Kapitel 4

Es war, als habe der Mann das in der Hinterhand gehalten und nur auf den richtigen Augenblick gewartet, es vorzubringen, und habe sich schon die ganze Zeit über in der Vorstellung dieses Triumphes gesonnt. Er schien sogar ein wenig enttäuscht, daß er die Karte schon so früh ausspielen mußte und vielleicht unter weniger dramatischen Umständen, als er erhofft hatte. Aber die anderen sahen ja nicht das Schauspiel darin.

Brian Page hörte, wie Burrows mit einem gewissen Röcheln die Luft einsog. Dann erhob Burrows sich.

»Das ist mir nicht mitgeteilt worden«, erklärte der Anwalt mit Vehemenz.

»Aber gewiß hatten Sie es erraten?« Der fette Mr. Welkyn grinste.

»Ich bin nicht zum Raten hier«, erwiderte Burrows. »Ich sage es noch einmal, Sir, das ist mir nicht mitgeteilt worden. Es war nicht von Fingerabdrücken die Rede.«

»Auch wir haben es nicht erfahren, nicht offiziell. Mr. Murray zog es vor, es für sich zu behalten. Aber«, fuhr Welkyn voller Selbstgefälligkeit fort, »muß man es dem gegenwärtigen Träger denn sagen? Wenn er der echte Sir John Farnleigh ist, wird er sich doch gewiß erinnern, daß Mr. Murray vor vielen Jahren die Fingerabdrücke des Jungen nahm? 1910 oder 1911 muß es gewesen sein.«

»Ich sage noch einmal, Sir …«

»Und ich sage noch einmal, Mr. Burrows: Mußte man es Ihnen denn mitteilen? Was hat der gegenwärtige Träger dazu zu sagen?«

Farnleighs Gesichtszüge waren wie versteinert, so als halte er seine Gefühle unter Verschluß. Wie stets, wenn er mit seinen Gedanken in die Dornen geriet, tat er zwei Dinge. Er ging mit kurzen, raschen Schritten im Zimmer auf und ab, und er holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn um seinen Zeigefinger kreisen.

»Sir John!«

»Hm?«

»Erinnern Sie sich«, fragte Burrows, »an die Umstände, von denen Mr. Welkyn spricht? Hat Mr. Murray je Fingerabdrücke von Ihnen genommen?«

»Ach, das«, sagte Farnleigh, als spiele es keinerlei Rolle. »Doch, das weiß ich jetzt wieder. Ich hatte es vergessen. Aber vorhin, als ich mit Ihnen und meiner Frau gesprochen habe – Sie wissen schon –, da fiel es mir wieder ein. Ich hatte überlegt, ob es darauf hinauslaufen würde, und mir wurde gleich viel leichter ums Herz. Jawohl, der alte Murray hat seinerzeit meine Fingerabdrücke genommen.«

Der Herausforderer wandte sich um. Auf seinen Zügen spielte nicht nur leise Verblüffung, sondern ein plötzliches, erstauntes Mißtrauen.

»Damit kommen Sie nicht durch«, sagte er. »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie sich allen Ernstes dem Vergleich der Fingerabdrücke stellen?«

»Ob ich mich ihm stelle?« wiederholte Farnleigh mit grimmigem Vergnügen. »Besser hätte es doch gar nicht kommen können. Sie sind der Hochstapler, das wissen Sie genau. Murrays altes Fingerabdruckspiel – und jetzt, wo ich daran denke, sehe ich es wieder haargenau vor mir! –, das wird die Sache klären. Und dann kann ich Sie vor die Tür werfen.«

Die zwei Rivalen sahen sich an.

Seit einer ganzen Weile versuchte Brian Page nun schon, Gewichte in die beiden Waagschalen zu werfen, die einfach nicht stillstehen wollten. Er hatte versucht, ohne jeden Einfluß von Freundschaft und Vorurteil herauszufinden, wer die Wahrheit sprach und wer nicht. Die Frage war ja nicht schwer. Wenn Patrick Gore (um ihn bei dem Namen zu nennen, mit dem er eingetreten war) der Hochstapler war, so mußte er zu den glattesten und kaltschnäuzigsten Lügnern zählen, die je in eines Mannes Haus gekommen waren. Wenn der gegenwärtige John Farnleigh der Hochstapler war, dann war er nicht nur ein gerissener Gauner hinter der Maske des naiven und aufrechten Mannes, sondern dazu einer, der selbst vor Mord nicht zurückschreckte.

Es folgte eine Pause.

