Kapitel 13

Mit der Kante eines Sixpence als Schraubenzieher schraubte Elliot vorsichtig die Öse ab, an der die Kette befestigt war. Es war eine mühselige Arbeit, doch der Inspektor arbeitete unbeirrt wie ein Zimmermann. Als die Kette fiel, öffnete die Tür sich von selbst.

»Die Höhle der Goldhexe«, sagte Gore mit Gusto und stieß den angebissenen Apfel mit dem Fuß beiseite.

»Lassen Sie das, Sir«, sagte Elliot streng.

»Was? Wollen Sie den Apfel etwa als Beweismaterial mitnehmen?«

»So etwas weiß man nie. Wenn wir hineingehen, rühren Sie bitte nur an, was ich Ihnen gestatte.«

Das »Wenn wir hineingehen« erwies sich als optimistische Wendung. Page hatte ein Zimmer erwartet. Was er fand, war eine Art Bücherschrank von kaum zwei mal zwei Metern, mit einem schrägen Dach, in dem eine dick verkrustete Fensterscheibe wie Milchglas schimmerte. Auf den Regalbrettern, wo rissiges Kalbsleder sich mit neueren Einbänden mischte, gab es viele Lücken. Alles war von einer dünnen Staubschicht überzogen, doch war es der dünne, dunkle, rußige Staub der Dachspeicher, in dem kaum Spuren zurückbleiben. Ein frühviktorianischer Lehnstuhl war hineingezwängt – und die Hexe schien sie beinahe anzuspringen, als der Strahl von Elliots Taschenlampe sie traf.

Selbst Elliot zuckte ein wenig zurück. Die Alte war keine Schönheit. Früher mochte sie etwas Verführerisches gehabt haben, doch nun blickte das eine verbliebene Auge sie aus einem halben Gesicht an; die andere Seite des Kopfes war schwer beschädigt, das ehemals gelbe Kleid ganz zergangen. Und die Risse in dem, was vom Gesicht blieb, machten sie nicht attraktiver.

Aufgerichtet wäre sie knapp lebensgroß gewesen. Sie saß auf einer länglichen Kiste, einst bemalt und vergoldet, daß sie wie ein Sofa wirken sollte, aber nicht viel tiefer und breiter als die Figur selbst, und der ganze Automat stand auf Rädern, die offensichtlich später hinzugefügt waren. Mit einer groben und ganz und gar grauenerregenden Koketterie streckte sie die Hände dem Betrachter halb entgegen. Die wuchtige, gedrungene Maschine mußte gut ihre zwei oder drei Zentner wiegen.

Madeline stieß eine Art Kichern aus, nervös oder erleichtert. Elliot brummte, Dr. Fell fluchte.

»Bei den Schatten von Udolpho!« rief der Doktor. »Ist das eine Enttäuschung?«

»Sir?«

»Sie wissen doch, was ich meine. Kann man sich denn vorstellen, daß das Mädel, das neugierig war, was in Blaubarts Kammer war, das Ding hier zum erstenmal sah und …« Er pustete, daß die Schnurrbartspitzen flogen. »Nein. Nein, das reicht nicht.«

»Ich fürchte auch«, stimmte Elliot nüchtern zu. »Falls überhaupt etwas hier drin geschehen ist. Wie soll sie denn überhaupt hier hereingekommen sein? Wer hat sie nach unten gebracht? Wo bekam sie das Heft mit den Fingerabdrücken her? Aber so oder so – keiner kann mir erzählen, daß der bloße Anblick von dem Ding hier sie so mitgenommen hat, wie es ja anscheinend der Fall ist. Sie hätte vielleicht geschrien oder so etwas. Es hätte ihr einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Aber nichts in dieser Größe, wenn sie nicht vorher schon hysterisch war. Lady Farnleigh, wußte die Dienerschaft, daß die Puppe hier drin war?«

»Aber ja«, antwortete Molly. »Keiner hat sie gesehen, außer Knowles und vielleicht Mrs. Apps, aber alle wissen, daß sie hier ist.«

»Es hätte sie also nicht einmal überrascht?«

»Nein.«

»Wenn, sage ich, etwas in dieser engen Kammer sie erschreckt hätte – wofür wir nicht den geringsten Beweis haben …«

»Wie wäre es hiermit?« sagte Dr. Fell und zeigte mit seinem Stock darauf.

