Ein oder zwei Sekunden lang regte keiner der beiden Rivalen sich, und keiner sprach ein Wort. Zunächst sah es aus, als warte jeder ab, was der andere tun würde; dann reagierte jeder auf seine eigene Weise. Farnleigh nahm die Schultern ein wenig zurück, als wolle er damit sagen, daß er sich weigerte, auf die Auseinandersetzung einzugehen, aber zu einem Nicken und einer Handbewegung und sogar einem beklommenen Lächeln war er doch bereit. Murrays Stimme hatte energisch geklungen. Der Herausforderer hingegen, der zuerst gezögert hatte, zeigte nichts von solchem Verhalten. Sein Ton war ruhig und freundlich.
»Guten Abend, Murray«, sagte er; und Brian Page, der wußte, wie ein Schüler sich gegenüber einem ehemaligen Lehrer fühlt, spürte, wie sich mit einem Schlag die Waagschale zugunsten Farnleighs senkte.
Murray blickte in die Runde.
»Ich – ähm – glaube, es sollte mich wohl besser jemand bekannt machen«, sagte er mit freundlicher Stimme.
Farnleigh, aus seiner Lethargie gerissen, übernahm den Part. Für alle war Murray der »Alte« in dieser Gruppe, obwohl er ein gutes Stück jünger war als Welkyn; er hatte etwas von einem alten Mann, das Unwirsche und Bestimmte, doch Unkonzentrierte. Er nahm am Kopf des Tisches Platz, mit dem Rücken zum Licht. Dann setzte er bedächtig eine große Hornbrille auf, die ihm etwas von einer Eule gab, und musterte noch einmal die ganze Gesellschaft.
»Miss Sutton oder Mr. Burrows hätte ich niemals wiedererkannt«, sagte er dann. »Mr. Welkyn kenne ich flüchtig. Seiner Großzügigkeit habe ich meinen ersten echten Urlaub seit ewigen Jahren zu verdanken.«
Welkyn, sichtlich zufrieden, nahm das offenbar als Zeichen, daß die Zeit gekommen war, zur Tat zu schreiten.
»Sie sagen es. Also, Mr. Murray, mein Klient …«
»Immer mit der Ruhe«, erwiderte Murray recht brummig. »Lassen Sie uns erst einmal Atem holen und ein Schwätzchen halten, wie der alte Sir Dudley immer sagte.« Sein Atem schien tatsächlich knapp, und er holte einige Male tief Luft; dann sah er sich im Zimmer um, und anschließend betrachtete er die beiden Rivalen. »Ich muß schon sagen, das ist ja ein schönes Kuddelmuddel, das Sie da angerichtet haben. Die Sache ist doch noch nicht an die Öffentlichkeit gekommen, oder?«
»Nein«, sagte Burrows. »Und Sie haben ja gewiß ebenfalls mit niemandem gesprochen?«
Murray runzelte die Stirn.
»Da muß ich mich schuldig bekennen. Einen gibt es, dem ich davon erzählt habe. Aber wenn Sie hören, wer es ist, werden Sie es mir, glaube ich, nicht übelnehmen. Es ist mein alter Freund Dr. Gideon Fell, von dessen Detektivarbeit Sie vielleicht gehört haben. Früher war er ein Schulmeister wie ich, und als ich in London Station machte, habe ich ihn besucht. Ich – ähm – möchte Sie in diesem Punkte warnen.« Bei allem Wohlwollen blickten Murrays zusammengekniffene graue Augen nun hart und klar und aufmerksam drein. »Es kann gut sein, daß Dr. Fell demnächst höchstpersönlich hier auftauchen wird. Sie wissen, daß außer mir noch jemand im Bull and Butcher abgestiegen ist, ein Mann, der gern die Leute ausfragt?«
»Der Privatdetektiv?« fragte Farnleigh streng, und der Herausforderer wirkte verblüfft.
