Kapitel 3

Der Herausforderer erhob sich von seinem Stuhl. Auch wenn die eine Wand der Bibliothek fast ganz aus Fenstern bestand, aus einer Vielzahl von schmalen, hohen Scheiben, wurde es nun doch allmählich dunkel, und die Bäume warfen lange Schatten. Nur wenige Teppiche bedeckten die Steinfliesen des Bodens. Die gewaltigen Bücherregale waren gebaut wie die Gewölbe einer Kirche und an der oberen Kante mit Schnitzereien verziert. Ein grünlicher Schatten, ein Gitter aus hundert Scheiben, erstreckte sich bis fast zu dem Mann, der nun am Tisch aufgestanden war.

Molly sagte tags darauf, das Herz habe ihr bis zum Halse geschlagen, als die Tür sich öffnete und sie sich fragte, ob ihr wohl gleich ein Zwilling ihres Mannes entgegentreten werde wie aus einem Spiegelbild. Doch die beiden ähnelten sich kaum.

Der Mann, der sich nun erhob, war nicht kräftiger als Farnleigh, auch wenn er in Armen und Schultern sehr muskulös war. Sein feines dunkles Haar zeigte noch keine Spur von Grau, obwohl es sich allmählich ein wenig lichtete. Sein Teint war dunkel, und das glattrasierte Gesicht zeigte noch kaum Falten, und was an Furchen zu sehen war, waren wohl eher Lach- als Sorgenfalten. Denn das ganze Wesen des Herausforderers, die dunkelgrauen Augen und die an den äußeren Enden ein wenig hochstehenden Augenbrauen strahlten Entspannung, Ironie und Heiterkeit aus. Er war gut gekleidet, im Geschäftsanzug im Gegensatz zu Farnleighs altem Tweed.

»Ich muß um Verzeihung bitten«, sagte er.

Selbst seine Stimme war tief und sonor, ganz anders als Farnleighs hohe, heisere Stimme. Seinen Gang konnte man nicht eben schleppend nennen, aber er wirkte ein wenig ungeschickt.

»Ich muß um Verzeihung bitten«, sagte er mit strenger Höflichkeit, aber doch mit einem Anflug von Humor, »daß ich so sehr auf meiner Rückkehr in mein altes Heim beharre. Aber Sie werden, hoffe ich, meine Motive verstehen. Ähm – lassen Sie mich Ihnen meinen Rechtsbeistand vorstellen, Mr. Welkyn.«

Ein dicker Mann mit ein wenig vorstehenden Augen erhob sich von seinem Stuhl am anderen Ende des Tisches. Aber sie sahen ihn kaum an. Der Herausforderer studierte die anderen voller Interesse; er sah sich im Zimmer um, als nehme er jede Einzelheit in sich auf und erkenne alles wieder.

»Lassen wir die Vorreden«, sagte Farnleigh abrupt. »Burrows kennen Sie, soviel ich weiß. Das ist Mr. Page. Dies hier meine Frau.«

»Ihre Frau«, erwiderte der Herausforderer zögernd, dann blickte er Molly ins Gesicht, »kenne ich bereits. Sie müssen mir verzeihen, daß ich nicht recht weiß, wie ich sie anreden soll. Ich kann sie nicht Lady Farnleigh nennen; und ich kann sie auch nicht Molly nennen, wie ich es getan habe, als sie noch Schleifen im Haar trug.«

Keiner der beiden Farnleighs erwiderte etwas darauf. Molly war gefaßt, doch ihr Gesicht war gerötet, und um die Augen schien es angeschwollen.

»Ich möchte Ihnen auch«, fuhr der Herausforderer fort, »dafür danken, daß Sie die ganze peinliche und unerfreuliche Angelegenheit mit solcher Gelassenheit …«

»Ich bin nicht im mindesten gelassen«, schnauzte Farnleigh ihn an, »und das können Sie sich hinter die Ohren schreiben. Ich schmeiße Sie nur aus dem einen Grunde nicht vor die Tür, daß mein eigener Anwalt meint, wir sollten taktvoll sein. Also heraus damit. Was haben Sie zu sagen?«

Mr. Welkyn kam vom Tisch herüber und räusperte sich.

