Kapitel 19

Brian Page stand an der offenen Terrassentür und blickte hinaus in den Garten. Nach dem Klopfen an der Tür war er in seiner üblichen Art auf alles gefaßt gewesen, nur nicht auf nichts. Und nichts war dort draußen – zumindest schien es so.

Der Automat war wieder fort. In dem stillen Licht, in dem das Gras beinahe grau wirkte, waren die Abdrücke der Räder, wo das schwere Eisen gestanden hatte, gerade noch zu erkennen. Doch ob dieses tote Stück Metall nun dastand oder nicht, spielte keine Rolle; wichtig war, daß jemand oder etwas ans Fenster geklopft hatte. Er trat über die Schwelle.

»Brian«, sagte Madeline leise, »wohin gehst du?«

»Ich will nur nachsehen, wer uns besuchen wollte und es sich dann anscheinend wieder anders überlegt hat.«

»Brian, geh nicht nach draußen. Bitte.« Sie kam näher, und sie sprach mit eindringlicher Stimme. »Ich habe dich noch nie gebeten, etwas für mich zu tun, oder? Aber jetzt bitte ich dich. Geh nicht nach draußen. Wenn du gehst – ich weiß nicht, was ich dann tue, aber es wird etwas sein, was dir nicht gefällt. Bitte! Komm herein und schließ die Tür. Ich weiß es ja längst.«

»Was weißt du?«

Sie wies mit dem Kopf in Richtung Garten. »Was vorhin da draußen gestanden hat und jetzt nicht mehr da ist. Ich habe es von der Hintertür aus gesehen, als ich in der Küche war. Ich wollte dir keine Sorgen machen, für den Fall, daß du es noch nicht gesehen hattest – auch wenn ich, na ja, wenn ich ziemlich sicher war, daß du es wußtest.« Sie packte ihn am Aufschlag seines Jacketts. »Geh nicht da hinaus. Geh ihm nicht nach. Das will es doch gerade – dich hinauslocken.«

Er blickte hinunter, sah die flehenden Augen, den kräftigen Hals, den sie ihm entgegenreckte. Entgegen allem, was er in diesem Augenblick dachte und empfand, waren seine Worte kühl und streng.

Er sagte:

»Unter all den absurden Orten, an denen man sagen könnte, was ich jetzt sagen will, ist dies hier der absurdeste. Unter allen unpassenden Zeiten, zu denen man sagen könnte, was ich sagen will, ist dies die unpassendste. Das muß ich betonen, denn ohne eine so verzweifelte Lage bekäme ich niemals heraus, was ich auf dem Herzen habe, und das ist, daß ich dich liebe.«

»Dann ist ja doch noch etwas Gutes am Lammas Eve«, sagte Madeline und hob ihren Mund.

Es ist die Frage, wie weit in einem Bericht über einen Kriminalfall die Dinge, die er in jenem Augenblick dachte und sprach, niedergelegt werden sollten. Aber wer weiß, ob er ohne die Bedrohung, die draußen vor dem Fenster gerade jenseits des Lichtscheins lauerte, jemals erfahren oder gehört hätte, was er nun erfuhr und hörte. Nicht daß er sich in jenem Augenblick darum Gedanken gemacht hätte. Er war mit anderen Dingen beschäftigt: dem Paradox, wie fern und geheimnisvoll ein geliebtes Gesicht aussieht, gerade wenn es einem so nahe kommt, der magischen Wirkung von Madelines Kuß, der sein ganzes Leben veränderte und von dem er selbst jetzt noch nicht glauben konnte, daß er Wirklichkeit war. Am liebsten hätte er einen Freudenjuchzer ausgestoßen, und nachdem noch etliche Minuten an diesem Fenster vergangen waren, tat er das auch.

»Herrgott, Brian, warum hast du mir das denn nicht schon lange gesagt?« fragte Madeline halb lachend und halb weinend. »Aber keine lästerlichen Flüche! Wo bleibt nur meine gute Erziehung? Verrate mir nur, warum hast du es nicht gesagt?«

»Weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß du dich für mich interessierst. Ich wollte nicht, daß du mich auslachst.«

»Hast du wirklich gedacht, ich würde lachen?«

»Ehrlich gesagt – ja.«

Sie faßte ihn bei den Schultern und blickte ihm forschend ins Gesicht. Ihre Augen hatten ein seltsames Leuchten.

