In der Bibliothek von Farnleigh Close hatte Patrick Gore sich auf der Fensterbank niedergelassen und rauchte eine schwarze Zigarre. Bei ihm saßen Burrows, Welkyn und ein schläfrig wirkender Kennet Murray. Inspektor Elliot, Dr. Fell und Brian Page hatten am Tisch Platz genommen.
Sie hatten einen verschüchterten, konfusen Haushalt vorgefunden, um so verschüchterter, da der unerwartete Schreck mitten an einem ruhigen Nachmittag gekommen war, und um so konfuser, da der Butler unauffindbar gewesen war.
Einzelheiten? Was sie denn mit Einzelheiten meinten? Die Bediensteten, die Elliot vernahm, verstanden überhaupt nicht, wonach er fragte. Sie war doch nur ein einfaches Hausmädchen, Betty Harbottle, und hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Seit dem Mittagessen hatte niemand sie mehr gesehen. Als die festgesetzte Zeit kam, zu der sie und Agnes, ein weiteres Hausmädchen, die Fenster zweier Schlafzimmer im Obergeschoß putzen sollten, hatte Agnes sich auf die Suche nach ihr gemacht. Erst um vier Uhr hatten sie sie gefunden. Um vier Uhr war Teresa – Lady Farnleighs Zofe – ins Grüne Zimmer gegangen, das Arbeitszimmer des verstorbenen Sir John, und hatte sie auf dem Boden liegend gefunden, an einem Fenster mit Blick über den Garten. Sie lag auf der Seite, das Heft mit dem Pappumschlag in der Hand. Sie hatten Dr. King aus Mallingford kommen lassen, und das Gesicht, das der Doktor gemacht hatte, hatte den Haushalt ebensowenig beruhigt wie Bettys eigene Miene. Dr. King war nach wie vor bei seiner Patientin.
Alle waren schockiert. Wenn es schon Schrecken gab, dann sollte es doch kein häuslicher sein. Was würde als nächstes geschehen, wenn man in seinem eigenen Zuhause vier Stunden lang verschwunden sein konnte? Das war, als ob man eine vertraute Tür öffnete und sich in einem fremden Zimmer fände, und in diesem Zimmer wartete etwas. Von Haushälterin, Köchin und den anderen Dienstmädchen war wenig mehr zu erfahren als ein paar Einzelheiten über die Versorgung des Haushalts; über Betty kaum mehr, als daß sie gern Äpfel aß und Briefe an Gary Cooper schrieb.
Knowles’ Rückkehr hatte eine beruhigende Wirkung auf die Dienerschaft, und daß Madeline kam, war – hoffte Page – für Molly Farnleigh ein Trost. Madeline hatte sie in ihr privates Wohnzimmer begleitet, während die Männer noch in der Bibliothek standen und sich finster ansahen. Page war gespannt auf die Begegnung zwischen Madeline und Patrick Gore gewesen, doch es war wenig geschehen, was auch nur der Phantasie Nahrung gegeben hätte. Niemand stellte sie einander vor. Madeline ging mit sanften Schritten vorüber, den Arm um Molly gelegt; sie und der Herausforderer sahen einander an, und Page hatte den Eindruck, daß Gore sie mit einem amüsierten Blick betrachtete, als erkenne er sie wieder; doch keiner von beiden sprach ein Wort.
Und es war Gore, der dem Inspektor die neuesten Vorfälle im Haus erläuterte – bevor dann Dr. Fell eine Bombe von beträchtlichen Ausmaßen zum Platzen brachte.