»Sie sind also darauf hereingefallen?« sagte Murray. »Das war Dr. Fells Idee. Der Mann ist ein Detektiv und ermittelt offiziell für Scotland Yard. Dr. Fell meinte, niemand werde darauf kommen, daß er Kriminalbeamter ist, wenn er sich benimmt wie ein Privatdetektiv.« Murray amüsierte sich sichtlich darüber, doch seine Augen blieben streng. »Die Grafschaftspolizei hat jemanden angefordert, der die Umstände aufklären soll, unter denen im letzten Sommer Miss Victoria Daly zu Tode gekommen ist.«
Alle waren verblüfft.
Nathaniel Burrows machte eine ärgerliche Handbewegung.
»Miss Daly wurde von einem Landstreicher umgebracht, der später seinerseits auf der Flucht vor der Polizei sein Ende fand.«
»Wir wollen es hoffen. Ich habe es nur im Vorbeigehen gehört, als ich mit Dr. Fell über mein eigenes kleines Rätsel der vertauschten Identitäten sprach. Die Sache interessierte ihn.« Wieder wurde Murrays Stimme streng und, wenn man das von einer Stimme sagen kann, undurchschaubar. »Nun, junger Johnny …«
Selbst die Luft im Zimmer schien unbewegt. Der Herausforderer nickte. Dann nickte auch der Gastgeber, doch Page hatte den Eindruck, daß seine Stirn ein wenig glänzte, als stünde ihm der Schweiß darauf.
»Können wir die Sache denn nicht hinter uns bringen?« fragte Farnleigh. »Was haben wir denn davon, wenn wir Katz und Maus spielen, Mr. … Was haben wir davon, wenn wir Katz und Maus spielen, Murray? Das ist kindisch, und es ist gar nicht Ihre Art. Wenn Sie die Fingerabdrücke haben, zeigen Sie sie her, und dann sehen wir weiter.«
Murray hob die Augenbrauen, dann kniff er die Augen wieder zusammen. Er schien verärgert.
»Davon wissen Sie also. Das hatte ich mir aufgehoben. Und darf ich fragen« – er sagte es sarkastisch und zugleich mit der Sachlichkeit des Profis –, »welcher von Ihnen beiden auf die Idee kam, daß der letzte Beweis die Fingerabdrücke sein würden?«
»Ich glaube, diese Ehre kann ich für mich beanspruchen«, antwortete der Herausforderer und sah sich mit fragender Miene um. »Mein Freund Patrick Gore sagt, später sei es ihm ebenfalls wieder eingefallen. Allerdings war er offenbar im Glauben, Sie hätten die Abdrücke auf einer Glasplatte genommen.«
»Genauso war es«, erwiderte Murray.
»Das ist gelogen«, sagte der Herausforderer.
Der Wandel in seinem Tonfall kam unerwartet. Plötzlich ging es Brian Page auf, daß hinter der glatten mephistophelischen Art des Herausforderers ein gefährliches Temperament lauerte.
»Sir«, erwiderte Murray und sah ihn von oben bis unten an, »es ist nicht meine Art …«
Sogleich war es, als stünde der Schüler wieder vor dem Lehrer und werde unwillkürlich um Verzeihung bitten. Aber er zwang den Impuls nieder. Sein Gesicht entspannte sich, und der gewohnte spöttische Eindruck kehrte zurück.
»Dann lassen Sie mich sagen, ich habe es anders in Erinnerung. Sie haben meine Fingerabdrücke in einem grauen Heftchen genommen. Sie hatten mehrere solche Hefte – Sie haben sie in Tunbridge Wells gekauft. Sie nahmen meine und die meines Bruders Dudley am selben Tag.«
»Das«, sagte Murray, »ist die Wahrheit. Ich habe das Heft mit den Abdrücken hier.« Er fuhr sich mit der Hand über die Innentasche seiner Sportjacke.
»Ich rieche Blut!« rief der Herausforderer.
Tatsächlich hatte sich eine gänzlich neue Stimmung des Grüppchens am Tisch bemächtigt.
