Sie legten das Päckchen auf Pages Schreibtisch und schlugen es auf, und darin kam die Tatwaffe hervor. Es war ein Taschenmesser; ein altmodisches Taschenmesser, wie es die Jungen früher gehabt hatten, auch wenn es unter den jetzigen Umständen groß und gefährlich aussah.
Neben der Hauptklinge – die ausgeklappt war – enthielt der hölzerne Griff noch zwei kleinere, einen Korkenzieher sowie ein Werkzeug, das früher als nützlich galt, um Steine aus Pferdehufen zu entfernen. In Pages Erinnerung brachte es die Tage zurück, als der Besitz eines so prachtvollen Messers das sichere Zeichen gewesen war, daß man schon fast ein Mann war – ein Abenteurer, beinahe ein Indianer auf dem Kriegspfad. Das Messer war alt. Die Hauptklinge, etwa zwölf Zentimeter lang, hatte zwei große zackige Scharten, und der Stahl war stellenweise rauh, aber die Schneide war nicht verrostet, und sie war scharf wie ein Rasiermesser. Doch nun konnte niemand dabei mehr an Indianerspielen denken. Von der Spitze bis zum Heft war die Klinge vom Blut befleckt, das noch kaum getrocknet war.
Keinem war wohl zumute, als sie es betrachteten. Inspektor Elliot richtete sich auf.
»Wo haben Sie es gefunden?«
»Tief in einer der Hecken; ich würde sagen« – Sergeant Burton schloß ein Auge halb, als ob er dann besser schätzen könnte – »etwa drei Meter von dem Seerosenteich.«
»In welcher Richtung?«
»Nach links hin, wenn man mit dem Rücken zum Haus steht. Zu der hohen Hecke, die den Garten nach Süden abschließt. Vom Teich aus ein wenig zurück in Richtung Haus. Sie müssen wissen, Sir«, erklärte der Sergeant bedächtig, »es war das reine Glück, daß ich es gefunden habe. Wir hätten einen ganzen Monat suchen können und hätten es nicht gesehen. Da hätten wir schon die Hecken auseinandernehmen müssen. Diese Eiben, die sind so dicht, da sieht keiner, was drin ist. Aber der Regen hat uns geholfen. Ich stand an der Hecke und bin mit der Hand obendrüber gefahren – einfach so, verstehen Sie, weil ich überlegt habe, wo ich anfangen soll. Die Hecke war naß, und plötzlich hatte ich einen kleinen rötlichbraunen Fleck auf der Hand. Oben auf der glattgeschnittenen Hecke hatte es ein kleines bißchen Blut hinterlassen, da wo es hineingefallen war. Von oben hat man keine Lücke gesehen. Ich hab’s rausgeholt, und wie Sie sehen, war es innen in der Hecke noch trocken.«
»Sie meinen, jemand hat es von oben in die Hecke gesteckt?«
Sergeant Burton zögerte.
»Ja, wahrscheinlich schon. Es steckte gerade drin, die Spitze nach unten. Andererseits – das ist ein schönes, schweres Messer, Sir. Die Klinge ist genauso schwer wie der Griff. Wenn jemand es fortgeworfen hätte oder hoch in die Luft, dann wäre es genau so heruntergekommen, mit der Klinge nach unten.«
Alle sahen, mit welcher Miene Sergeant Burton das sagte. Dr. Fell, der mit eigenen Gedanken beschäftigt schien, blickte auf und reckte auf eine herausfordernde Weise seine dicke Unterlippe vor.
»Hm«, sagte er. »›Wenn jemand es fortgeworfen hätte.‹ Ein Selbstmörder, meinen Sie?«
Die Runzeln auf Burtons Stirn änderten sich ein wenig, aber er blieb stumm.