»Es hat keinen Zweck, Inspektor«, sagte Gore und zündete seine schwarze Zigarre, die ihm immer wieder ausging, von neuem an. »Sie haben dieselbe Art von Fragen heute morgen schon gestellt, und damit kommen Sie nicht weiter, lassen Sie sich das gesagt sein. Diesmal wollen Sie wissen, wo jeder war, als das Mädchen – nun, als mit ihm geschah, was immer mit ihm geschehen sein mag – und ob jemand ihm das Heft in die Hand gedrückt hat. Ich habe Ihnen schlicht und einfach gesagt, daß ich das, Teufel noch mal, nicht weiß. Und die anderen genauso. Wir waren hier im Haus. Sie haben doch von uns verlangt, daß wir hierbleiben. Aber keiner von uns hat die Gesellschaft der anderen gesucht, das können Sie mir glauben, und wir haben allesamt keine Ahnung, was dem Mädchen widerfahren ist.«
»So geht es nicht weiter«, sagte Dr. Fell abrupt. »Ein klein wenig Klarheit muß schon sein.«
»Ich hoffe, Sie sind der Mann, der uns diese Klarheit bringt, mein Freund«, entgegnete Gore, der Dr. Fell zu mögen schien. »Aber, Inspektor, Sie haben doch unsere Aussagen mit denen der Hausangestellten aufgenommen. Wir sind sie durchgegangen, immer und …«
Inspektor Elliot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Da haben Sie recht, Sir«, sagte er. »Und wenn es sein muß, gehen wir sie noch einmal durch. Und noch einmal.«
»Also wirklich …« hob Welkyn an.
Doch der Herausforderer fuhr ihm wieder über den Mund. »Wenn Ihnen wirklich so viel am Schicksal dieses Hefts mit den Fingerabdrücken liegt, warum fragen Sie sich dann nicht einmal, welche Fingerabdrücke in diesem Heft sind?« Er sah das abgegriffene graue Heft an, das nun zwischen Elliot und Dr. Fell auf dem Tisch lag. »Lassen Sie uns doch endlich vernünftig sein und die Sache hier und jetzt aufklären. Entscheiden Sie doch endlich, wer der wahre Erbe ist – der Tote oder ich.«
»Oh, die Frage läßt sich leicht beantworten«, meinte Dr. Fell gemütlich.
Alle waren mit einem Schlag still, nur das Kratzen, das der Herausforderer mit dem Fuß auf dem Steinboden machte, war noch zu hören. Kennet Murray, der sich die Hand über die Augen gelegt hatte, blickte auf. Ein zynischer Ausdruck blieb auf seinem nicht mehr jungen Gesicht, doch seine Augen waren nun hell und wach und aufmerksam, und er kraulte sich mit einem Finger am Bart, so als höre er gespannt einem Vortrag zu.
»Nun, Doktor?« forderte er ihn auf, in jenem Tonfall, den man ausschließlich bei Schulmeistern findet.
»Außerdem«, fuhr Dr. Fell fort und tippte mit dem Finger auf das Heft, das auf dem Tisch lag, »wird es uns nichts helfen, wenn wir dieses Heft zur Grundlage nehmen. Das ist das falsche. Nein, nein, ich will nicht sagen, daß Sie den Beweis gar nicht haben. Ich sage nur, daß DIESES Heft, dasjenige, das gestohlen wurde, das falsche ist. Mr. Gore wies, wie ich höre, gestern abend darauf hin, daß Sie seinerzeit mehrere solche Hefte hatten.« Er strahlte Mr. Murray an. »Mein Junge, Sie sind immer noch der Melodramatiker von damals, und ich sehe es mit Vergnügen. Sie waren darauf gefaßt, daß womöglich jemand versuchen würde, das Heft zu stehlen. Deshalb hatten Sie, als Sie gestern abend hier ankamen, zwei davon in der Tasche …«
»Ist das wahr?« fragte Gore.
Murray schien erfreut und verärgert zugleich, doch er nickte wie jemand, der sorgfältig der Darlegung eines Argumentes folgt.
