»Krallen?« fragte Elliot.
»Ich hatte mir erlaubt, den Ausdruck etwas freier zu gebrauchen«, sagte Murray, nun so schulmeisterlich, daß Page ihn am liebsten vors Schienbein getreten hätte. »Es müssen nicht unbedingt die Krallen eines Tiers gewesen sein. Soll ich Ihnen erläutern, was mir durch den Kopf geht?«
Elliot lächelte. »Nur zu. Mir soll’s recht sein. Und ich könnte mir vorstellen, daß Sie noch eine Menge zu erläutern haben.«
»Dann stellen Sie sich einmal folgendes vor«, sagte Murray, nun plötzlich wieder im Plauderton. »Wenn wir davon ausgehen, daß es Mord war, und wenn wir uns vorstellen, daß das Messer die Tatwaffe war, dann ergibt sich dabei eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Und zwar diese: Warum hat der Mörder das Messer nicht anschließend in den Teich geworfen?«
Doch auch weiterhin sah der Inspektor ihn nur fragend an.
»Überlegen Sie doch, wie es war. Derjenige, der diesen Mann umgebracht hat, hatte sich ein fast perfektes – äh …«
»Arrangement?« schlug Gore vor, als der andere zögerte.
»Ein gräßliches Wort, Johnny, aber es wird reichen. Also. Der Mörder hatte sich ein fast perfektes Arrangement ausgedacht, bei dem alles auf Selbstmord verweisen würde. Stellen Sie sich vor, er hätte seinem Opfer die Kehle durchschnitten und das Messer in den Teich geworfen. Kein Mensch hätte anschließend daran gezweifelt, daß es Selbstmord war. Das Opfer war ein Hochstapler, dessen Entlarvung bevorstand – der Selbstmord schien sein einziger Ausweg. Selbst so wie die Dinge jetzt stehen, haben Sie ja Mühe zu glauben, daß er sich nicht selbst umgebracht hat. Hätte das Messer im Teich gelegen, wäre es ein eindeutiger Fall gewesen. Das hätte sogar als Erklärung gereicht, daß der Tote keine Fingerabdrücke auf dem Messer hinterlassen hatte.
Nun lasse ich mir, meine Herren, nicht erzählen, daß der Mörder nicht wollte, daß es aussah wie Selbstmord. Jeder Mörder wünscht sich das. Wenn es sich einrichten läßt, ist ein falscher Selbstmord für ihn der beste Schutz. Warum ist also das Messer nicht im Teich gelandet? Es hätte niemanden belastet außer den Toten: ein weiteres Indiz dafür, daß er sich umgebracht hatte – und vermutlich der Grund dafür, daß der Täter dieses Mittel wählte. Doch statt dessen nimmt der Mörder es und steckt es (wenn ich mich Ihrer Deutung anschließe) in eine Hecke drei Meter vom Teich fort.«
»Und was beweist das?« fragte Elliot.