»Auf alle Fälle ist es mit Sicherheit das Messer, das wir gesucht haben«, sagte Inspektor Elliot. »Zwei von den drei Wunden, die der Bursche hatte, gefielen mir ganz und gar nicht. Es sah aus, als habe jemand es darauf angelegt, ihn übel zuzurichten. Aber wenn man sich das hier ansieht – diese Scharten sind die Erklärung, darauf würde ich Gift nehmen. Wollten Sie etwas sagen?«
»Wegen Miss Dane und dem alten Mr. Knowles, Sir …«
»Stimmt, lassen Sie sie hereinkommen. Gute Arbeit, Sergeant; verdammt gute Arbeit. Als nächstes können Sie nachhören, ob der Doktor schon Neuigkeiten für mich hat.«
Dr. Fell und der Inspektor erörterten diesen neuen Fund, doch Page nahm sich im Flur einen Regenschirm und ging nach draußen, um Madeline ins Haus zu holen.
Weder Regen noch Schlamm konnten Madeline etwas anhaben, und ebensowenig ihrer stillvergnügten Art. Sie hatte eine Nylon-Regenhaut mit Kapuze an und sah aus wie in Zellophan verpackt. Ihr blondes Haar hatte sie an den Seiten zu einer Art Locken eingedreht. Ihr Teint war hell, doch frisch, Nase und Mund waren ein wenig breit, die Augen ein wenig schmal; und doch war die Erscheinung die einer Schönheit, und das um so mehr, je länger man sie ansah. Denn man hatte nie das Gefühl, daß sie es darauf anlegte, bemerkt zu werden; eher schien sie wie jemand, der zum guten Zuhörer geboren war. Aus tiefblauen Augen blickte sie ernsthaft in die Welt. Sie hatte ihre Rundungen – Page schämte sich immer, wie sehr er darauf achtete –, doch trotzdem machte sie einen zerbrechlichen Eindruck. Sie nahm den Arm, den er ihr reichte, und lächelte ihm unsicher zu, als er ihr, in der anderen Hand den Regenschirm, aus dem Wagen half.
»Ich bin wirklich froh, daß es bei dir zu Hause ist«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. »Irgendwie macht das die Sache leichter. Aber ich wußte wirklich nicht, was ich machen sollte, und es schien mir das Beste …«
Sie warf einen Blick zurück auf den wackeren Knowles, der eben aus dem Wagen stieg. Selbst im Regen hatte Knowles seinen Bowlerhut unter dem Arm und stapfte durch den Schlamm wie ein Pinguin.
Page führte Madeline ins Arbeitszimmer und stellte sie stolz den anderen vor. Er war gespannt, was Dr. Fell zu ihr sagen würde. Und die Reaktion des Doktors war so erfreut, wie man sich das nur wünschen konnte. Er verneigte sich dermaßen vor ihr, daß man fürchten mußte, daß gleich mehrere Westenknöpfe absprängen, und es war, als seien hinter den Brillengläsern zwei Lichter angegangen. Mit einem Glucksen richtete er sich auf und nahm höchstpersönlich ihren Regenmantel entgegen, als sie sich setzte.
Inspektor Elliot war dafür um so geschäftsmäßiger und knapper. Er sprach wie ein Verkäufer hinter seinem Tresen.
»Nun, Miss Dane? Was kann ich für Sie tun?«
Madeline betrachtete ihre gefalteten Hände, dann blickte sie mit freundlich gerunzelter Stirn in die Runde, und zuletzt sah sie den Inspektor mit aller Offenheit an.
»Das ist nicht leicht zu erklären«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich herkommen mußte. Jemand mußte es tun, nach den schrecklichen Ereignissen von gestern abend. Aber ich möchte nicht, daß Knowles in Schwierigkeiten kommt. Das müssen Sie mir versprechen, Mr. Elliot …«
»Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, Miss Dane, dann sagen Sie es mir einfach«, entgegnete Elliot munter, »und niemand wird einen Nachteil davon haben.«
Sie quittierte es mit einem dankbaren Blick.