»Brian, du liebst mich wirklich, nicht wahr?«

»Schon seit einer ganzen Weile versuche ich, dir das verständlich zu machen. Aber ich habe nichts dagegen, noch einmal von vorn anzufangen. Wenn …«

»Eine alte Jungfer wie mich …«

»Madeline, ganz gleich, was du sonst sagst, bitte sage nicht alte Jungfer. Es gibt kaum ein häßlicheres Wort in unserer Sprache. Kaum eins, das so voller Häme ist. Um dich zu beschreiben, da müßte man …«

Wieder fiel ihm das seltsame Leuchten in ihren Augen auf.

»Brian, wenn du mich wirklich liebst (wirklich?), kann ich dir dann etwas zeigen?«

Draußen im Garten waren Schritte zu hören. Madeline hatte ihre Frage in einem merkwürdigen Ton gestellt, so merkwürdig, daß es Page aufhorchen ließ; doch nun blieb keine Zeit mehr, um nachzufragen. Als sie das Geräusch im Gras hörten, traten sie rasch einen Schritt auseinander. Zwischen den Lorbeerbüschen zeichneten sich nun Umrisse ab und kamen näher. Es war eine hagere Gestalt mit schmalen Schultern, und sie ging mit raschen und doch zugleich schlurfenden Schritten – woran Page zu seiner Erleichterung erkannte, daß es nur Nathaniel Burrows war.

Anscheinend konnte Burrows sich nicht entscheiden, ob er sein Heilbuttsgesicht aufsetzen oder ob er lächeln sollte, und der Kampf zwischen beiden brachte eine freundliche Grimasse hervor. Die große Hornbrille ließ das Pendel aber doch zum Ernsthaften ausschlagen. Das lange Gesicht, das durchaus charmant sein konnte, wenn er ihm eine Chance dazu ließ, zeigte von diesem Charme nun bestenfalls einen Anflug. Den korrekten Bowlerhut hatte er in einem etwas verwegenen Winkel auf dem Kopf.

»Ts! ts!« war sein einziger Kommentar, doch er lächelte dazu. »Ich komme«, erklärte er freundlich, »um den Automaten zu holen.«

»Den …« Madeline sah ihn mit großen Augen an. »Den Automaten?«

»Du solltest nicht am offenen Fenster stehen«, tadelte Burrows streng. »Es verwirrt dir den Kopf, und die Besucher haben den Schaden davon. Und du auch nicht«, fügte er an Page gewandt hinzu. »Die Puppe, Madeline. Die Figur, die du heute nachmittag von Farnleigh Close hast kommen lassen.«

Page musterte sie. Sie starrte Burrows an, und die Röte stieg ihr ins Gesicht.

»Nat, was um alles in der Welt redest du da? Die Figur, die ich habe kommen lassen? Wie kommst du denn auf so etwas?«

»Meine liebe Madeline«, erwiderte Burrows, breitete die behandschuhten Hände aus und brachte sie dann wieder zusammen, »ich habe dir noch gar nicht richtig für all das Gute danken können, das du für mich getan hast – bei der gerichtlichen Untersuchung. Aber verdammt noch mal!« – hier sah er sie von der Seite her an, an den Brillengläsern vorbei –, »du hast heute nachmittag im Herrenhaus angerufen und gebeten, daß sie dir das Ding leihen. Macneile und Parsons haben es hergebracht. Es steht drüben im Kohlenschuppen.«

»Du mußt vollkommen verrückt sein«, sagte Madeline mit hoher, verblüffter Stimme.

Burrows war, wie üblich, vernünftig. »Nun, sie steht im Schuppen, das ist nicht zu leugnen. Ich habe an der Haustür geklopft, aber keiner hat mich gehört. Ich kam hier heraus, und – ähm – es hat mich immer noch keiner gehört. Mein Auto steht draußen auf der Straße. Ich bin hergekommen, um den Automaten zu holen. Was du damit wolltest, weiß ich nicht; aber wäre es sehr schlimm, wenn ich ihn wieder mitnähme? Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie er in meine Theorie hineinpaßt. Aber ich habe einen Experten ausfindig gemacht, der ihn sich ansehen will, und vielleicht bringt mich das auf etwas.«

Der Kohlenschuppen war ein Anbau ein wenig links von der Küche. Page ging hinüber und öffnete die Tür. Dort stand der Automat. Er konnte die Umrisse gerade noch erkennen.

»Seht ihr?« sagte Burrows.