»… und das Exemplar, das Sie hier in der Bibliothek zeigten«, fuhr Dr. Fell fort, »war das falsche. Deshalb brauchten Sie auch so lange für Ihren Vergleich. Nicht wahr? Nachdem Sie die ganze Gesellschaft aus der Bibliothek bugsiert hatten, mußten Sie das echte Exemplar (ein empfindliches, zerbrechliches Buch) hervorholen und das wertlose verschwinden lassen. Aber die anderen hatten angekündigt, daß sie ein Auge auf Sie haben würden. Und mit einer ganzen Fensterwand, durch die man von draußen hineinsehen konnte, fürchteten Sie, daß jemand Sie beim Austausch beobachten und Sie beschuldigen würde, Sie manipulierten das Beweismaterial. Sie mußten also sichergehen, daß niemand Sie sah …«
»Ich sah mich gezwungen«, sagte Murray mit ernster Miene, »in den Schrank dort zu steigen.« Er wies mit einem Kopfnicken auf einen alten Bücherschrank, der auf der Fensterseite in die Wand eingelassen war. »Ich sollte ja über das Alter hinaus sein, aber es war ein Gefühl, als mogelte ich bei einer Prüfung.«
Inspektor Elliot sagte kein Wort. Er blickte zuerst den einen, dann den anderen forschend an, dann schrieb er etwas in sein Notizbuch.
»Hmpf, ja. Sie wurden aufgehalten«, sagte Dr. Fell. »Mr. Page hier, der nur ein paar Minuten vor dem Mord auf seinem Weg zum hinteren Teil des Gartens am Fenster vorüberkam, sagt, Sie hätten das Heft eben erst aufgeschlagen, als er hineinsah. Sie werden also mit Ihrer Arbeit nicht mehr weit gekommen sein …«
»Drei oder vier Minuten«, präzisierte Murray.
»Eben. Es blieb praktisch keine Zeit, noch etwas zu bestimmen, bevor draußen Mordio gerufen wurde.« Dr. Fell machte eine gequälte Miene. »Nun sind Sie, mein lieber junger Murray, kein Dummkopf. Ein solcher Alarm konnte ein Trick sein. Aber ein Trick, von dem jemand wie Sie sich nicht täuschen ließ. Nie im Leben wären Sie nach draußen gestürmt und hätten das Heft mit dem entscheidenden Abdruck auf dem Tisch liegenlassen, wo jeder es holen konnte. Das konnte ich einfach nicht glauben, als ich das hörte. Nein, nein, nein. Das echte wanderte wieder in Ihre Tasche, und das wertlose kam als hübscher Köder auf den Tisch. Nicht wahr?«
»Zum Teufel mit Ihnen«, sagte Murray, doch ohne Wut.
»Sie hielten also den Mund, als das falsche Heft gestohlen wurde, und machten sich im stillen Kämmerlein an die Detektivarbeit. Wahrscheinlich haben Sie die ganze Nacht an Ihrer Expertise über die Fingerabdrücke gearbeitet, das echte Buch aufgeschlagen vor Ihnen, und haben längst schriftlich niedergelegt, welcher nach Ihrem Urteil der echte Erbe …«
»Und welcher ist es?« fragte Patrick Gore kühl.
»Na, Sie natürlich«, brummte Dr. Fell.
Dann sah er Murray an.
»Zum Donnerwetter«, fügte er grimmig hinzu, »das müssen Sie doch auf Anhieb gewußt haben! Er war Ihr Schüler. Da merkt man so etwas doch. Mir war es klar, als er zum erstenmal den Mund aufmachte …«
Der Herausforderer, der aufgesprungen war, setzte sich nun recht mühsam wieder. Sein Gesicht hatte etwas geradezu Äffisches vor Freude, die hellgrauen Augen und selbst der kahle Fleck am Kopf schienen zu funkeln.
»Dr. Fell, ich danke Ihnen«, sagte Gore und legte die Hand aufs Herz. »Aber ich muß doch darauf hinweisen, daß Sie mir keine einzige Frage gestellt haben.«
»Also, meine Herren«, sagte Dr. Fell. »Sie alle hatten gestern abend Gelegenheit, ihm zuzuhören. Sehen Sie ihn sich an. Hören Sie, wie er spricht. Erinnert er Sie an jemanden? Ich meine nicht das Äußere; ich meine seine Art zu reden, die Art von Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, die Art, wie er sie ausdrückt. Also, an wen erinnert er Sie? Hm?«
Der Doktor zwinkerte in die Runde, und endlich verstand Page das Gefühl, mit dem er sich von Anfang an herumgeschlagen hatte – das Gefühl, daß ihm Gore vage bekannt vorgekommen war.
