»Also hören Sie!« rief Dr. Fell, pochte mit seinem Stock auf den Boden und blickte sich mit wohlwollend tadelnder Miene in der Gruppe um. Er war amüsiert, zugleich aber auch verärgert. »Sie werden doch nicht sagen wollen, daß Sie überrascht sind? Sie wollen doch nicht sagen, Sie sind schockiert? Sie, Miss Dane! Haben Sie es denn nicht von Anfang an gewußt? Haben Sie nicht gewußt, wie sehr sie Sie gehaßt hat?«
Madeline wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dann streckte sie die Hand nach Pages Arm aus.
»Gewußt habe ich gar nichts«, sagte Madeline. »Eine Ahnung hatte ich. Aber das konnte ich Ihnen ja wohl zu Anfang nicht sagen, oder? Sie haben mich ja auch so schon für ein ziemliches Biest gehalten, fürchte ich.«
Page brauchte eine ganze Weile, bis er wieder wußte, wo er stand, und den anderen erging es offenbar nicht viel besser. Doch nun ging ihm noch etwas auf, noch bevor die vorige Erkenntnis wirklich verarbeitet war. Was er dachte, war:
Die Sache ist noch nicht zu Ende.
Ob es eine Andeutung war, die in Dr. Fells Augen flackerte, eine Bewegung seiner Hand oder seines Stockes, womöglich sogar ein Erbeben des ganzen Kolosses, das konnte er nicht sagen. Aber der Eindruck war unmißverständlich, und auch die anderen blickten alle gespannt auf Dr. Fell, als warteten sie nur auf die nächste Enthüllung. Irgendwo gab es noch einen Hinterhalt. Irgendwo warteten die Gewehre, die eine weitere Salve auf ihren Verstand abfeuern würden.
»Erzählen Sie weiter«, sagte Murray mit ruhiger Stimme. »Ich zweifle nicht, daß Sie recht haben; aber jetzt weiter.«
»Stimmt«, sagte Burrows geistesabwesend – und setzte sich wieder.
Die mächtige Stimme des Doktors klang schläfrig in der Stille der Bibliothek.
»Was die rein materielle Beweislage angeht«, fuhr er fort, »konnte an dieser Lösung von vornherein kaum ein Zweifel bestehen. Der Mittelpunkt allen Aufruhrs, des psychischen wie des äußerlichen, ist immer hier gewesen. Der Mittelpunkt war das verschlossene Bücherkabinett auf dem Dachboden. Jemand hatte es sich dort bequem gemacht. Jemand hatte die Bestände inspiziert, Bücher herausgeholt und wieder zurückgestellt, mit den Spielzeugen dort gespielt. Jemand, der schon immer für seine outrierten Aktivitäten bekannt war, hatte eine Art Räuberhöhle daraus gemacht.
Die Vorstellung, daß es ein Außenstehender gewesen sein könnte – daß etwa ein Nachbar sich in dieses Nest geschlichen hätte –, war so abwegig, daß man sie gar nicht ernsthaft verfolgen mußte. Ein solches Vorgehen wäre psychologisch wie praktisch unmöglich gewesen. Man macht keinen Ein-Mann-Club auf dem Dachboden eines fremden Hauses auf, schon gar nicht, wenn die neugierige Dienerschaft zuschaut. Man kommt nicht am späten Abend in dieses Haus, ohne daß Diener und andere einen sehen. Man manipuliert nicht einfach ein neues Vorhängeschloß, über das der Hausherr wacht. Denn Sie werden einsehen, daß zwar zum Beispiel Miss Dane« – Dr. Fell lächelte ihr mit Engelsmiene zu –, »daß zum Beispiel Miss Dane einmal einen Schlüssel zu dieser Kammer besaß, daß dieser jedoch nicht mehr auf das Schloß gepaßt hätte, das nun vor der Tür hing.
Nächste Frage: Was quälte Sir John Farnleigh so?
Denken Sie darüber einmal nach, meine Damen und Herren.
Warum fand dieser ruhlose Puritaner, den die Sorge um seine Herkunft so sehr verfolgte, niemals Trost in seinem eigenen Heim? Welche Gedanken gingen ihm ansonsten noch durch den Kopf? Warum geht er am Abend, an dem man ihm sein Erbe streitig machen will, nur im Zimmer auf und ab und spricht von Victoria Daly? Warum ist er so besorgt, daß Detektive sich in der Nachbarschaft nach ›Folklore‹ erkundigen? Was steckt hinter seinen kryptischen Worten gegenüber Miss Dane? In Augenblicken der Erregung, ›wenn er an der Kirche vorüberkam, blickte er jedesmal empor, und dann stöhnte er: Könnte ich doch nur einmal …‹
Könnte er was? Sich gegen jene durchsetzen, die diese Kirche schändeten? Warum geht er mit einer Hundepeitsche in der Hand auf den Dachboden, kommt aber bleich und schweißgebadet wieder herunter, außerstande, bei dem, den er dort oben findet, von der Peitsche Gebrauch zu machen?
Die entscheidenden Punkte in diesem Fall sind psychologischer Art, und sie sind nicht minder entlarvend als die äußerlichen, zu denen ich gleich kommen werde; es wird wohl das beste sein, ich führe sie hier auf.«
Dr. Fell hielt inne. Er starrte lange und recht bekümmert auf die Tischplatte. Dann holte er seine Pfeife hervor.
»Lassen Sie uns doch einmal überlegen, wer dieses Mädchen Molly Sutton war – eine resolute Frau und gute Schauspielerin. Eines hat Patrick Gore vorgestern abend über sie gesagt, was den Nagel auf den Kopf traf. Die meisten von Ihnen waren ja offenbar schockiert, als er sagte, sie sei nie in den Farnleigh verliebt gewesen, den Sie kannten. Er sagte, sie habe eine ›Projektion‹ des Jungen geheiratet, den sie vor so vielen Jahren gekannt hatte. Und das ist die Wahrheit. Welche Wut sie packte, als ihr aufging, daß er nicht mehr derselbe Junge war, ja nicht einmal derselbe Mann, das werden wir wohl nie erfahren.
