An einem Fenster mit Blick über einen Garten in Kent saß Brian Page, einen Wust von Büchern aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und hatte nicht die geringste Lust zu arbeiten. Die Juli-Spätnachmittagssonne, die durch beide Fenster hereinschien, verwandelte den Fußboden des Zimmers in Gold. Die einschläfernde Hitze entlockte dem alten Holz und den alten Büchern ihre Gerüche. Eine Wespe kam von dem Apfelhain jenseits des Gartens hereingeschwebt, und Page scheuchte sie mit einer matten Bewegung hinaus.
Jenseits der Gartenmauer, hinter dem Gasthaus Bull and Butcher, schlängelte sich die Straße etwa eine Viertelmeile zwischen Obstbäumen dahin. Sie führte an den Toren zu Farnleigh Close vorbei, dem Herrenhaus, dessen Gewirr von schmalen Schornsteinen Page durch die Baumwipfel sehen konnte, und dann über den Hügel eines Wäldchens mit dem poetischen Namen Hanging Chart.
Die blassen Grün- und Brauntöne der sanften Landschaft Kents, die nur selten kräftigere Farben kannte, erstrahlten nun im Licht. Page kam es vor, als hätten sogar die Backsteinkamine des Herrenhauses Farbe angenommen. Er hörte, wie Mr. Nathaniel Burrows’ Wagen die Straße entlangkam, und das Motorgeräusch kam schon aus der Ferne herüber, auch wenn er nicht schnell fuhr.
Es gab, dachte Brian Page träge, schon beinahe zuviel Aufregung im Dörfchen Mallingford. Und jedem, der diesen Satz absurd fand, konnte er ihn belegen. Erst letzten Sommer war der Mord an der drallen Miss Daly geschehen, erdrosselt von einem Landstreicher, der dann auf dramatische Weise ums Leben gekommen war, als er über die Bahnlinie fliehen wollte. Jetzt, in der letzten Juliwoche, waren zweimal, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, Fremde im Bull and Butcher abgestiegen: einer war Künstler und der andere womöglich – niemand wußte, wie dieses Gerücht aufgekommen war – ein Detektiv.
Und dann heute das unerklärliche Hin und Her von Pages Freund Nathaniel Burrows, Anwalt in Maidstone. Irgendwie herrschte Unruhe, eine Erregung, auf Farnleigh Close, auch wenn keiner sagen konnte, was es zu bedeuten hatte. Meist ließ Brian Page kurz vor Mittag seine Arbeit liegen und ging hinüber zum Bull and Butcher, wo er sich vor dem Essen ein Glas Bier genehmigte; doch an diesem Vormittag hatte niemand eine Klatschgeschichte zu erzählen gehabt, und das war ein schlechtes Zeichen.
Gähnend schob Page ein paar Bücher beiseite. Er fragte sich, was auf Farnleigh Close geschehen sein mochte, wo es kaum je eine Aufregung gegeben hatte, seit Inigo Jones es für den ersten Baronet errichtet hatte. Das Haus hatte eine lange Reihe von Farnleighs gesehen, und die Familie hielt sich wacker. Sir John Farnleigh, derzeitiger Baronet von Mallingford und Soane, hatte zu seinen ausgedehnten Ländereien noch ein beträchtliches Vermögen geerbt.
Page mochte sie beide, den grimmigen, leicht reizbaren John Farnleigh wie auch Molly, seine unkomplizierte Frau. Das Dorfleben war genau das richtige für Farnleigh; er paßte dorthin; er war der perfekte Landedelmann, auch wenn er so lange fernab der Heimat gelebt hatte. Denn Farnleighs Geschichte war eine jener romantischen Erzählungen, für die Page sich immer wieder begeistern konnte, und schien so gar nicht zu dem soliden, beinahe konventionellen Baronet zu passen, der nun auf Farnleigh Close lebte. Vom frühen Exil bis hin zu seiner Heirat mit Molly Sutton vor gut einem Jahr war diese Geschichte (fand Page) nur ein weiterer Beleg dafür, wie aufregend das Leben im Dorfe Mallingford war.