Der Lichtstrahl fuhr den Sockel des Automaten entlang. Er fand ein Wäschebündel, das sich, als Elliot es aufhob, als eine zerknüllte rüschenbesetzte Hausmädchenschürze erwies. Obwohl sie frisch gewaschen war, waren Staub- und Schmutzflecken darauf, und sie war mit zwei kurzen, zackigen Rissen eingerissen. Dr. Fell nahm sie dem Inspektor aus der Hand und reichte sie Molly.

»Bettys?« fragte er.

Molly untersuchte ein winziges Schildchen am Saum der Schürze, auf dem ein noch winzigerer Name geschrieben stand, und nickte.

»Warten Sie einen Moment«, bat Dr. Fell und schloß die Augen. Er ging vor der Tür auf und ab und preßte sich den Zwicker auf die Nase, als fürchte er, daß er herunterfiele. Als er die Hand wieder fortnahm, blickte er finster und streng. »Nun denn. Ich will es Ihnen verraten, mein Junge. Ich kann es nicht beweisen, genausowenig wie ich die Sache mit dem Apfel und dem Dachboden nebenan beweisen könnte. Aber ich kann Ihnen sagen, was in diesem Bücherkabinett geschehen ist; ich sehe es so deutlich vor mir, als sei ich dabeigewesen. Was wir hier machen, ist längst keine Routinearbeit mehr – es ist jetzt das Wichtigste überhaupt, daß wir genau bestimmen, wann genau zwischen Mittag und vier Uhr nachmittags dies Mädchen sich so sehr erschrak und was alle anderen zu jenem Zeitpunkt getan haben.

Denn der Mörder, mein Junge, war hier drin – hier in dieser Bücherkammer. Betty Harbottle ist ihm hier begegnet. Ich weiß nicht, was der Mörder hier tat; aber ihm lag alles daran, daß keiner erfuhr, daß er hier war. Etwas geschah. Später nahm er die Schürze des Mädchens und wischte damit Fuß- oder Fingerabdrücke fort, oder was es sonst an Spuren hier in dem Staub gegeben haben mag. Er trug oder zerrte sie nach unten. Er drückte ihr das nutzlose Heft in die Hand, das er am Abend zuvor gestohlen hatte. Und dann machte er sich davon, wie Mörder es eben tun, und ließ die Schürze hübsch am Boden liegen. Hm?«

Elliot hob die Hand.

»Langsam, Sir. Nicht so schnell.« Er dachte darüber nach. »Da gibt es zwei schwere Argumente dagegen, fürchte ich.«

»Und die wären?«

»Erstens. Wenn es für den Täter so wichtig war zu verbergen, daß er in dieser Kammer war – wobei wir uns immer noch fragen müssen, was er hier getan hat –, wie wollte er dann seine Spuren verwischen, indem er einfach nur das bewußtlose Mädchen von einem Raum zum anderen trug? Damit verhinderte er die Entlarvung ja nicht, sondern verschob sie nur. Das Mädchen lebt. Sie wird sich erholen. Und dann wird sie sagen, wer hier war und was er tat – wenn er etwas tat.«

»Anscheinend ein kapitaler Brocken«, gab Dr. Fell zu. »Allem Anschein nach ein Stolperstein, über den keiner von uns heilen Fußes hinwegkommt. Und es würde mich gar nicht wundern«, fügte er mit einiger Heftigkeit hinzu, »wenn die Erklärung dieses Widerspruchs zugleich auch die Lösung unseres Falles wäre. Und der andere Einwand?«

»Betty Harbottle ist unverletzt. Körperlich ist sie nicht angerührt worden. In die Verfassung, in der sie jetzt ist, ist sie durch ganz gewöhnlichen Schrecken gekommen, Schrecken über etwas, das sie sah. Aber was konnte sie denn anderes sehen als einen ebenso gewöhnlichen Menschen, der etwas tat, was er nicht tun sollte? Das hätte nicht ausgereicht, Sir; die Mädels sind heutzutage ziemlich zäh. – Was könnte also einen solchen Schock verursacht haben?«

Dr. Fell sah ihn an.

»Etwas, was der Automat getan hat«, antwortete er. »Stellen Sie sich doch vor, die Figur regte sich nun und nähme Ihre Hand.«

So groß ist die Kraft der Suggestion, daß alle im Raum ein Stück zurückwichen. Sechs Augenpaare waren auf den halbzerstörten Kopf und die kuriosen Hände der Puppe gerichtet. Es wäre kein angenehmes Gefühl, sie zu berühren. Nichts an dieser Figur, von dem mottenzerfressenen Kleid bis zu dem schrundigen Wachsgesicht, wäre angenehm zu berühren gewesen.