»Das beweist überhaupt nichts.« Murray hob den Finger. »Aber es deutet eine ganze Menge an. Überlegen Sie nun, wie dieses Verhalten zu dem Verbrechen paßt. Glauben Sie dem alten Knowles seine Geschichte?«
»Im Augenblick sind wir bei Ihren Theorien, Sir.«
»Das ist eine legitime Frage«, erwiderte Murray recht streng, und Page hatte das Gefühl, daß er nur mit Mühe ein »Nicht so zimperlich, junger Herr« unterdrückte. »Wenn wir so weitermachen, kommen wir zu nichts.«
»Genausowenig kommen wir weiter, wenn wir sagen, daß ich an etwas Unmögliches glaube, Mr. Murray.«
»Dann glauben Sie also, es war Selbstmord?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»An was glauben Sie dann?«
Elliot unterdrückte ein Grinsen. »So wie Sie zubeißen, Sir, sollte ich wohl besser antworten. Es gibt – sagen wir – Indizien, die Knowles’ Darstellung stützen. Lassen Sie uns der Einfachheit halber davon ausgehen, daß ich ihm seine Geschichte abnehme oder zumindest überzeugt bin, daß er sie für die Wahrheit hält. Wie geht es dann weiter?«
»Nun, wir können folgern, daß er nichts gesehen hat, weil es nichts zu sehen gab. Das läßt sich kaum bezweifeln. Der Mann am Teich stand allein, umgeben von einer Fläche aus Sand. Folglich ist kein Mörder zu ihm getreten. Folglich geschah der Mord nicht mit dem schartigen und dramatisch blutbefleckten Messer, das wir hier vor uns liegen haben; das Messer wurde später in die Hecke gesteckt, damit Sie glauben sollten, es sei die Tatwaffe. Stimmen Sie mir soweit zu? Da das Messer nicht durch die Luft geflogen sein, ihm dreimal die Kehle durchschnitten und dann einen Satz in die Hecke gemacht haben kann, können wir folgern, daß es nicht die Tatwaffe war. Das ist doch überzeugend, oder?«
»Also ich weiß nicht«, wandte der Inspektor ein. »Sie sagen, es war eine andere Waffe. Kam denn dann diese andere Waffe durch die Luft geflogen, fügte ihm drei Schnitte durch die Kehle zu und flog wieder davon? Nein, Sir. Das glaube ich erst recht nicht. Da bin ich ja noch besser dran, wenn ich mich an das Messer halte.«
»Lassen Sie uns fragen, was Dr. Fell davon hält«, entgegnete Murray, offensichtlich gekränkt. »Was meinen Sie, Doktor?«
Dr. Fell schnaufte. Ein geheimnisvolles Brodeln und Rumpeln in seinem Inneren ließ Widerspruch erwarten, doch seine Worte waren milde.
»Ich bleibe beim Messer. Außerdem hat sich mit Sicherheit etwas in dem Garten bewegt, und zwar etwas, das mir alles andere als geheuer ist. Inspektor, Sie haben die Zeugenaussagen aufgenommen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch ein wenig darin stochere? Ich würde gern dem interessantesten Mann hier im Raum ein paar Fragen stellen.«
»Dem interessantesten Mann?« fragte Gore und setzte sich in Positur.
»Hmpf. Ich meine natürlich«, sagte Dr. Fell, hob seinen Stock und zeigte auf ihn, »Mr. Welkyn.«
Superintendent Hadley hatte sich schon oft über diese Angewohnheit beklagt. Dr. Fell, pflegte er zu sagen, ist ein wenig zu überzeugt davon, daß das Wahre immer das Falsche ist oder doch das Unerwartete, und mit beiden Händen schwingt er seine Fahnen auf den Trümmern der Logik. Page wäre nie auf die Idee gekommen, Harold Welkyn als den interessantesten Mann im Raum anzusehen. Der fette Anwalt mit seinem langen griesgrämigen Kinn schien nicht minder überrascht. Aber Hadley mußte auch immer wieder zugeben, daß der alte Gauner ja leider oft genug recht hatte.
»Mich meinen Sie, Sir?« fragte Welkyn.