Page grinste, gähnte noch einmal und griff wieder zur Feder. Die Arbeit rief.
Ach je.
Er betrachtete das Pamphlet, das er neben sich liegen hatte. Über den Fortgang seiner Biographien der Lordrichter von England – die wissenschaftlich und populär zugleich werden sollten – konnte er nicht klagen. Immerhin war er bereits bei Sir Matthew Hale angelangt. Aber es gab immer Äußerlichkeiten, die einen aufhielten, und Brian Page hatte auch nicht die mindeste Absicht, diesen Äußerlichkeiten den Zugang zu verwehren.
Im Grunde war sein Ehrgeiz, die Biographien der Lordrichter je zu Ende zu bringen, nicht groß, genau wie er auch sein Jurastudium nie zu Ende gebracht hatte. Echte Gelehrtenarbeit war ihm zu anstrengend, doch war er andererseits ein zu unruhiger, intellektueller Geist, um untätig zu sein. Es spielte keine Rolle, ob und wann er mit den Lordrichtern zu Ende kam. Aber er hatte eine Arbeit, zu der er sich stets ermahnen konnte, nur um dann mit einem erleichterten Aufatmen jedem faszinierenden Abweg zu folgen, der sich bot.
Das Pamphlet, das er neben sich liegen hatte, trug den Titel Ein Process gegen Hexen, welcher am zehnten Tag des Märzes 1664 gehalten wurde zu Bury St. Edmonds im Namen der Grafschaft Suffolk, verhandelt vor Sir Matthew Hale, Ritter, sintemalen Lordoberrichter an Seiner Majestät Oberstem Finanzgericht, gedruckt für D. Brown, J. Walthoe und M. Wotton, 1718.
Das war ein Abweg, auf dem er schon häufiger gewandelt war. Sir Matthew Hale hatte natürlich im Grunde kaum etwas mit Hexen zu tun. Doch so etwas hielt Brian Page nicht davon ab, ein überflüssiges halbes Kapitel zu verfassen, wenn ein Thema seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Mit wohligem Seufzer nahm er den abgegriffenen Glanville aus dem Regal. Er wollte ihn eben aufschlagen, da vernahm er Schritte im Garten, und jemand rief ihm schon durch das Fenster seine Begrüßung zu.
Es war Nathaniel Burrows, und er schwang seinen Koffer mit weit ausholenden Bewegungen, die gar nichts Anwaltsmäßiges hatten.
»Na, viel zu tun?« fragte Burrows.
»Nu-un.« Page gähnte. Er legte den Glanville beiseite. »Komm auf eine Zigarette herein.«
Burrows öffnete die Terrassentür und trat in den dunklen, bequem eingerichteten Raum. Auch wenn er sich im Zaum hielt, war er doch erregt genug, daß er fröstelnd und recht bleich wirkte an diesem heißen Nachmittag. Sein Vater, Großvater und Urgroßvater hatten die Rechtsgeschäfte der Farnleighs geregelt. Doch manchmal mochte man bezweifeln, ob Nathaniel Burrows, leicht zu erregen und bisweilen unbeherrscht in seinen Reden, sich wirklich zum Familienanwalt eignete. Und er war jung. Doch in der Regel hatte er seine kleinen Schwächen unter Kontrolle und brachte, fand Page immer, durchaus auch einen Gesichtsausdruck zustande, der frostiger war als der eines Heilbutts auf Eis.
Burrows’ schwarzes Haar war perfekt gescheitelt und lag adrett am Kopf an. Auf der langen Nase hatte er eine Hornbrille, und die Art, wie er eben über ihren Rand hinwegblickte, ließ vermuten, daß er mehr Gesichtsmuskeln besitzen mußte als gewöhnliche Menschen. Er trug einen schwarzen Anzug, elegant und unbequem, und mit den behandschuhten Händen hielt er den Koffer an sich gedrückt.