»Brian«, beteuerte Madeline recht verwirrt, »glaube mir, ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe niemanden gebeten, das Ding hierherzuschicken; ich wäre nie auf den Gedanken gekommen. Was um alles in der Welt sollte ich damit?«

»Natürlich hast du das nicht, das weiß ich doch«, beschwichtigte Page sie. »Es scheint, daß jemand sich einen häßlichen Scherz erlaubt hat.«

»Sollen wir nicht ins Haus gehen?« schlug Burrows vor. »Ich würde mich gern mit euch beiden darüber unterhalten. Ich gehe nur eben nach vorn und schalte das Standlicht an.«

Die beiden anderen gingen ins Haus und sahen einander an. Aus dem Radio kamen statt der Musik nun Worte – welcher Art, weiß Page nicht mehr –, und Madeline stellte es ab. Sie war immer noch in Gedanken bei diesem jüngsten Vorfall.

»Das alles ist nicht wahr«, sagte sie. »Es ist Illusion. Ein Traumgespinst. Das heißt – ein Teil davon ist doch wahr, hoffe ich.« Sie lächelte ihn an. »Hast du noch eine Ahnung, was hier eigentlich vorgeht?«

Was in den Sekunden darauf geschah, weiß Page bis heute nicht recht. Er hatte ihre Hand ergriffen und wollte ihr eben versichern, wie ganz und gar gleichgültig ihm war, was draußen geschah, solange nur die Minuten am Fenster keine Illusion gewesen waren. Beide hörten sie den Knall, der vom Garten oder von den Obstbäumen herkam. Es war ein kurzer, knapper Schlag, laut genug, daß sie beide zusammenfuhren. Doch er schien etwas Fremdes, das nichts mit ihnen zu tun hatte, selbst da noch, als sie nahe an ihren Ohren ein Sirren hörten – und eine der Uhren stehenblieb.

Eine der Uhren blieb stehen. Page hörte es im selben Augenblick, in dem er das kleine runde Loch, von einem Netz feiner Risse umgeben, in der Fensterscheibe entdeckte. Und es ging ihm auf, daß die Uhr stehengeblieben war, weil eine Kugel darin steckte.

Die andere Uhr tickte weiter.

»Fort von dem Fenster!« zischte Page. »Das kann doch nicht wahr sein – ich glaube es einfach nicht –, da ist jemand draußen im Garten und schießt auf uns. Wo zum Teufel ist Nat geblieben?«

Er huschte hinüber und schaltete das Licht aus. Die Kerzen brannten noch, und er blies sie aus, gerade als Burrows, das Gesicht glänzend, den Hut tief in die Stirn gedrückt, durch die Terrassentür kam, an den Boden geduckt, als suche er Deckung.

»Da ist jemand …« hob Burrows mit seltsamer Stimme an.

»Stimmt. Das haben wir schon gemerkt.«

Page schob Madeline noch weiter fort vom Fenster. Fünf Zentimeter mehr nach links, kalkulierte er nach dem Winkel von Scheibe und Uhr, hätten genügt, und die Kugel hätte Madelines Kopf getroffen, gerade oberhalb der Löckchen.

Es blieb bei dem einen Schuß. Er hörte Madelines ängstliches Keuchen und die langsamen, klaren Atemzüge Burrows’ vom anderen Ende des Zimmers. Burrows hatte sich in die Nische des äußersten Fensters gedrückt; nur ein polierter Schuh war noch zu sehen.

»Wollt ihr wissen, was für meine Begriffe da geschehen ist?« fragte Burrows.

»Nun?«

»Soll ich euch zeigen, was das, so wie ich es verstehe, war?«

»Nur zu.«

»Wartet«, flüsterte Madeline. »Da ist noch jemand – hört doch nur!«

Burrows’ Kopf erschien wie der einer Schildkröte aus der Fensternische. Page erkannte die Stimme, die vom Garten rief, und antwortete. Es war Elliots Stimme. Er eilte hinaus und lief dem Inspektor entgegen, den er vom Obstgarten herüberkommen sah. Mit welchem Gesicht Elliot den Bericht aufnahm, den Page ihm gab, war im Dunkel nicht zu sehen, und auch seine ganze Art, die sogleich hochoffiziell war, ließ keine Schlüsse zu.

