Kapitel 21

Ein Brief von Patrick Gore (geborener John Farnleigh) an Dr. Gideon Fell

Eines schönen Tages

auf See.

MEIN LIEBER DOKTOR!

Jawohl, ich war’s. Ich allein habe den Hochstapler umgebracht, ich allein habe all jene Geister beschworen, die Sie offenbar in Sorge versetzt haben.

Ich schreibe Ihnen diesen Brief aus einer Reihe von Gründen. Zunächst: Ich habe (so unvernünftig das auch ist) eine echte Zuneigung zu Ihnen gefaßt und achte Sie sehr. Zum zweiten: Sie haben sich selbst übertroffen. Die Art, wie Sie meinen Rückzug und meine Flucht erzwungen haben, Schritt für Schritt durch jedes Zimmer, zu jeder Tür und schließlich sogar zum Hause hinaus, weckt in einem solchen Maße meine Bewunderung, daß ich mir Auskunft darüber wünschen würde, ob ich Ihren Schlußfolgerungen korrekt gefolgt bin. Ich mache Ihnen das Kompliment, daß Sie der einzige Mensch sind, der mir je geistig überlegen war; allerdings habe ich mich noch nie besonders gut gegen Schulmeister geschlagen. Und zum dritten: Ich glaube, ich habe die eine, einzige wirklich vollkommene Verkleidung gefunden, die es gibt, und nun, wo ich sie nicht mehr brauche, möchte ich ein wenig damit prahlen.

Ich erwarte, daß Sie mir antworten. Bis dieser Brief Sie erreicht, werden ich und meine geliebte Molly schon in einem Land angelangt sein, das keinen Auslieferungsvertrag mit Großbritannien hat. Es ist ein recht heißes Land, und da trifft es sich gut, daß Molly und ich beide eine Schwäche für heiße Gegenden haben. Sobald wir es uns in unserem neuen Heim gemütlich gemacht haben, lasse ich Sie die Adresse wissen.

Eine Bitte hätte ich an Sie. In der Flut empörter Kommentare, die auf unsere Flucht folgen wird, werde ich gewiß von Zeitungen, Gerichten und überhaupt allem, was den Menschen die Augen verdreht, als Teufel, Monstrum, Werwolf und so weiter hingestellt. Sie wissen genau, daß ich nichts dergleichen bin. Mir macht das Morden keine Freude, und wenn ich beim Gedanken an den Tod jenes Dreckskerls keine Reue empfinde, dann hoffentlich deswegen, weil ich kein Heuchler bin. Es gibt Menschen, die haben eine bestimmte Wesensart, so wie Molly und ich. Wenn wir mit unserer Wissenschaft und unseren Tagträumen ein wenig mehr Spannung in die Welt bringen, dann sollte das doch für jene, die in Vorstadthäusern leben, ein Zeichen sein, daß es auch noch etwas Besseres für sie gibt. Wenn Sie also zu hören bekommen, wie jemand über diesen Satan und seine Teufelsbraut herzieht, seien Sie so nett und sagen Sie dem Betreffenden, daß Sie Tee mit beiden von uns getrunken haben und Ihnen keine Hörner und kein Schwefelgeruch aufgefallen sind.

Doch nun muß ich Ihnen mein Geheimnis verraten, das zugleich das Geheimnis des Falles ist, in dem Sie so heldenhaft ermittelt haben. Es ist ein so einfaches Geheimnis, daß es sich in vier Worte fassen läßt:

Ich habe keine Beine.

Ich habe keine Beine. Sie wurden mir beide im April 1912 amputiert, nachdem jener Dreckskerl sie mir bei einem kleinen Zwischenfall an Bord der Titanic, den ich Ihnen gleich beschreiben werde, zerquetscht hatte. Die prachtvollen künstlichen Gliedmaßen, mit denen ich seither durch die Welt geschritten bin, haben diese Behinderung, fürchte ich, nicht ganz verbergen können. Es fiel mir auf, wie Sie meine Schritte beobachteten – nicht gerade ein Hinken, aber doch immer ungeschickt und manchmal, wenn ich zu schnell sein will, so linkisch, daß ich mich verrate. Im Grunde kann ich nicht schnell gehen; und auch darauf werde ich gleich zurückkommen.