Elliot räusperte sich.

»Sie meinen, er hat die Puppe wieder in Gang gebracht?«

»Nein, das hat er nicht«, widersprach Gore. »Ich habe es vor Jahren versucht. Es sei denn, jemand hat seither etwas Elektrisches oder sonst einen neuen Mechanismus hineinpraktiziert. Zum Teufel, meine Herren, neun Generationen von Farnleighs haben vergebens versucht dahinterzukommen, wie das Ding funktioniert. Ich mache Ihnen ein Angebot. Tausend Pfund dem Mann, der diesen Apparat zum Laufen bringt.«

»Kann es nicht auch eine Frau sein?« fragte Madeline. Page sah ihr an, daß es nur ein Scherz sein sollte, aber Gore nahm es bitterernst.

»Mann, Frau, Kind oder was es sonst sein mag. Tausend Pfund dem Mann oder der Frau, dem ersten, der ohne modernen Hokuspokus, zu den Bedingungen, unter denen er vor zweihundertfünfzig Jahren zur Schau gestellt wurde, diesen Automaten in Gang setzt.«

»Das Angebot ist großzügig genug«, meinte Dr. Fell munter. »Dann lassen Sie uns die Figur nach draußen fahren, damit wir sie genauer ansehen können.«

Mit einiger Mühe zerrten Elliot und Page die eiserne Kiste, auf der die Puppe saß, über die Schwelle und aus dem Bücherkabinett hinaus auf den Flur. Die Figur bebte und machte einen Ruck mit dem Kopf; Page wartete, daß die Perücke herunterfiel. Doch die Räder drehten sich bemerkenswert leicht. Unter schwerem Knarren und einem leisen Rasseln schoben sie sie ans Ende des Ganges unter das Fenster am Treppenabsatz.

»Zeigen Sie uns, wie sie aufgebaut ist«, bat Dr. Fell.

Gore musterte sie genau. »Sie werden feststellen, daß der Körper des Dings voller Uhrwerke ist. Ich bin kein Mechaniker und kann Ihnen nicht sagen, ob all diese Räder und Hebel wirklich zu etwas nütze sind oder ob es Augenwischerei ist. Ich würde vermuten, viele sind nur Schau, aber vielleicht nicht alle. Entscheidend ist, daß der Körper ganz damit ausgefüllt ist. Auf der Rückseite gibt es ein großes Fenster. Es läßt sich nach wie vor öffnen; stecken Sie ruhig einmal die Hand hinein und – was, du willst mich kratzen?«

Gores Miene verfinsterte sich, als er seine eigene Hand mit einem Ruck zurückzog. In seiner Begeisterung war er beim Gestikulieren den scharfen Fingern des Automaten zu nahe gekommen, und aus einem schartigen Riß auf dem Handrücken kam das Blut. Er steckte die Hand in den Mund.

»Meine alte Freundin mit dem Uhrwerk im Bauch!« brummte er. »Eine schöne Freundin bist du! Ich sollte dir auch noch die andere Hälfte vom Gesicht abschlagen.«

»Nicht!« rief Madeline.

Das amüsierte ihn. »Wie du willst, mein Schatz. Trotzdem, Inspektor – würden Sie so nett sein und die Mechanik prüfen? Was ich zeigen will, ist, daß der Körper voll davon ist und daß sich niemand darin versteckt haben kann.«

Elliot war gewissenhaft wie immer. Die Scheibe, mit der die Öffnung im Rücken verdeckt gewesen war, existierte schon lange nicht mehr. Mit Hilfe seiner Taschenlampe studierte er den Mechanismus und fühlte hinein. Einmal schien er zu stutzen, doch er sagte nur:

»Das stimmt schon, Sir. Da würde keiner hineinpassen. Haben die Leute das früher behauptet – daß jemand drinsteckt und die Puppe bewegt?«

»Die einzige Erklärung, die überhaupt jemand anbieten konnte. Nun gut. Damit hätten wir die eigentliche Figur untersucht. Der einzige andere Teil, das sehen Sie selbst, ist das Sofa, auf dem sie sitzt. Sehen Sie her.«

Diesmal mußte er sich mehr mühen. Links vom Fuß des Sofas gab es einen kleinen Knopf; Page sah, daß die ganze Vorderseite sich an einem Scharnier aufklappen ließ wie eine kleine Tür. Unter einigem Zerren gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Das Innere der Truhe, reines Eisen und inzwischen schwer verrostet, war einen knappen Meter breit und noch nicht einmal einen halben hoch.