»Zugleich«, fuhr Murray fort, als habe er den Einwurf gar nicht gehört, »ist es aber auch die Wahrheit, daß ich meine ersten Experimente mit Fingerabdrücken auf Glasplättchen machte.« Sein Ton wurde noch sachlicher und strenger. »Sie, Sir, als Herausforderer oder Kläger in diesem Falle, müssen bereit sein, mir einige Auskünfte zu geben. Wenn Sie wirklich Sir John Farnleigh sind, dann werde ich bestimmte Dinge über Sie wissen, die niemand sonst weiß. Sie haben damals Bücher geradezu verschlungen. Sir Dudley, der, wie Sie zugeben werden, ein aufgeklärter Mann war, hatte eine Liste von Werken zusammengestellt, die Sie lesen durften. Welche davon Sie mochten und welche nicht, haben Sie nie jemandem verraten – Sir Dudley hatte einmal einen harmlosen Scherz über Ihre Vorlieben gemacht, und danach hätte man die Auskunft nicht einmal auf der Folterbank aus Ihnen herausbekommen. Mir gegenüber haben Sie allerdings von Ihren Vorlieben gesprochen, und das eindeutig genug. Erinnern Sie sich daran?«
»Daran erinnere ich mich gut«, erwiderte der Herausforderer.
»Dann seien Sie doch so freundlich und sagen Sie mir, welche dieser Bücher Sie am meisten mochten und welche den größten Eindruck auf Sie machten.«
»Mit Freuden«, erwiderte der Herausforderer und hob den Blick. »Sherlock Holmes, alles was es gab. Desgleichen Poe. Charles Reade. Der Graf von Monte Cristo. Entführt. Die Geschichte zweier Städte. Alles, was ich an Gespenstergeschichten fand. Alles, was mit Piraten zu tun hatte, mit Mördern, verfallenen Burgen …«
»Das genügt«, sagte Murray mit neutraler Stimme. »Und die Bücher, die Sie am wenigsten mochten?«
»Jede bleierne Zeile von Jane Austen und George Eliot. Alle verlogenen Schulgeschichten, wo es um ›die Ehre der Schule‹ und dergleichen ging. Alle ›nützlichen‹ Bücher, aus denen man lernen konnte, wie Maschinen funktionierten und wie man damit umging. Alle Tiergeschichten. Das sind, wenn ich das hinzufügen darf, im großen und ganzen bis heute meine Vorlieben geblieben.«
Brian Page fand allmählich, daß der Herausforderer doch gar kein so unsympathischer Bursche war.
»Nehmen wir uns die jüngeren Kinder vor, die es hier gab«, fuhr Murray fort. »Die heutige Lady Farnleigh zum Beispiel, die ich als kleine Molly Sutton kannte. Wenn Sie John Farnleigh sind, werden Sie mir sagen können, welchen Spitznamen Sie für sie hatten.«
»Ich habe sie ›die Zigeunerin‹ genannt«, erwiderte der Herausforderer, ohne zu zögern.
»Weshalb?«
»Weil sie immer braune Haut hatte und weil sie immer mit den Kindern der Zigeunerfamilie gespielt hat, die früher jenseits des Wäldchens kampierte.«
Er warf der wütenden Molly einen Blick zu, mit dem Anflug eines Lächelns.
»Und Mr. Burrows dort drüben, wie haben Sie den immer genannt?«
»Uncas.«
»Der Grund dafür?«
»Wenn wir Spion oder so etwas spielten, konnte er lautlos durchs Gebüsch schleichen.«
»Ich danke Ihnen. Und nun zu Ihnen, Sir.« Murray wandte sich Farnleigh zu und sah ihn an, als werde er ihn gleich ermahnen, seine Krawatte richtig zu binden. »Ich habe nicht die Absicht, Katz und Maus zu spielen. Deshalb nur eine einzige Frage an Sie, bevor ich Ihnen beiden dann die Fingerabdrücke abnehme. Von der Antwort auf diese Frage wird mein eigenes privates Urteil abhängen, bevor ich dann den Beweis in den Abdrücken finde. Die Frage lautet: Was ist das Rote Buch von Appin?«
Inzwischen war es fast dunkel in der Bibliothek. Der Abend war noch immer warm, doch mit Sonnenuntergang war ein leichter Wind aufgekommen; man spürte ihn durch die geöffneten Fensterflügel und hörte das Rauschen draußen in den Bäumen. Ein grimmiges – und recht unschönes – Lächeln zeigte sich in Farnleighs Zügen. Er nickte, zog ein Notizbuch und einen kleinen Goldbleistift hervor, riß ein Blatt heraus und schrieb einige Worte darauf. Er faltete den Zettel und schob ihn zu Murray hinüber.