Ist Ihnen jemals aufgegangen, welch großartige Möglichkeiten Beinprothesen zur Verkleidung bieten? Wir kennen den Mummenschanz aus Perücke und Bart und Theaterschminke; wir kennen die falschen Nasen und die ausgestopften Bäuche; wir haben die raffiniertesten Sinnestäuschungen erlebt. Aber so erstaunlich das ist, hat man noch nie von der einfachsten Art der Täuschung gehört – jener durch den schieren Größenunterschied. Immer hat es geheißen: »Dies und das kann ein Mann tun, aber eines kann er nicht verändern: seine Größe.« Ich möchte also zu Protokoll geben, daß ich mir meine Größe aussuchen kann, wie es mir gefällt, und daß ich das schon seit einer ganzen Reihe von Jahren getan habe.

Von Natur aus bin ich nicht groß. Oder um es exakter auszudrücken: Wenn ich die Möglichkeit hätte, die Größe abzuschätzen, die ich eigentlich haben sollte, wäre es, glaube ich, nicht allzu groß. Lassen Sie uns sagen, daß ich ohne den Eingriff meines Freundes auf der Titanic etwa einen Meter fünfundsechzig groß wäre.

Durch die Entfernung meines Unterbaus (wie habe ich das ausgedrückt?) bleibt noch ein eigentlicher Körper von knapp neunzig Zentimetern. Wenn Sie mir nicht glauben, zeichnen Sie einmal Ihre eigene Größe an einer Wand an und messen Sie dann den Teil ab, den davon jene geheimnisvollen Gliedmaßen einnehmen, die wir Beine nennen.

Ich ließ mir – zuerst im Zirkus – eine ganze Reihe von Beinprothesen verschiedener Länge machen, und nachdem ich manch schmerzvolle Stunde damit verbracht habe, das Gehen darin zu üben, kann ich mir heute meine Größe nach Belieben aussuchen. Es ist interessant zu sehen, wie leicht das Auge sich täuschen läßt. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr schmächtiger Freund stünde als Zweimetermann vor Ihnen: Ihr Hirn würde es nicht glauben, und mit ein wenig Geschick in anderen Bereichen der Verkleidung wäre er nicht mehr zu erkennen.

Ich wechsle gern meine Größe. Ich bin einmal einsfünfundachtzig groß gewesen. In meiner berühmten Rolle als »Ahriman« der Weissager hingegen war ich fast ein Zwerg, und das mit solchem Erfolg, daß der brave Mr. Harold Welkyn mich nicht wiedererkannt hat, als ich als Patrick Gore zu ihm zurückkehrte.

Das Beste wird sein, ich beginne mit der Sache, die sich auf der Titanic zugetragen hat. Die Geschichte, die ich vor den versammelten offenen Mäulern in der Bibliothek vortrug, als ich kürzlich dorthin zurückkehrte, um mein Erbe einzufordern, war die Wahrheit – nur eine einzige Kleinigkeit habe ich leicht verändert und natürlich jenen einen Punkt ausgelassen.

Wir haben die Identitäten getauscht, ganz wie ich es beschrieben habe. Der edle Knabe wollte mich tatsächlich umbringen, wie ich gesagt habe. Allerdings hat er versucht, mich zu erwürgen, denn damals war er der Stärkere. Diese kleine Tragikomödie spielten wir in den Kulissen einer echten Tragödie, und vor welchem Hintergrund, das haben Sie erraten. Der Hintergrund war eine jener großen, weiß lackierten Stahltüren, mit denen auf einem Schiff die Schotten dichtgemacht werden können und die dem eindringenden Wasser etliche Zentner schieres Metall entgegenstemmen. Die Art, wie ihre Scharniere sich bogen und zerplatzten, als das Schiff in die Tiefe ging, war, glaube ich, das Entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe; es war wie das Chaos, das über die Welt hereinbrach, wie der Fall der Tore von Gath.