»Wissen Sie, mein Freund«, sagte der Herausforderer wie mit neu erwachtem Interesse, »ich bewundere Ihre Unverfrorenheit. Warten Sie. Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, es ist nicht als Herausforderung gemeint. Ich stelle ganz sachlich fest, daß ich die himmelschreiende Unverfrorenheit bewundere, die selbst einen Casanova vor Neid erbleichen ließe. Es wundert mich überhaupt nicht, daß Sie die Fingerabdrücke ›vergessen‹ haben. Damals habe ich mein Tagebuch noch nicht geführt. Aber daß Sie sagen, Sie hätten sie vergessen – daß Sie es wirklich wagen zu sagen, Sie hätten sie vergessen …«

»Was soll denn daran Besonderes sein?«

»John Farnleigh hätte das nicht vergessen; er hätte es unmöglich vergessen können. Ich, und ich bin John Farnleigh, habe es jedenfalls nicht vergessen. Das waren doch gerade die Dinge, derentwegen Kennet Murray der einzige Mensch auf der Welt war, von dem ich mir etwas sagen ließ. Murray hat mir beigebracht, wie man Fußspuren liest. Murray hat mir beigebracht, wie man Verkleidungen erkennt. Was Mörder mit ihren Leichen anstellen. Puh! Und was hat Murray alles von Fingerabdrücken erzählt, die damals in der Wissenschaft der letzte Schrei waren. Selbstverständlich weiß ich« – er unterbrach sich selbst, hob die Stimme und sah sich unter den Anwesenden um –, »daß Sir William Herschel den kriminologischen Wert von Fingerabdrücken schon in den 1850er Jahren entdeckte, und Ende der Siebziger entdeckte Dr. Faulds ihn noch einmal. Aber als Beweismaterial vor einem englischen Gericht wurden sie erst im Jahr 1905 anerkannt, und selbst da hatte der Richter noch seine Zweifel. Es blieb jahrelang ein heiß diskutiertes Thema, bis sie sich endlich durchgesetzt hatten. Und trotzdem sagen Sie, Sie seien nicht auf den Gedanken gekommen, daß es sich bei dem Beweis, den Murray vorlegen wollte, um Fingerabdrücke handeln könnte.«

»Sie reden eine ganze Menge«, sagte Farnleigh, der wiederum rot angelaufen war.

»Aber ja. Nie im Leben haben Sie an Fingerabdrücke gedacht, und plötzlich erinnern Sie sich. Dann verraten Sie mir doch, wie Murray die Abdrücke damals genommen hat.«

»Wie er sie genommen hat?«

»Nach welchem Verfahren.«

Farnleigh dachte nach. »Auf einer Glasplatte«, sagte er.

»Unsinn. Sie wurden auf Papier gemacht, das es in speziellen Heftchen gab – damals ein beliebtes Kinderspiel. Kleine graue Heftchen. Murray hatte eine große Sammlung von solchen Abdrücken, auch von meinen Eltern und überhaupt von allen, die bereit waren, sie ihm zu geben.«

»Warten Sie! Stimmt, jetzt sehe ich das Heft wieder vor mir – wir saßen drüben am Fenster …«

»Jetzt wollen Sie tun, als wüßten Sie es plötzlich.«

»Hören Sie«, sagte Farnleigh beherrscht, »für wen halten Sie mich eigentlich? Glauben Sie, ich bin einer von diesen Burschen im Varieté, denen die Leute Fragen stellen können, und sie wissen auf Anhieb, wie viele Paragraphen die Magna Carta hat oder welches Pferd beim Derby von 1882 als zweites ins Ziel kam? Genau wie einer von denen klingen Sie nämlich. Niemand merkt sich die kleinen Einzelheiten jedes Tages. Menschen verändern sich, das wissen Sie genausogut wie ich.«

»Aber doch nicht in ihrem innersten Wesen, so wie Sie sich geändert haben wollen. Darum geht es doch letzten Endes. Kein Mensch kann seine Seele in ihr Gegenteil verkehren.«

Während dieser ganzen Unterhaltung hatte Mr. Welkyn mit hochwichtiger Miene dabeigesessen, und seine vorstehenden blauen Augen strahlten Selbstgefälligkeit aus. Nun hob er die Hand.

»Meine Herren, meine Herren! Ist denn all diese Feindseligkeit wirklich – gehörig, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen? Die Angelegenheit läßt sich doch mit einigen wenigen Schritten regeln …«

»Ich bestehe darauf«, beharrte Nathaniel Burrows, »daß ich nicht davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß Fingerabdrücke als Beweismittel vorgelegt werden sollten, und muß im Interesse von Sir John Farnleigh …«

»Mr. Burrows«, sagte der Herausforderer ruhig, »Sie müssen es doch erraten haben, auch wenn wir vorzogen, es Ihnen nicht mitzuteilen. Sie müssen es vom ersten Tag an erraten haben, denn warum hätten Sie sonst auf unseren Anspruch eingehen sollen? Sie wollen nach beiden Seiten taktieren, damit Sie in jedem Falle fein dastehen, ganz gleich, ob sich Ihr Mann nun als Gauner entpuppt oder nicht. Nun, ich glaube, es wird allmählich Zeit, daß Sie sich zu unserer Seite bekennen.«

Farnleigh hielt in seinen Schritten inne.