»Mein Klient, Mr. Farnleigh …« hob er an.

»Einen Moment bitte«, unterbrach Burrows, nicht minder förmlich. Page war es fast, als könne er das leise Sausen hören, als die Juristenbeile geschwungen wurden; die forensischen Hemdsärmel wurden hochgekrempelt, und das Gespräch schien sich in jenes Tempo zu finden, das die beiden Herren für angemessen hielten. »Darf ich vorschlagen, daß wir um der Klarheit willen Ihren Klienten bei einem anderen Namen nennen? Er selbst hat uns den Namen ›Patrick Gore‹ vorgegeben.«

»Ich würde es vorziehen«, erwiderte Welkyn, »ihn einfach nur ›meinen Klienten‹ zu nennen. Wäre das zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Vollkommen.«

»Ich danke Ihnen. Ich habe hier«, fuhr Welkyn fort und öffnete seinen Aktenkoffer, »einen Vorschlag, den mein Klient Ihnen unterbreiten möchte. Mein Klient möchte fair zu Ihnen sein. Zwar müssen wir darauf hinweisen, daß der gegenwärtige Träger keinerlei Anspruch auf Titel und Besitz hat, doch meinem Klienten sind die Umstände noch gut im Gedächtnis, unter denen die gegenwärtigen Verwicklungen ihren Anfang nahmen. Darüber hinaus möchte er anerkennen, daß der gegenwärtige Träger seinen Besitz wohlbehütet und dem Namen der Familie Ehre erwiesen hat.

Deshalb wird mein Klient von jeder Strafverfolgung absehen, sofern der gegenwärtige Träger sich unverzüglich von Titel und Besitz zurückzieht, ohne daß es erforderlich wird, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Im Gegenteil, mein Klient ist bereit, dem gegenwärtigen Träger eine gewisse finanzielle Entschädigung zukommen zu lassen; wir dachten an eine lebenslange Rente von eintausend Pfund pro Jahr. Mein Klient hat in Erfahrung gebracht, daß die Ehefrau des gegenwärtigen Trägers – die geborene Miss Mary Sutton – Erbin eines eigenen Vermögens ist, so daß keinerlei materielle Not zu befürchten ist. Obwohl natürlich, sollte die Ehefrau des gegenwärtigen Trägers die Gültigkeit der Ehe anzweifeln, weil sie durch Vorspiegelung falscher Tatsachen …«

Wieder zeigten sich die roten Flecken unter Farnleighs Augen.

»Gott!« rief er. »Was soll ich mir denn noch alles an schamlosen, unverfrorenen …«

Nathaniel Burrows stieß einen Laut aus, der zu höflich war, als daß man ihn als Zischen bezeichnen konnte, aber er genügte doch, um Farnleigh zum Verstummen zu bringen.

»Darf ich vorschlagen, Mr. Welkyn«, erwiderte Burrows, »daß wir zunächst einmal klären, ob überhaupt ein Anspruch Ihres Klienten vorliegt? Bevor das nicht bewiesen ist, braucht uns Ihr Vorschlag nicht zu beschäftigen.«

»Wie Sie wünschen. Mein Klient«, sagte Welkyn mit einem verächtlichen Schulterzucken, »wollte Ihnen nur Unannehmlichkeiten ersparen. Mr. Kennet Murray sollte jeden Moment hier eintreffen. Danach dürfte die Sachlage nicht mehr länger in Zweifel stehen. Sollte der gegenwärtige Träger dann noch weiter auf seiner jetzigen Einstellung beharren, wird es, fürchte ich, unvermeidlich sein …«

»Können wir nicht das Geschwätz lassen«, fuhr Farnleigh wiederum dazwischen, »und endlich die Pferde vor den Karren spannen?«

Der Herausforderer lächelte, und es schien, als sei sein Blick nach innen gewandt, mit einem ganz privaten Scherz beschäftigt. »Sehen Sie?« sagte er. »Seine vornehme Art ist so aufgesetzt, daß er es nicht fertigbringt, vor seinen Karren Gäule zu spannen.«

»Na, jedenfalls ist er vornehm genug, andere nicht mit Spitzfindigkeiten zu beleidigen«, sagte Molly, und nun war es der Herausforderer, der leicht errötete.