»Vor einer Weile habe ich zum Inspektor gesagt, daß Ihr Name mir äußerst bekannt vorkam«, sagte Dr. Fell. »Ich weiß jetzt wieder, woher. Interessieren Sie sich ganz allgemein für das Okkulte? Oder sammeln Sie kuriose Klienten? Ich könnte mir vorstellen, daß Sie unseren Freund hier« – er nickte in Richtung Gore – »ebenso für Ihre Sammlung requiriert haben wie seinerzeit den Ägypter.«
»Ägypter?« fragte Elliot. »Welchen Ägypter?«
»Denken Sie einmal nach. Ich bin sicher, es fällt Ihnen wieder ein. Ledwidge gegen Ahriman, verhandelt vor Richter Rankin. Verleumdung. Unser Mr. Welkyn war der Verteidiger.«
»Diese Sache mit dem Geisterseher oder was er war?«
»Genau«, bestätigte Dr. Fell hocherfreut. »Ein schmächtiger Bursche, fast schon ein Zwerg. Aber er war kein Geisterseher. Er konnte Gedanken lesen, oder zumindest behauptete er das. Er war eine Sensation; die Frauen von ganz London lagen ihm zu Füßen. Natürlich hätte man ihn nach alten Gesetzen, die nie aufgehoben worden sind, als Hexer anklagen können …«
»Ein Skandal, daß so etwas möglich ist!« rief Welkyn mit einem Schlag auf den Tisch.
»… doch der Prozeß wurde ihm wegen Verleumdung gemacht, und dank Mr. Welkyns inspirierter Verteidigung und dank Gordon-Bates als Staatsanwalt fiel das Urteil zu seinen Gunsten aus. Dann gab es da den Fall von Madame Duquesne, Spiritistin, die des Totschlags angeklagt war, weil ein Séanceteilnehmer in ihrem Haus vor Schreck tot umgefallen war. (Juristisch hochinteressant, nicht wahr?) Auch dort übernahm Mr. Welkyn die Verteidigung. Der Prozeß war, wenn ich mich recht entsinne, nichts für schwache Nerven. O ja! Und noch ein Fall: eine gutaussehende Blondine, das weiß ich noch. Die Sache kam nie bis zur Anklageerhebung, denn Mr. Welkyn …«
Patrick Gore betrachtete seinen Anwalt mit gänzlich neuen Augen. »Ist das wahr?« fragte er. »Glauben Sie mir, meine Herren, das habe ich nicht gewußt.«
»Aber es stimmt, nicht wahr?« beharrte Dr. Fell. »Sie sind der Mann.«
Welkyn gab sich beherrscht, doch ein Staunen war ihm anzumerken.
»Aber gewiß bin ich das«, antwortete er. »Was ist denn dabei? Und was hat es mit dem gegenwärtigen Fall zu tun?«
Page konnte nicht sagen, warum es ihm so unpassend vorkam. Harold Welkyn, wie er seine rosa Fingernägel studierte und dann mit wachen kleinen Äuglein aufblickte, war das Muster eines braven Mannes; aber warum sollte er nicht trotzdem seine Vorlieben haben? Die gut geschnittene Weste, die schimmernden Kragenspitzen hatten nichts damit zu tun, welche Klienten er sich aussuchte und welchen Überzeugungen er anhing.
»Es gibt da noch einen Grund, dessentwegen ich Sie frage, Mr. Welkyn«, brummte Dr. Fell. »Sie sind der einzige, der gestern abend im Garten etwas Auffälliges gesehen oder gehört hat. Würden Sie die betreffende Stelle aus Mr. Welkyns Aussage noch einmal vorlesen, Inspektor?«
Elliot nickte und ließ den Blick nicht von Welkyn, bis er sein Notizbuch aufgeschlagen hatte.
»Ich vernahm ein Rascheln im Gebüsch oder in der Hecke, und ich hatte das Gefühl, als sähe mich durch eine der Glasscheiben etwas an, und zwar durch eine der untersten gleich über dem Boden. Ich fürchtete, daß draußen gewisse Dinge im Gange waren, aber es waren Dinge, die mich nichts angingen.«
»Genau die Stelle meinte ich«, sagte Dr. Fell, die Augen geschlossen.
Elliot schien unschlüssig, als schwanke er zwischen zwei möglichen Ansätzen, doch Page hatte den Eindruck, daß nicht nur Dr. Fell, sondern auch dem Inspektor viel daran lag, daß die Sache zur Sprache kam. Elliot reckte das strenge, strohblonde Haupt ein wenig vor.