»Dann – dann sollten Sie es besser sagen, Knowles. Das, was Sie mir gesagt haben.«
»Hä-hä-hä«, sagte Dr. Fell. »Setzen Sie sich, guter Mann!«
»Nein danke, Sir, ich werde lieber …«
»Setzen Sie sich!« donnerte Dr. Fell.
Bevor er sich, womit der Doktor zu drohen schien, mit Gewalt auf einen Stuhl drücken ließ, gehorchte Knowles lieber. Knowles war ein aufrechter Mann: manchmal geradezu gefährlich aufrecht. Er hatte eins jener Gesichter, die in Augenblicken innerer Belastung rot und beinahe durchsichtig werden, als könne man ins Innere hineinsehen. Er setzte sich auf die Kante eines Stuhls und drehte den Hut in seinen Händen. Dr. Fell wollte ihn zu einer Zigarre überreden, aber diesmal lehnte er wirklich ab.
»Ob ich wohl offen sprechen darf, Sir?«
»Ich würde es dringend empfehlen«, erwiderte Elliot trocken. »Also?«
»Natürlich hätte ich gleich zu Lady Farnleigh gehen sollen, Sir. Aber das konnte ich nicht. Ich meine es wörtlich – ich brachte es einfach nicht über mich. Denn sehen Sie, Lady Farnleigh habe ich es zu verdanken, daß ich nach Colonel Mardales Tod nach Farnleigh Close kam. Ich glaube, ich kann ohne Übertreibung sagen, daß sie mir mehr bedeutet als jeder andere Mensch auf der Welt. Das schwöre ich bei Gott«, fügte Knowles mit einem plötzlichen Ausflug ins Pathetische hinzu, bei dem er sich leicht von seinem Stuhl erhob. Dann kehrte er zu seiner üblichen Manier zurück. »Ich kannte sie schon, als sie noch Miss Molly war, die Tochter des Doktors aus Sutton Chart. Ich wußte …«
Elliot nahm sich zusammen.
»Das können wir uns vorstellen. Aber weswegen sind Sie jetzt hierhergekommen?«
»Es geht um den verstorbenen Sir John Farnleigh, Sir«, sagte Knowles. »Es war Selbstmord. Ich habe es gesehen.«
In dem langen Schweigen war nur der nachlassende Regen zu hören. Page hörte seinen Ärmel rascheln, als er sich umblickte, um sich zu vergewissern, daß sie das blutbefleckte Taschenmesser verborgen hatten; er wollte nicht, daß Madeline es sah. Aber die Zeitung verdeckte es nun wieder. Inspektor Elliot, der schroffer wirkte denn je, blickte den Butler unverwandt an. Aus Dr. Fells Richtung kam der Anflug von Lauten, ein Summen oder Pfeifen mit geschlossenem Mund; er hatte eine Art, manchmal die Melodie von »Auprès de ma blonde« vor sich hinzubrummen – auch wenn es den Anschein hatte, als schlafe er halb.
»Sie haben gesehen, wie er sich umbrachte?«
»Ja, Sir. Ich hätte es Ihnen heute morgen sagen können, aber Sie haben mich ja nicht vernommen; und, um ehrlich zu sein, ich weiß bis jetzt nicht, ob es richtig gewesen wäre, wenn ich es Ihnen gesagt hätte. Es war so. Ich stand gestern abend am Fenster des Grünen Zimmers – das ist der Raum unmittelbar über der Bibliothek – und blickte hinaus in den Garten, als es geschah. Ich habe alles mit angesehen.«
(Das, fiel Page wieder ein, war die Wahrheit. Als er mit Burrows zu dem Toten hinübergegangen war, hatte er Knowles an einem Fenster oberhalb der Bibliothek stehen sehen.)