»An Murray«, sagte Page in das Schweigen hinein.
»An Murray. Da haben Sie es auf den Punkt gebracht. Natürlich im Laufe der Zeit ein wenig uneindeutiger geworden, beeinflußt vom eigenen Charakter – aber doch immer noch deutlich und offensichtlich genug. An Murray, der in den entscheidenden Jahren seines Lebens fast der einzige war, der ihn prägte. Sehen Sie sich doch seine Körperhaltung an, hören Sie doch, wie er mit homerischem Atem seine Sätze baut. Die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich, das gebe ich gerne zu; in ihrer Natur sind die beiden sich nicht ähnlicher, als ich meinen Kollegen Elliot oder Hadley ähnlich bin. Aber das Echo ist noch zu hören. Glauben Sie mir, die einzig wichtige unter den Fragen, die Murray gestern abend gestellt hat, war jene nach der Lektüre des Jungen, danach, welche Bücher der echte John Farnleigh mochte und welche nicht. Sehen Sie sich den Burschen an!« Er zeigte mit dem Finger auf Gore. »Haben Sie mir nicht erzählt, wie seine Augen leuchteten, als er vom Grafen von Monte Cristo sprach, von Stevenson? Und von den Büchern, die er damals nicht ausstehen konnte und bis heute verachtet? Kein Hochstapler würde es wagen, so vor jemandem zu sprechen, der die Vorlieben und Ansichten des Echten so gut kennen mußte. In so einem Fall haben Fakten nicht die geringste Bedeutung. Jeder kann Fakten büffeln. Entscheidend ist, wo sich das Innere des Jungen zeigt. Glauben Sie mir, Murray: Es wird Zeit, daß Sie Ihr Spiel aufgeben und Farbe bekennen. Ich kann ja verstehen, daß Sie gern den Meisterdetektiv spielen, aber inzwischen geht es zu weit.«
Ein roter Streifen zeigte sich auf Murrays Stirn. Er sah ärgerlich aus, auch ein wenig verlegen. Doch sein Verstand fand etwas, woran er sich festhalten konnte.
»Fakten bedeuten sehr wohl etwas«, sagte Murray.
»Glauben Sie mir«, donnerte Dr. Fell, »Fakte…« Er riß sich zusammen. »Ahemm. Nun gut. Vielleicht übertreibe ich. Ein wenig. Aber stimmt es, was ich sage?«
»Er kannte das ›Rote Buch von Appin‹ nicht. Er hat mir aufgeschrieben, so etwas gebe es nicht.«
»Weil es für ihn nur ein Manuskript war. Aber mir liegt nichts daran, mich für ihn einzusetzen. Ich möchte nur wissen, ob meine Analyse korrekt ist.«
»Verdammt noch mal, Fell, Sie können einem aber auch wirklich den Spaß verderben«, klagte Murray, nun in etwas anderem Ton. Er sah Gore an. »Jawohl, das ist der echte Johnny Farnleigh. Hallo, Johnny.«
»Hallo«, sagte Gore. Und zum erstenmal, seit Page ihn kennengelernt hatte, wirkte sein Gesicht nicht hart.
Es herrschte Stille in dem Raum, doch eine, die sich zusehends verflüchtigte, als fände alles den Platz wieder, an den es gehörte, und ein verschwommenes Bild werde nach und nach scharf. Gore und Murray blickten beide zu Boden, doch auf eine unbestimmte, unbequeme Art schienen sie froh. Welkyns Stimme erhob sich in all ihrer Fülle und all ihrer Autorität.
»Sie sind in der Lage, Beweise beizubringen, Sir?« fragte er geschäftsmäßig.
»Und schon ist es mit meinem Urlaub vorbei«, sagte Murray. Er faßte in die Innentasche seiner Jacke, die sich vor Papieren beulte, und seine Miene wurde wieder ernst.