Der Plan meines Freundes war nicht gerade hoch entwickelt. Er wollte mir den Hals zudrücken, bis ich bewußtlos war, mich dann unter Deck einschließen, wo das Wasser eindrang, und sich davonmachen. Ich wehrte mich mit allem, was ich zu fassen bekam, und das war in diesem Falle ein Holzhammer, der neben der Tür hing. Wie oft ich zuschlug, weiß ich nicht mehr, doch dem Sohn der Schlangentänzerin schien es überhaupt nichts auszumachen. Ich konnte einen Sprung auf die andere Seite der Tür machen – was sich jedoch als schlechter Schachzug erweisen sollte; der Sohn der Schlangentänzerin stemmte sich dagegen, und mit dem Rollen des Schiffes gaben die Scharniere nach. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte – alles von mir bis auf die Beine.

Es war ein Tag für Heldentaten, Doktor – Heldentaten, die keiner je besungen hat und von denen, wenn überhaupt, nur mit stammelnden Worten berichtet wurde. Wer mich gerettet hat, ob es ein Passagier war oder jemand von der Besatzung, das weiß ich nicht. Jedenfalls hob mich jemand auf wie einen nassen Hund und trug mich hinaus zu einem Rettungsboot. Ich war überzeugt, daß der Sohn der Schlangentänzerin mit seinem blutüberströmten Kopf und den wirren Augen zurückgeblieben war und umkommen würde. Daß ich selbst nicht umgekommen bin, verdanke ich wohl dem Salzwasser, aber es war nicht gerade eine Vergnügungsfahrt; und aus der Woche, die darauf folgte, weiß ich nichts mehr.

In der Geschichte, die ich vor einigen Abenden dem Grüppchen von Farnleigh Close erzählte, berichtete ich als nächstes davon, wie Boris Yeldritch, der alte Zirkusdirektor – längst tot –, mich als »Patrick Gore« in Empfang nahm. Ich habe auch zumindest angedeutet, wie mir zumute war. Sie wissen, warum ich auf meine Verfassung nicht näher eingegangen bin. Boris fand ohne Mühen einen Platz für mich im Zirkus, denn schließlich war ich (was sollen wir darum herumreden) ein Krüppel, der – dank meiner Studien seinerzeit zu Hause – einen wunderbaren Wahrsager abgab. Es war eine Zeit der Schmerzen und Demütigungen, besonders da ich auf meinen Händen »gehen« lernen mußte. Ich will dabei nicht länger verweilen, denn Sie sollen nicht denken, ich wollte Ihr Mitleid oder Mitgefühl – schon der Gedanke bringt mich in furchtbare Wut. Mir geht es wie dem Mann im Theaterstück. Eure Achtung will ich erringen, wenn ich es kann. Euren Respekt werde ich erzwingen, und wenn ich euch dafür umbringen muß. Aber euer Mitleid? Wie könnt ihr es wagen!

Aber mir geht auf, daß ich mich wie ein Tragöde wegen Dingen gebärde, die ich im Grunde schon fast vergessen habe. Lassen Sie uns die griesgrämige Stimmung vertreiben und uns amüsieren über das, was wir nicht ändern können. Sie wissen, was aus mir geworden ist: Ich bin Wahrsager gewesen, falscher Spiritualist und Okkultist, und Zauberkünstler dazu. Vor einigen Tagen auf Farnleigh Close war es fast ein wenig unvorsichtig von mir, daß ich soviel davon verraten habe. Aber ich bin als Mann, der alles weiß, schon unter so vielen Namen und in so vielen Verkleidungen aufgetreten, daß ich nicht groß befürchten mußte, jemand werde mich wiedererkennen.

Glauben Sie mir, in meinem Geschäft ist es nur gut, wenn man keine Beine hat. Ich würde es mir nicht anders wünschen. Aber die künstlichen waren mir oft im Wege, und ich fürchte, wirklich geschickt im Umgang mit ihnen bin ich nie geworden. Schon früh habe ich gelernt, mich nur auf den Händen fortzubewegen, und das mit – wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen – unglaublicher Schnelligkeit und Wendigkeit. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu erzählen, wie oft mir das in meinem Geschäft als falsches Medium nützlich war und welch bemerkenswerte Effekte ich für die Besucher meiner Séancen ersonnen habe. Denken Sie einmal eine Weile lang darüber nach, dann werden Sie es sich ausmalen können.