»Brian«, sagte er, »ißt du heute abend zu Hause?«
»Na ja, eigentlich schon …«
»Dann änderst du deine Pläne«, sagte Burrows abrupt.
Page sah ihn fragend an.
»Du dinierst bei den Farnleighs«, erklärte Burrows. »Essen kannst du meinetwegen auch anderswo, aber ich hätte dich gern bei bestimmten Ereignissen dort im Hause dabei.« Etwas von seinem Anwaltston kam hervor, und ihm schwoll die schmale Brust. »Was ich dir gleich erzähle, erzähle ich hochoffiziell. Zum Glück. Sage mir: Hattest du jemals das Gefühl, daß Sir John Farnleigh nicht der Mann ist, als der er sich ausgibt?«
»Sich ausgibt?«
»Daß Sir John Farnleigh«, erklärte Burrows mit sorgfältigen Worten, »ein Betrüger und Hochstapler ist, der in Wirklichkeit gar nicht Sir John Farnleigh ist?«
»Hast du einen Sonnenstich?« fragte der andere und richtete sich auf. Was er gehört hatte, verblüffte und ärgerte ihn, es hatte ihn aus der Fassung gebracht, und das gerade zur trägsten Stunde an einem heißen Tag. »Nie im Leben habe ich Grund gehabt, so etwas zu glauben. Warum sollte ich auch? Worauf zum Teufel willst du hinaus?«
Nathaniel Burrows sprang aus seinem Sessel auf und legte statt dessen den Koffer dort ab.
»Ich sage das«, erklärte er, »weil ein Mann aufgetaucht ist, der behauptet, er sei der echte John Farnleigh. Nicht erst seit heute. Es geht schon seit ein paar Monaten, aber jetzt spitzt sich die Sache zu. Ähm …« Er zögerte und blickte sich um. »Ist sonst noch jemand im Haus? Mrs. Wie-heißt-sie-gleich? Du weißt schon, die Zugehfrau – oder sonst jemand?«
»Nein.«
Burrows flüsterte beinahe. »Ich dürfte dir das nicht verraten. Aber ich weiß, daß ich dir vertrauen kann, und ich bin, unter uns gesagt, in einer prekären Lage. Die Sache wird nicht ohne Ärger abgehen. Der Fall Tichborne war ein Ammenmärchen dagegen. Natürlich habe ich – ähm – offiziell bisher keinerlei Grund zu der Annahme, daß der Mann, dessen Angelegenheiten ich regle, nicht Sir John Farnleigh ist. Meine Aufgabe ist es, Sir John Farnleigh zu dienen – dem echten. Aber das ist es ja gerade. Wir haben zwei Männer. Einer davon ist der echte Baronet, und der andere ist ein Betrüger. Die beiden Männer haben nichts gemeinsam; sie sehen sich nicht einmal ähnlich. Und trotzdem – selbst wenn mein Seelenheil davon abhinge, könnte ich nicht sagen, welcher von beiden welcher ist.« Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Aber zum Glück sieht es aus, als könne die Sache heute abend entschieden werden.«
Page wußte zunächst nicht, was er darauf erwidern sollte. Er schob seinem Gast den Zigarettenkasten hin, steckte sich selbst eine an und betrachtete Burrows nachdenklich.
