sich selbst die Kehle durchschnitt?

D: Wenn er ein Rechtshänder war, ja.

C: War der Verstorbene Rechtshänder?

D: Nach allem, was ich weiß, ja.

C: Würden Sie sagen, es wäre unmöglich, daß der Verstorbene sich diese Wunden selbst beibrachte?

D: Keineswegs.

C: Wenn Sie nach der Art der Wunden urteilen sollten, Doktor, mit was für einer Art Waffe könnten sie zugefügt worden sein?

D: Ich würde sagen, mit einer schartigen oder ungleichmäßigen Klinge von etwa zehn bis zwölf Zentimetern Länge. Das Gewebe zeigte starke Risse. Diese Dinge lassen sich nur schwer exakt beurteilen.

C: Das wissen wir, Doktor. Ich werde gleich einen Zeugen aufrufen, der bestätigen wird, daß in einer Hecke etwa drei Meter links von dem Toten ein Messer mit einer Klinge gefunden wurde, wie Sie sie beschreiben. Haben Sie das Messer, von dem ich spreche, gesehen?

D: Das habe ich.

C: Könnte Ihrer Meinung nach das fragliche Messer am Hals des Verstorbenen Wunden hinterlassen haben, wie Sie sie beschreiben?

D: Das halte ich für möglich.

C: Nun kommen wir an einen Punkt, Doktor, der ein wenig diffizil ist. Mr. Nathaniel Burrows sagt aus, daß der Verstorbene unmittelbar vor seinem Sturz am Rand des Teiches mit dem Rücken zum Haus stand. Mr. Burrows ist – auch wenn ich ihn zu einer eindeutigen Aussage gedrängt habe – nicht in der Lage, mit Bestimmtheit zu sagen, ob der Verstorbene zu diesem Zeitpunkt allein war. Wenn – und ich sage: wenn – er allein war, könnte er eine Waffe auf eine Entfernung von etwa drei Metern von sich geworfen haben?

D: Das wäre körperlich durchaus möglich.

C: Lassen Sie uns davon ausgehen, daß er eine Waffe in der rechten Hand hatte. Könnte er diese Waffe statt nach rechts auch nach links geschleudert haben?

D: Ich habe nichts, woraus ich schließen könnte, welcher Art die letzten Zuckungen eines Sterbenden waren. Ich kann nur sagen, daß so etwas körperlich nicht unmöglich ist.

Was nach dieser beherzten Aussage noch an Zweifeln bleiben mochte, zerstreute Ernest Wilbertson Knowles. Alle kannten Knowles. Alle wußten, was er mochte, was er nicht mochte, was für ein Mensch er war. Jeder hatte sich in Jahrzehnten überzeugen können, daß dieser Mann durch und durch aufrecht war. Er berichtete, wie er vom Fenster hinuntergeblickt hatte, wie der Mann allein in dem von Hecken umstandenen Rund aus Sand gestanden hatte, wie es unmöglich gewesen war, daß ein Mörder hinzukam.

C: Sie sind sich also in Ihrem Innersten sicher, daß Sie mit angesehen haben, wie der Verstorbene sich selbst das Leben nahm?

K: Ich fürchte, ja, Sir.

C: Wie erklären Sie es sich dann, daß er ein Messer, das er in der rechten Hand hielt, nach links statt nach rechts schleuderte?

K: Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich beschreiben kann, welche Bewegungen der verstorbene Herr machte, Sir. Anfangs glaubte ich, ich könne es, aber ich habe es mir durch den Kopf gehen lassen, und nun bin ich mir doch nicht mehr sicher. Es kam alles so schnell, da hätte die Bewegung in jede Richtung gehen können.

C: Aber Sie haben nicht wirklich gesehen, wie er das Messer schleuderte?

K: Doch, Sir, ich habe den Eindruck, das habe ich.

»DONNERWETTER!« kam eine Stimme aus dem Saal. Es klang ein wenig wie wenn Tony Weller in Dickens’ »Pickwickiern« von der Galerie herab spricht. In Wirklichkeit war es jedoch Dr. Fell, der während der Zeugenaussagen laut schnaufend geschlafen hatte, das Gesicht rot und dampfend von der Hitze.

»Ruhe im Saal!« rief der Coroner.

Burrows unterzog Knowles als Anwalt der Witwe einem Kreuzverhör, und Knowles gestand ein, daß er nicht schwören könne, wirklich gesehen zu haben, wie der Verstorbene das Messer fortschleuderte. Er habe scharfe Augen, doch so scharfe Augen auch wieder nicht. Doch all das erklärte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, daß die Herzen der Geschworenen sichtlich auf seiner Seite blieben. Knowles gab zu, daß er nur über seine Eindrücke sprechen könne, und gestand auch die (entfernte) Möglichkeit eines Irrtums ein, und damit mußte Burrows sich zufriedengeben.