Gore strahlte vor Vergnügen.

»Sie erinnern sich«, fragte er, »welche Erklärung für Maelzels schachspielenden Automaten gegeben wurde? Die Figur saß auf mehreren großen Kisten, jede mit ihrer eigenen kleinen Tür. Vor jeder Vorführung öffnete der Operateur diese Türen, damit das Publikum sich überzeugen konnte, daß alles mit rechten Dingen zuging. Doch manche mutmaßten, im Inneren verberge sich ein kleines Kind, das sich bald in die eine, bald in die andere Abteilung drücke und dessen Bewegungen so mit dem Öffnen und Schließen der Türen abgestimmt seien, daß die Zuschauer glaubten, sie hätten sich vergewissert, daß das gesamte Innere leer sei.

Etwas in dieser Art vermutete man auch bei unserer Hexe hier. Aber es gibt Berichte von Zeitgenossen, die schreiben, so etwas sei unmöglich gewesen. Ich brauche nicht zu sagen, daß das Kind in diesem Falle zum einen schon wirklich sehr klein gewesen sein müßte und daß zum zweiten kein Schausteller mit einem solchen Kind durch ganz Europa gereist sein könnte, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre.

Bei der Hexe hier gibt es nur einen einzigen leeren Raum und eine einzige Tür. Die Zuschauer wurden aufgefordert nachzufühlen, daß nichts darin verborgen war, und die meisten taten es auch. Die Figur stand für sich, gut über dem Boden und auf einem Teppich, den der Hausherr zur Verfügung stellte. Und auch wenn es nichts gab, wodurch es sich erklären ließ, erwachte unsere muntere Lady auf Kommando zum Leben, ließ sich eine Cittern geben – spielte jede Melodie, die ein Zuschauer sich wünschte – reichte die Cittern zurück – unterhielt sich mit dem Publikum per Zeichensprache und machte allerlei Scherze nach dem damaligen Geschmack. Wundert es Sie da, daß mein ehrwürdiger Vorfahr begeistert war? Was ich nur immer gern gewußt hätte, das ist, warum er es sich so gründlich anders überlegte, als er das Geheimnis erst einmal erfahren hatte.«

Gore wechselte den Tonfall.

»Und jetzt«, sagte er nur noch, »verraten Sie mir, wie sie funktioniert.«

»Sie – Äffchen Sie!« rief Molly Farnleigh. Sie sagte es im schönsten Ton, doch die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. »Können Sie denn immer nur den Clown spielen, ganz egal, was geschieht? Sind Sie denn immer noch nicht zufrieden? Möchten Sie eine Modelleisenbahn oder Spielzeugsoldaten? Liebe Güte, Brian, helfen Sie mir; ich kann nicht mehr. Und Sie lassen sich anstecken – und Sie auch, ein Polizeibeamter –, spielen mit einer Puppe, machen ein Aufhebens wie eine Horde Kinder, dabei – begreifen Sie denn nicht, daß gestern abend ein Mensch ermordet wurde?«

»Gut«, sagte Gore, »Themenwechsel. Dann fragen wir doch etwas anderes: Verraten Sie mir, wie das funktioniert hat.«

»Sie werden natürlich sagen, es war Selbstmord, das versteht sich.«

»Madam«, sagte Gore mit einer verzweifelten Geste, »ich habe keine Chance. Ich kann sagen, was ich will, und es wird immer einer da sein, der mir deswegen an die Gurgel geht. Wenn ich sage, es war Selbstmord, stürzen A, B und C sich auf mich; wenn ich sage, es war Mord, habe ich D, E und F zum Feind. Wenn ich bisher noch nicht vorgeschlagen habe, daß es ein Unfall war, dann nur deswegen, weil ich mir nicht den Zorn von G, H und I zuziehen wollte.«

»Sehr geistreich, keine Frage. Was sagen Sie, Mr. Elliot?«

Elliot antwortete mit großem Ernst.