»Verstehe, Sir«, sagte er. »Aber ich glaube, Sie können die Lampen wieder einschalten. Ich würde nicht damit rechnen, daß Sie noch einmal belästigt werden.«

»Aber wollen Sie denn nichts unternehmen, Inspektor?« fragte Burrows mit dünner, tadelnder Stimme. »Oder sind Sie so etwas in London gewöhnt? Wir sind es nicht, das versichere ich Ihnen.« Er wischte sich die Stirn mit dem Rücken der behandschuhten Hand. »Wollen Sie denn nicht den Garten durchsuchen? Oder den Obstgarten? Oder von wo der Schuß sonst kam?«

»Wie gesagt, Sir«, erwiderte Elliot hölzern, »ich glaube nicht, daß Sie noch einmal belästigt werden.«

»Aber wer war es? Weswegen hat er geschossen?«

»Worauf es jetzt ankommt, Sir«, antwortete Elliot, »das ist, daß wir diesem Spuk ein Ende bereiten. Und zwar ein für allemal. Wir haben unsere Pläne ein wenig geändert. Ich möchte Sie bitten, daß Sie, wenn es Ihnen recht ist, mit mir hinüber zum Herrenhaus kommen – nur für alle Fälle, verstehen Sie. Ich fürchte, ich muß sogar sagen, daß es keine Bitte ist, sondern eine Aufforderung.«

»Oh, niemand von uns hat etwas dagegen«, erwiderte Page munter, »obwohl man ja denken könnte, wir hätten schon genug Aufregung für einen Abend gehabt.«

Der Inspektor lächelte auf eine Art, die nicht schön anzusehen war.

»Ich glaube, da täuschen Sie sich«, sagte er. »Was Sie bisher an Aufregung hatten, war kaum der Rede wert. Aber glauben Sie mir, es wird noch aufregend werden. Das verspreche ich Ihnen, Mr. Page. Ist jemand mit dem Wagen hier?«

Elliots düstere Drohung hing über ihnen, als Burrows sie nach Farnleigh Close chauffierte. Alle Versuche, vom Inspektor mehr zu erfahren, blieben erfolglos. Burrows hatte gedrängt, den Automaten ebenfalls mitzunehmen, doch Elliot wollte nichts davon hören; dazu bleibe keine Zeit und es werde auch nicht notwendig sein.

Ein besorgt dreinblickender Knowles ließ sie ein. Die Atmosphäre war gespannt, und Mittelpunkt des Kraftfeldes war, wie zwei Tage zuvor, die Bibliothek, wo sich nun wiederum die Glühbirnen des Kronleuchters in der großen Fensterfront spiegelten. In dem Lehnstuhl, in dem seinerzeit Murray gesessen hatte, hatte nun Dr. Fell Platz genommen, und Murray saß ihm gegenüber. Die Hand hatte Dr. Fell auf seinen Stock gestützt, die Unterlippe vorgereckt, so daß sie vor seinen Kinnen vorstand. Sobald die Bibliothekstür sich öffnete, spürten sie den Widerhall starker Emotionen. Denn Dr. Fell war eben mit seinen Erläuterungen zu Ende gekommen, und Murray bedeckte sich mit unsteter Hand die Augen.

»Ah«, sagte der Doktor mit verdächtiger Herzlichkeit. »Guten Abend, guten Abend, guten Abend! Miss Dane. Mr. Burrows. Mr. Page. Gut. Ich fürchte, wir haben das Haus auf recht unfeine Weise requiriert, aber die Umstände machen es erforderlich. Es ist dringend notwendig, daß wir zu einer kleinen Konferenz zusammenkommen. Kuriere sind entsandt, um Mr. Welkyn und Mr. Gore zu verständigen. Knowles, könnten Sie Lady Farnleigh bitten, zu uns herunterzukommen? Oder nein, gehen Sie nicht selbst, schicken Sie eines der Mädchen; Sie selbst sollten uns ebenfalls Gesellschaft leisten. Einiges können wir in der Zwischenzeit schon besprechen.«

Der Ton, in dem er das sagte, ließ Nathaniel Burrows, der sich eben setzen wollte, innehalten. Er hob gebieterisch die Hand. Murray sah er nicht an.

»So schnell geht das nicht«, erklärte Burrows. »Halt! Wird es in dieser Unterhaltung etwas geben, was – äh – rechtliche Folgen haben könnte?«

»Mit Sicherheit.«

Wieder zögerte Burrows. Er hatte Murray keines Blickes gewürdigt, doch Page, dessen Blick vom einen zum anderen wanderte, spürte Mitleid mit Murray, ohne daß er sagen konnte, warum. Der Schulmeister sah alt und niedergeschlagen aus.