»Jeder wird Ihnen bestätigen, daß ich gute Augen habe«, erklärte Knowles stolz. Selbst seine Schuhe knarrten dabei vor Vehemenz. »Ich bin vierundsiebzig Jahre alt, und ich kann das Nummernschild an einem Automobil noch auf zwanzig Schritt Entfernung lesen. Gehen Sie ruhig einmal hinaus in den Garten und nehmen Sie einen Karton oder ein Schild oder sonst etwas mit kleinen Buchstaben …« Er nahm sich zusammen und lehnte sich wieder zurück.
»Sie haben gesehen, wie Sir John Farnleigh sich die Kehle durchschnitt?«
»Jawohl, Sir. So gut wie gesehen.«
»›So gut wie‹? Wie meinen Sie das?«
»Es war so, Sir. Ich konnte nicht wirklich sehen, wie er das – wie er es ansetzte –, denn er stand mit dem Rücken zu mir. Aber ich sah, wie er die Hände hob. Und es war keine Menschenseele in der Nähe. Denn bedenken Sie, ich sah ihn direkt von oben und konnte weit in den Garten blicken. Ich sah die freie Fläche rund um den Teich, gut anderthalb Meter Sandfläche zwischen dem Wasser und der nächsten Hecke. Niemand hätte in seine Nähe kommen können, ohne daß ich es bemerkt hätte. Er stand allein in dieser Fläche, das können Sie mir glauben, und wenn es das letzte ist, was ich sage.«
Noch immer kam aus Dr. Fells Richtung nur das träge, tonlose Pfeifen oder Brummen.
»›Tous les oiseaux du monde‹«, murmelte der Doktor, »›viennent y faire leurs nids …‹« Dann sprach er laut. »Warum sollte Sir John Farnleigh sich umbringen?«
Knowles holte tief Luft.
»Weil er nicht Sir John Farnleigh war, Sir. Der andere Herr ist es. Ich wußte es in dem Augenblick, in dem ich ihn gestern abend erblickte.«
Inspektor Elliot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Welche Gründe können Sie dafür anführen?«
»Es ist schwer, das so auszudrücken, daß Sie es verstehen, Sir«, erwiderte Knowles mit klagendem Ton. (Und es mußte die erste Impertinenz sein, die ihm je über die Lippen gekommen war.) »Ich bin vierundsiebzig Jahre alt. Ich war kein junger Spund mehr, wenn ich so sagen darf, als der junge Johnny im Jahr 1912 von hier fortging. Und wenn man erst einmal ein gewisses Alter hat, dann kommen einem die Jungen immer gleich vor, auch wenn sie älter werden – ob sie nun fünfzehn oder dreißig oder fünfundvierzig sind. Lieber Himmel, meinen Sie denn, ich hätte Mr. Johnny nicht wiedererkannt, als ich ihn sah? Obwohl!« Wieder vergaß Knowles sich und hob den Finger. »Das soll nicht heißen, daß ich, als der verstorbene Herr herkam und sich als Sir John ausgab, es gleich bemerkt hätte. Nein. Das nicht. Er hat sich verändert, dachte ich. Er ist in Amerika gewesen, und wer von dort zurückkehrt, den erkennt man nicht wieder. Das ist nur natürlich, und ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, daß er nicht der echte Herr sein könnte, obwohl er bisweilen Dinge gesagt hat …«
»Aber …«
»Sie werden vielleicht sagen«, fuhr Knowles mit größtem Ernst fort, »daß ich früher ja nicht im Herrenhaus gearbeitet habe. Das ist wahr. Ich bin erst seit zehn Jahren hier, seit Miss Molly den verstorbenen Sir Dudley bat, mir diese Ehre zu gewähren. Doch als ich noch in Diensten von Colonel Mardale war, war der junge Mr. Johnny oft in dem großen Obstgarten, der zwischen dem Anwesen des Colonels und des Majors lag …«
»Welcher Major?«
»Major Dane, Sir, Miss Madelines Vater; er und der Colonel waren gute Freunde. Nun, der junge Mr. Johnny hatte diesen Obstgarten gern, und den Wald dahinter. Der Garten ist gleich am Hanging Chart – geht in ihn über, könnte man sagen. Er hat gespielt, er sei ein Zauberer, ein Ritter und was es sonst noch alles gewesen sein mag; manchmal tat er Dinge, die ich nicht gern sah. Jedenfalls wußte ich gestern abend, lange bevor er nach Kaninchen und dergleichen fragte, daß dieser Herr der wahre Mr. Johnny war. Und er hatte gespürt, daß ich es wußte. Deshalb rief er mich ins Zimmer. Aber was sollte ich sagen?«
Page erinnerte sich an die Befragung nur zu gut. Aber es gab auch anderes, was ihm im Gedächtnis geblieben war, und er fragte sich, ob Elliot diese Dinge wohl erfahren hatte. Er warf einen Blick hinüber zu Madeline.