»Lady Farnleigh, ich versuche nur, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, im schwierigsten Fall, der mir je untergekommen ist, und ich kann nicht sagen, daß Sie es mir leichtmachen, keiner von Ihnen. Das wissen Sie wohl auch. Wenn Sie auch nur einen Augenblick lang überlegen, werden Sie darauf kommen, daß diese Maschine sehr wohl etwas mit unserem Fall zu tun hat. Ich erwarte ja nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir nicht mit solcher Leichtfertigkeit das Leben schwermachen. Ich habe nämlich auch noch etwas zu dieser Maschine zu sagen.«

Er legte der Figur die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß nicht, ob das Uhrwerk in ihrem Inneren Attrappe ist, wie Mr. Gore vermutet. Ich würde sie gern einmal in meine Werkstatt holen und der Sache auf den Grund gehen. Ich weiß nicht, ob man erwarten kann, daß so ein Mechanismus nach zweihundert Jahren noch funktioniert, aber wenn eine alte Uhr nach so langer Zeit noch läuft, warum nicht auch ein Automat? Aber eines kann ich Ihnen verraten, eines habe ich herausgefunden, als ich durch das Fenster im Rücken hineinsah. Dieser Mechanismus ist vor kurzem geölt worden.«

Molly runzelte die Stirn.

»Und?«

»Es würde mich interessieren, Dr. Fell, was Sie …« Elliot wandte sich um. »He! Wo sind Sie, Sir?«

Die Vorstellung, daß eine so beträchtliche Masse wie die des Doktors plötzlich verschwinden könnte, bestätigte Page nur sein Gefühl, daß bei dieser Sache wirklich alles geschehen konnte. Er kannte Dr. Fells Trick noch nicht, sich unbemerkt zu entfernen und dann an einer ganz unerwarteten Stelle wieder aufzutauchen, meist mit etwas beschäftigt, dessen Sinn keiner verstand. Diesmal antwortete Elliot ein Lichtschein aus dem Bücherkabinett. Dr. Fell hatte eine Reihe von Streichhölzern angezündet und war ganz in die Durchsicht der unteren Regalbretter versunken.

»Hm? Ich bitte um Verzeihung.«

»Haben Sie uns denn gar nicht zugehört?«

»Ach, das. Ahemm – doch. Sie werden nicht erwarten, daß ich auf Anhieb ein Rätsel löse, an dem schon so viele Generationen der Familie gescheitert sind. Mich würde viel mehr interessieren, wie der Schausteller seinerzeit gekleidet war.«

»Gekleidet?«

»Ja. In ein traditionelles Magierkostüm, würde ich vermuten, das ich persönlich schon immer eher unattraktiv fand, wenn auch suggestiv. Aber ich habe ein wenig in diesem Schrank gestochert und weiß noch nicht recht, ob ich etwas gefunden habe …«

»Bei den Büchern?«

»Die Bücher sind die übliche orthodoxe Sammlung des Unorthodoxen, obwohl einige Berichte von Hexenprozessen dabei sind, die mir neu sind. Was ich anscheinend gefunden habe, ist ein Bericht über die Vorführung dieses Automaten, den ich mir hoffentlich ausleihen darf? Ich danke Ihnen. Aber vor allem haben wir dies hier.«

Unter den amüsierten Blicken Gores, dessen Augen boshaft funkelten, kam er aus dem Kabinett gehinkt und brachte eine halb zergangene Holzschachtel mit. Page hatte das Gefühl, daß sich plötzlich auf dem Dachboden die Neugierigen um sie drängten.

Aber es waren nur Kennet Murray und Nathaniel Burrows, die offenbar unten unruhig geworden waren und ihnen nun doch nach oben gefolgt waren. Burrows’ Brillengesicht und Murrays gelassene Züge erschienen am Treppenabsatz, als kämen sie aus einer Falltür herauf. Zunächst blieben sie dort stehen. Dr. Fell schüttelte die hölzerne Schachtel. Er stellte sie, so gut es ging, auf dem Rand des Sofas neben der Figur ab.