Woher kam nun diese Obsession, dieser Wahn im Gehirn eines siebenjährigen Mädchens?
Die Frage ist nicht schwer zu beantworten. Das ist das Alter, in dem wir durch äußerliche Erfahrung in unseren grundsätzlichsten Vorlieben geprägt werden. Die Einflüsse aus dieser Zeit bleiben für immer, selbst wenn wir glauben, wir hätten sie vergessen. Bis ans Ende meiner Tage werde ich Bilder von dicken alten Holländern mögen, die Schach spielen oder ihre langen Tonpfeifen rauchen, und zwar, weil solche Bilder an den Wänden im Arbeitszimmer meines Vaters hingen, als ich ein kleiner Junge war. Wenn Sie Enten mögen oder Gespenstergeschichten oder mechanische Apparate, dann aus denselben Gründen.
Nun, wer war der eine Mensch, der den jungen John Farnleigh angebetet hat, als sie beide noch Kinder waren? Wer war die einzige, die zu ihm gestanden hat? Wen hat John Farnleigh mit in den Wald und ins Zigeunerlager genommen? – Wohlgemerkt: in das Zigeunerlager, behalten Sie das im Gedächtnis. Welche satanischen Geschichten hat sie ihn erzählen hören, bevor sie überhaupt wußte, wovon er sprach, ja bevor sie auch nur verstand, was ihr in der Sonntagsschule gepredigt wurde?
Und die Jahre dazwischen? Wir wissen nicht, wie die Vorliebe sich in ihren Gedanken weiterentwickelte. Nur das eine: sie verbrachte viel Zeit bei den Farnleighs, denn sie hatte bei dem alten und dem jungen Sir Dudley genug Einfluß, um Knowles seine Stellung als Butler zu verschaffen. – Nicht wahr, Knowles?«
Er blickte sich nach ihm um.
Von dem Augenblick an, in dem Dr. Fell Lady Farnleighs Namen genannt hatte, hatte er sich nicht mehr gerührt. Er war vierundsiebzig Jahre alt. Sein fast transparentes Gesicht, das sonst kein Gefühl verbarg, war nun vollkommen ausdruckslos. Er öffnete und schloß den Mund und nickte zur Antwort, doch er sprach kein Wort. Er schien zu keinem anderen Gefühl mehr fähig als zu schierem Entsetzen.
»Es ist denkbar«, fuhr Dr. Fell fort, »daß sie schon vor langem Bücher aus jener verschlossenen Bibliothek holte. Wann sie Anhänger für ihren Satanskult zu werben begann, hat Elliot nicht herausfinden können, aber es war etliche Jahre vor ihrer Heirat. Die Zahl von Männern in dieser Gegend, die ihre Liebhaber waren, würde Sie überraschen. Aber über die satanistischen Umtriebe können oder wollen sie nichts sagen. Und das ist ja letzten Endes das einzige, was uns angeht. Es ist das, was ihr am wichtigsten war, und der Grund für die Tragödie. Denn was geschah?
Der so lange und so romantisch verschollene ›John Farnleigh‹ kehrte zurück zum, wie es hieß, Besitz seiner Vorväter. Für kurze Zeit war Molly Sutton überglücklich. Ihr Held kehrte heim. Ihr großes Vorbild. Ihn zu heiraten war sie fest entschlossen – der Welt und eventuell ihm selbst zum Trotze. Und vor einem guten Jahr – einem Jahr und drei Monaten, um genau zu sein – wurde sie seine Frau.
Lieber Himmel, gab es je ein Paar, das schlechter zusammenpaßte?
Ich frage das in allem Ernst. Sie wissen, wen und was sie zu heiraten glaubte. Sie wissen auch, was für einen Ehemann sie statt dessen bekam. Sie können sich vorstellen, welch kalte Verachtung er insgeheim für sie empfand, mit welch eisiger Höflichkeit er sie behandelte, als er dahinterkam, wer sie wirklich war. Sie können sich vorstellen, was sie für ihn empfand, wie sie die brave Ehefrau spielen mußte und immer wußte, daß er sie durchschaute. Und beide taten ja aus Höflichkeit stets so, als wüßten sie nicht, was der andere weiß. Und so wie er alles über sie wußte, war sie ja gewiß auch binnen kurzem darauf gekommen, daß er nicht der echte John Farnleigh war. So teilte also jeder das Geheimnis des anderen in uneingestandenem Haß.
Warum hat er sie nie angeprangert? Nicht nur, daß sie etwas war, was er mit seiner puritanischen Seele in die tiefste Hölle wünschte. Nicht nur, daß er mit der Peitsche auf sie losgegangen wäre, wenn er es gewagt hätte. Zu alldem kam ja noch (und da sollten wir uns nichts vormachen, meine Herren), daß sie eine Verbrecherin war. Sie verleitete andere zu Drogen, die gefährlicher waren als Heroin und Kokain – und er wußte es. Indirekt war sie für den Tod von Victoria Daly verantwortlich – und er wußte es. Sie haben von seinen Wutausbrüchen gehört. Warum hat er sie also nie angeprangert, obwohl er sich gewiß danach sehnte?