»Jawohl, das bin ich. Hier haben wir das Heft mit dem originalen Fingerabdruck – mit Datum und einer Unterschrift des jungen John Newnham Farnleigh. Für den Fall, daß Sie die Echtheit des Heftes anzweifeln, habe ich Fotografien anfertigen lassen und auf der Polizeipräfektur in Hamilton hinterlegt. Zwei Briefe, die John Farnleigh mir im Jahr 1911 schrieb – vergleichen Sie die Unterschrift mit jener unter dem Abdruck. Ein aktueller Abdruck, gestern abend abgenommen, und meine Analyse ihrer Übereinstimmungen …«
»Gut. Gut«, sagte Welkyn, »sehr gut.«
Page blickte Burrows an, und er sah, wie bleich Burrows im Gesicht war. Page hatte sich nicht ausgemalt, welche Wirkung das Ende der langen Anspannung auf ihre Nerven haben würde.
Doch nun sah er es, als er in die Runde blickte – zu der auch Molly Farnleigh getreten war.
Sie war unbemerkt ins Zimmer gekommen, und Madeline Dane stand hinter ihr; sie mußte alles gehört haben. Die anderen erhoben sich in einem kuriosen Chor aus kratzenden Stühlen.
»Es heißt, Sie sind ein ehrlicher Mann«, sagte sie zu Murray. »Sie sind also überzeugt?«
Murray verneigte sich. »Madam, es tut mir leid.«
»Er war ein Betrüger?«
»Er war ein Betrüger, der niemanden hinters Licht geführt hätte, der ihn wirklich kannte.«
»Da wäre es wohl an der Zeit«, fügte Welkyn in schönsten Tönen hinzu, »daß Mr. Burrows und ich uns ein wenig unterhalten – ohne Vorurteil natürlich …«
»Wir sollten es nicht überstürzen«, erwiderte Burrows, nicht minder galant. »Noch ist vieles unklar, und ich darf auch darauf hinweisen, daß ich bisher keinen Beweis gesehen habe. Würden Sie gestatten, daß ich die Dokumente prüfe? Ich danke Ihnen. Als nächstes, Lady Farnleigh, möchte ich gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen.«
Molly blickte starr, angespannt und verwirrt drein.
»Ja, das wäre das beste«, stimmte sie zu. »Madeline hat mir einiges erzählt.«
Madeline legte ihr tröstend die Hand auf den Arm, aber sie schüttelte ihn mit einem Ruck ihres kräftigen Körpers ab. Madelines stille blonde Schönheit strahlte im Kontrast zu der Wut, die Molly wie eine Wolke umgab, um so heller, so daß alles in ihrer Umgebung glanzlos schien. Dann verließ Molly, von Madeline und Burrows flankiert, das Zimmer. Sie hörten, wie Burrows’ Schuhe knarrten.
»Gott!« sagte Patrick Gore. »Und wie geht es nun weiter?«
»Nur Geduld, Sir«, antwortete Elliot grimmig. »Nur ein kleinwenig Geduld, dann verrate ich Ihnen, wie es weitergeht.« Gore und Welkyn blickten ihn an, überrascht von dem Tonfall. »Wir haben immer noch einen falschen Farnleigh, der an dem Teich umgebracht wurde. Wie oder warum oder von wem, das wissen wir nicht. Wir haben immer noch jemanden, der ein wertloses Heft stahl« – er hielt das falsche Büchlein in die Höhe – »und es später wieder auftauchen ließ. Wahrscheinlich hat der Betreffende erkannt, daß es wertlos ist. Wir haben ein Hausmädchen, Betty, das seit dem Mittag verschwunden war und um vier Uhr in dem Raum oberhalb dieser Bibliothek aufgefunden wurde, halbtot vor Angst. Wer oder was ihr den Schrecken einjagte, wissen wir nicht, und ebensowenig, wie das Heft mit den Fingerabdrücken in ihre Hände gelangte. Wo ist eigentlich Dr. King jetzt?«
»Immer noch bei der unglücklichen Betty, glaube ich«, sagte Gore. »Und was haben wir noch?«
»Was wir noch haben, ist neues Beweismaterial«, erwiderte Elliot. Er machte eine Pause. »Wie Sie ganz richtig sagen, haben Sie alle geduldig die Geschichten wiederholt, die Sie schon gestern abend zu Protokoll gegeben haben. Nun, Mr. Gore. In dem Bericht, den Sie von Ihren Bewegungen zum Zeitpunkt des Mordes gegeben haben – haben Sie da die Wahrheit gesprochen? Überlegen Sie, bevor Sie antworten. Es gibt jemanden, der Ihrer Aussage widerspricht.«
Page hatte schon darauf gewartet; er hatte sich gefragt, wie lange Elliots Geduld wohl reichen würde, bis er es aufbrachte.