Inspektor Elliot schlug sein Notizbuch auf.
»Er hat sich also umgebracht. Hm?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie gesehen, mit welcher Waffe er es tat?«
»Nicht wirklich, muß ich sagen.«
»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie gesehen haben. Sie sagen zum Beispiel, Sie seien im Grünen Zimmer gewesen, als es geschah. Wann sind Sie dorthin gegangen, und warum?«
Knowles überlegte.
»Das können zwei oder drei Minuten gewesen sein, bevor es geschah …«
»Neun Uhr siebenundzwanzig oder neun Uhr achtundzwanzig? Welches von beiden?« fragte Inspektor Elliot mit einer Leidenschaft für das exakte Detail.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Ich habe nicht auf die Uhrzeit geachtet. Ich war in der Eingangshalle in der Nähe des Speisezimmers geblieben, für den Fall, daß ich gebraucht wurde, obwohl ja niemand dort war außer Mr. Welkyn. Dann kam Mr. Nathaniel Burrows aus dem Wohnzimmer und fragte, wo er eine Taschenlampe finden könne. Ich erinnerte mich, daß der verstorbene Herr eine solche Lampe im Grünen Zimmer aufbewahrte, das er als eine Art Arbeitszimmer nutzte, und machte mich auf den Weg. Ich habe seither erfahren« – der Tonfall verriet, daß Knowles seine Auskunft nun als Zeugenaussage verstand –, »daß Mr. Burrows eine Lampe in der Schublade des Tisches in der Halle fand; ich wußte allerdings nicht, daß sie dort war.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich bin nach oben und in das Grüne Zimmer gegangen …«
»Haben Sie das Licht eingeschaltet?«
»Nicht gleich«, antwortete Knowles ein wenig überrascht. »Nicht sofort. Es gibt in dem Zimmer keinen Schalter an der Tür. Das Licht wird an der Lampe angeschaltet. Der Tisch, in dem ich die Taschenlampe vermutete, steht zwischen den Fenstern. Dorthin begab ich mich, und auf dem Weg warf ich einen Blick nach draußen.«
»Durch welches Fenster?«
»Das rechte, zum Garten hin.«
»Stand das Fenster offen?«
»Jawohl, Sir. Es war folgendermaßen. Ihnen wird sicher aufgefallen sein, daß an der Rückseite der Bibliothek Bäume stehen; aber sie sind beschnitten, damit sie nicht die Sicht aus den Fenstern des oberen Stockwerks nehmen. Die meisten Räume im Herrenhaus sind fünfeinhalb Meter hoch – außer im neuen Flügel, der ja kaum mehr als ein Puppenhaus ist –, und damit hat man für die Bäume schon eine gute Höhe, ohne daß sie noch vor die Fenster des Grünen Zimmers wachsen. Deshalb heißt es überhaupt das Grüne Zimmer, weil man von dort über die Baumkronen blickt. Mit anderen Worten, ich war ein gutes Stück oberhalb des Gartens und sah von oben herab.«
Hier erhob Knowles sich von seinem Stuhl und beugte sich weit vor. Es war eine Bewegung, die ihm ungewohnt war, und bereitete ihm sichtlich Schmerzen, doch seine Stimmung war so grimmig, daß er die Haltung auch bei den folgenden Worten beibehielt.