»Da rollen die Donnerschläge ja nur so«, sagte er. »Und wie hat es angefangen? Wie ist überhaupt jemand auf die Idee gekommen, daß sich ein Hochstapler eingeschlichen hat? Ist davon früher schon einmal die Rede gewesen?«
»Nein, und du wirst auch noch sehen, warum.« Burrows holte ein Taschentuch hervor, wischte sich mit aller Sorgfalt das Gesicht und nahm wieder Platz. »Ich hoffe ja immer noch, es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Ich mag John und Molly – Sir John und Lady Farnleigh, wollte ich sagen –, ich mag sie sogar sehr. Wenn der Herausforderer der Hochstapler ist, werde ich vor Freude auf dem Dorfanger tanzen – na, das vielleicht doch nicht –, aber ich werde dafür sorgen, daß er wegen Meineids hinter Gitter wandert, und zwar länger als Arthur Orton seinerzeit. Aber jetzt sollte ich dir, damit du heute abend Bescheid weißt, erzählen, was es mit der Sache auf sich hat und wie es überhaupt zu dem ganzen gräßlichen Durcheinander gekommen ist. Kennst du Sir Johns Geschichte?«
»Die groben Züge.«
»Man sollte immer mehr als die groben Züge wissen«, tadelte Burrows und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Schreibst du so deine historischen Artikel? Ich will es nicht hoffen. Hör mir zu und präge dir diese paar einfachen Fakten gut ein.
Wir gehen fünfundzwanzig Jahre zurück, zu der Zeit, als der heutige Sir John Farnleigh fünfzehn war. Er kam 1898 zur Welt, der zweite Sohn des alten Sir Dudley und der damaligen Lady Farnleigh. Damals kam niemand auf die Idee, daß er den Titel erben könnte: Der ältere Sohn, Dudley, war der Stolz und die Freude seiner Eltern.
Und sie stellten hohe Ansprüche an ihre Söhne. Der alte Sir Dudley (ich habe ihn mein Leben lang gekannt) war ein Spätviktorianer von der strengsten Sorte. Nicht ganz so zugeknöpft, wie solche Leute heute in den Romanen hingestellt werden, aber ich weiß noch, daß ich als Kind immer überrascht war, wenn er mir einmal einen Sixpence schenkte.
Der junge Dudley war ein braver Junge. John nicht. Er war ein finsteres, stilles, unberechenbares Kind, und so mürrisch, daß man ihm selbst die leichtesten Verstöße nicht verzieh. Er tat nichts Schlimmes, aber er wollte sich nicht fügen und wollte als Erwachsener behandelt werden, lange bevor er es war. 1912, als er fünfzehn war, hatte er eine ausgewachsene Affäre mit einem Barmädchen in Maidstone …«
Page stieß einen Pfiff aus. Er blickte zum Fenster hinaus, so als erwarte er, daß Farnleigh vorbeikomme.
»Mit fünfzehn?« fragte Page. »Der muß es ja faustdick hinter den Ohren gehabt haben.«
»Das hatte er.«
Page zögerte. »Aber weißt du, nach dem, was ich von ihm kenne, hätte ich immer gedacht, daß Farnleigh …«
»Ein wenig puritanisch ist?« schlug Burrows vor. »Stimmt. Aber wir reden ja auch von einem fünfzehnjährigen Jungen. Daß er sich mit Okkultismus beschäftigte, mit Hexerei und Satanskult, das war schlimm genug. Daß sie ihn in Eton der Schule verwiesen hatten, war schlimmer. Aber der Skandal mit dem Barmädchen gab ihm den Rest. Sie erklärte, sie sei schwanger von ihm. Sir Dudley Farnleigh kam zu dem Schluß, daß der Junge durch und durch schlecht sei, ein Rückfall auf die satanischen Farnleighs früherer Generationen, daß nichts ihn jemals ändern würde und daß er ihn nicht mehr sehen wolle. Die üblichen Maßnahmen wurden ergriffen. Lady Farnleigh hatte einen Vetter in Amerika, der es zu einigem Vermögen gebracht hatte, und John wurde in die Staaten abgeschoben.
Der einzige, der ihn auch nur halbwegs bändigen konnte, war ein Hauslehrer namens Kennet Murray. Der Lehrer, damals ein junger Bursche von zwei- oder dreiundzwanzig, war nach Farnleigh Close gekommen, nachdem John die Schule verlassen mußte. Kennet Murray, das ist wichtig, hatte ein Hobby, und zwar die Kriminologie – das knüpfte von Anfang an eine Verbindung zwischen ihm und dem Jungen. Es galt damals nicht gerade als Beschäftigung für einen Gentleman, doch Sir Dudley mochte Murray und erhob keine Einwände.