Bei solchen Auftritten trage ich unter meinen künstlichen Gliedmaßen und den gewöhnlichen Hosen stets noch eine eng sitzende Hose mit Lederflicken, die mir als Beine dienen und auf dem Boden keinerlei Spuren hinterlassen. Da oft alles auf die Geschwindigkeit ankam, bin ich heute in der Lage, meine Beinprothesen binnen fünfunddreißig Sekunden ab- und wieder anzuschnallen.

Und das ist natürlich die schmerzlich einfache Erklärung dafür, wie ich den Automaten bedienen konnte.

Dazu ein paar Worte, da sich die Geschichte nun einmal wiederholt. Es könnte nicht nur schon vorher geschehen sein, es ist schon vorher geschehen. Ist Ihnen klar, Doktor, daß dies das Geheimnis von Kempelens und Maelzels Schachspieler ist? * [* Es ist tatsächlich so, wie Mr. Gore schreibt. Ich bin auf diese Erklärung erstmals in einer alten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica gestoßen (9. Auflage, erschienen 1883). Der Verfasser des Artikels, J. A. Clarke, schreibt: »Der erste Operateur war ein polnischer Freiheitskämpfer namens Worousky, der auf dem Schlachtfeld beide Beine verloren hatte. In der Öffentlichkeit trug er Beinprothesen, und das und die Tatsache, daß in Kempelens Gesellschaft kein Kind oder Zwerg reiste, genügte, um beim Publikum jedes Mißtrauen zu zerstreuen, daß jemand im Inneren der Maschine sitzen könne. Der Automat machte mehrere Tourneen durch die Hauptstädte und Residenzen Europas, war für kurze Zeit im Besitz Napoleons I. und wurde nach Kempelens Tod im Jahre 1819 noch von Maelzel vorgeführt. 1854 ging er bei einem Brand in Philadelphia verloren.« Band XV, S. 210.] Mit der einfachen Hilfe eines Mannes von meiner Statur im Inneren der Kiste, auf der die Figur saß, versetzten sie ganz Europa und Amerika fünfzig Jahre lang in Staunen. Wenn dieser Schwindel Leute von so verschiedenem Temperament wie Napoleon Bonaparte und Phineas Barnum täuschen konnte, müssen Sie nicht unglücklich sein, wenn er auch Sie getäuscht hat. Aber in Wirklichkeit sind Sie ja gar nicht darauf hereingefallen, und das haben Sie mir auf dem Dachboden deutlich zu verstehen gegeben.

Ich zweifle nicht daran, daß dies auch im siebzehnten Jahrhundert schon das Geheimnis der Goldhexe war. Verstehen Sie nun, warum der Automat so sehr in Ungnade fiel, als mein verehrter Vorfahr Thomas Farnleigh, der ihn für einen schwindelerregenden Preis gekauft hatte, die Wahrheit darüber erfuhr? Er hatte das große Geheimnis kennengelernt, und wie manch anderer, der in die geheimen Mysterien eingeweiht wird, war er wütend. Er hatte geglaubt, er bekomme ein Wunder. Statt dessen bekam er nur einen raffinierten Trick, und wenn er seine Freunde damit hinters Licht führen wollte, mußte er immer einen eigenen Operateur im Hause haben.

Ursprünglich funktionierte es so: Der Raum im Inneren, davon haben Sie sich selbst vergewissert, ist groß genug für jemanden wie mich. Wenn man erst einmal in der Kiste, dem »Sofa«, steckt und die Tür verschlossen wird, öffnet sich an dessen Oberseite ein Fenster, durch das man an die Mechanik der Figur gelangt. Hier finden wir – mit simplen Gegengewichten versehen – ein Dutzend Hebel, die mit Händen und Körper in Verbindung stehen. In den Knien der Puppe sind Löcher verborgen, die sich von innen öffnen lassen und durch die der Operateur hinaussehen kann. So konnte Maelzels Figur Schach spielen, und so spielte unsere Goldhexe vor hundert Jahren die Cittern.

Eine der besten Ideen bei der Hexe war jedoch das Verfahren, mittels dessen der Operateur ungesehen in die Kiste geschleust wurde. Darin hat der Erbauer der Hexe für meine Begriffe Kempelen noch übertroffen. Zu Beginn der Veranstaltung öffnete der Zauberkünstler die Kiste, damit alle sich vergewissern konnten, daß nichts darin war. Wie kam der Operateur nun hinein?