»Da stand ich also. Vor mir das Laub der Bäume, das von unten von den Lichtern der Bibliothek beleuchtet wurde.« Er machte eine ausholende Handbewegung. »Dann der Garten, jede Hecke und jeder Pfad deutlich zu erkennen, mit dem Teich im Mittelpunkt. Das Licht war nicht schlecht, Sir. Ich habe Leute schon bei weniger Licht Tennis spielen sehen. Unten stand Sir John – oder der Herr, der sich so nannte –; er stand am Teich, die Hände in den Taschen.«
Hier beendete Knowles seine dramatische Einlage und setzte sich wieder.
»Das ist alles«, sagte er, ein wenig außer Atem.
»Das ist alles?« fragte Inspektor Elliot.
»Ja, Sir.«
Elliot, von diesem unerwarteten Schluß verblüfft, starrte ihn an.
»Aber was ist dann geschehen? Deswegen sind Sie doch hier – um mir das zu erzählen!«
»Es war so. Ich dachte, ich hätte eine Bewegung unten in den Bäumen gehört und sah hinunter. Als ich den Blick wieder hob …«
»Wollen Sie damit etwa sagen«, sagte Elliot sehr ruhig und beherrscht, »daß auch Sie nicht gesehen haben, was wirklich geschah?«
»Nein, Sir. Ich habe nur gesehen, wie er vornüber in den Teich fiel.«
»Ja doch; aber was sonst noch?«
»Nun, Sir, mit Sicherheit hätte die Zeit nicht gereicht, daß jemand – Sie wissen, was ich meine, Sir –, daß jemand ihm dreimal die Kehle durchschnitten hätte und dann davongelaufen wäre. Unmöglich. Er war allein, vor der Tat und auch danach. Und deshalb muß es Selbstmord gewesen sein.«
»Womit hat er sich umgebracht?«
»Mit einer Art Messer, würde ich vermuten.«
»Würden Sie vermuten. Haben Sie das Messer gesehen?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Haben Sie es in seiner Hand gesehen?«
»Nicht wirklich. Dazu war es dann doch zu weit fort. – Sir«, entgegnete Knowles, als ermahne er sich selbst, daß er schließlich ein Mann von Würde war, und richtete sich auf, »ich versuche Ihnen so wahrheitsgetreu wie nur irgend möglich zu schildern, was ich gesehen habe …«
»Dann sagen Sie mir, was er anschließend mit dem Messer gemacht hat. Hat er es fallenlassen? Oder was sonst?«
»Ich habe es nicht bemerkt, Sir. Glauben Sie mir. Ich habe nur auf ihn geachtet, und an seiner Vorderseite schien etwas zu geschehen.«
»Könnte er das Messer fortgeworfen haben?«
»Das wäre möglich. Ich weiß es nicht.«
»Wenn er es geworfen hätte – hätten Sie es gesehen?«
Knowles überlegte lange. »Das käme darauf an, wie groß das Messer war. Und es gibt Fledermäuse in dem Garten. Und manchmal, Sir, erkennt man einen Tennisball erst, wenn er …« Nun sah man ihm an, wie alt er war. Sein Gesicht verfinsterte sich, und einen Augenblick lang fürchteten sie, er werde in Tränen ausbrechen. Doch als er wieder die Stimme erhob, sprach er mit Würde. »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Wenn Sie mir nicht glauben, habe ich dann Ihre Erlaubnis zu gehen?«
»Ach, verdammt noch mal, darum geht es doch nicht!« rief Elliot mit der Ungezwungenheit der Jugend, und seine Ohren röteten sich ein wenig. Madeline Dane, die während der ganzen Zeit kein Wort gesagt hatte, betrachtete ihn mit dem Anflug eines Lächelns.