»Oh. Und was soll hier zur Sprache kommen, Doktor?«

»Es geht um den Charakter einer gewissen Person«, antwortete Dr. Fell. »Sie werden sich denken können, wer es ist.«

»Ja«, stimmte Page zu, doch eher, als spräche er laut mit sich selbst. »Die Person, die Victoria Daly in die Geheimnisse des Hexenkultes einweihte.«

Es war bemerkenswert, dachte er, welche Wirkung dieser Name hatte. Man mußte nur die Worte »Victoria Daly« in einen Satz einflechten wie einen Talisman, und alle schreckten davor zurück; neue Ansichten eröffneten sich sogleich, die anscheinend niemand gerne sah. Dr. Fell, ein wenig überrascht, doch interessiert, wandte sich um und blinzelte ihn an.

»Ah!« sagte der Doktor mit einem anerkennenden Schnaufen. »Das haben Sie also erraten.«

»Ich habe versucht, es mir auszumalen. Wäre diese Person dann auch der Mörder?«

»Diese Person ist der Mörder.« Dr. Fell wies mit dem Stock auf ihn. »Es wäre uns willkommen, wenn Sie diese Ansicht teilten. Lassen Sie uns hören, was Sie sich überlegt haben. Und keine Hemmungen, mein Junge. Wir werden Schlimmeres in diesem Zimmer zu hören bekommen, bevor einer von uns es wieder verläßt.«

Mit viel Bedacht und einer Bildhaftigkeit der Sprache, die er sonst eher mied, erzählte Page noch einmal die Geschichte, die er schon Madeline erzählt hatte. Dr. Fells kluge kleine Augen ließen sein Gesicht keine Sekunde lang aus dem Blick, und Inspektor Elliot vermerkte jedes Wort. Der mit Salbe eingeriebene Körper, das dunkle Haus mit dem offenen Fenster, der Vagabund, der vor Schreck die Nerven verliert, die dritte Person, die schon wartete: all diese Bilder nahmen so lebendig Gestalt an, als sähen sie in der Bibliothek einen Film.

Am Ende ergriff Madeline das Wort. »Ist das wahr? Sehen Sie und der Inspektor das ebenso?«

Dr. Fell nickte nur.

»Dann frage ich Sie, was ich vorhin auch Brian schon fragen wollte. Wenn es, wie er sagt, keinen Hexenkult gibt, wenn es nur Phantasie war – was tat denn dann diese ›dritte Person‹ oder was wollte sie tun? Was ist denn mit den Beweisen, den Spuren, die diese Hexerei hinterlassen hat?«

»Ach, die Beweise«, sagte Dr. Fell.

Nach einer Weile fuhr er fort:

»Ich will versuchen, es zu erklären. Sie haben in Ihrer Mitte jemanden, dessen Verstand und Herz schon seit vielen Jahren beherrscht wird von einer geheimen Liebe zu diesen Dingen und allem, wofür sie stehen. Nicht vom Glauben daran! Der Unterschied ist wichtig. Das müssen Sie sich immer vor Augen halten. Man könnte sich gar niemanden vorstellen, dessen Verhältnis zu den Mächten der Finsternis und dem Herrn der Wegkreuzungen zynischer wäre. Aber einer großen Liebe dazu, die um so mächtiger und drängender durch den (ganz und gar prüden) Wunsch wird, es niemanden merken zu lassen. Denn diese Person, verstehen Sie, gibt sich Ihnen gegenüber als ein vollkommen anderer Mensch. Diese Person würde Ihnen gegenüber niemals eingestehen, daß sie sich für solche Dinge auch nur interessiert, in dem Maße, wie Sie und ich uns vielleicht dafür interessieren. Dieses geheime Interesse, die Sehnsucht, es mit jemandem zu teilen, die Sehnsucht vor allem, das Wissen an anderen zu erproben – das alles wurde so übermächtig, daß es irgendwann seine Fesseln sprengen mußte.

In welcher Lage fand diese Person sich also nun? Was konnte sie tun? Konnte sie einen neuen Hexenkult in Kent begründen, die Bräuche wiederbeleben, die es in früheren Jahrhunderten in dieser Gegend gab? Die Idee war faszinierend, doch diese Person wußte, wie aussichtslos ein solches Unternehmen war. Denn diese Person ist ein ausgesprochen praktischer Mensch.