Ihnen brauche ich das nicht zu erklären. Mit Ihren Bemerkungen auf dem Dachboden am Tag nach dem Mord – die ja ausdrücklich auf mich gemünzt waren – und den Fragen nach dem Kostüm, das der Schausteller getragen hatte, zeigten Sie deutlich genug, daß Sie die Sache durchschaut hatten, und damit wußte ich wiederum, daß ich auf verlorenem Posten stand.

Das traditionelle Kostüm des Zauberers besteht, wie jeder weiß, aus einem weiten wallenden Umhang mit Hieroglyphen darauf, und der Erfinder des Automaten machte sich lediglich diesen Umstand zunutze, wie später nicht ganz so elegant die indischen Fakire. Kurz gesagt, unter dem Umhang verbirgt sich jemand: im Falle des Fakirs ein Kind, das unbemerkt in den Korb klettert, im Falle des Schaustellers unserer Hexe der Operateur, der in den Kasten stieg, während der Zauberer in seiner großen Robe sich an dem Apparat zu schaffen machte und die Lichter im Raum erloschen. In vielen meiner eigenen Programme habe ich den Trick schon mit Erfolg angewandt.

Und damit kehren wir zu meiner Lebensgeschichte zurück.

Meine erfolgreichste Rolle war die des »Ahriman« in London, und ich hoffe nur, Sie können mir verzeihen, daß ich diesen Namen eines zarathustrischen Teufels einem Ägypter gegeben habe. Der arme Welkyn, von dem Sie nicht glauben dürfen, er sei jemals bei diesen Machenschaften mein Komplize gewesen, weiß bis zum heutigen Tag nicht, daß ich der bärtige Zwerg war, für den er sich so trefflich einsetzte. Er hat mich in dieser Verleumdungssache nach allen Regeln der Kunst verteidigt – er glaubte an meine übersinnlichen Kräfte –, und als ich als verlorener Erbe wiederauftauchte, fand ich es nur fair, daß ich ihn zu meinem Rechtsbeistand machte.

(Meister, dieser Verleumdungsprozeß beflügelt noch heute meine Phantasie. Ich hätte mir so sehr gewünscht, im Gerichtssaal eine Probe meiner hellseherischen Fähigkeiten zu geben. Mein Vater, müssen Sie wissen, war mit dem Richter zur Schule gegangen, und ich war bereit, im Zeugenstand in Trance zu verfallen und ein paar Peinlichkeiten aus dem Leben Seiner Lordschaft auszuplaudern. Mein Vater ist in den neunziger Jahren in der Londoner Gesellschaft ein- und ausgegangen, und die erstaunlichen Einblicke, die Ahriman in die Herzen seiner Besucher gewann, waren weniger seinen spiritistischen Fähigkeiten zu verdanken als einem soliden Vorwissen. Aber eine Schwäche für spektakuläre Effekte ist ja schon immer einer meiner entlarvendsten Züge gewesen.)

Und in meiner Zeit als Ahriman beginnt unsere eigentliche Geschichte.

Ich hatte keine Ahnung, daß »John Farnleigh« noch am Leben war, geschweige denn, daß er nun Sir John Farnleigh, Baronet, war – bis er eines Tages in meinen Salon in der Half Moon Street spaziert kam und mir alle seine Sorgen beichtete. Daß ich dem Mann nicht ins Gesicht lachte, vermerke ich hier nur als Tatsache. Nicht einmal der Graf von Monte Christo hätte sich eine solche Begegnung erträumen können. Aber ich glaube, ich sage ich glaube, indem ich seinem fiebernden Verstand Balsam gab, habe ich ihm doch auch zu ein paar unerfreulichen Tagen und Nächten verhelfen können.

Wichtig war jedoch nicht, daß ich ihn wiedergefunden hatte, sondern daß ich Molly wiedergefunden hatte.