»So leicht führen Sie mich nicht hinters Licht«, sagte Farnleigh. Und dann: »Ist die Antwort korrekt?«
»Die Antwort ist korrekt«, bestätigte Murray. Er sah den Herausforderer an. »Sie, Sir: Können Sie die Frage ebenfalls beantworten?«
Zum erstenmal schien der Herausforderer unschlüssig. Sein Blick schoß von Farnleigh zu Murray mit einem Ausdruck, den Page nicht deuten konnte. Wortlos, mit einer knappen Bewegung, bat er um Notizbuch und Stift, und Farnleigh reichte sie ihm. Der Herausforderer schrieb nur zwei oder drei Worte, dann riß er das Blatt heraus und gab es Murray.
»Und nun, meine Herren«, sagte Murray und erhob sich, »ist es, glaube ich, so weit, daß wir die Abdrücke nehmen können. Hier habe ich das Heft mit den originalen Abdrücken: Man sieht ihm sein Alter an. Hier ist ein Stempelkissen, hier sind zwei weiße Karten. Wenn Sie nun so freundlich – aber könnte ich ein wenig Licht dazu haben?«
Molly ging hinüber zur Tür und schaltete die elektrische Lampe ein. In der Bibliothek hing ein Kronleuchter, dessen schmiedeeiserne Ringe einst mehrere Reihen von Kerzen gehalten hatten; nun steckten kleine elektrische Glühbirnen darin, von denen einige durchgebrannt waren, so daß die Beleuchtung nicht allzu hell war. Aber sie verscheuchte doch die Sommernacht; hundertfach spiegelten sich die Birnen in den Fensterscheiben, und die Bücher auf den hohen Regalen sahen verstaubter denn je aus. Murray hatte sein Arbeitsgerät auf dem Tisch ausgebreitet. Das Heft, auf das sich aller Augen zuerst richteten, war zerfleddert und abgegriffen; den grauen Umschlag zierte ein großer roter Fingerabdruck.
»Ein alter Freund«, sagte Murray und tätschelte es. »Also, meine Herren. ›Gerollte‹ Fingerabdrücke sind zwar besser als flache, aber ich habe mit Absicht keine Rolle mitgebracht, denn ich wollte die Bedingungen nachahmen, unter denen der originale Abdruck entstand. Ich brauche nur Ihren linken Daumen; es gibt nur den einen Abdruck zum Vergleich. Hier habe ich ein Taschentuch, einen Zipfel in Benzol getaucht; das beseitigt das Fett auf Ihrem Finger. Wischen Sie jetzt Ihre linken Daumen ab. Als nächstes …«
Die Prozedur wurde vollzogen.
Page schlug dabei das Herz bis zum Halse – er hätte nicht sagen können, weshalb. Doch alle waren äußerst erregt. Aus irgendeinem Grunde bestand Farnleigh darauf, daß er zuvor den Ärmel hochrollte, so als ginge es um eine Blutübertragung. Beide Anwälte standen, wie Page zu seiner Erheiterung sah, mit offenen Mündern da. Selbst der Herausforderer machte ausgiebig Gebrauch von dem Taschentuch, bevor er den Daumen aufs Papier drückte. Doch was Page am meisten beeindruckte, war die Gewißheit beider Rivalen. Der verrückte Gedanke kam ihm in den Kopf: Was, wenn die beiden Abdrücke vollkommen identisch waren?