Nun ergab es sich, daß Murray gerade zu dieser Zeit einen guten Posten als stellvertretender Leiter einer Schule in Hamilton auf Bermuda angeboten bekam – wenn er denn bereit war, sein Glück so weit fernab der Heimat zu machen. Murray nahm an; im Herrenhaus wurden seine Dienste ja nicht mehr gebraucht. Man kam überein, daß Murray und der Junge die Überfahrt nach New York gemeinsam unternehmen sollten, damit der Lehrer bis dahin noch ein Auge auf ihn halten konnte. Er sollte den Jungen Lady Farnleighs Vetter übergeben und dann von dort den Dampfer nach Bermuda nehmen.«
Nathaniel Burrows hielt inne und dachte über diese längst vergangenen Zeiten nach.
»Ich persönlich kann mich an diese Zeit kaum noch erinnern«, fügte er hinzu. »Wir jüngeren Kinder wurden von dem verdorbenen John ferngehalten. Aber die kleine Molly Sutton, die damals erst sechs oder sieben war, war ganz vernarrt in ihn. Sie ließ es nicht zu, daß auch nur ein schlechtes Wort über ihn gesprochen wurde, und daß sie ihn jetzt geheiratet hat, wird vielleicht noch wichtig. Ich habe noch eine vage Erinnerung an den Tag, an dem John zum Bahnhof gebracht wurde, in einer offenen Kutsche, einen flachen Strohhut auf dem Kopf, und Kennet Murray saß neben ihm. Sie sollten am nächsten Tag ablegen, der aus mehr als nur einem Grunde ein Festtag war. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß das Schiff, auf dem sie fuhren, die Titanic war.«
Nun waren Burrows und Page beide in ihren Gedanken bei der Vergangenheit. Letzterer erinnerte sich daran als eine Zeit der Verwirrung, der Propaganda, der Anschlagzettel an den Straßenecken, der Gerüchte, denen jede Grundlage fehlte.
»Die unsinkbare Titanic rammte einen Eisberg und sank in der Nacht zum 15. April 1912«, fuhr Burrows fort. »In dem Durcheinander wurden Murray und der Junge getrennt. Murray trieb achtzehn Stunden lang im eiskalten Wasser, klammerte sich mit zwei oder drei anderen an ein hölzernes Geländer. Sie wurden von einem Frachter aufgefischt, der Colophon – unterwegs nach Bermuda. Murray kam dahin, wohin er eigentlich gewollt hatte. Und als er per Funkspruch erfuhr, daß John Farnleigh in Sicherheit war, und ein Brief es ihm später noch bestätigte, machte er sich keine weiteren Gedanken mehr.
John Farnleigh – oder ein Junge, der sich für John ausgab – wurde von der Etrusca gerettet, auf dem Weg nach New York. Dort wartete Lady Farnleighs Vetter, ein Mann aus dem Westen, schon auf ihn. An den Verhältnissen hatte sich nichts geändert. Nach wie vor wollte Sir Dudley, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Junge noch am Leben war, nichts weiter mit ihm zu tun haben. Die Sache war dem alten Sir Dudley genauso recht wie dem Jungen selbst.
Er wuchs in Amerika auf und blieb dort fast fünfundzwanzig Jahre lang. Er schrieb seiner Familie keine Zeile; selbst wenn sie darum gefleht hätten, hätte er ihnen kein Foto geschickt und keinen Geburtstagsgruß. Zum Glück faßte er eine spontane Zuneigung zu dem amerikanischen Vetter, einem Mann namens Renwick, und das war alles, was er an Eltern brauchte. Er – nun – änderte sich anscheinend. Er lebte dort in aller Stille als Farmer, genau wie er hier als Gutsbesitzer gelebt hätte. In den letzten Kriegsjahren diente er in der amerikanischen Armee, aber er setzte keinen Fuß auf englischen Boden und traf sich mit niemandem, den er gekannt hatte. Selbst Murray sah er nie wieder. Murray lebte auf Bermuda, aber zu Wohlstand kam er nicht. Keiner von beiden konnte sich eine Reise zu dem anderen leisten, zumal John Farnleigh in Colorado wohnte.