Weil er es nicht konnte. Weil jeder von beiden das Geheimnis des anderen bewahrte. Er wußte zwar nicht, ob er wirklich nicht Sir John Farnleigh war – aber er befürchtete es. Er wußte nicht, ob sie beweisen könnte, daß er es nicht war, und es beweisen würde, sobald er sie herausforderte – aber er befürchtete es. Er war ja nicht ganz der feine Kerl, als den Miss Dane ihn uns beschrieben hat. Gewiß, er war nicht mit Absicht ein Betrüger. Er hatte tatsächlich die Erinnerung verloren und versuchte verzweifelt, sie wiederzufinden. Oft genug war er sich sicher, daß er wirklich der echte Farnleigh war. Aber es war nur natürlich, daß er das Schicksal nicht herausfordern wollte, es sei denn, es drängte ihn in eine Ecke, in der ihm nichts anderes übrigblieb. Denn es war nicht ausgeschlossen, daß auch er ein Verbrecher war.«
Nathaniel Burrows sprang auf.
»Das kann ich nicht hinnehmen!« rief er mit schriller Stimme. »Und ich werde es nicht hinnehmen! Inspektor, ich fordere Sie auf, verbieten Sie diese Unterstellungen. Der Mann hat nicht das Recht, unhaltbare Behauptungen über meine Klienten aufzustellen! Als Vertreter des Gesetzes ist es Ihre Aufgabe …«
»Besser, Sie setzen sich wieder hin, Sir«, sagte Elliot ruhig.
»Aber …«
»Setzen Sie sich, Sir.«
Madeline wandte sich an Dr. Fell.
»Etwas in dieser Art haben Sie ja schon früher am Abend gesagt«, knüpfte sie an. »Daß er unter dem Gefühl eines Verbrechens gelitten habe, auch wenn er nicht wußte, was es war. Dieses ›Gefühl eines Verbrechens‹, das ihn ja erst recht zum Puritaner machte, scheint sich durch die ganze Affäre zu ziehen; aber ehrlich gesagt, verstehe ich bis jetzt nicht, wie es mit allem anderen zusammenhängt. Können Sie uns das erklären?«
Dr. Fell steckte die leere Pfeife in den Mund und zog daran.
»Die Erklärung«, antwortete er, »hat mit einer krummen Türangel zu tun und der weißen Tür, die daran hing. Das ist das Geheimnis, um das dieser ganze Fall sich dreht. Wir werden gleich darauf kommen.
Jeder von beiden hatte also das Geheimnis des anderen wie einen Dolch im Ärmel und tat dabei doch vor aller Welt, selbst vor dem anderen, als sei alles in schönster Ordnung. Sie waren gerade einmal drei Monate verheiratet, als Victoria Daly umkam, ein Opfer des geheimen Hexenkults. Wir können uns ausmalen, was Farnleigh damals empfand. Könnte ich doch nur einmal … wurde für ihn zum Fetisch, zum Refrain. Und solange er nicht konnte – nämlich aller Welt sagen, was er wußte –, war sie in Sicherheit. Über ein Jahr lang war sie in Sicherheit.
Doch dann kam der Donnerschlag – ein anderer erschien, der Titel und Besitz für sich beanspruchte. Worauf ihr blitzschnell eine Reihe von Dingen aufging, so klar und logisch und zwingend wie das ABC.
Er war, wie sie wußte, nicht der wahre Erbe.
Es schien wahrscheinlich, daß der Herausforderer sich als der wahre Erbe erweisen würde.
Wenn der Herausforderer sich als der wahre Erbe erwies, würde ihr Mann sein Vermögen verlieren.
Wenn er sein Vermögen verlor, gab es für ihn keinen Grund mehr, nicht zu sagen, was er über sie wußte, und er würde nicht zögern.
Also mußte er sterben.
So einfach ist das, meine Damen und Herren, und ebenso gewiß.«
Kennet Murray regte sich in seinem Sessel und zog die Hand fort, mit der er sich die Augen beschirmt hatte.
»Einen Augenblick, Doktor. Das wäre also ein lange vorbereitetes Verbrechen gewesen?«
»Nein!« rief Dr. Fell aus tiefster Überzeugung. »Nein, nein, nein! Das muß ich ausdrücklich betonen. Die Tat war brillant ausgedacht und ausgeführt, doch beides geschah erst vorgestern abend, beides binnen Sekunden. Es war genauso spontan wie jene andere Tat tags darauf, als der Automat die Treppe hinuntergestoßen wurde.
Lassen Sie mich erklären. Als sie erfuhr, daß es einen Herausforderer gab (und zwar früher, würde ich vermuten, als sie zugab), da wird sie davon ausgegangen sein, daß sie vorerst nichts zu befürchten habe. Ihr Mann würde die Ansprüche des anderen bestreiten; sie mußte ihn dazu bringen, daß er sie bestritt, und – so ironisch das war – für ihn kämpfen. Sie konnte sich nicht wünschen, daß er seinen Besitz verlor, so sehr sie ihn auch haßte, sondern mußte sich jetzt enger an ihn halten denn je. Es war gut denkbar, daß er sich vor Gericht durchsetzen konnte, denn das Gesetz steht immer eher auf seiten des Inhabers eines Titels, und die Gerichte sind bei solchen Besitzstreitigkeiten sehr vorsichtig. Und auf alle Fälle würde das Verfahren sich in die Länge ziehen, so daß sie Zeit hatte, in Ruhe zu überlegen.
Was sie nicht wußte – weil die Gegenseite das Geheimnis bis vorgestern abend sorgfältig hütete –, war, daß es die Fingerabdrücke gab. Hier war nun plötzlich ein eindeutiger Beweis. Hier war Gewißheit. Mit diesem mörderischen Fingerabdruck ließ sich die ganze Angelegenheit binnen einer halben Stunde klären. Sie kannte ihren Mann gut genug, seine unbeirrbar ehrliche Art, und wußte, daß er seinen Betrug zugeben würde, sobald er erst einmal selbst überzeugt war: sobald er in seinem tiefsten Innersten wußte, daß er nicht John Farnleigh war.