Bei diesem Thema tobt meine Leidenschaft zu sehr, als daß ich sie in elegante Worte fassen könnte. Sehen Sie es nicht auf Anhieb, daß sie und ich füreinander bestimmt sind? Sehen Sie nicht, daß Molly und ich, nun wo wir uns einmal wiedergefunden hatten, von den Enden der Welt zusammengekommen wären? Es war eine Liebesaffäre so heftig, so absolut, so allumfassend; wir verzehrten uns nacheinander, wir fraßen uns mit Haut und Haaren auf. Ich muß darüber lachen, sonst mache ich noch aus Zufällen Poesie und aus Flüchen Liebesschwüre. Meinen verkrüppelten Leib fand sie (als sie es erfuhr) weder lustig noch abstoßend. Vor ihr mußte ich nicht das Lied des Quasimodo singen, das Klagelied des vom Leben Vernachlässigten. Hüten Sie sich, eine Liebe leichtfertig abzutun, deren Leidenschaft infernalisch ist und nicht von der Sanftheit der Engel. Pluto liebte ebenso wahrhaft wie der Herrscher des Olymp und half, die Erde zu bevölkern, wo Zeus, der arme Hund, es nur zum Schwan oder Goldregen brachte; und ich danke Ihnen, daß Sie meine Auslassungen zu diesem Thema wohlwollend aufgenommen haben.

Molly und ich haben die ganze Sache natürlich geplant. (Fanden Sie nicht auch, daß unsere Feindseligkeit vor den anderen fast ein wenig zu dick aufgetragen war? Daß sie mich gar zu schnell beschimpfte und ich sie mit gar zu frechen Bemerkungen herausforderte?)

Das Ironische daran war, daß ich ja tatsächlich der echte Erbe war und daß uns doch nichts anderes übrigblieb, als zu tun, was wir getan haben. Dieser Gauner war ihr bei dem, was Sie ihren heimlichen Hexenkult nennen, auf die Schliche gekommen; er nutzte sein Wissen als einfaches, doch wirksames Mittel der Erpressung, um an dem Besitz festzuhalten; und wenn sie ihn entlarvte, dann würde er seinerseits sie entlarven. Wenn ich den Besitz zurückerhalten wollte – dazu war ich entschlossen – und wenn ich Molly zurückhaben und hochoffiziell heiraten wollte, so daß wir ohne jede Heimlichtuerei nur unserer gemeinsamen Leidenschaft leben konnten – und auch dazu war ich entschlossen –, dann mußte ich ihn töten, und ich mußte es einrichten, daß es aussah, als habe er es selbst getan.

So kam es also. Molly brachte den Mord nicht über sich – ich hingegen bringe alles über mich, wenn ich mich nur gut genug darauf konzentriere. Ich sage kein Wort davon, daß ich ihm ja auch noch etwas zurückzuzahlen hatte – und als ich sah, was aus dem frommen Knaben geworden war, da wußte ich, was einen Puritaner ausmacht und warum man sie vom Antlitz der Erde getilgt hat.

Die Tat war für den Abend angesetzt, an dem sie auch geschah – genauer konnte ich nicht planen. Es konnte nicht vorher sein, denn ich wollte mich nicht vor der Zeit im Herrenhaus zeigen – das wäre ein vermeidbares Risiko gewesen –, und man konnte ja kaum erwarten, daß der Bursche sich umbrachte, bevor er überhaupt erfahren hatte, wie erdrückend die Last der Beweise gegen ihn war. Welch wunderbare Gelegenheit sich für mich ergab, als wir auf das Urteil zu den Fingerabdrücken warteten und er hinaus in den Garten spazierte, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.

Nun wird es Zeit für ein Kompliment an Sie, mein Freund. Sie nahmen es auf sich, ein unmögliches Verbrechen aufzuklären, und damit Sie Knowles zum Reden brachten, zimmerten Sie aus Träumen und Phantasiegebilden und Spekulation ein Gebäude zurecht, dessen Logik so zwingend war, daß Sie damit das Unerklärliche erklärten. Unter dem rein künstlerischen Aspekt freut mich das; ohne Ihre Arbeit wären die Zuhörer um das Beste an diesem Fall betrogen worden.

Tatsache ist jedoch – und das wissen Sie sehr gut –, daß es nie ein unmögliches Verbrechen gegeben hat.