Er warf den Schlüsselbund in die Luft, fing ihn mit einem dumpfen Platschen seiner Handfläche auf und schloß seine langen Finger darum.

»Ist das wahr?« fragte er Burrows.

»Wenn es wahr wäre, Sir John, dann hätte ich andere Schritte ergreifen müssen. Aber es ist meine Pflicht, mich zu vergewissern …«

»Schon gut«, sagte Farnleigh. »Ich wollte nur wissen, wo meine Freunde stehen. Ich sage ja nicht viel. Meine Erinnerungen, die guten wie die schlechten – und manche davon rauben mir nachts den Schlaf – behalte ich für mich. Legen Sie Ihre Fingerabdrücke vor, und dann werden wir sehen. Wo bleibt denn Murray? Wieso ist er nicht längst hier?«

Der Herausforderer strahlte vor mephistophelischer Freude und setzte dabei doch zugleich ein sinistres Stirnrunzeln auf.

»Wenn alles ginge, wie man es erwarten könnte«, sagte er mit Gusto, »dann wäre Murray längst ermordet, und seine Leiche läge im Gartenteich. Der Teich ist doch noch da, nicht wahr? (Hätte mich auch gewundert.) Aber in Wirklichkeit ist er wohl auf dem Weg zu uns. Und ich will niemanden auf dumme Gedanken bringen.«

»Dumme Gedanken?« fragte Farnleigh.

»Na, wie es bei Ihnen damals war. Ein schneller Schlag und ein feines Leben.«

Diese Worte schienen den ganzen Raum mit einer Kälte zu überziehen. Farnleighs Stimme war hoch und heiser. Er hob die Hand, dann streifte er sie über die Seite seiner Tweedjacke, wie in einer nervösen Geste, mit der er sich beschwichtigen wollte. Das Geschick, mit dem sein Gegner immer wieder genau die Sätze vorzubringen wußte, die ihm einen Stich versetzten, war geradezu unheimlich. Farnleigh hatte einen recht langen Hals, und um so deutlicher sah man nun, wie er ihm schwoll.

»Glaubt ihm das jemand?« preßte er hervor. »Molly – Page – Burrows – glaubt einer von euch ihm das?«

»Niemand glaubt das«, antwortete Molly mit festem Blick. »Es ist dumm von dir, daß du dich aus der Fassung bringen läßt, denn genau darauf legt er es ja an.«

Der Herausforderer betrachtete sie mit interessiertem Blick.

»Sie ebenfalls, Madam?«

»Ebenfalls was?« fragte Molly und schien schon im nächsten Augenblick wütend, daß sie darauf eingegangen war. »Sie müssen wohl jeden vor den Kopf stoßen?«

»Glauben Sie ebenfalls, daß Ihr Mann John Farnleigh ist?«

»Ich weiß es.«

»Wie das?«

»Wenn Sie es wissen wollen – es ist meine weibliche Intuition«, erwiderte Molly kühl. »Das ist nicht so albern, wie es klingt – es ist etwas, das auf seine Weise und innerhalb seiner Grenzen immer recht hat. Ich wußte, daß er es war, im Augenblick, in dem ich ihn wiedersah. Natürlich werde ich mir die Argumente anhören, die Sie vorzubringen haben, aber es müssen schon gute Argumente sein.«

»Lieben Sie ihn – wenn ich mir erlauben darf, das zu fragen?«

Diesmal errötete Molly unter ihrem sonnengebräunten Teint, aber sie antwortete nach ihrer üblichen Manier. »Nun, sagen wir, ich habe ihn sehr gern, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Sie sagen es. Sie-sagen-es. Sie ›haben ihn gern‹, und Sie werden ihn immer gern haben. Sie kommen mit ihm aus, und Sie werden stets gut miteinander auskommen. Aber Sie lieben ihn nicht und Sie haben sich nicht in ihn verliebt, als Sie ihn sahen. Verliebt sind Sie in mich – genauer gesagt in eine Projektion aus Ihrer Kindheit, die Sie auf den Hochstapler übertrugen, als ›ich‹ nach Hause zurückkehrte …«

»Meine Herren, meine Herren!« rief Mr. Welkyn wie ein Zeremonienmeister bei einem stürmischen Bankett. Er schien recht schockiert.