»Nur noch eine weitere Frage, zumindest vorerst«, fuhr Elliot nun wieder sachlich fort. »Wenn Sie einen guten Überblick über den gesamten Garten hatten, haben Sie dann noch jemand anderen dort gesehen, im Augenblick des – Angriffs?«
»Als es geschah, Sir? Nein. Unmittelbar darauf habe ich allerdings das Licht im Grünen Zimmer eingeschaltet, und bis dahin waren schon mehrere Personen hinaus in den Garten gekommen. Aber vorher, als die Tat – doch, Sir, doch; ich bitte um Verzeihung. Da war jemand!« Wieder erhob Knowles den Zeigefinger und legte die Stirn in Falten. »Es war jemand draußen, als es geschah. Ich habe ihn gesehen! Erinnern Sie sich, daß ich gesagt habe, ich hätte ein Geräusch unten in den Bäumen gehört, vor den Bibliotheksfenstern?«
»Und was war damit?«
»Ich blickte hinunter. Das war es ja, was mich ablenkte. Ein Herr stand dort unten und sah durch das Fenster in die Bibliothek hinein. Ich konnte es deutlich sehen, denn die Zweige der Bäume reichen natürlich nicht bis ganz an das Fenster heran. Er stand dort und spähte hinein.«
»Wer war es?«
»Der neu hinzugekommene Gentleman, Sir. Der echte Mr. Johnny, den ich von früher kannte. Der Herr, der sich jetzt Mr. Patrick Gore nennt.«
Keiner sagte ein Wort.
Elliot legte nachdenklich seinen Bleistift ab und blickte hinüber zu Dr. Fell. Der Doktor hatte sich nicht gerührt; man hätte denken können, er schliefe, wäre nicht das Funkeln des einen halb geöffneten Auges gewesen.
»Habe ich das recht verstanden?« fragte Elliot. »Zum Zeitpunkt des Angriffs oder Mords oder Selbstmords oder wie wir es nennen wollen, konnten Sie Mr. Patrick Gore vor den Fenstern der Bibliothek stehen sehen?«
»Jawohl, Sir. Eher auf der linken Seite, nach Süden hin. Deswegen konnte ich ja sehen, wer es war.«
»Würden Sie das beschwören?«
»Aber gewiß, Sir«, antwortete Knowles mit großen Augen.
»Das war derselbe Zeitpunkt, zu dem man die Geräusche hörte, das Schlurfen, das Platschen und so weiter?«
»Jawohl, Sir.«
Elliot nickte auf eine nüchterne Art und blätterte in seinem Notizbuch. »Ich möchte Ihnen ein paar Sätze aus Mr. Gores Aussage vorlesen. Er spricht vom selben Augenblick. Hören Sie gut zu. ›Zuerst war ich auf dem vorderen Rasen und rauchte. Dann ging ich an der Südseite des Hauses entlang zum Garten hier. Ich habe keine Laute gehört außer dem Platschen, und auch das nur sehr leise. Ich glaube, es war, als ich gerade um die Hausecke kam.‹ Weiter sagt er noch, daß er sich an die abgelegenen Pfade am Südende des Gartens gehalten habe. – Nun sagen Sie uns, daß er in dem Moment, in dem das Platschen zu hören war, direkt unter Ihnen gestanden und zum Bibliotheksfenster hineingesehen habe. Seine Aussage widerspricht dem.«
»Ich kann nichts für das, was er Ihnen gesagt hat, Sir«, antwortete Knowles hilflos. »Es tut mir leid, aber so ist es. Ich habe ihn gesehen.«
»Und was tat er, nachdem Sie Sir John in den Teich fallen sahen?«
»Das kann ich nicht sagen. In dem Augenblick blickte ich ja zum Teich hinüber.«
Elliot zögerte, murmelte etwas vor sich hin, dann sah er Dr. Fell an. »Haben Sie noch Fragen, Doktor?«
»Die habe ich«, sagte Dr. Fell.