»Meiner Aussage widerspricht?« fragte Gore scharf und nahm die kalte Zigarre aus dem Mund. »Wer widerspricht ihr?«
»Lassen wir den Namen aus dem Spiel. Wo waren Sie, als Sie hörten, wie das Opfer in den Teich stürzte?«
Gore betrachtete sein Gegenüber mit Erheiterung. »Na, da haben Sie ja anscheinend einen Zeugen. Ich habe den alten Herrn hier« – er wies auf Murray – »durchs Fenster beobachtet. Mir geht gerade erst auf, daß ich ja jetzt keinen Grund mehr habe, es zu leugnen. Wer hat mich gesehen?«
»Ist Ihnen klar, Sir, daß das, was Sie da sagen, Ihnen, wenn es wahr ist, ein Alibi verschafft?«
»So daß ich dann leider nicht mehr als Tatverdächtiger in Frage käme.«
»Leider?« fragte Elliot eisig.
»Ein dummer Witz, Inspektor. Ich bitte um Verzeihung.«
»Darf ich fragen, warum Sie mir den Sachverhalt bisher verschwiegen haben?«
»Das dürfen Sie. Und fragen Sie auch gleich, was ich durch das Fenster gesehen habe.«
»Das verstehe ich nicht.«
Elliot achtete stets darauf, daß sein Scharfsinn nicht zu offensichtlich wurde. Auf Gores Gesicht zeigte sich eine Spur Überdruß. »Um es mit einfachen Worten zu sagen, Inspektor: Seit ich gestern abend dieses Haus betreten habe, hatte ich das Gefühl, daß hier nicht ehrlich gespielt wird. Dieser Herr hier trat ins Zimmer.« Er betrachtete Murray und schien nicht zu wissen, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. »Er erkannte mich. Das habe ich gespürt. Aber mit keinem Wort hat er es bestätigt.«
»Und?«
»Nun, was tat ich? Ich kam – wie Sie so scharfsinnig herausgefunden haben – um die Hausecke, vielleicht eine Minute bevor der Mord geschah.« Er hielt inne. »Nebenbei, haben Sie eigentlich inzwischen entschieden, ob es Mord war?«
»Darüber können wir gleich sprechen. Erzählen Sie weiter.«
»Ich blickte hier hinein und sah Murray mit dem Rücken zu mir sitzen wie eine Puppe; er regte sich nicht. Unmittelbar darauf hörte ich all die Geräusche, die wir schon so oft beschrieben bekommen haben, zuerst das Würgen, zuletzt das Platschen im Wasser. Ich zog mich vom Fenster zurück, nach links hin, und wandte mich um, weil ich sehen wollte, was im Garten vor sich ging. Aber ich blieb, wo ich war. Zu diesem Zeitpunkt kam Burrows schon aus dem Haus gelaufen, zum Teich hin. Ich zog mich zurück, wieder hin zu den Bibliotheksfenstern. Inzwischen schrillten offensichtlich auch im Haus die Alarmglocken. Und was sah ich nun? Ich sah diesen vornehmen, vertrauenswürdig wirkenden Herrn« – wieder nickte er kurz in Richtung Murray –, »wie er mit zwei Heften hantierte, wobei er eines sorgsam in seiner Tasche verstaute, das andere in aller Eile auf den Tisch legte …«
Murray hatte kritisch, doch interessiert zugehört.