Die Chance, daß so etwas geschah, das wußte er, stand eins zu Milliarden. Doch keiner wurde schwach, keiner gab vor dem Test auf. Keiner …
Murray hatte einen schlechten Füllfederhalter. Die Feder quietschte, als er Namen und Kommentare am unteren Ende der weißen Karten aus saugfähigem Papier vermerkte. Er tupfte alles sorgfältig mit Löschpapier ab, und die beiden Kandidaten wischten sich die Finger.
»Nun?« fragte Farnleigh.
»Tja. Nun werden Sie so freundlich sein und mich für eine Viertelstunde meinen Studien überlassen, dann werde ich sehen, was ich tun kann. Verzeihen Sie, wenn ich ungesellig bin – aber ich weiß ja, wie wichtig Ihnen die Sache ist.«
Burrows machte große Augen. »Aber können Sie denn nicht – soll das heißen, Sie können uns nicht sagen …«
»Mein lieber Herr«, erwiderte Murray, dessen eigene Nerven die Belastung zu spüren schienen, »meinen Sie wirklich, ein einziger Blick auf diese Abdrücke werde genügen, sie zu vergleichen? Dazu noch, wo einer der verblaßte Abdruck eines Kindes ist, vor fünfundzwanzig Jahren genommen? Es muß schon viele Übereinstimmungen geben, bevor man ein Urteil wagen kann. Es ist zu machen, aber eine Viertelstunde ist eine schon geradezu unvernünftig optimistische Prognose. Rechnen Sie mit dem Doppelten, dann werden Sie eher hinkommen. Kann ich mich dann jetzt meiner Aufgabe widmen?«
Der Herausforderer gluckste nur leise.
»Das hatte ich nicht anders erwartet. Aber lassen Sie es sich gesagt sein, Sie riskieren viel. Ich rieche Blut. Der Mord an Ihnen ist unausweichlich. Nun machen Sie doch nicht so ein Gesicht; vor fünfundzwanzig Jahren wären Sie begeistert gewesen, Sie hätten es genossen, daß alles von Ihnen abhängt.«
»Ich kann nicht sagen, daß ich das lustig finde.«
»Nichts könnte weniger lustig sein. Hier sitzen Sie unter der Lampe, eine ganze Wand von Fenstern weist hinaus zum dunklen Garten, jeder Baum bietet Deckung, und hinter jedem hört man den Teufel rascheln. Seien Sie auf der Hut.«
»Nun«, erwiderte Murray, und der Anflug eines Lächelns breitete sich um Schnurrbart und Bart aus, »dann sollte ich mich wohl wirklich in acht nehmen. Die ängstlicheren Gemüter unter Ihnen können draußen vor dem Fenster Wache stehen. Aber nun müssen Sie mich entschuldigen.«
Sie gingen hinaus in den Saal, und er schloß die Tür hinter ihnen. Sie standen da, alle sechs, und sahen sich an. In der langen, freundlichen Eingangshalle brannten die Lichter schon, und Knowles stand an der Tür zum Eßzimmer im »neuen« Flügel des Hauses, der sich von der Mitte zum Garten hin erstreckte wie der Längsstrich des Buchstabens T. Molly Farnleigh, auch wenn sie angespannt war, das Gesicht gerötet, versuchte doch, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
»Sollen wir nicht eine Kleinigkeit essen?« fragte sie. »Ich habe ein kaltes Büfett vorbereiten lassen. Es gibt schließlich keinen Grund, warum das Leben nicht weitergehen sollte.«
»Gern«, sagte Welkyn erleichtert, »ich nähme mit Freuden ein Sandwich.«
»Nein danke«, sagte Burrows, »ich habe keinen Hunger.«
»Nein danke«, reihte der Herausforderer sich in den Chor ein. »Ob ich nun annehme oder ablehne, beides wirkte gleich schlecht. Ich gehe nach draußen und werde eine lange, starke, schwarze Zigarre rauchen; außerdem kann ich dann aufpassen, daß Murray nichts geschieht.«
Farnleigh blieb stumm. Er stand an einer verglasten Tür, die vom Saal hinaus in den Garten führte, in jenen Teil, auf den man von den Bibliotheksfenstern hinausblickte. Er studierte seine Gäste mit einem langen, nachdenklichen Blick; dann öffnete er die Tür und ging hinaus in den Garten.