Als diese Bombe platzte, begriff sie sofort, in welch unmittelbarer Gefahr sie sich befand. Erinnern Sie sich an Farnleighs Stimmung an jenem Abend? Wenn Sie es mir korrekt beschrieben haben, steckte doch hinter jedem Wort, das er sprach, hinter jeder Bewegung, die er machte, der eine allesbeherrschende, unerbittliche Gedanke: ›Hier hätten wir also den Test. Wenn ich ihn bestehe, will ich es gern zufrieden sein. Wenn nicht, dann bleibt mir ein Trost, der beinahe alles andere aufwiegt: Ich kann endlich sagen, wer meine Frau wirklich ist.‹ – Ahemm, ja. Habe ich seine Stimmung korrekt gedeutet?«
»Ja«, gab Page zu.
»Deshalb griff sie zu verzweifelten Mitteln. Sie mußte unverzüglich handeln. Sofort und auf der Stelle! Sie mußte handeln, bevor der Vergleich der Fingerabdrücke abgeschlossen war. Sie schritt zur Tat – wie gestern auf dem Dachboden, als sie schon zum Schlag nach mir ausholte, bevor die Worte noch aus meinem Munde waren –, sie zögerte keine Sekunde und tötete ihren Mann.«
Burrows, weiß im Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, hatte vergebens auf den Tisch gehämmert, um zur Ordnung zu rufen. Doch nun sprach er wieder mit einem Funken Hoffnung.
»Offenbar gibt es nichts, was Sie aufhalten kann«, sagte Burrows. »Wenn die Polizei es nicht tut, bleibt mir nur der Protest. Aber jetzt, habe ich das Gefühl, sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem schöne Theorien allein nicht mehr ausreichen. Ich will nicht weiter darauf eingehen, daß Sie keinerlei Beweise haben. Doch solange Sie uns nicht erklären, wie Sir John ermordet wurde – allein, vergessen Sie das nicht, mit keiner Menschenseele in der Nähe – solange Sie das nicht beweisen können …« Die Worte blieben ihm im Halse stecken; er stammelte nur noch und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Und das, Doktor, können Sie nicht.«
»O doch«, sagte Dr. Fell. »Das kann ich.
Das erste Indiz, das uns wirklich weiterhalf, bekamen wir gestern bei der gerichtlichen Untersuchung«, fuhr er nachdenklich fort. »Wir können froh sein, daß alles im Protokoll steht. Danach mußten wir nur noch ein paar Beweisstücke aufheben, die schon die ganze Zeit vor unserer Nase gelegen hatten. Wir bekommen den entscheidenden Hinweis zu hören. Wir gehen ihm nach. Wir bringen alles, was wir wissen, in die richtige Reihenfolge. Wir überreichen es dem Staatsanwalt. Wir ziehen den Riegel zurück« – er machte eine Handbewegung –, »und die Falltür am Galgen öffnet sich.«
»Den Beweis haben Sie bei der Verhandlung zu hören bekommen?« fragte Murray und starrte ihn an. »Von wem?«
»Von Knowles«, sagte Dr. Fell.
Der Butler stieß einen wehklagenden Laut aus. Er trat einen Schritt vor und schlug sich die Hände vors Gesicht. Aber er sagte nichts.
Dr. Fell betrachtete ihn.
»Oh, ich weiß«, brummte der Doktor. »Das ist bittere Medizin. Aber es läßt sich nicht leugnen. Es ist eine ironische Wendung. Aber wir können nichts machen. Knowles, mein Alter, Sie vergöttern diese Frau. Sie haben sie gehätschelt wie ein Kind. Doch durch Ihre Zeugenaussage, durch Ihr aufrechtes Streben, uns die ganze Wahrheit zu sagen, haben Sie sie in aller Unschuld so zuverlässig gehängt, als hätten Sie ihr selbst die Schlinge umgelegt.«
Noch immer ließ er den Butler nicht aus dem Blick.
»Ich darf wohl sagen«, fuhr er in aller Ruhe fort, »daß manche glaubten, Sie hätten gelogen. Ich hingegen wußte, daß Sie nicht gelogen hatten. Sie sagten, Sir John Farnleigh habe sich selbst das Leben genommen. Als Beweis führten Sie an – es war etwas, an das Sie sich in Ihrem Unbewußten erinnerten –, daß Sie sahen, wie er das Messer von sich warf. Sie sagen, Sie hätten das Messer in der Luft gesehen.
Ich wußte, daß Sie nicht logen, denn an genau derselben Stelle hatten Sie auch am Vortag schon Ihre Schwierigkeiten gehabt, als Sie mit Inspektor Elliot und mir darüber sprachen. Sie hatten gezögert. Sie hatten versucht, etwas zu fassen, woran Sie sich nur noch dunkel erinnerten. Als Elliot es genauer wissen wollte, wurden Sie unsicher. ›Das käme darauf an, wie groß das Messer war‹, sagten Sie. ›Und es gibt Fledermäuse in dem Garten. Und manchmal erkennt man einen Tennisball erst, wenn er …‹ Auf die Formulierung kommt es an. Wenn wir das, was Sie wirklich gesagt haben, mit anderen Worten ausdrücken, heißt es: Etwa zur Tatzeit sahen Sie etwas durch die Luft fliegen. Was Sie in Ihrem Unbewußten verwirrte, das war, daß Sie es unmittelbar vor dem Mord sahen und nicht danach.«
Er breitete die Hände aus.