»Also, Sir«, sagte er. »Heute morgen wollte ich nicht näher nachfragen, weil ich warten wollte, bis wir – mehr wußten. Was hat diese Aussage zu bedeuten?«
»Genau das, was Sie vorgelesen haben.«
»Sie waren im Speisezimmer, nur an die fünf Meter vom Teich, und Sie haben nicht ein einziges Mal eine von den Glastüren dort geöffnet und einen Blick hinausgeworfen? Selbst als Sie die Laute hörten, von denen Sie sprechen?«
»Nein.«
»›Ich fürchtete, daß draußen gewisse Dinge im Gange waren, aber es waren Dinge, die mich nichts angingen‹«, las Elliot. »Bezieht sich das auf den Mord? Hatten Sie in dem Augenblick das Gefühl, daß ein Mord geschieht?«
»Nein, das mit Sicherheit nicht«, sagte Welkyn und machte dabei einen kleinen Hüpfer auf seinem Stuhl. »Und bis jetzt habe ich keinen Grund zu der Annahme, daß einer geschehen ist. Haben Sie denn den Verstand verloren, Inspektor? Sie haben eindeutige Beweise für einen Selbstmord vor Augen, und trotzdem wollen Sie allesamt in den Sternen lesen und etwas anderes finden …«
»Hatten Sie denn dann gestern abend das Gefühl, daß gerade ein Selbstmord geschieht?«
»Nein, zu einer solchen Annahme hatte ich keinen Grund.«
»Worauf spielen Sie dann in Ihrer Aussage an?« fragte Elliot unbeirrt.
Welkyn hatte die Handflächen flach auf die Tischplatte gelegt. Indem er die Finger leicht hob, erzielte er den Effekt eines Schulterzuckens; doch mehr teilte seine rundliche, glatte Gestalt nicht mit.
»Lassen Sie es mich mit einem anderen Ansatz versuchen, Mr. Welkyn. Glauben Sie an das Übernatürliche?«
»Ja«, antwortete Welkyn nur.
»Haben Sie den Eindruck, daß jemand es in diesem Falle darauf anlegt, den Eindruck des Übernatürlichen zu wecken?«
Welkyn sah ihn an. »Und Sie kommen von Scotland Yard! Sie sagen das!«
»Oh, so schlimm ist es nicht«, erwiderte Elliot und machte ein seltsam grimmiges Gesicht dabei, das seine Landsleute schon seit Jahrhunderten zu lesen verstehen. »Ich habe gefragt, ob jemand es darauf anlegen könnte, und das zu tun gäbe es mehrere Möglichkeiten. Übernatürliche und nicht so übernatürliche. Glauben Sie mir, Sir, es gehen in der Tat seltsame Dinge hier vor – jemand hat dafür gesorgt, daß sie vorgehen –, seltsamer, als Sie glauben. Ich bin hergekommen, um dem Mord an Miss Daly nachzugehen, und auch da könnte mehr dahinterstecken als ein Landstreicher, der einen Geldbeutel stiehlt. Aber nicht ich war es, der den Gedanken aufgebracht hat, es könnte etwas Übernatürliches im Gange sein. Das waren Sie.«
»Ich?«
»Ja. ›Ich hatte das Gefühl, als sähe mich durch eine der Glasscheiben etwas an, und zwar durch eine der untersten gleich über dem Boden‹. ›Etwas‹, sagen Sie. Nicht ›jemand‹.«
Ein kleiner Schweißtropfen erschien auf Welkyns Stirn, nicht weit von der großen Schläfenader. Es war der einzige Wechsel in seinem Ausdruck, wenn man es denn so nennen konnte; und mit Sicherheit war es das einzige, was sich auf seinem Gesicht bewegte.
»Ich habe die Person draußen nicht erkannt. Hätte ich gewußt, wer es war, hätte ich ›jemand‹ gesagt. Ich wollte nur präzise sein.«
»Es war also ein Mensch? Ein ›Jemand‹?«
Der andere nickte.