Binnen kurzem stand Page allein. Der einzige in Sichtweite war Welkyn, der im Eßzimmer ein Fischpastetensandwich nach dem anderen verzehrte. Page konsultierte seine Uhr; es war zwanzig Minuten nach neun. Er zögerte, doch dann folgte er Farnleigh in die Kühle des Gartens.
Dieser Teil des Gartens, ein Rechteck von etwa zwölf mal vierundzwanzig Metern, schien abgeschieden von aller Welt. Auf einer Längsseite bildete der neue Flügel den Abschluß, auf der anderen eine hohe Eibenhecke. Durch die Buchen warfen die Fenster der Bibliothek ein schwaches, durchbrochenes Lichtfeld von der Schmalseite her. Im neuen Teil führten auch vom Speisezimmer aus Glastüren hinaus, und vor den Schlafzimmerfenstern im ersten Stock verlief ein Balkon.
Ein Farnleigh des siebzehnten Jahrhunderts hatte sich von William III. und Hampton Court inspirieren lassen und den Garten in streng symmetrischen Bögen und Schnörkeln aus Eibe angelegt, mit breiten, sandbestreuten Wegen dazwischen. Jemandem, der zwischen den Hecken ging, reichten sie bis zur Taille, und das Ganze hatte viel vom Fundament eines Irrgartens. Auch wenn man sich gut genug zurechtfand, war es doch (hatte Page schon oft gedacht) ein guter Ort zum Versteckspielen, wenn man hinter die Hecken geduckt blieb. Den Mittelpunkt bildete eine große, runde offene Fläche, eingefaßt von Rosenstöcken, und wiederum in deren Mitte fand sich ein Teich von etwa drei Metern Durchmesser mit einer sehr niedrigen Einfassung. In dem diffusen Licht, mit einem schwachen Schimmer vom Hause her und einem letzten Glimmen des Abendrots am westlichen Himmel war es ein verwunschener Ort, von Düften durchdrungen. Aber Page hatte sich in diesem Garten noch nie wohl gefühlt – er hätte nicht sagen können, warum.
Mit diesem Gedanken stellte sich ein anderer, unerfreulicherer ein. Es konnte nicht der Garten selbst sein – nichts als eine Handvoll Hecken, Büsche, Blumen, Sand –, der ihm solche Unruhe eingab. Vielleicht lag es daran, daß die Gedanken aller mit solcher Vehemenz auf die Bibliothek konzentriert waren und in dem schummrigen Rechteck ihre Bahn zogen wie Motten im Licht. Gewiß, die Idee, Murray könne etwas zustoßen, war absurd. So einfach, so folgerichtig war das Leben nicht; es war nur die hypnotische Persönlichkeit des Herausforderers, die ihnen diese Vorstellung in den Kopf gesetzt hatte.
»Aber«, sagte Page beinahe laut, »ich kann ja doch einmal zum Fenster gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
Er ging hinüber und schreckte mit einem unterdrückten Fluch zurück, denn es war schon jemand anderes da, der ebenfalls einen Blick werfen wollte. Er konnte nicht sehen, wer es war, denn er oder sie verschwand hinter den schützenden Buchen; aber Page sah Kennet Murray drinnen sitzen, mit dem Rücken zum Fenster, ein gräuliches Heft in der Hand, das er eben aufschlug.
Unsinn.
Page machte kehrt und ging mit raschen Schritten zurück in den kühlen Garten. Er ging am Teich vorüber und blickte zu dem einzelnen Stern auf (Madeline Dane hatte einen poetischen Namen dafür), der hell am Himmel stand, knapp über einer Ansammlung von Schornsteinen des neuen Flügels. Er ging zwischen dem Labyrinth der Hecken hindurch zum anderen Ende, ganz in seine nicht minder labyrinthischen Gedanken vertieft.