Er richtete sich auf und strahlte Madeline an. Sie lächelte zurück. Dann hob er an, wobei er auch Knowles mit einem wohlwollenden Blick bedachte.
»Es gibt da eine Reihe von kniffligen kleinen Fragen, die Ihre Theorie aufwirft, mein Lieber. Nicht zuletzt die Frage danach, wer das Heft mit den Fingerabdrücken stahl, wenn Patrick Gore der wahre Erbe ist, und warum. Aber lassen Sie uns zuerst bei dem lästigen Thema Mord kontra Selbstmord bleiben.« Er überlegte. »Sir John Farnleigh – der Tote, meine ich – war Rechtshänder, nicht wahr?«
»Rechtshänder? Ja, Sir.«
»Sie hatten den Eindruck, daß er das Messer in der rechten Hand hielt, als er sich die Kehle durchschnitt?«
»Unbedingt, Sir.«
»Ah ja. Hmpf. Jetzt möchte ich gern wissen, was er mit seinen Händen tat, nach jenem seltsamen Anfall am Teich. Machen Sie sich keine Gedanken um das Messer! Das Messer war nicht gut genug zu sehen, da kann man nichts machen. Sagen Sie mir nur, was er mit den Händen tat.«
»Nun, Sir, er hielt sie sich an den Hals – etwa so.« Knowles führte es vor. »Dann bewegte er sie ein wenig, und danach riß er sie bis hoch über den Kopf und breitete sie aus.« Auch das illustrierte Knowles und spreizte die Arme weit. »Das war, unmittelbar bevor er in den Teich fiel und sich dort zu winden begann.«
»Er hat die Arme nicht gekreuzt? Er hob die Arme lediglich und streckte sie dann zur Seite? Verstehe ich das recht?«
»So war es, Sir.«
Dr. Fell nahm seinen Krückstock vom Tisch und hievte sich auf die Füße. Er hinkte hinüber zum Tisch, nahm das Päckchen Zeitungspapier und schlug es auf und zeigte Knowles das blutbefleckte Taschenmesser.
»Es sähe also folgendermaßen aus«, fuhr er fort, »wenn wir uns vorstellen, daß es Selbstmord war. Farnleigh hatte das Messer in der rechten Hand; er macht keine weitere Bewegung, sondern streckt nur beide Arme weit aus. Selbst wenn er mit der linken Hand die andere unterstützt hätte, hätte er den Griff in der rechten gehabt. Als er die Arme in die Höhe wirft, wirft er das Messer weit von sich. Das ist nicht unmöglich. Aber kann mir jemand erklären, wie es kommt, daß das Messer dann in der Luft seine Richtung ändert, hoch über den Teich geflogen kommt und etwa drei Meter links davon in die Hecke fällt? Und all das, nachdem er sich gerade nicht eine, sondern drei tödliche Wunden beigebracht hat? Das stimmt doch einfach nicht.«
Offenbar bemerkte er gar nicht, daß er die Zeitung mit dem gräßlichen Beweisstück Madeline fast unter die Nase hielt; er sah es nur mit gerunzelter Stirne an. Dann betrachtete er den Butler.
»Andererseits – wie können wir es wagen, dem Zeugnis eines solchen Mannes zu mißtrauen? Er sagt, Farnleigh stand allein am Teich, und es gibt einiges, was diese Aussage stützt. Nathaniel Burrows neigt zu derselben Ansicht. Lady Farnleigh, die unmittelbar nach dem Platschen auf den Balkon gelaufen kam, sah niemanden am Teich oder in der näheren Umgebung. Zwei Möglichkeiten haben wir zur Auswahl. Auf der einen Seite hätten wir einen nicht ganz glaubwürdigen Selbstmord; auf der anderen aber leider einen mehr als nur ein wenig unmöglichen Mord. Würde wohl einer von Ihnen so freundlich sein und mir einen Rat geben?«