Hier zu Hause ging alles seinen Gang. Der Junge war so gut wie vergessen, und nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1926 kümmerte sich niemand mehr um ihn. Der Vater folgte ihr vier Jahre später nach. Der junge Dudley – der so jung ja inzwischen auch nicht mehr war – erbte den Titel und den gesamten Besitz. Er hatte nicht geheiratet; dazu sei noch Zeit genug, sagte er. Aber da täuschte er sich. Der neue Sir Dudley starb im August 1935 an einer Salmonellenvergiftung.«
Brian Page dachte nach.
»Das war, unmittelbar bevor ich hierherkam«, sagte er. »Aber hör mal! Hat denn Dudley nicht ein einziges Mal versucht, mit seinem Bruder Kontakt aufzunehmen?«
»Doch. Die Briefe kamen ungeöffnet zurück. Dudley war – nun, seinerzeit ein ziemlicher Spießer gewesen. Inzwischen hatten sie sich so entfremdet, daß John anscheinend keinerlei Verwandtschaft mehr in ihm sah. Als es jedoch darum ging, daß nach Dudleys Tod der Besitz und der Titel an John fallen sollten …«
»Da nahm er an.«
»Er nahm das Erbe an. Jawohl. Das ist der springende Punkt!« rief Burrows. »Du kennst ihn und du verstehst es. Es schien ja genau das richtige, daß er wieder herkam. Alles schien ihm so vertraut, obwohl er fast fünfundzwanzig Jahre lang fort gewesen war. Man fand überhaupt nichts dabei: Er verstand sich, er benahm sich, er sprach – das zumindest halbwegs – wie der Erbe von Farnleigh. Anfang 1936 kam er her. Und sogar an Romantik fehlte es nicht, denn er traf die erwachsene Molly Sutton wieder und heiratete sie schon im Mai desselben Jahres. Er lebt ein gutes Jahr hier, er lebt sich ein, und nun das. Nun geschieht das.«
»Ich nehme an, jemand wird behaupten, daß er beim Untergang der Titanic vertauscht wurde?« fragte Page zögernd. »Daß ein anderer Junge aus dem Meer gerettet wurde und sich aus irgendeinem Grunde als John Farnleigh ausgab?«
Burrows war mit gemessenen Schritten im Zimmer auf- und abgegangen und hatte vor jedem Möbelstück, an das er kam, drohend den Finger gehoben. Aber es sah nicht komisch aus. Eine intellektuelle Kraft ging von ihm aus, die Klienten beruhigte, ja geradezu hypnotisierte. Er hatte eine Art, den Kopf schiefzulegen und seinen Gesprächspartner seitlich an seiner großen Brille vorbei anzusehen, wie jetzt eben auch wieder.
»Ganz genau. Genau das. Wenn der jetzige John Farnleigh ein Hochstapler ist, dann ist er es schon seit 1912 – und in all der Zeit hat der wahre Erbe geschwiegen, verstehst du? Er hat sich an seine Rolle gewöhnt. Als man ihn nach dem Unglück aus dem Rettungsboot zog, trug er Farnleighs Kleider, er hatte Farnleighs Ring am Finger und dessen Tagebuch in der Tasche. Er hat sich von seinem Onkel Renwick in Amerika Familiengeschichten erzählen lassen. Er ist zurückgekommen und hat es sich in dem alten Leben bequem gemacht. Fünfundzwanzig Jahre! Da verändert sich die Handschrift; ein Gesicht, selbst ein Muttermal, sind nicht mehr dieselben, selbst dem Gedächtnis kann man nicht mehr trauen. Kannst du dir vorstellen, welche Schwierigkeiten das gibt? Wenn er sich vertut, wenn er etwas nicht mehr weiß oder wenn die Erinnerungen vage sind, dann ist das nur natürlich. Oder etwa nicht?«
Page schüttelte den Kopf.