»Halten Sie die Maschine fest!« kommandierte der Doktor. »Der Boden hier ist verflucht abschüssig, und wir wollen ja nicht, daß das Ding uns die Treppe hinunterfällt. Und was haben wir hier? Immer wieder verblüffend, was sich im Laufe der Jahre so ansammelt, finden Sie nicht auch?«

In der Schachtel fanden sie einige gläserne Murmeln, ein rostiges Messer mit bemaltem Griff, ein paar Fliegen zum Fischen, eine kleine, schwere Bleikugel, an die vier große Haken montiert waren, daß es aussah wie ein Sträußchen, und (seltsam in solcher Gesellschaft) ein Strumpfband aus längst vergangenen Zeiten. Doch nicht diese Dinge sahen sie an. Aller Augen waren auf das gerichtet, was zuoberst lag: eine doppelte Maske aus Pergament auf Draht, die einen Kopf mit zwei Gesichtern bildete, wie die Darstellungen des Janus. Sie war schwärzlich, verschrumpelt, die Einzelheiten nicht mehr zu erkennen. Dr. Fell rührte ihn nicht an.

»Ein gräßliches Ding«, flüsterte Madeline. »Aber was um Himmels willen ist das?«

»Die Maske des Gottes«, sagte Dr. Fell.

»Die was?«

»Die Maske, die der Zeremonienmeister bei einem Hexensabbat trug. Die meisten, die davon lesen, und sogar manche, die darüber schreiben, haben keine Vorstellung davon, was das Hexenwesen wirklich war. Glauben Sie mir, ich will Ihnen keinen Vortrag halten. Aber was Sie hier sehen, ist ein schönes Beispiel. Der Satanskult war eine perverse Umkehr christlicher Rituale, aber die Wurzeln reichen in ältere, heidnische Zeit zurück. Zu den Göttern, die sie verehrten, zählten der doppelköpfige Janus, Hüter der Fruchtbarkeit und der Wegkreuzungen, und Diana, die Göttin der Fruchtbarkeit und Jungfräulichkeit. Der Hexenmeister (oder die oberste Hexe) trug entweder eine Maske mit dem Bocksgesicht Satans oder eine Maske in der Art, wie wir sie hier vor uns haben. Bah!«

Er schnippte mit dem Finger nach der Maske.

»Solche Andeutungen machen Sie ja jetzt schon eine ganze Weile«, sagte Madeline mit ruhiger Stimme. »Vielleicht bereue ich es, aber könnten Sie mir eine einfache Frage beantworten? Obwohl ich mir lächerlich vorkomme, daß ich sie stelle. Wollen Sie sagen, daß irgendwo hier bei uns Satanisten ihr Unwesen treiben?«

»Das ist ja der Witz«, erklärte Dr. Fell und machte eine Miene, als seien damit alle Rätsel gelöst. »Die Antwort lautet: NEIN.«

Zunächst herrschte Schweigen. Inspektor Elliot wandte sich um. Vor Verblüffung vergaß er ganz, daß er vor Zeugen sprach.

»Also wirklich, Sir! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Wir haben Beweise …«

»Das ist mein Ernst. Unsere Beweise sind keinen Pfifferling wert.«

»Aber …«

»Himmel, warum bin ich darauf nicht schon früher gekommen!« rief Dr. Fell. »Ein Fall ganz nach meinem Geschmack, und trotzdem hätte ich die Lösung beinahe nicht gesehen. Elliot, mein Junge: Hier hat es keine Hexenversammlungen am Hanging Chart gegeben. Keine Panflöten, keine nächtlichen Orgien. Es ist nicht wahr, daß das hiesige Landvolk sich zu solchen Absonderlichkeiten hat hinreißen lassen. Mir hat es gleich nicht geschmeckt, schon als Sie anfingen, Ihr Beweismaterial zu sammeln, und jetzt dämmert mir die ganze gräßliche Wahrheit. Elliot, ein einziger verderbter Verstand steckt hinter allem, was hier geschehen ist, und nur der eine. Alles, von der seelischen Grausamkeit bis zum Mord, ist das Werk eines einzigen Menschen. Und das ist die ganze Wahrheit.«

Mit knarrenden Schritten traten Murray und Burrows hinzu.

»Sie wirken erregt«, meinte Murray nur.

Der Doktor blickte verlegen.

»Nun, das bin ich auch ein wenig. Noch tappe ich im dunkeln. Aber ich sehe das Licht am Ende des Tunnels, und bald werde ich Ihnen mehr sagen können. Es ist – ähm – eine Frage des Motivs.« Sein Blick war in die Ferne gerichtet, und seine Augen funkelten leise. »Außerdem ist es recht ungewöhnlich. Ein Spaß, von dem ich noch nie gehört hatte. Lassen Sie sich das gesagt sein – selbst der Satanismus ist ein ehrliches und geradliniges Geschäft im Vergleich zu dem Vergnügen, das sich hier jemand für seinen Verstand ersonnen hat. Und jetzt entschuldigen Sie mich, meine Herren – und Damen. Es gibt etwas im Garten, das ich mir näher ansehen möchte. Sie machen hier weiter, Inspektor.«

Er war schon am Treppenabsatz, bis Elliot erwachte. Unbeeindruckt nahm der Inspektor den Faden wieder auf.