»Ich bitte um Verzeihung. Das war kleinlich von mir. Aber man darf nicht vergessen«, sagte der Herausforderer, und sein Tonfall änderte sich wieder ein wenig, »daß ich ja ein lasterhafter Bursche war und meine Jugend nicht gerade in elysischen Gefilden verbracht habe. Wird es mir erlaubt sein, mein Anliegen mit eigenen Worten vorzubringen?«

»Jawohl«, sagte Farnleigh. »Und Sie halten den Mund«, fügte er, an beide Anwälte gerichtet, hinzu. »Was jetzt kommt, ist eine persönliche Angelegenheit.«

Als hätten sie es abgesprochen, begaben sich alle an den Tisch und nahmen Platz. Der Herausforderer saß mit dem Rücken zum großen Fenster. Eine Weile saß er nur nachdenklich da und fuhr sich gedankenverloren mit der Hand über den Hinterkopf, da wo sein dunkles Haar sich schon lichtete. Dann blickte er auf, spöttische Fältchen in den Augenwinkeln.

»Ich bin John Farnleigh«, hob er mit einfachen Worten und allem Anschein der Aufrichtigkeit an. »Bitte, halten Sie Ihre juristischen Einwände zurück; ich will meine Geschichte erzählen, und wenn mir danach zumute ist, kann ich auch sagen, ich sei Dschingis Khan. Aber ich bin nun einmal tatsächlich John Farnleigh, und ich will Ihnen erzählen, wie es mir ergangen ist.

Als Junge bin ich schon unerträglich gewesen; auch wenn ich bis heute manchmal das Gefühl habe, genau das Richtige getan zu haben. Wäre mein Vater, Dudley Farnleigh, noch am Leben, so würden sich mir bei seinem Anblick heute noch genauso die Nackenhaare sträuben wie damals. Nein, ich kann nicht sagen, daß es falsch war, was ich getan habe; nur ein wenig geschickter hätte ich es tun sollen. Ich habe mich mit meinen Eltern angelegt, nur weil sie mir vor Augen führten, wie jung ich noch war, und ich habe es mir mit meinen Lehrern verdorben, nur weil ich stets alles verachtete, was mich in jenem Augenblick nicht interessierte.

Aber lassen Sie uns zum Thema kommen. Sie wissen, warum ich dies Haus verlassen habe. Ich nahm die Titanic, zusammen mit Murray. Und von Anfang an war ich, sooft es sich einrichten ließ, bei den Passagieren im Unterdeck. Nicht daß ich sie besonders gemocht hätte, das nicht, aber ich konnte einfach meine eigenen Leute in der ersten Klasse nicht ertragen. Ich halte ja hier keine Verteidigungsrede; es ist ein psychologischer Bericht, und ich denke, Sie werden ihn überzeugend finden.

Im Unterdeck lernte ich einen Jungen kennen, etwa mein Alter, rumänisch-englischer Abstammung, der allein in die Staaten fuhr. Er interessierte mich. Sein Vater – der unauffindbar blieb –, sei ein englischer Gentleman gewesen, erzählte er mir. Seine Mutter, ein Mädchen aus Rumänien, war Schlangentänzerin in einem Wanderzirkus in England gewesen – zumindest, wenn sie gerade nicht trank. Es kam eine Zeit, wo sie die echten Schlangen und die eingebildeten nicht mehr auseinanderhalten konnte, und sie endete als Küchenhilfe im Kantinenzelt. Der Junge war ihr nur lästig. Ein alter Verehrer von ihr hatte es mit einem Zirkus in Amerika zu einem gewissen Wohlstand gebracht, und nun schickte sie den Jungen zu ihm in die Neue Welt.

Er sollte Hochseilartist werden, er sollte lernen, mit dem Fahrrad über das Seil zu fahren – und was beneidete ich ihn darum! Herr der Heiligen und der Schlangen, was beneidete ich ihn! Und welcher echte Junge oder Mann würde mich dafür tadeln?«

Der Herausforderer ruckte ein wenig auf seinem Stuhl. Die Art, wie er seinen Rückblick vortrug, war zynisch genug, aber er tat es doch auch mit einer gewissen Befriedigung, und alle anderen lauschten gebannt. Der windige Mr. Welkyn, der offenbar im Begriff war, mit einem Vorschlag oder einer Bemerkung zu unterbrechen, blickte rasch in die Runde, und als er die Gesichter sah, blieb er still.