»Eine kapitale Fledermaus!« rief Burrows mit schrillem Sarkasmus. »Ein noch kapitalerer Tennisball!«
»Etwas wie ein Tennisball«, stimmte Dr. Fell mit ernster Miene zu. »Nur kleiner natürlich. Viel kleiner. Darauf kommen wir noch zurück. Lassen Sie uns nun überlegen, welcher Art die Wunden waren. Wir haben mancherlei Kommentar zu diesen Wunden gehört, durchweg ebenso ratlos wie mitfühlend. Mr. Murray hier fand, Sie seien wie die Wunden von Reißzähnen oder Krallen; für seine Begriffe konnten sie nicht von dem blutverschmierten Taschenmesser stammen, das sich in der Hecke fand. Selbst Patrick Gore, wenn Sie mir seine Reaktion korrekt beschrieben haben, war dieser Ansicht. Was sagte er? ›So etwas habe ich nicht mehr gesehen, seit ein Leopard Barney Poole zerfetzte, den besten Dompteur westlich des Mississippi.‹
Auch an anderer Stelle unserer Ermittlungen begegnet uns dies Krallenmotiv. Bemerkenswert vorsichtig und auffällig suggestiv finden wir es in Dr. Kings medizinischem Gutachten bei der Verhandlung. Ich habe es mir aufgeschrieben. Ahemm! Hah! Lassen Sie mich sehen:
›Ich fand drei nicht allzu tiefe Wunden‹, sagt der Arzt.« Hier sah Dr. Fell auf und betrachtete seine Zuhörerschaft mit strengem Blick. »›Drei nicht allzu tiefe Wunden, beginnend auf der linken Seite der Kehle und endend unter dem rechten Kieferknochen. Sie verliefen in einer leichten Aufwärtsbewegung, zwei davon kreuzten einander.‹ Und gleich darauf und noch entlarvender: ›Das Gewebe zeigte starke Risse.‹
So, so, starke Risse. Das wäre doch wirklich seltsam, wäre die Tatwaffe das außerordentlich scharfe (wenn auch schartige) Messer gewesen, das Inspektor Elliot Ihnen hier zeigt. Diese Risse am Hals, die lassen eher an eine Waffe denken, die …
Nun, lassen Sie uns überlegen. Lassen Sie uns noch einmal zu dem Krallenmotiv zurückkehren und darüber nachdenken. Was ist das Typische an Wunden, die durch Krallen verursacht werden, und lassen sich diese typischen Merkmale an den Wunden finden, die zum Tod von Sir John Farnleigh führten? Das Typische an Krallenspuren ist dies:
1. Sie sind nicht tief.
2. Sie werden durch scharfe Spitzen verursacht, die reißen, kratzen und zerren, aber nicht schneiden.
3. Sie entstehen nicht nacheinander, sondern alle zur gleichen Zeit.
Alle drei Punkte treffen auf die Wunden, die wir an Farnleighs Hals fanden, zu. Lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf die recht merkwürdige Aussage lenken, die Dr. King bei der gerichtlichen Untersuchung zu Protokoll gab. Er hat nicht wirklich gelogen, doch offensichtlich setzt er alles daran und redet wie ein Wasserfall, daß Farnleighs Tod als Selbstmord dastehen soll! Warum? Weil er genau wie Knowles in Molly Farnleigh das gehätschelte Kind sieht, die Tochter seines ältesten Freundes, die ihn ›Onkel Ned‹ nennt – und deren Charaktereigenschaften er vermutlich kennt. Doch anders als Knowles deckt er sie; er tut alles, damit sie nicht am Ende am Galgen baumelt.«
Knowles breitete die Hände in einer flehenden Geste; der Schweiß stand ihm auf der Stirn, doch noch immer sprach er nicht.
Dr. Fell fuhr fort.
»Die Grundidee zu unserer Lösung des Falles gab uns schon vor einer ganzen Weile Mr. Murray ein, als er davon sprach, daß etwas durch die Luft geflogen sei, und die entscheidende Frage stellte, warum der Täter das Messer nicht in den Teich geworfen hatte, wenn es die echte Tatwaffe war. Und was fanden wir nun? Wir stellten fest, daß Farnleigh in dem Dämmerlicht von etwas getroffen wurde, das auf ihn zugeflogen kam; etwas, das kleiner war als ein Tennisball. Es muß etwas gewesen sein, was mit Krallen oder Spitzen versehen war und Wunden hinterließ, die aussahen wie Krallenspuren …«
Nathaniel Burrows kicherte leise.
»Die wundersamen fliegenden Krallen«, spottete er. »Wirklich, Doktor! Und nun werden Sie uns erklären, was diese fliegenden Krallen waren?«
»Besser noch«, sagte Dr. Fell. »Ich zeige sie Ihnen. Sie haben sie gestern selbst gesehen.«
Aus seiner geräumigen Jackentasche zog er etwas hervor, das in ein großes rotgemustertes Taschentuch gewickelt war. Er packte es aus, vorsichtig, damit die rasiermesserscharfen Spitzen nicht in dem Tuch hängenblieben, und zeigte ein Objekt, das Page mit einem Schock wiedererkannte, auch wenn er noch nicht wußte, was es damit auf sich hatte. Es war eines der Stücke, die Dr. Fell in der hölzernen Schachtel oben im Bücherkabinett gefunden hatte. Es war (um es genauer zu beschreiben) eine kleine, doch schwere Bleikugel, in die auf einer Seite in gleichmäßigen Abständen vier sehr große Haken eingelassen waren, in der Art jener Haken, mit denen man nach mörderischen Tiefseefischen fischt.
»Haben Sie sich gewundert, wozu dieser merkwürdige Gegenstand wohl dasein mag?« fragte der Doktor freundlich. »Haben Sie überlegt, ob es irgendwo einen Menschen gibt, der damit etwas anfangen kann? Aber unter den Zigeunern Mitteleuropas – Zigeuner, wohlgemerkt – ist es eine wirksame und gefährliche Waffe. Können Sie mir Großens Kriminalistik reichen, Inspektor?«
Elliot öffnete seinen Aktenkoffer und nahm ein flaches, großformatiges Buch mit grauem Umschlag heraus.