»So, so?« sagte er in beinahe teutonischem Tonfall. »Sie glaubten also, ich arbeitete gegen Sie?« Das schien ihm zu gefallen.
»Natürlich. Sie arbeiteten gegen mich … Und wie üblich stellen Sie es harmloser hin, als es war«, erwiderte Gore. Seine Miene verfinsterte sich. »Deshalb zog ich es vor, nicht zu verraten, wo ich gewesen war. Ich wollte mir dieses Wissen aufheben, damit ich etwas in Reserve hatte, für den Fall, daß jemand mit üblen Tricks kam.«
»Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?«
»Nein, Inspektor, ich glaube nicht. Der Rest meiner Aussage war die Wahrheit. Darf ich denn fragen, wer mich gesehen hat?«
»Knowles stand am Fenster des Grünen Zimmers«, sagte Elliot, und Gore stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. Elliot ließ seinen Blick von Gore zu Murray und weiter zu Welkyn wandern. »Hat einer von Ihnen das hier schon einmal gesehen?«
Er zog einen kleineren Bogen Zeitungspapier aus der Tasche, in den er das blutbefleckte Taschenmesser sorgfältig gewickelt hatte. Er schlug das Papier zurück und zeigte ihnen die Waffe.
Auf den Gesichtern von Gore und Welkyn zeigte sich keinerlei Regung. Doch Murray sog die bärtigen Wangen ein, sah das Beweisstück mit zusammengekniffenen Augen an und rückte seinen Stuhl näher heran.
»Wo haben Sie das gefunden?« fragte Murray eifrig.
»In der Nähe des Tatorts. Kennen Sie es?«
»Hm. Haben Sie es auf Fingerabdrücke untersucht? Nein? Ein Jammer«, sagte Murray, und sein Eifer wurde immer größer. »Würden Sie mir gestatten, es näher anzusehen, wenn ich es mit der gebotenen Vorsicht behandle? Sagen Sie es mir, wenn ich mich täusche. Aber haben nicht Sie, junger Johnny« – er sah Gore an –, »früher ein Messer gehabt, das ganz genauso aussah? Haben Sie es nicht sogar von mir geschenkt bekommen? Und jahrelang immer in der Tasche gehabt?«
»Und ob ich das hatte. Ich habe immer ein Messer in der Tasche«, bestätigte Gore, faßte hinein und holte ein altes Messer hervor, das nur um ein weniges kleiner und leichter war als jenes, das sie vor sich liegen hatten. »Aber …«
»Nun muß ich aber doch«, schaltete Welkyn sich ein und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, »nun muß ich aber doch einmal von den Rechten Gebrauch machen, mit denen Sie mich ausgestattet haben, Sir. Solche Fragen sind abwegig und ungehörig, und als Ihr Rechtsbeistand rate ich Ihnen dringend, nicht darauf zu antworten. Solche Messer gibt es wie Sand am Meer. Ich hatte selbst einmal eines.«
»Aber was ist denn Schlimmes an der Frage?« fragte Gore verblüfft. »Ich habe ein solches Messer gehabt. Es ist mit meinen Kleidern und meinem anderen Besitz mit der Titanic untergegangen. Da ist doch die Vorstellung absurd, dieses Exemplar hier könnte …«
Bevor jemand ihn davon abhalten konnte, hatte Murray ein Taschentuch hervorgezogen, es mit den Lippen angefeuchtet (ein Taschentuch im Mund war eines der Dinge, bei denen sich Page unweigerlich die Zähne zusammenzogen) und einen kleinen Bereich freigewischt, etwa in der Mitte der Klinge. Hervor kamen grob in den Stahl geritzte Buchstaben, und zusammen ergaben sie das Wort
Madeline.
»Das ist Ihres, Johnny«, sagte Murray mit Gusto. »Sie haben den Namen hineingeritzt, als wir einmal eine Steinmetzwerkstatt in Ilford besichtigt haben.«
»Madeline«, sagte Gore noch einmal.