Brian Page meldete sich nun zu Wort, mit betont guter Laune, um seinem Gastgeber Mut zu machen.

»Jetzt wird es aber doch arg psychologisch«, sagte Page. »Burrows, was machen wir nur mit dieser Blüte von Ich-weiß-nicht-woher?«

»Ich fürchte, wir werden noch eine halbe Stunde an ihr schnuppern müssen«, erwiderte Burrows kalt. »Außerdem kommen wir wieder vom Thema ab.«

»Aber nicht im geringsten«, versicherte der Herausforderer ihm. Nun schien ihm tatsächlich an Freundlichkeit gelegen. »Ich hoffe nur, ich habe nicht schon wieder mit einer Bemerkung Anstoß erregt? Sie sollten selbst einmal einige Zeit beim Zirkus verbringen, dann bekämen Sie eine dickere Haut. Aber ich frage Sie, Sir.« Er blickte Page an. »War es denn nicht vernünftig, was ich zu der Dame gesagt habe? Sagen Sie es nur, wenn Sie es anders sehen. Sie könnten zum Beispiel einwenden, daß sie, wenn sie ihre Zuneigung schon als Kind auf mich fixiert hätte, ein wenig älter hätte sein müssen – sagen wir, im Alter von Miss Madeline Dane. War es das, was Sie einwenden wollten?«

Molly lachte.

»Nein«, antwortete Page. »Ich wollte überhaupt nichts einwenden. Ich habe überlegt, mit was Sie wohl Ihre ersten Erfolge im Zirkus gefeiert haben.«

»Meine Erfolge?«

»Sie haben uns nicht gesagt, mit welcher Nummer Sie im Zirkus so groß herausgekommen sind. Ich kann mich nicht entscheiden, ob Sie (1) ein Wahrsager waren oder (2) ein Psychologe oder (3) der Mann, der nie etwas vergißt, oder (4) ein Zauberkünstler oder womöglich eine Mischung aus allen vieren. Von all dem hat Ihr Benehmen etwas, und noch von manch anderem dazu. Sie kommen mir ein wenig zu sehr vor wie Mephistopheles, den es nach Kent verschlagen hat. Sie gehören nicht hierher. Sie bringen das Leben hier durcheinander, und das ärgert mich.«

Das schien dem Herausforderer zu gefallen.

»Tatsächlich? Wird ja auch Zeit, daß hier ein wenig Leben in die Bude kommt«, meinte er. »Was meinen Beruf angeht, bin ich vielleicht ein wenig von allem. Aber eines bin ich auf alle Fälle: Ich bin John Farnleigh.«

Am anderen Ende des Zimmers öffnete sich die Tür, und Knowles trat ein.

»Mr. Kennet Murray wünscht Sie zu sprechen, Sir«, verkündete er.

Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen. Ein letzter feuriger Strahl des Abendlichts fiel durch die Bäume und die hohen Fensterscheiben. Er tauchte den ganzen Raum in Rot, dann verglomm er, und zurück blieb ein gleichmäßiges warmes Zwielicht, gerade noch genug, daß Gesichter und Gestalten gut zu erkennen blieben.

Auch Kennet Murray waren bei diesem mitsommerlichen Sonnenuntergang mancherlei Dinge durch den Kopf gegangen. Er war ein großer, hagerer, recht gebückt gehender Mann, der trotz seiner großen Intelligenz nie wirklich Erfolg im Leben gehabt hatte. Obwohl er kaum fünfzig war, waren sein blonder Schnurrbart und der blonde Bart so kurz geschnitten, daß es schon beinahe wie Stoppeln aussah, fast grau. Er war alt geworden, wie Burrows schon gesagt hatte; er war streng geworden und grimmig, wo er früher gutmütig gewesen war. Doch war von dieser gutmütigen Natur noch viel geblieben, und sie sprach aus seinen Augen, als er nun die Bibliothek betrat. Seine Augen hatten das leicht Zusammengekniffene eines Mannes, der in sonnigen Gegenden lebt.

Er blieb stehen, blickte musternd die Szene an, wie man in ein Buch blicken mag, und richtete sich auf. Für einen der beiden Rivalen um den Besitz mußte nun die Erinnerung an alte Zeiten wiederkehren, ein unbändiger Haß auf Menschen, die längst tot waren, und er mußte Murray sehen, wie er damals gewesen war.

Murray stand da und studierte die Versammlung. Er runzelte die Stirn, dann blickt er fragend – stets der Lehrer –, schließlich grimmig. Er richtete den Blick auf einen Punkt, der zwischen dem Herausforderer und dem gegenwärtigen Träger lag.

»Nun, kleiner Johnny?« sagte er.

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