Alles lief auf das unvermeidliche Ende hin. Es folgten die Ermittlungsergebnisse der Polizei, eine Zusammenfassung dessen, was sich über die Schritte des Verstorbenen festhalten ließ, und noch einmal ein Resümee. In der Hitze des Schuppens, wo die Bleistifte huschten wie Spinnenbeine, war es so gut wie beschlossen, daß der Verstorbene ein Betrüger gewesen war. Blicke wurden auf Patrick Gore, den wahren Erben, geworfen. Verstohlene Blicke. Anerkennende Blicke. Mißtrauische Blicke. Auch freundliche Blicke, doch selbst die nahm er ruhig und gelassen auf.

»Meine Damen und Herren Geschworenen«, sagte der Coroner, »eine Zeugenaussage haben wir noch, für die ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten möchte, obwohl ich nicht weiß, welchen Inhalts sie sein wird. Auf Mr. Burrows’ Antrag und auf ihre eigene Bitte hin tritt die Zeugin vor, um eine wichtige Aussage zu machen, und ich vertraue darauf, daß sie Ihnen bei Ihrer schwierigen Aufgabe eine Hilfe sein wird. Ich rufe Miss Madeline Dane.«

Page fuhr zusammen.

Ein überraschtes Stimmengewirr erhob sich, und die Herzen der Reporter schlugen schneller, als sie die attraktive Zeugin sahen. Page konnte sich nicht erklären, was sie vorzubringen hatte, und das machte ihn nervös. Leute rückten zur Seite, damit sie nach vorn zum Zeugenstand kommen konnte, der Coroner reichte ihr das Buch, und sie leistete den Eid mit erregter, doch klarer Stimme. Sie kam in einem blauen Kostüm, als trage sie dezente Trauer, und das Dunkelblau des Hutes traf genau die Farbe ihrer Augen. Die angespannte Stimmung löste sich ein wenig, und auch die Geschworenen, die bisher mit hölzerner Miene dagesessen hatten, erwachten zum Leben. Man konnte nicht sagen, daß die Männer sie anlächelten, aber Page hatte doch das Gefühl, daß sie nahe daran waren. Selbst der Coroner mühte sich, es ihr auf dem Stuhl bequem zu machen. Als Liebling der männlichen Bevölkerung der Umgegend war Madeline fast konkurrenzlos, und ein anerkennendes Raunen begleitete ihren Auftritt.

»Noch einmal muß ich zur Ruhe in diesem Raum mahnen!« rief der Coroner. »Würden Sie bitte Ihren Namen nennen?«

»Madeline Elspeth Dane.«

»Ihr Alter?«

»F-fünfunddreißig.«

»Ihre Adresse, Miss Dane?«

»Monplaisir, bei Frettenden.«

»Also, Miss Dane«, sagte der Coroner knapp, aber doch sanft, »Sie haben uns noch etwas über den Verstorbenen mitzuteilen? Welcher Art ist die Aussage, die Sie machen wollen?«

»Es gibt etwas, was ich Ihnen sagen muß. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«

»Vielleicht kann ich Miss Dane behilflich sein«, meldete sich Burrows zu Wort, der sich mit feuchter Stirn, doch würdevoll erhoben hatte. »Miss Dane, ging es …«

»Mr. Burrows«, fuhr der Coroner, der nun vollends die Geduld verlor, ihn an, »immer wieder stören Sie diese Verhandlung mit einer Respektlosigkeit, die Ihre eigenen Rechte ebenso mißachtet wie die meinen und die ich nicht dulden kann und nicht dulden werde. Sie haben das Recht, die Zeugin zu befragen, wenn ich mit meiner Vernehmung zu Ende gekommen bin, und nicht vorher. Bis dahin verhalten Sie sich ruhig, oder Sie verlassen den Saal. Hrrrr! Ahemm. Also, Miss Dane?«

»Bitte streiten Sie nicht.«

»Wir streiten uns nicht, Madam. Ich ermahne lediglich zu dem Respekt, der diesem Gericht zu zollen ist, einem Gericht, das zusammengekommen ist, um zu ermitteln, wie der Verstorbene zu Tode kam – ein Respekt, den ich mit allen Mitteln aufrechterhalten werde, auch wenn manche« – hier wanderte sein Blick zu den Reportern – »ihn gern mit Füßen treten. Also, Miss Dane?«

»Es geht um Sir John Farnleigh«, sagte Madeline ernst, »und um die Frage, ob er Sir John Farnleigh war. Ich möchte erklären, warum er den Herausforderer und dessen Anwalt so offen aufgenommen hat; warum er sie nicht einfach aus dem Haus geworfen hat; warum er so bereitwillig seine Fingerabdrücke hat nehmen lassen – ach, all die Sachen, die Ihnen vielleicht helfen können zu entscheiden, wie er gestorben ist.«

»Miss Dane, wenn Sie lediglich Ihre Meinung dazu äußern wollen, ob der Verstorbene Sir John Farnleigh war oder nicht, dann muß ich Ihnen leider sagen …«

»Nein, nein, nein. Ich weiß nicht, ob er der echte war. Aber darum geht es ja gerade. Er wußte es nämlich selber nicht.«


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