»Aber um Sie durch eine der unteren Scheiben anzusehen, müßte dieser Jemand sich sehr tief hinuntergekauert oder sogar am Boden gelegen haben?«
»Nicht unbedingt.«
»Nicht unbedingt? Wie meinen Sie das, Sir?«
»Es bewegte sich zu rasch – und sprunghaft. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es ausdrücken soll.«
»Können Sie es beschreiben?«
»Nein. Aber ich hatte den Eindruck, daß es tot war.«
Etwas wie Entsetzen hatte sich in Brian Page breitgemacht; er spürte es bis in die Knochen, doch wie oder auch nur wann es gekommen war, hätte er nicht sagen können. Beinahe unmerklich war ihr Gespräch in neue Bereiche vorgedrungen – obwohl er das Gefühl hatte, daß diese Dinge von Anfang an im Hintergrund gelauert hatten und nur auf den Anstoß warteten, der sie zum Leben erweckte. Harold Welkyn machte eine abrupte Bewegung. Er holte ein Taschentuch aus seiner Brusttasche hervor, wischte sich eilig die Handflächen daran ab und steckte es wieder zurück. Als er wieder die Stimme erhob, hatte er fast schon zu seiner üblichen feierlichen und umständlichen Art zurückgefunden.
»Einen Augenblick noch, Inspektor«, sagte er, als Elliot zu einer Erwiderung anhob. »Ich habe versucht, Ihnen so deutlich und wahrheitsgemäß wie möglich zu beschreiben, was ich gesehen und gespürt habe. Sie fragen mich, ob ich an – solche Dinge glaube. Jawohl, das tue ich. Ich will es Ihnen ehrlich verraten: Nicht für tausend Pfund würde ich im Dunkeln hinaus in diesen Garten gehen. Es scheint Sie zu überraschen, daß ein Mann meines Berufes solche Ansichten hegt.«
Elliot überlegte. »Ehrlich gesagt, das tut es irgendwie. Ich weiß auch nicht, warum. Schließlich hat doch auch ein Jurist ein Recht, an das Übernatürliche zu glauben.«
Welkyn schien erheitert.
»Selbst ein Jurist«, stimmte er zu, »und muß deswegen noch lange kein schlechter Anwalt sein.«
Madeline war eingetreten. Nur Page hatte sie bemerkt, denn die anderen waren zu sehr mit Welkyn beschäftigt; sie ging auf Zehenspitzen, und er überlegte, wieviel von dem vorangegangenen Gespräch sie wohl gehört hatte. Er wollte ihr seinen Sessel anbieten, doch sie setzte sich auf die Lehne. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen, nur noch die sanfte Rundung von Kinn und Wange, doch er sah, daß ihre Brust sich unter der weißen Seidenbluse in raschem Rhythmus hob und senkte.
Kennet Murray hatte die Stirn in Falten gelegt. Er war durchaus höflich, aber er wirkte doch wie ein Zollbeamter, der im Begriff ist, ein Gepäckstück zu durchsuchen.
»Ich gehe davon aus, Mr. Welkyn«, sagte er, »daß Sie uns – nun – die Wahrheit erzählen. Es ist außerordentlich, das steht fest. Dieser Garten steht in keinem guten Ruf. Und das seit Jahrhunderten. Die Hoffnung, durch neue Ansichten die bösen Schatten zu verjagen, trieb schon im späten siebzehnten Jahrhundert jene an, die ihn neu anlegten. Wissen Sie noch, junger Johnny, wie Sie, als Sie noch Ihre Hexenstudien trieben, versuchten, dort die Geister erscheinen zu lassen?«
»O ja«, bestätigte Gore. Er war im Begriff, noch etwas hinzuzufügen, überlegte es sich dann jedoch anders.