»Doch dieser Junge, so seltsam das war«, fuhr der Herausforderer fort und betrachtete dabei seine Fingernägel, »beneidete seinerseits mich. Seinen Namen (den niemand aussprechen konnte) hatte er in ›Patrick Gore‹ geändert, einfach nur, weil er fand, daß das schön klang. Er wollte nicht zum Zirkus. Ihm gefielen das Umherziehen und die ständigen Veränderungen und die Unruhe und der Lärm nicht, ihm gefiel es nicht, wenn sie die Zeltstangen am Abend einschlugen und am nächsten Morgen schon wieder herauszogen, und ihn störte die Enge, wenn sie um ihr Essen anstehen mußten. Ich weiß nicht, wo er das herhatte, aber er war ein kühler, reservierter, wohlerzogener kleiner Bursche. Das erstemal, daß wir uns sahen, bekamen wir uns so in die Haare, daß das halbe Unterdeck hinzukommen mußte, um uns zu trennen. Ich fürchte, ich war so in Rage, daß ich selbst da noch mit meinem Taschenmesser auf ihn losgehen wollte. Er verneigte sich nur und ging davon; ich sehe es noch vor mir. – Und ich spreche, mein Freund, von Ihnen.«

Sein Blick ruhte auf Farnleigh.

»Das kann doch alles nicht wahr sein«, stieß Farnleigh heftig hervor und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube es einfach nicht. Ein Alptraum ist das. Wollen Sie allen Ernstes behaupten …?«

»O ja«, bestätigte der andere mit heftigem Ton. »Wir haben uns ausgemalt, wie schön es wäre, wenn wir einfach unsere Leben tauschen könnten. Natürlich war es nichts weiter als ein verrückter Traum – in jenem Augenblick jedenfalls. Sie haben gesagt, es würde niemals funktionieren, auch wenn Sie ein Gesicht dazu machten, als könnten Sie mich dafür umbringen, an Ihr Ziel zu kommen. Ich selber habe damals gewiß nicht vorgehabt, es wirklich zu versuchen; Sie schon, und das ist das Interessante daran. Ich habe Ihnen alles über mich erzählt. Alles, was Sie brauchten. ›Wenn du meine Tante So-und-so und meinen Vetter Dies-und-das triffst, das mußt du ihm dann erzählen‹, ich habe alles ausgeplaudert, denn ich konnte ja nicht ahnen, daß ich es einmal bereuen müßte. Damals habe ich Sie für einen Feigling gehalten, und das tue ich bis heute. Sogar mein Tagebuch habe ich Ihnen gezeigt. Ich habe immer ein Tagebuch geführt, aus dem einfachen Grunde, daß es keinen Menschen auf der Welt gab, mit dem ich reden konnte. Ich tue es bis heute.« Der Herausforderer blickte beinahe drollig auf. »Denkst du noch an mich, Patrick? Erinnerst du dich an die Nacht, als die Titanic unterging?«

Eine Pause trat ein.

Farnleighs Gesicht zeigte keinerlei Wut – nur schiere Verblüffung.

»Ich kann es nur wiederholen«, sagte er. »Sie sind verrückt.«

»Ich will«, fuhr der andere bedachtsam fort, »Ihnen genau berichten, was ich tat, als wir auf den Eisberg aufliefen. Ich saß in der Kabine, die ich mit dem alten Murray teilte; Murray war im Rauchsalon und spielte Bridge. In seiner Manteltasche hatte er ein Fläschchen Brandy, und ich hatte mir gerade einen Schluck genehmigt, weil mir an der Bar keiner ausgeschenkt wurde.