»Hier«, sagte Dr. Fell und schlug den Band auf, »haben wir das umfassendste Lehrbuch der Kriminalistik, das je geschrieben wurde. * [* Criminal Investigation: A Practical Textbook for Magistrates, Police Officers, and Lawyers, Adapted from the System der Kriminalistik of Dr. Hans Groß, Professor of Criminology in the University of Prague, by John Adam, M. A., Barrister-at-Law, and j. Collyer Adam, Barrister-at-Law; edited Betty Norman Kendal, Assistant Commissioner, Criminal Investigation Dept., Metropolitan Police. (London, Sweet & Maxwell, 1934.)] Ich habe es gestern abend noch aus London kommen lassen, um darin nachzuschlagen. Sie finden eine ausführliche Beschreibung dieser Bleikugel auf den Seiten 249/50.
Die Zigeuner benutzen sie als Wurfgeschoß, und diese Kugel steckt auch hinter manchen ihrer geheimnisvollen, geradezu übernatürlichen Diebereien. Am anderen Ende der Kugel wird eine leichte, doch sehr kräftige Angelschnur befestigt. Die Kugel wird ausgeworfen, und in welchem Winkel sie das angepeilte Objekt auch trifft – einer der Haken wird immer fassen, wie ein Schiffsanker. Das Blei sorgt für das notwendige Gewicht zum Auswerfen, und mit der Leine läßt sich die Kugel samt Beute zurückholen. Ich lese Ihnen einmal vor, was Groß darüber sagt:
›Die Zigeuner, vor allem die Kinder, erwerben in der Wurftechnik ein bemerkenswertes Geschick. In allen Rassen vergnügen Kinder sich mit Steinewerfen, doch geht es in der Regel darum, sie so weit wie möglich zu schleudern. Nicht so ein junger Zigeuner; er sucht sich einen Vorrat von etwa nußgroßen Steinen zusammen und wählt dann in einem Abstand von zehn bis zwanzig Schritt ein Ziel aus, etwa einen größeren Stein, ein Stück Holz, ein altes Tuch, und darauf schleudert er dann seinen Vorrat von Wurfgeschossen … Das tut er stundenlang, und binnen kurzem erwirbt er eine solche Kunstfertigkeit in dieser Übung, daß er nichts mehr verfehlt, was größer ist als eine Hand. Wenn er es soweit gebracht hat, bekommt er seinen ersten Wurfhaken …
Die Lehrzeit des jungen Zigeuners ist vorüber, wenn er einen Lumpen treffen und zurückholen kann, der zwischen die Zweige eines Baumes gehängt wird, zwischen denen hindurch er seinen Haken werfen muß.‹
In einen Baum, nota bene! Auf diese Weise kann er mit bemerkenswertem Geschick Wäsche, Kleider und dergleichen stehlen, selbst durch vergitterte Fenster oder aus einem ummauerten Hof. Und Sie können sich vorstellen, welche gräßliche Wirkung ein solcher Wurfhaken tun wird, wenn er ihn als Waffe benutzt. Ein solcher Haken kann einem Mann die Kehle aufreißen, und dann holt der Werfer ihn an seiner Schnur zurück …«
Murray stieß eine Art Stöhnen aus. Burrows sagte nichts.
»Hmpf. Tja, nun haben wir ja von Molly Farnleighs geradezu verblüffendem Wurfgeschick gehört, einer Kunst, die sie bei den Zigeunern erlernt hatte. Miss Dane hat uns davon erzählt. Wir kennen ihr ungestümes Temperament und die Plötzlichkeit, mit der sie zuschlagen konnte.
Wo befand sich Molly Farnleigh denn nun zum Zeitpunkt des Mordes? Das brauche ich Ihnen kaum zu sagen: Sie stand auf dem Balkon ihres Schlafzimmers mit Blick auf den Teich. Alle Achtung, direkt über dem Teich; und ihr Schlafzimmer liegt, wie wir wissen, über dem Eßzimmer. Wie Welkyn im Raum unter ihr war auch sie nur sieben oder acht Meter vom Teich fort, und sie hatte noch einen erhöhten Standpunkt dazu. Zu weit oben, sagen Sie? Ganz und gar nicht. Knowles hier – was würden wir ohne all seine Hinweise tun, wie würden wir sie ohne ihn je an den Galgen bringen! – Knowles hat uns verraten, daß der neue Flügel ›ja kaum mehr als ein Puppenhaus‹ ist, und der Balkon dürfte höchstens drei Meter über dem Garten liegen.
Da hätten wir sie also im Dunkeln, ihr Mann steht am Teich, ihr hoher Standpunkt gibt ihrem Arm Kraft für den Wurf. Das Zimmer hinter ihr ist dunkel – das hat sie selbst gesagt. Die Zofe ist im Raum nebenan. Was brachte sie dazu, daß sie in dieser Sekunde die tödliche Entscheidung fällte? Flüsterte sie etwas, daß ihr Mann aufblickte? Oder kam sie überhaupt erst darauf, weil er ohnehin schon zu einem Stern aufblickte, den langen Hals gereckt?«
»Zu einem Stern?« flüsterte Madeline entsetzt.