Die kleinste Gruppe in der Hierarchie der Satanskulte war (darf ich die Vergangenheitsform benutzen?) der Sabbat. Zum Sabbat trafen sich dreizehn Leute, zwölf Hexen und ein maskierter Anführer. Mit einer Janusmaske vor dem Gesicht einen solchen Hexentanz anzuführen, das muß für die Person, um die es uns geht, ein wunderbarer Traum gewesen sein – aber nicht mehr als das. Nicht nur, daß die praktischen Schwierigkeiten unüberwindlich waren. Hinzu kam, daß die Sache, wenn sie interessant bleiben sollte, nur mit einigen wenigen geteilt und nicht zu bekannt werden durfte. Es war ein geheimes Interesse, und es mußte eng begrenzt und persönlich und individuell bleiben.

Das, lassen Sie mich es noch einmal betonen, war keine vornehme Zurückhaltung gegenüber den Mächten des Bösen, sofern solche Mächte denn existieren. Solche hohen Ambitionen steckten nicht dahinter; oder, um es besser zu sagen, kein so großer Hokuspokus. Die Sache folgt keinem großen Plan. Die Person, die dahintersteckt, ist nicht sonderlich intelligent. Es war kein ernsthafter Kult, wie es sie seinerzeit nachweislich gegeben hat. Es war einfach ein müßiger, eitler Spaß an solchen Dingen, eine Art Hobby. Und hätten wir ein wenig mehr Glück gehabt, wäre kein großer Schaden dadurch entstanden – hätte diese Person nur die Finger von gefährlichen Giften gelassen, die Wahnvorstellungen wecken. Wenn Leute einfach zum Spaß ihren Unsinn treiben, wenn sie keine Gesetze verletzen, ja nicht einmal Anstandsregeln, dann geht es die Polizei nichts an. Doch wenn erst einmal eine Frau an Belladonna, das sie sich auf die Haut gerieben hat, stirbt (und genau das ist vor anderthalb Jahren in Tunbridge Wells geschehen, auch wenn wir es nie beweisen konnten), dann ist es, zum Teufel, eine Sache für die Polizei! Was denken Sie denn, warum Elliot überhaupt hergeschickt wurde? Was meinen Sie, warum hat er so viel über Victoria Daly wissen wollen? Hm?

Dämmert es Ihnen allmählich, was jemand hier getan hat?

Dieser Jemand suchte sich ein paar empfängliche Freunde aus, denen er sich anvertraute. Es waren nicht viele: zwei oder drei, vielleicht vier. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wer diese Freunde waren. Unser Jemand hat ihnen Dinge erzählt, immer wieder von neuem. Sie bekamen Bücher geschenkt oder geliehen. Dann, wenn der Kopf von Freund oder Freundin genügend mit abenteuerlichen Geschichten gefüllt war, wenn er erregt genug war, dann war die Zeit reif. Dann erfuhren die Freunde, daß es hier in der Gegend einen geheimen Satanskult gebe und daß sie nun bereit seien für die Aufnahme.«

Es gab einen lauten Schlag, als Dr. Fell mit der Spitze seines Stocks auf den Boden schlug. Er war ungeduldig, und er war ärgerlich.

»Natürlich hat es einen solchen Kult nie gegeben. Natürlich haben die Neophyten nie das Haus verlassen, sich nicht aus ihrem Zimmer gerührt, wenn die Nacht der Versammlung kam. Natürlich war all das das Werk einer Salbe, deren beide Hauptbestandteile Eisenhut und Tollkirsche waren.

Und natürlich ging der Anstifter in der Nacht der ›Zusammenkunft‹ in der Regel nicht einmal in die Nähe von Freund oder Freundin, geschweige denn, daß er wirklich an einem Sabbat teilgenommen hätte. Das wäre zu gefährlich gewesen, wenn sich das Gift der Salbe als zu stark erwies. Der Spaß bestand darin, die Lehre zu verbreiten, den Bericht von (mythischen) Abenteuern mit anderen zu teilen und mit anzusehen, wie der Geist des Neulings unter dem Einfluß von Gift und vorgegaukelten Traumbildern vom Sabbat allmählich verfiel – kurz, die Verbindung aus einer recht einfältigen seelischen Grausamkeit und dem Vergnügen, all diese Dinge in der Sicherheit eines engen Kreises auszuleben.«

Dr. Fell hielt inne. Das Schweigen, das folgte, brach Kennet Murray mit nachdenklichen Worten.