Von dem Aufprall habe ich kaum etwas gespürt; ich würde vermuten, daß es den meisten so gegangen ist. Es gab einen leichten Ruck, kaum soviel, daß ein volles Cocktailglas übergeschwappt wäre, und dann stoppten die Maschinen. Ich bin überhaupt nur nach draußen gegangen, weil ich wissen wollte, warum die Maschinen gestoppt hatten. Meine erste Ahnung, was geschehen war, bekam ich, als Stimmen näher kamen und lauter wurden, und dann lief schreiend eine Frau vorbei, eine blaue Steppdecke um die Schultern gewickelt.«

Zum erstenmal zögerte der Herausforderer.

»Davon nichts weiter«, sagte er, breitete die Hände und faltete sie wieder. »Ich will keine alten Geschichten aufwärmen. Nur eines, und das möge Gott mir verzeihen, auch wenn ich damals noch ein Kind war: Ich habe es genossen. Ich fürchtete mich nicht im mindesten. Ich war begeistert. Es war etwas ganz Besonderes, etwas, was einem das tägliche Einerlei des Lebens vertrieb, und das waren ja die Dinge, nach denen ich stets auf der Suche war. Und meine Begeisterung war so groß, daß ich mich bereit erklärte, mit Patrick Gore die Identität zu tauschen. Der Entschluß schien plötzlich zu kommen, obwohl ich mir denken könnte, daß ich in meinem Innersten schon länger dazu bereit war.

Ich ging zu Gore – zu Ihnen«, verbesserte sich der Sprecher und betrachtete seinen Gastgeber mit fester Miene, »auf das B-Deck. Sie hatten all Ihre Besitztümer in einem kleinen Weidenkoffer bei sich. Sie erklärten mir mit ruhigen Worten, daß das Schiff untergehe, und es werde rasend schnell gehen; wenn ich wirklich mit Ihnen tauschen wolle, könne es in dem Durcheinander geschehen, oder der Überlebende von uns beiden könne es auch allein tun. Was ist mit Murray? fragte ich. Sie haben gelogen; Sie sagten, Murray sei über Bord gegangen und nicht mehr am Leben. Ich träumte davon, ein großer Zirkusartist zu werden, und so vollzogen wir den Tausch. Kleider, Papiere, Ringe, alles. Ich habe Ihnen sogar mein Tagebuch gegeben.«

Farnleigh blieb stumm.

»Danach«, fügte der Herausforderer ohne jeden Wechsel im Tonfall hinzu, »haben Sie gute Arbeit geleistet. Wir waren beide soweit, daß wir zu den Rettungsbooten laufen konnten. Sie warteten, bis ich Ihnen den Rücken zudrehte, dann holten Sie den Holzhammer hervor, den Sie dem Steward gestohlen hatten, und versetzten mir einen Hieb auf den Hinterkopf, und mit drei Schlägen wollten Sie die Sache zu Ende bringen.«

Noch immer blieb Farnleigh stumm. Molly war von ihrem Stuhl aufgesprungen, doch auf eine Handbewegung von ihm setzte sie sich wieder.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr der Herausforderer mit einer Geste fort, als wische er Staub vom Tisch, »ich will Ihnen das nicht vorhalten. Das ist fünfundzwanzig Jahre her, und Sie waren damals noch ein Junge – auch wenn ich mich frage, was für eine Art Mann aus dem Jungen wohl geworden ist. Ich galt ja selbst als übler Bursche. Durchaus denkbar, daß Sie mich verachteten und glaubten, Sie hätten allen Grund dazu. Sie hätten sich gar nicht die Mühe machen müssen, denn ich war willig genug, in Ihre Haut zu schlüpfen. Aber auch wenn ich das schwarze Schaf der Familie war – so schwarz war ich nicht.

Den Rest können Sie sich zusammenreimen. Es war – wie ich schon sagen muß – großes Glück, daß man mich fand, verletzt, aber doch am Leben, und mich in das letzte Boot steckte, das noch davonkam. Für lange Zeit herrschte Unklarheit, wer zu den Opfern zählte, Amerika ist ein großes Land, und ich verbrachte eine ganze Weile in der Welt der Schatten. John Farnleigh und Patrick Gore standen zunächst beide auf der Liste der Vermißten. Sie hielten mich für tot, ich Sie. Ich langte bei Mr. Boris Yeldritch an, dem Zirkusdirektor – der Sie nie gesehen hatte –, und als Besitz und Papiere genügten, mich als Patrick Gore zu identifizieren, war ich rundum zufrieden.