»Trotzdem, mein Junge, dieser Herausforderer muß schon verdammt gute Argumente haben, bevor ihm jemand glaubt. Du weißt, wie die Gerichte sind. Was hat er vorzuweisen?«
»Der Herausforderer«, antwortete Burrows und verschränkte die Arme vor der Brust, »behauptet, er habe einen unwiderlegbaren Beweis, daß er der wahre Sir John Farnleigh ist.«
»Hast du diesen Beweis gesehen?«
»Wir sollen ihn heute abend zu sehen bekommen – oder auch nicht. Der Herausforderer bittet um ein Treffen mit dem gegenwärtigen Träger des Titels. Nein, Brian – einfältig bin ich nicht, auch wenn ich wegen dieser Sache schon halb den Verstand verloren habe. Der Herausforderer hat mir eine Geschichte vorgelegt, die überzeugt, und eine Reihe kleinerer Beweise dazu. Er kam in mein Büro spaziert (und leider in Begleitung eines Windhunds, der sich als sein Rechtsbeistand erwies) und hat mir Sachen erzählt, die nur John Farnleigh wissen kann. Nur John Farnleigh, glaube mir. Aber er hat vorgeschlagen, daß er und der gegenwärtige Träger des Titels sich einem bestimmten Test unterziehen, der die Frage ein für allemal klären soll.«
»Was für ein Test?«
»Das wirst du noch sehen. O ja. Das wirst du noch sehen.« Na-thaniel Burrows griff nach seinem Aktenkoffer. »Nur einen einzigen Trost gibt es bei dieser ganzen unseligen Affäre. Nämlich daß bisher nichts an die Öffentlichkeit gekommen ist. Der Herausforderer ist ein Gentleman, das immerhin – das sind sie beide, bah –, und er legt es nicht auf einen Streit an. Aber es wird doch eine Menge Ärger geben, wenn ich erst einmal weiß, was nun wirklich die Wahrheit ist. Ich bin froh, daß mein Vater das nicht mehr erleben muß. Einstweilen kann ich nur sagen: Sei bitte um sieben Uhr auf Farnleigh Close. Du brauchst dich nicht feinzumachen. Das werden die anderen auch nicht tun. Das Essen ist nur ein Vorwand, und ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt etwas zu essen gibt.«
»Und wie nimmt Sir John die Sache auf?«
»Welcher von beiden?«
»Laß uns der Klarheit und Einfachheit halber«, erwiderte Page, »den Mann, den wir immer als Sir John Farnleigh gekannt haben, auch weiterhin so nennen. Aber das ist interessant. Soll das heißen, daß du den Widersacher für den echten hältst?«
»Nein«, antwortete Burrows. »Eigentlich nicht. Mit Sicherheit nicht!« Er gab sich einen Ruck und sprach mit Würde. »Farnleigh ist – wie vor den Kopf geschlagen. Und ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.«
»Weiß Molly Bescheid?«
»Ja; er hat es ihr heute gesagt. Tja, so sieht es aus. So wie ich hier mit dir rede, sollte kein Anwalt jemals reden, und die meisten tun es auch nicht; aber wenn ich dir nicht trauen kann, dann kann ich keinem Menschen trauen, und so ganz sicher bin ich mir ja nicht, ob ich alles richtig mache, seit mein Vater tot ist. Laß dir das einmal durch den Kopf gehen. Mal dir die Zwangslage aus, in der ich stecke. Und sei um sieben Uhr auf Farnleigh Close; wir brauchen dich als Zeugen. Sieh dir die beiden Kandidaten an. Mach dir deine Gedanken. Und dann, bevor die Sache ernst wird«, sagte Burrows und stellte den Koffer mit einem energischen Schlag auf den Tisch, »sei so nett und sage mir, welcher von beiden der echte ist.«