»Und nun, wo Sie zurückkehren«, fuhr Murray fort, »begrüßt Sie ein beinloses Etwas, das durch den Garten gekrochen kommt, und ein Hausmädchen verliert vor Furcht den Verstand. Hören Sie, junger Johnny: Sie haben doch nicht wieder mit Ihren alten Spielchen angefangen und wollen die Leute erschrecken, oder?«
Zu Pages Überraschung war Gores gebräuntes Gesicht bleich geworden. Offensichtlich war Murray der einzige, der ihn aus der Fassung bringen konnte, so daß die weltmännische Maske von ihm abfiel.
»Nein«, sagte Gore. »Sie wissen, wo ich war. Ich habe Sie in der Bibliothek im Auge behalten. Und noch eines. Wer, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, daß Sie mit mir sprechen können, als hätten Sie noch immer den fünfzehnjährigen Jungen vor sich? Sie haben vor meinem Vater gekuscht, und bei Gott, Sie werden auch mir Respekt zollen, sonst werde ich ihn in Sie hineinprügeln, so wie Sie es mit mir getan haben.«
Der Ausbruch war so unerwartet, daß selbst Dr. Fell brummte. Murray erhob sich.
»Steigt es Ihnen also schon zu Kopfe?« sagte er. »Nun, wie Sie wünschen. Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Sie haben Ihre Beweisstücke. Wenn Sie mich noch brauchen, Inspektor, finden Sie mich im Gasthaus.«
»Das war wirklich hundsgemein von dir, John«, sagte Madeline sanft, »findest du nicht auch? Aber ich bitte um Verzeihung, daß ich unterbreche.«
Zum erstenmal sahen Murray und Gore sie wirklich an, und sie studierte die beiden. Gore lächelte.
»Sie sind Madeline«, sagte er.
»Ich bin Madeline.«
»Die alte Flamme meiner Liebe, längst erkaltet«, sagte Gore. Die Grübchen um seine Augen wurden tiefer. Er faßte Murray am Arm, und in seinen Worten schwang Entschuldigung mit. »Es geht nicht, Schulmeister. Wir können nicht da weitermachen, wo wir vor ewigen Zeiten aufgehört haben; und ich für meinen Teil bin mir jetzt auch sicher, daß ich das gar nicht will. Es kommt mir vor, als hätte ich mich fünfundzwanzig Jahre lang in meinem Bewußtsein fortentwickelt, und Sie seien geblieben, wo Sie waren. Ich habe versucht, mir auszumalen, was ich wohl empfinden werde, wenn ich zum – wie der Dichter sagt – Hort meiner Vorväter zurückkehre. Ich habe mir vorgestellt, wie ein Bild an der Wand mich rühren würde, oder Buchstaben, mit dem Messer in die Lehne einer Bank geritzt. Doch was ich nun finde, sind Mauern, die mir nicht fremder sein könnten, und ich wünschte, ich hätte sie in Frieden gelassen. – Aber eigentlich waren wir ja etwas anderem auf der Spur. Wir sind vom Thema abgekommen. Inspektor Elliot! Haben Sie nicht eben gesagt, ursprünglich seien Sie hergekommen, weil eine Miss Daly ermordet wurde?«
»Ganz recht, Sir.«
Murray hatte sich wieder gesetzt, sichtlich neugierig, und Gore wandte sich an den Inspektor.