Wenn mir mein neues Leben nicht gefällt, dachte ich, konnte ich mich ja jederzeit zu erkennen geben. Vielleicht, malte ich mir aus, würde ich besser aufgenommen, wenn ich wie durch ein Wunder von den Toten wiederkehrte. Die Aussicht machte mir Spaß; es war ein dramatischer Trumpf, den ich im Ärmel hatte, und glauben Sie mir, er hat manche Nacht dafür gesorgt, daß ich ruhig schlafen konnte.«

»Und«, fragte Molly mit gespieltem Interesse, »sind Sie tatsächlich Hochseilartist geworden?«

Der Herausforderer wandte den Kopf ins Profil. Sein dunkelgraues Auge leuchtete von solch innerer Freude, daß man an einen kleinen Jungen denken mußte, der sich einen ganz besonderen Schabernack ausgedacht hatte. Wieder hob er die Hand und rieb sich den Fleck am Hinterkopf, wo das Haar schon dünn wurde.

»Nein. Auch wenn ich meine ersten sensationellen Erfolge im Zirkus feierte, wurde doch etwas anderes aus mir. Im Augenblick möchte ich Ihnen lieber noch nicht sagen, was es war. Es ist ein ausgezeichnetes Geheimnis, und ich will Sie ja auch nicht mit den Einzelheiten meiner Lebensgeschichte langweilen.

Glauben Sie mir, von Anfang an hatte ich vorgehabt, zu meinem alten Zuhause zurückzukehren und allen mit dem Blöken eines schwarzen Schafs von jenseits des Grabes einen gehörigen Schrecken einzujagen. Denn ich habe tatsächlich mein Glück gemacht, mehr als je ein Prophet es mir prophezeit hätte – und ich stellte mir vor, wie Bruder Dudley sich bei dem Gedanken winden würde. Aber diesen dramatischen Höhepunkt hob ich mir noch auf. Ich war sogar in England, ohne daß ich groß in Versuchung geriet. Denn vergessen Sie nicht, ich hatte ja keinen Grund zu vermuten, daß ›John Farnleigh‹ am Leben war. Ich ging davon aus, daß er tot war, doch in Wirklichkeit freute er sich in Colorado seines Lebens.

Sie werden sich deshalb meine Überraschung ausmalen können, als ich vor etwa sechs Monaten zufällig eine Illustrierte in die Hand bekam und ein Bild von Sir John und Lady Farnleigh sah. Mein Bruder Dudley, erfuhr ich, war an einer Salmonellenvergiftung gestorben. Sein ›jüngerer Bruder‹ hatte den Besitz geerbt. Zuerst dachte ich, es sei ein Versehen der Zeitung und es müsse wohl ein entfernterer Verwandter gewesen sein. Aber ein paar Nachforschungen bestätigten mir, daß es die Wahrheit war; und schließlich bin ich der Erbe, nicht wahr? Noch ein junger Mann – kräftig genug –, aber nicht auf Rache aus.

Die Erinnerung verblaßt. Eine ganze Generation ist großgeworden; es liegen tausend neue Eindrücke zwischen mir und dem Pinscher, der die Erbfolge mit dem Seemannshammer bestimmen wollte und der, wie ich höre, heute ein braver Bürger geworden ist. Die Bäume sehen noch genauso aus wie damals, aber meine Augen sind nicht mehr dieselben. Es kommt mir fremd und ungemütlich vor in meinem eigenen Heim. Ich weiß wirklich nicht, ob ich tatsächlich der beste Vorsitzende für den hiesigen Cricketclub oder den Pfadfinderverband bin. Aber ich habe (das merken Sie schon) eine starke Vorliebe für Festreden, und ich werde schon zurechtkommen. Nun, Patrick Gore, Sie haben gehört, was ich vorschlage; es ist großzügig genug. Ich warne Sie: Wenn ich Sie vor Gericht bringe, werde ich keine Gnade kennen. In der Zwischenzeit, meine Herren, will ich gern jedem, der mich gekannt hat, seine Fragen beantworten. Ein paar habe ich selbst zu stellen, und ich bin gespannt, was Gore darauf antwortet.«