Wer war nun der Hochstapler, Farnleigh oder der andere? Page wußte es nicht, und er hatte in den letzten zwei Stunden so oft zuerst auf den einen, dann auf den anderen gesetzt, daß er nun nicht einmal mehr etwas vermuten konnte. Was ihn noch weiter verwirrte, war die Art, wie immer wieder und scheinbar ohne jeden Grund der Name Madeline Dane aufkam …
Die zweite Schmalseite des Gartens faßte eine Lorbeerhecke ein, und dahinter, vom Haus abgeschirmt, stand eine steinerne Bank. Hier setzte er sich und zündete sich eine Zigarette an. Er verfolgte seine Gedanken zurück, so gut er konnte, und wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß ein Gutteil seines Grolls gegen die ganze Welt daher kam, daß immer wieder Madeline Danes Name aufkam. Madeline Dane, deren blonde und schlanke und gutaussehende Gestalt das Skandinavische ihres Nachnamens noch unterstrich, brachte ihm nicht nur die Biographien der Lordrichter durcheinander, sondern auch alles andere, was Page durch den Kopf ging. Er dachte mehr an sie als gut für ihn war. Denn hier saß er nun, auf dem besten Wege, ein verknöcherter Hagestolz zu werden …
Doch plötzlich sprang Brian Page von seiner Steinbank auf und dachte weder an Madeline noch an Hochzeitsglocken: nur an die Laute, die aus dem Garten hinter seinem Rücken herüberdrangen. Sie waren eher leise, doch sie kamen mit einer entsetzlichen Deutlichkeit durch die düsteren halbhohen Hecken. Das Schlimmste war der erstickte Schrei – dann das Schleifen, das Scharren – dann das Platschen und ein schlagendes Geräusch.
Einen Moment lang brachte er es nicht über sich, sich umzudrehen.
Nicht daß er wirklich geglaubt hätte, daß etwas geschehen war. Das konnte er nicht glauben. Doch er ließ seine Zigarette ins Gras fallen, trat sie aus und ging in einem Tempo in den Garten zurück, das schon fast ein Laufschritt war, und zweimal nahm er im Labyrinth den falschen Abzweig. Zuerst schien es, als sei der Garten von allen verlassen; dann sah er Burrows’ hoch aufragende Gestalt in großen Sprüngen auf sich zukommen, und der Strahl einer Taschenlampe leuchtete ihm über die Hecken ins Gesicht. Als er nahe genug herankam und Burrows’ Gesicht hinter der Lampe sehen konnte, waren alle Kühle und aller Duft des Abends verflogen.
»Da wäre es also geschehen«, sagte Burrows.
Page spürte, wie ihm ein wenig schwindelig wurde.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, log er. »Was soll geschehen sein?«
»Du kannst es mir schon glauben«, erwiderte Burrows, bleich wie er war, geduldig und mit Nachdruck. »Komm und hilf mir, ihn herauszuholen. Ich kann noch nicht sagen, ob er tot ist, aber ich glaube schon. Er liegt im Teich, mit dem Gesicht nach unten.«
Page starrte in die Richtung, die Burrows ihm wies. Er konnte den Teich nicht sehen – die Hecken verbargen ihn –, doch von wo er stand, hatte er einen guten Blick auf die Rückseite des Hauses. Aus einem Fenster eines erleuchteten Zimmers über der Bibliothek blickte Knowles, der alte Butler, hinunter, und Molly Farnleigh stand auf dem Balkon vor den Schlafzimmerfenstern.
»Glaube mir«, beharrte Page, »niemand hätte gewagt, sich an Murray zu vergreifen! Unmöglich. Undenkbar – und was hätte Murray denn am Teich zu suchen gehabt?«
»Murray?« fragte sein Gegenüber und starrte ihn an. »Wie kommst du auf Murray? Wer hat denn gesagt, daß es Murray ist? Das ist Farnleigh, Mann. John Farnleigh. Noch bevor ich herkommen konnte, war es bereits geschehen. Und ich glaube nicht, daß ihm noch zu helfen ist.«