»Victoria Daly. Das wird doch nicht das kleine Mädchen sein, das mit seiner Tante – Ernestine Daly hieß sie, glaube ich – in einem Häuschen namens Rose Bower auf der anderen Seite des Hanging Chart wohnte?«
»Von der Tante weiß ich nichts«, erwiderte Elliot, »aber die Adresse stimmt. Sie wurde erdrosselt, am Abend des 31. Juli letzten Jahres.«
Der Herausforderer blickte grimmig. »Dann kann ich zumindest dafür mit einem Alibi aufwarten. Vor einem Jahr war ich glücklich in Amerika. Aber kann vielleicht trotzdem jemand so freundlich sein und ein wenig Licht in dieses Dunkel bringen? Was hat der Mord an Victoria Daly mit unserer Sache zu tun?«
Elliot warf Dr. Fell einen fragenden Blick zu. Der Doktor nickte schläfrig, doch mit Nachdruck; sein gewaltiger Körper schien vollkommen still, und er saß nur da und beobachtete. Elliot griff zu einem Aktenkoffer, den er neben sich stehen hatte, öffnete ihn und holte ein Buch hervor. Es war ein Quartband in dunklem Kalbsleder, der Einband vergleichsweise jungen Datums (etwa ein Jahrhundert alt), auf dem Rücken den nicht gerade einladenden Titel Bemerkenswerte Geschichte. Der Inspektor schob das Buch zu Dr. Fell hinüber, der es aufschlug. Jetzt sah Page, daß es weitaus älter war – die Übersetzung eines französischen Werkes von Sébastien Michaëlis, 1613 in London erschienen. Das Papier war vergilbt und wellig, und gegenüber der Titelseite war ein merkwürdiges Exlibris eingeklebt.
»Hmpf«, sagte Dr. Fell. »Hat jemand hier im Zimmer dieses Buch schon einmal gesehen?«
»Ja«, sagte Gore ruhig.
»Und das Exlibris?«
»Das auch. Seit dem achtzehnten Jahrhundert benutzen wir es in der Familie nicht mehr.«
Dr. Fell zeichnete mit dem Finger das Motto nach. »Sanguis eius super nos et super filios nostros, Thos. Farnleigh, 1675. Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder. – Hat dieses Buch je in der Bibliothek hier im Herrenhaus gestanden?«
Gores Augen funkelten und erwachten zum Leben, als er das Buch sah, aber er schien nach wie vor überrascht. Seine Worte klangen spöttisch.
»Nein, hier unten mit Sicherheit nicht. Das ist eines jener Hexenbücher, die mein Vater und vor ihm mein Großvater in der Dachkammer verborgen hielten. Ich habe ihm einmal den Schlüssel gestohlen und Duplikate anfertigen lassen, damit ich hinaufgehen und dort lesen konnte. Ach, wieviel Zeit habe ich dort oben verbracht – unter dem Vorwand, falls jemand mich fand, ich hätte mir einen Apfel vom Boden nebenan holen wollen.« Er blickte in die Runde. »Weißt du das noch, Madeline? Einmal habe ich dich mit hinaufgenommen, damit du dir die Goldhexe ansehen kannst. Ich habe dir sogar einen Schlüssel geschenkt. Aber leider konntest du dich nie für diese Dinge erwärmen. – Doktor, woher haben Sie das Buch? Was hat es aus seiner Gefangenschaft befreit?«
Inspektor Elliot erhob sich und läutete nach Knowles.
»Könnten Sie«, wandte er sich an den verschüchterten Butler, »Lady Farnleigh bitten, uns Gesellschaft zu leisten?«
In aller Ruhe holte Dr. Fell Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Er stopfte die Pfeife, zündete sie an und sog tief befriedigt den Rauch ein; erst dann sprach er. Mit einer weit ausholenden Bewegung wies er auf das Buch.
»Das Buch? Seinerzeit hat keiner einen Blick hineingeworfen oder sich überhaupt damit beschäftigt – wahrscheinlich, weil der Titel so nichtssagend war. In Wirklichkeit ist es eines der unglaublichsten Dokumente, die man überhaupt in Archiven finden kann: das Geständnis einer gewissen Madeleine de la Palud, aufgezeichnet 1611 in Aix, in dem sie von ihrer Teilnahme an Hexensabbat und Satanskulten berichtet. Es fand sich auf Miss Dalys Nachttisch. Noch kurz bevor der Mörder kam, hatte sie darin gelesen.«