Eine ganze Weile, nachdem er mit seiner Rede zu Ende war, blieb es still in dem immer dunkler werdenden Raum. Seine Stimme war geradezu hypnotisch. Doch aller Augen waren auf Farnleigh gerichtet, der aufgestanden war, die Hände auf den Tisch gestützt. Farnleighs dunkles Gesicht war ruhig, etwas wie Erleichterung lag in seinen Zügen, und er betrachtete seinen Gast mit einer gewissen Neugier. Er fuhr sich mit der Hand über den kurzgeschnittenen Schnurrbart, und beinahe lächelte er.

Molly sah dieses Lächeln und atmete tief durch.

»Möchtest du etwas sagen, John?« machte sie ihm Mut.

»Ja. Ich habe keine Ahnung, warum er mit dieser Geschichte hergekommen ist oder was er sich davon verspricht. Aber was der Mann sagt, ist der reine Unsinn, vom ersten bis zum letzten Wort.«

»Sie wollen also kämpfen?« fragte der Herausforderer mit interessierter Miene.

»Natürlich will ich das, Sie Esel. Oder genauer gesagt werde ich mir ansehen, wie Sie kämpfen.«

Mr. Welkyn, offenbar im Begriff einzuschreiten, räusperte sich geräuschvoll, doch der Herausforderer gebot ihm Einhalt.

»Nicht doch«, sagte er entspannt. »Sie halten sich bitte zurück, Welkyn. Sie Juristenbrüder haben ja immer ein Andererseits oder Gebe ich zu bedenken, aber in einer kleinen privaten Auseinandersetzung wie dieser hier haben Sie nichts zu suchen. Ehrlich gesagt, es wird mir sogar Spaß machen. Also, lassen Sie uns einmal ein paar Versuche machen. Ob Sie wohl so freundlich sein könnten und Ihren Butler hereinrufen?«

Farnleigh runzelte die Stirn. »Aber Knowles war doch damals …«

»Warum tust du ihm denn nicht den Gefallen, John?« fragte Molly sanft.

Farnleigh sah ihren Blick, und wenn es so etwas gibt wie Humor ohne Heiterkeit, dann zeigte er sich nun auf seinen klaren Zügen. Er läutete nach Knowles, der unschlüssig eintrat wie zuvor. Der Herausforderer betrachtete ihn nachdenklich.

»Als ich hier ankam, hatte ich das Gefühl, daß ich Sie kenne«, sagte der Herausforderer. »Sie waren schon zu meines Vaters Zeiten hier, nicht wahr?«

»Sir?«

»Sie waren schon zu Zeiten meines Vaters hier, Sir Dudley Farnleigh. Oder täusche ich mich?«

Farnleigh sah ihn mit angewiderter Miene an.

»Damit werden Sie sich wohl kaum Glaubwürdigkeit verschaffen«, schaltete Nathaniel Burrows sich mit scharfer Stimme ein. »Der Butler zu Sir Dudley Farnleighs Zeiten war Stenson, und der ist schon seit Jahren tot.«

»Das war mir bewußt«, erwiderte der Herausforderer und warf einen Blick zur Seite. Dann betrachtete er den Butler, lehnte sich zurück und schlug, was ihm ein wenig Mühe zu bereiten schien, die Beine übereinander. »Sie heißen Knowles. Zu meines Vaters Zeiten waren Sie Butler drüben in Frettenden, beim alten Colonel Mardale. Sie hielten sich zwei Kaninchen, von denen der Colonel nichts wußte. Sie hatten sie im Wagenschuppen, in der Ecke beim Obstgarten. Einer von den beiden hieß Billy.« Er blickte auf. »Fragen Sie den Herrn hier, wie der andere hieß.«

Knowles war ein wenig rot angelaufen.

»Nun machen Sie schon, fragen Sie ihn!«

»Unverschämtheit!« schnaubte Farnleigh, doch gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle.