»Nun denn. Sie wollten etwas fragen, Mr. Murray?«

»Ich wollte den Automaten sehen«, erwiderte dieser eifrig. »Es ist mir nicht entgangen, daß Sie mich ein wenig außen vor lassen, seit ich den wahren Erben bestimmt habe und nicht mehr weiter nützlich bin. Das ist also die Hexe. Und die Sachen hier – erlauben Sie, daß ich sie ansehe?«

Er griff nach der Schachtel, schüttelte sie und hielt sie näher unter das vom Staub graue Licht des Fensters. Elliot studierte ihn.

»Haben Sie etwas von diesen Sachen schon einmal gesehen, Sir?«

Murray schüttelte den Kopf. »Von dieser pergamentenen Maske hatte ich gehört. Aber gesehen hatte ich sie nie. Ich frage mich …«

Und das war der Augenblick, in dem der Automat sich bewegte.

Bis heute schwört Page, daß niemand ihn anstieß. Das mag die Wahrheit sein, vielleicht täuscht er sich aber auch. Sieben Leute drängten sich auf einem engen Gang, dessen abschüssiger Fußboden zur Treppe führte. Doch das Licht war trübe, und Murray, der mit dem Rücken zu der Figur stand, zog ihre Aufmerksamkeit mit dem Stück auf sich, das er in seiner Rechten hielt. Wenn eine Hand sich regte, wenn ein Fuß oder eine Schulter nachhalf, dann bemerkte es keiner. Keiner sah, wie die verrottete Puppe auf ihrem eisernen Sofa sich mit der verstohlenen Plötzlichkeit eines Automobils in Bewegung setzte, dessen Bremse sich löst. Was sie sahen, waren drei Zentner scheppernden Eisens, die davonschossen wie ein Geschützwagen, direkt auf die oberste Treppenstufe zu. Was sie hörten, war das Kreischen der Räder, das Pochen von Dr. Fells Stock auf der Treppe und Elliots Schrei:

»Um Himmels willen, sehen Sie sich vor da unten!«

Dann der Schlag, als die Maschine über die Kante ging.

Page bekam sie zu fassen. Er umklammerte die Eisenkiste, und er hätte ebensogut versuchen können, eine Kanonenkugel aufzuhalten; aber es gelang ihm, sie aufrecht zu halten, und damit verhinderte er, daß sie Hals über Kopf die Treppe hinunterging und alles zermalmte, was ihr in den Weg kam. Die mörderische Masse blieb auf ihren Rädern. Sie flogen über die ersten Stufen, und Page sah Dr. Fell, der sich eben umblickte – auf halbem Wege. Er sah das Tageslicht in der offenen Tür am Ende der Treppe. Er sah, wie Dr. Fell, der sich in dieser Enge keinen Zentimeter regen konnte, einen Arm hob, als wolle er einen Schlag abwehren. Er sah, wie in dem infernalischen Poltern die schwarze Gestalt um Haaresbreite vorüberflog.

Doch er sah mehr als das, er sah Dinge, die niemand voraussehen konnte. Er sah, wie der Automat durch die offene Tür donnerte und auf dem Gang davor landete. Von dem Aufschlag flog ein Rad davon, doch der Schwung war zu groß. Mit einem Ruck warf sich die Maschine an die Tür gegenüber, und die Tür sprang auf.

Page stolperte die Treppe hinunter. Er brauchte den Schrei aus dem Raum gegenüber nicht zu hören. Er wußte, wer in diesem Zimmer lag und warum Betty Harbottle dort lag und was da gerade hineingekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten. Als der Automat endlich stillstand und der Lärm vorüber war, kamen die leiseren Töne wieder hervor. Einen Augenblick lang war alles still, dann hörte er deutlich die Angeln quietschen, als Dr. King die Schlafzimmertür öffnete, die wieder zugeflogen war. Das Gesicht des Arztes war weiß wie ein Laken.

»Du Teufel da oben, was hast du getan?«


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