Er öffnete einen Fensterflügel und warf die Zigarre hinaus unter die nassen Bäume. Doch Page konnte für einen Augenblick sein Gesicht sehen, das sich in dem trüben Glas spiegelte: Es war ein seltsames, starres, unergründliches Gesicht, ganz anders als der spöttische Ausdruck, mit dem Gore sonst gern zeigte, um wieviel größer seine Gelassenheit war als diejenige aller, die ihn umgaben. Er wandte sich um.
»Aber was ist denn nun mit dem Messer? Soll das heißen, daß dieser arme, gequälte Gauner, der so gerne anständig geworden wäre, es all die Jahre mit sich herumtrug und sich schließlich am Teich die Kehle damit durchschnitt? Sie scheinen ja überzeugt, daß es sich um Mord handelt, und doch – und doch …«
Er schlug sich nachdenklich mit der flachen Hand aufs Knie.
»Ich will Ihnen verraten, was es ist, meine Herren«, sagte Elliot, »es ist ein absolut unmögliches Verbrechen.«
Er gab ihnen Knowles’ Aussage in allen Einzelheiten wieder. Das Interesse, das Gore und Murray an den Tag legten, stand in krassem Gegensatz zur offensichtlichen Abscheu und der Verwirrung Welkyns. Als Elliot beschrieb, wie das Messer sich gefunden hatte, kam eine spürbare Unruhe in die Gruppe.
»Kein Mensch in der Nähe und doch ermordet«, sagte Gore nachdenklich. Er sah Murray an. »Meister, das ist doch ein Fall ganz nach Ihrem Geschmack. Ich erkenne Sie gar nicht wieder. Vielleicht haben wir uns doch zu lange nicht gesehen; aber früher, da hätten Sie Luftsprünge um den Inspektor gemacht, die kuriosesten Theorien zum besten gegeben, Ihr Bart hätte geknistert vor Energie …«
»Ich bin eben jetzt kein Dummkopf mehr, Johnny.«
»Aber lassen Sie uns doch eine von Ihren Theorien hören. Irgendeine. Sie sind der einzige, der bisher noch überhaupt nichts zu der Sache gesagt hat.«
»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Dr. Fell.
Murray machte es sich bequemer und hob warnend den Zeigefinger.
»Wenn man sich der puren Logik verschreibt«, hob er an, »ist das oft vergleichbar mit einer gewaltigen Rechenaufgabe, bei der wir irgendwann feststellen, daß wir vergessen haben, ›eins im Sinn‹ zu behalten oder mit zwei zu multiplizieren. Jede unter tausend Zahlen kann dann korrekt sein, nur die eine nicht, und die Abweichung im Ergebnis ist enorm. Deshalb will ich es nicht als Logik verstanden wissen, was ich sage. Es ist nur ein Vorschlag. – Sie wissen, Inspektor, daß das Urteil der gerichtlichen Untersuchung fast mit Sicherheit auf Selbstmord lauten wird?«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Sir. Nicht unbedingt«, erklärte Elliot. »Ein Heft wurde gestohlen und zurückerstattet, ein Mädchen beinahe zu Tode erschreckt …«
»Sie wissen ebensogut wie ich«, sagte Murray und sah ihn eindringlich an, »zu welchem Urteil die Geschworenen kommen werden. Es ist zumindest halbwegs vorstellbar, daß der Tote Selbstmord beging und das Messer fortwarf, und es ist unmöglich, daß er ermordet wurde. Ich persönlich gehe allerdings davon aus, daß es Mord war.«
»Hä«, sagte Dr. Fell und rieb sich die Hände. »Hä-hä-hä. Und Ihre Theorie?«
»Immer vorausgesetzt, es war Mord«, sagte Murray, »würde ich sagen, daß das Opfer nicht mit dem Messer umgebracht wurde, das wir hier vor uns haben. Für meine Begriffe sind die Verletzungen an seiner Kehle eher wie die Male von Reißzähnen oder Krallen.«