»Oh«, sagte der Herausforderer. »Soll das heißen, Sie wissen die Antwort nicht?«

»Das soll heißen, daß ich nicht daran denke, Ihr Spiel mitzuspielen.« Doch sechs Augenpaare waren auf ihn gerichtet, und offenbar spürte er den Druck; er wurde unruhig und stotterte beinahe. »Kann man denn erwarten, daß jemand nach fünfundzwanzig Jahren noch den Namen eines Kaninchens weiß? Aber warten Sie, warten Sie, vielleicht fällt es mir doch wieder ein! Ich weiß noch, daß es zwei alberne Namen waren, die sich reimten. Lassen Sie mich nachdenken. Billy und W… Nein, das war es nicht. Billy und Tilly, kann das sein? Oder täusche ich mich? Ich weiß es wirklich nicht mehr.«

»Das ist korrekt, Sir«, teilte Knowles ihm mit erleichterter Miene mit.

Aber der Herausforderer ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Nun, dann versuchen wir es noch einmal. Also, Knowles. Eines Sommerabends – es war im Jahr, bevor ich fortging –, da gingen Sie durch besagten Obstgarten, um einem gewissen Nachbarn eine Nachricht zu überbringen. Sie waren überrascht und recht schockiert, als Sie mich dort in einer verfänglichen Lage mit einer jungen Dame von zwölf oder dreizehn Jahren fanden. Fragen Sie Ihren Dienstherrn, wie die junge Dame hieß.«

Farnleigh biß die Zähne zusammen, sein Gesicht war rot.

»Von einem solchen Vorfall weiß ich nichts.«

»Wollen Sie uns damit zu verstehen geben«, erwiderte der Herausforderer, »daß Ihnen die Ritterlichkeit die Antwort verbietet? Nein, mein Freund, damit kommen Sie nicht durch. Es ist lange her, und ich gebe Ihnen mein feierliches Wort, daß nichts Kompromittierendes geschah. Knowles, Sie wissen ja noch, was damals im Obstgarten geschah, nicht wahr?«

»Sir«, erwiderte der geplagte Butler, »ich …«

»Sie erinnern sich. Aber ich dachte mir schon, daß der Mann hier es nicht weiß, denn meinem geschätzten Tagebuch werde ich es kaum anvertraut haben. Wie hieß die junge Dame?«

Farnleigh nickte. »Schon gut«, sagte er und versuchte, seiner Antwort einen leichten Ton zu geben. »Es war Miss Dane. Madeline Dane.«

»Madeline Dane …« hob Molly an.

Zum erstenmal schien der Herausforderer ein wenig überrascht. Blitzschnell studierte er die Gesichter, und ebenso blitzschnell gingen offenbar seine Gedanken.

»Anscheinend hat sie Ihnen nach Amerika geschrieben«, sagte der Herausforderer. »Da müssen wir mehr ins Detail gehen. Aber ich bitte um Verzeihung – es ist doch hoffentlich kein Fauxpas, den ich begehe? Womöglich lebt die junge Dame noch heute in der Gegend, nun in ein wenig vorgerückterem Alter? Ich habe doch hoffentlich keine Wunden aufgerissen?«

»Verdammt noch mal!« rief Farnleigh plötzlich, »jetzt habe ich aber genug! Würden Sie bitte das Haus verlassen, ehe ich mich vergesse?«

»Das werde ich nicht«, erwiderte der andere. »Ich bin hier, um Ihren Betrug aufzudecken. Denn Betrug ist es, mein Junge, das wissen Sie genau. Außerdem waren wir uns doch, glaube ich, einig, daß wir auf Kennet Murray warten.«

»Und was geschieht, wenn Murray kommt?« Farnleigh rang sich die Worte ab. »Wie bringt er uns weiter? Was wird er uns sagen können, was über das alberne Fragespiel hinausgeht, bei dem wir, wie es scheint, beide die Antworten wissen? Nicht daß Sie sie wirklich wissen, denn schließlich sind Sie der Hochstapler hier. Ich könnte selbst welche stellen, und die wären genauso albern wie Ihre. Aber darum geht es nicht. Was haben Sie vorgehabt, wie wollten Sie so etwas beweisen? Wie wollen Sie es mir selbst jetzt noch beweisen?«

Der Herausforderer lehnte sich zurück und genoß das Spiel sichtlich.

»Durch das unwiderlegbare Beweismittel des Fingerabdrucks«, sagte er.

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