»Ihrem Stern, Miss Dane«, sagte Dr. Fell feierlich. »Ich habe mich mit allen, die mit diesem Fall zu tun haben, lange unterhalten; und ich habe den Eindruck, es war Ihr Stern.«
Wieder erinnerte sich Page. Er hatte ja selbst an »Madelines Stern« gedacht, als er in der Mordnacht durch den Garten und am Teich vorüberging: der einzelne Stern im Osten, der, für den sie einen poetischen Namen hatte und den man vom Teich aus gerade eben über dem äußersten Schornstein des neuen Flügels sehen konnte, wenn man den Kopf reckte …
»O ja, sie haßte Sie. Dafür hatte die Aufmerksamkeit, die ihr Mann Ihnen zollte, gesorgt. Vielleicht war es der Anblick, wie er dastand und zu Ihrem Stern emporblickte, wie er vor ihr stand und sie doch nicht sah – vielleicht war es das, was den Mörder in ihr zuschlagen ließ. In der einen Hand hatte sie die Leine, in der anderen die Bleikugel, und sie hob ihre Hand und warf.
Nun möchte ich, meine Herren, Ihr Augenmerk noch auf das seltsame, absonderliche Benehmen dieses armen Teufels lenken, als das Geschoß ihn traf. Alle haben ihre Mühe mit dem Versuch gehabt, es zu beschreiben. Das Scharren, das Würgen, das Zucken des Körpers, bevor er vornüber ins Wasser gerissen wurde – woran hat Sie das erinnert? Ah! Jetzt kommen Sie darauf! Gar nicht zu übersehen, nicht wahr? An einen Fisch an der Angel – und genau das war er ja auch. Die Haken drangen nicht zu tief ein, dafür sorgte sie schon. Es fand etwas wie ein Kampf statt, darin waren sich alle einig. Die Wunden verliefen offensichtlich von links nach rechts in einer Aufwärtsbewegung, als er aus dem Gleichgewicht gerissen wurde; und in den Teich stürzte er (Sie erinnern sich?) mit dem Kopf ein wenig in Richtung des neuen Flügels gewandt. Als er im Wasser lag, riß sie die Waffe heraus und zog sie wieder hoch.«
Mit grimmiger Miene hielt Dr. Fell die Bleikugel in die Höhe.
»Und was sagt unser Schmuckstück?
Natürlich sind keine Blutspuren daran. Es landete im Wasser und wurde sogleich wieder reingewaschen. Sie werden sich erinnern, daß das Wasser im Teich so sehr in Bewegung kam (was nur natürlich ist, bei seinen Zuckungen), daß es ein gutes Stück über den Sandboden schwappte. Eine Spur hinterließ die Kugel allerdings doch – und zwar ein Rascheln im Gebüsch.
Überlegen Sie. Wer war der einzige, der dies merkwürdige Rascheln hörte? Welkyn im Eßzimmer darunter: der einzige, der nahe genug dabei war. Was dieses Rascheln war, war eine interessante Frage. Ganz offensichtlich war es nicht von einem Menschen verursacht. Wenn Sie einmal versuchen, durch eine Eibenhecke dieser Dicke zu kriechen (wie Sergeant Burton feststellen konnte, als er später das Messer fand, das als falsche Fährte dort hineingesteckt worden war – das Messer, auf dem praktischerweise die Fingerabdrücke des Toten schon waren), wird Ihnen aufgehen, was ich meine.
Ich will Ihnen weitere Details ersparen. Doch in groben Zügen hätte ich Ihnen damit Vorgeschichte und Ausführung eines der abscheulichsten Morde geschildert, die mir je begegnet sind. Es war die Eingebung des Augenblicks, der reine Haß; und er gelang. Von jeher hatte sie nach Menschen gefischt, und auch dieser ging ihr an die Angel. Natürlich wird sie uns nicht entkommen. Der erste Polizist, dem sie begegnet, wird sie sich greifen. Und sie wird am Galgen baumeln. Und alles zum Wohle der Gerechtigkeit und weil Knowles die glückliche Idee hatte, uns vom Flug eines Tennisballs in der Abenddämmerung zu erzählen.«
Knowles machte eine Handbewegung wie ein Winken, als wolle er einem Bus ein Zeichen geben. Sein Gesicht war wie Ölpapier, und Page fürchtete, daß er jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Doch noch immer brachte er kein Wort hervor.
Burrows, die Augen glänzend, faßte neuen Mut.
»Es ist raffiniert«, sagte er. »Es ist clever. Aber es ist von vorn bis hinten erfunden und erlogen, und ich werde dafür sorgen, daß Sie vor Gericht nicht damit durchkommen. Es ist die reine Phantasie, und Sie wissen es. Schließlich haben andere Leute auch Dinge geschworen. Welkyn zum Beispiel! Sie können nicht forterklären, was er gesagt hat! Welkyn hat jemanden im Garten gesehen! Das hat er ausgesagt! Und was halten Sie dagegen?«
Page sah mit Besorgnis, daß auch Dr. Fell ein wenig bleich aussah. Mit Mühe arbeitete Dr. Fell sich hoch. Dann stand er turmhoch über ihnen und machte eine Geste in Richtung Tür.
»Fragen Sie ihn doch selbst«, antwortete er. »Er steht gleich hinter Ihnen. Fragen Sie ihn. Fragen Sie ihn, ob er sich noch so sicher ist, daß er wirklich etwas im Garten gesehen hat.«
Alle sahen sich um. Niemand konnte sagen, wie lange Welkyn in der Tür gestanden hatte. Er war makellos und adrett wie immer, doch das zu groß geratene Engelsgesicht machte einen verlegenen Eindruck, und er zog sich an der Unterlippe.
»Ähm …« sagte er und räusperte sich.
»Nur heraus damit«, donnerte Dr. Fell. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Und nun verraten Sie es uns: Sind Sie sicher, daß da etwas im Garten war, was Sie ansah? Sind Sie sicher, daß überhaupt etwas dort war?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Welkyn.