»Die Psyche ist dieselbe wie bei Leuten, die anonyme Briefe schreiben«, sagte er.

»Das trifft es genau«, bestätigte Dr. Fell und nickte. »Fast das gleiche Verhalten, nur zu anderen und noch schädlicheren Zwecken eingesetzt.«

»Aber wenn Sie bei der anderen Frau – derjenigen in Tunbridge Wells, von der ich bisher nicht gehört hatte – nicht beweisen können, daß sie an dem Gift gestorben ist, was hilft Ihnen das alles dann? Hat die ›Person‹ wirklich etwas getan, was ungesetzlich war? Victoria Daly ist nicht an Gift gestorben.«

»Das wäre Ansichtssache«, gab Inspektor Elliot zu bedenken. »Sie meinen offenbar, ein Gift wird erst zum Gift, wenn jemand es einnimmt. Ich könnte Ihnen das Gegenteil beweisen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Dr. Fell wollte nur, daß Sie das Geheimnis kennen.«

»Das Geheimnis?«

»Das Geheimnis jener Person«, erklärte Dr. Fell. »Um dieses Geheimnis zu wahren, mußte vorgestern abend am Teich jemand sterben.«

Wieder trat ein Schweigen ein, diesmal finsterer, so als sei jeder in Gedanken einen Schritt zurückgewichen.

Nathaniel Burrows lockerte sich den Kragen.

»Das ist gewiß interessant«, sagte er. »Hochinteressant. Aber ich finde doch, daß man mich unter falschen Vorzeichen hergebracht hat. Ich bin Anwalt, kein Experte für Satanskulte. Ich sehe nicht, was diese Kulte mit dem einzigen zu tun haben sollten, was mich an dieser Sache interessiert. Was Sie uns beschrieben haben, hat nicht das geringste mit der Frage nach dem rechtmäßigen Erben des Farnleigh-Besitzes zu tun …«

»Da täuschen Sie sich«, sagte Dr. Fell.

Und er fuhr fort:

»Genauer gesagt, steckt diese Frage sogar im Kern der ganzen Angelegenheit, und ich hoffe, daß ich Ihnen das in etwa zwei Sekunden vor Augen führen kann.«

»Aber Sie« – er blickte zu Page hinüber, zum Zeichen, daß er aufgriff, was dieser zuvor dargelegt hatte –, »Sie haben vorhin gefragt, was diese Person denn überhaupt darauf gebracht hat, sich mit solchen Praktiken abzugeben. War es die schiere Langeweile? War es ein Schaden, den sie schon von Kindheit an hatte und der nun von Jahr zu Jahr größer wurde? Ich denke mir, es war ein klein wenig von beidem. Alles an diesem Fall ist zusammen großgeworden, so wie die giftige Atropa belladonna draußen in der Hecke wächst. Alle Stränge sind miteinander verflochten und nicht mehr zu entwirren.

Wer könnte das sein, jemand mit solchen Instinkten und immer gezwungen, sie zu unterdrücken? An wem können wir, nun wo wir alles Beweismaterial vor uns haben, einen solchen Charakter finden? Wer kann der eine sein – und nur einer ist es –, der beide Spielzeuge in der Hand hat, die Hexerei und den Mord? Wer hat ohne Zweifel an der Langeweile einer lieblosen, elenden Ehe gelitten und hatte zugleich ein Übermaß an Lebenskraft in sich, das sich nur …«

Burrows sprang mit einem lauten Fluch von seinem Stuhl auf, als ihm aufging, wer es war.

Im selben Augenblick öffnete sich die Bibliothekstür, und Knowles hielt flüsternd Zwiesprache mit jemandem draußen.

Knowles war bleich im Gesicht, als er den anderen eröffnete, was er erfahren hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich höre eben, daß – daß Lady Farnleigh nicht auf ihrem Zimmer ist. Es heißt, sie habe schon vor einiger Zeit eine Reisetasche gepackt und einen Wagen aus der Garage geholt und …«

Dr. Fell nickte.

»So ist es«, sagte er. »Deshalb müssen wir auch heute abend nicht mehr nach London. Mit ihrer Flucht hat sie sich verraten. Nun werden wir ohne weiteres einen Haftbefehl erwirken können – einen Haftbefehl gegen Lady Farnleigh, und die Anklage lautet auf Mord.«


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