»Und?«
»Ich – ähm –« Er hielt inne. »Ich möchte Sie bitten, in Gedanken noch einmal zum gestrigen Tag zurückzukehren, meine Herren. Sie gingen gemeinschaftlich hinauf auf den Dachboden und studierten, wie ich höre, gewisse kuriose Artikel, die Sie dort fanden. Leider begleitete ich Sie nicht nach oben. Ich sah diese Artikel erst heute, als Dr. Fell mich auf sie aufmerksam machte. Ich – ähm – beziehe mich auf die schwarze janusgesichtige Maske, die Sie offenbar dort in einer Holzkiste fanden.« Wiederum räusperte er sich.
»Das ist eine Verschwörung«, schrie Burrows und blickte gehetzt nach links und rechts wie ein Mann, der nicht weiß, wie er über eine belebte Straße kommen soll. »Damit kommen Sie nicht durch. Diese Sache ist ein Komplott, und Sie haben sich alle miteinander verschworen …«
»Würden Sie bitte die Güte haben, Sir, und mich zu Ende sprechen lassen«, erwiderte Welkyn streng. »Ich habe zu Protokoll gegeben, daß ich ein Gesicht sah, das mich durch die untere Scheibe der verglasten Tür ansah. Ich weiß jetzt, was es war. Es war die Janusmaske. Ich erkannte sie sofort wieder, als ich sie sah. Ich bin, einer Anregung Dr. Fells folgend, zu dem Schluß gekommen, daß die unglückselige Lady Farnleigh, um mir die Gegenwart einer Person im Garten zu suggerieren, lediglich diese Maske an einem zweiten Stück Angelschnur hinunterließ und sie aus Versehen ein wenig zu tief hielt, so daß …«
Da fand Knowles endlich seine Sprache wieder.
Er kam an den Tisch und hielt sich daran fest. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, und zunächst brachte er vor Schluchzen nur unzusammenhängende Laute heraus. Als dann die Worte kamen, schockierten sie seine Zuhörer, als hätte ein Möbelstück zu sprechen begonnen.
»Das ist eine hundsgemeine Lüge«, schluchzte Knowles.
Es war mitleiderregend, wie der verstörte alte Mann mit der Faust auf den Tisch schlug.
»Mr. Burrows hat ganz recht. Lügen und Lügen und nichts als Lügen. Und alle stecken unter einer Decke.« Seine Stimme wurde schrill und bebte vor Empörung, und er hämmerte wie wild auf den Tisch. »Sie haben sich alle gegen sie gestellt, alle zusammen. Sie lassen ihr nicht die kleinste Chance. Was ist denn schon dabei, wenn sie ein bißchen über die Stränge geschlagen hat? Was ist denn dabei, wenn sie die Bücher gelesen hat und sich vielleicht mit einem Burschen oder zweien eingelassen? Was ist denn der Unterschied zu den Spielen, die sie schon als Kinder gespielt haben? Das sind doch alles große Kinder. Sie wollte niemandem etwas zuleide tun. Das hat sie nie gewollt. Und Sie werden sie nicht hängen. Bei Gott, das werden Sie nicht. Keiner tut meiner jungen Lady etwas zuleide, dafür sorge ich.«
Er hob den zitternden Zeigefinger.
»Ich sorge dafür, daß Sie nicht durchkommen mit Ihren Hirngespinsten und Phantastereien. Sie hat diesen armseligen Bettler nicht umgebracht, der herkam und Master Johnny sein wollte. Master Johnny, daß ich nicht lache! Der Bettler ein Farnleigh? Der Bettler? Der hat bekommen, was er verdiente, und es tut mir nur leid, daß man ihm nicht noch einmal die Kehle durchschneiden kann. Aus dem Schweinestall kam der Kerl, da kam er her. Aber was kümmert mich der. Sie rühren mir meine junge Lady nicht an, das können Sie mir glauben. Sie hat ihn nicht umgebracht, nie im Leben hat sie ihn umgebracht, und das kann ich beweisen.«
In dem vollkommenen Schweigen, das darauf eintrat, hörten sie das Tocken von Dr. Fells Stock auf dem Fußboden, seinen schnaufenden Atem, als er hinüber zu Knowles ging und ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Ich weiß, daß sie es nicht war«, sagte er sanft.
Knowles starrte ihn mit großen Augen an.
»Soll das heißen«, rief Burrows, »Sie haben hier gesessen und uns dieses Märchen aufgetischt, nur um …«
»Glauben Sie etwa, mir macht das Spaß?« entgegnete Dr. Fell. »Glauben Sie, ich habe auch nur ein einziges Wort gern gesagt oder einen der Schritte, die ich tun mußte, gern getan? Alles, was ich Ihnen über diese Frau und ihren Hexenkult und ihr Verhältnis zu Farnleigh gesagt habe, ist die Wahrheit. Alles. Die Idee zum Mord und der Plan stammen von ihr. Der einzige Unterschied ist, daß sie nicht selbst das Messer führte. Sie war es nicht, die den Automaten wiederbelebte, und sie war es auch nicht, die Sie im Garten sahen. Allerdings« – die Hand auf Knowles’ Schulter faßte kräftiger zu – »wissen Sie ja, wie es bei Gericht zugeht. Sie wissen, wie es ist, wenn die Mühlen der Justiz erst einmal in Gang kommen und wie leicht sie einen Menschen zermalmen können. Und in Gang gesetzt habe ich sie nun. Lady Farnleigh wird am höchsten Galgen baumeln, wenn Sie uns nicht die Wahrheit sagen. Wissen Sie, wer den Mord begangen hat?«
»Natürlich weiß ich das«, knurrte Knowles. »Ha!«
»Und wer war der Mörder?«
»Das ist doch nicht schwer«, schnaubte Knowles. »Und der erbärmliche Bettler hat nur bekommen, was er verdiente. Der Mörder war …«