Ich ging einfach zu dem Burschen hin, zerrte ihn zu Boden und tötete ihn am Teich mit dem Taschenmesser, das Sie später in der Hecke fanden – das ist alles.

Knowles, ob es nun Glück war oder Pech, sah alles vom Fenster des Grünen Zimmers mit an. Aber selbst da wären wir noch, hätte ich nicht alles mit meinem einen großen Fehler verdorben, in Sicherheit gewesen, gleich doppelt sicher sogar. Knowles schwor nicht nur aller Welt, daß es Selbstmord gewesen war; nein, er verschaffte mir sogar zu meiner nicht unbeträchtlichen Verblüffung ungefragt ein Alibi. Denn von Anfang an hatte er, wie Sie erfahren haben, dem verstorbenen Herrn mißtraut und eine Abneigung gegen ihn gehegt; er hatte nie wirklich geglaubt, daß dieser Mann ein Farnleigh war, und er wäre lieber an den Galgen gegangen, als daß er verraten hätte, daß der echte John Farnleigh den falschen, der ihn um sein Erbe gebracht hatte, getötet hatte.

Als ich den Burschen umbrachte, hatte ich natürlich meine Beine abgeschnallt. Das war nur vernünftig, denn wirklich schnell und bequem kann ich mich nur auf meinen Lederflicken bewegen, und mit den Beinprothesen hätte ich mich nicht so weit ducken können, daß mich hinter den taillenhohen Hecken keiner sah. Die Hecken boten mir einen wunderbaren Schutz und, sollte es notwendig werden, eine Vielzahl von Fluchtwegen. Für den Fall, daß mich doch jemand sah, hatte ich mir die sinistre Janusmaske vom Dachboden unter die Jacke gesteckt.

Ich näherte mich ihm von der Nordseite des Hauses, das heißt aus der Richtung des neuen Flügels. Ich könnte mir vorstellen, daß ihm die Haare zu Berge standen, als er mich sah. Der Gauner war so vor Schrecken starr, daß ich ihn schon nach unten gezogen hatte, bevor er sich rühren oder auch nur einen Laut von sich geben konnte. Die Kraft, die sich in all den Jahren in meinen Schultern und Armen entwickelt hat, Doktor, ist beträchtlich.

Später machte mir gerade in diesem Punkt – dem eigentlichen Angriff – die Aussage von Nathaniel Burrows einige Sorgen. Burrows stand an der Terrassentür, an die zehn Meter entfernt, und wie er selbst sagt, sieht er im Halbdunkel nicht gut. Er sah merkwürdige Geschehnisse, auf die er sich keinen Reim machen konnte. Er konnte mich nicht sehen, denn die Hecken standen dazwischen, doch das Verhalten des Opfers erschreckte ihn. Lesen Sie noch einmal in seiner Aussage nach, dann wissen Sie, was ich meine. Sie schließt mit den Sätzen: »Ich wüßte nicht, wie ich die Bewegung beschreiben sollte, die er machte. Es war, als hätte ihn etwas an den Füßen gepackt.«

Und genauso war es.

Doch diese Gefahr war kaum der Rede wert im Vergleich zu dem, was Welkyn ein paar Sekunden nach dem Mord beinahe vom Eßzimmerfenster aus gesehen hätte. Zweifellos wird Ihnen schon aufgegangen sein, daß das, was Welkyn durch eine der unteren Scheiben der Terrassentür sah, niemand anderes als der Unterzeichnete war. Es war leichtsinnig von mir, mich jemandem auch nur einen flüchtigen Augenblick lang zu zeigen, doch in dem Moment war ich (wie Sie noch hören werden) zu beschäftigt damit, daß mir mein Plan mißlungen war; zum Glück hatte ich die Maske umgebunden.

Daß er mich zu sehen bekam, war nicht so gefährlich wie die Deutung einer bestimmten Wendung – einer Impression –, die sich am folgenden Tag ergab, als dieser Vorfall besprochen wurde. Der Übeltäter war mein alter Lehrer Murray, stets ein zungenfertiger Mann. In Welkyns Beschreibung spürte Murray ein Echo dessen, was dieser (unsicher und ungeschickt) zum Ausdruck zu bringen suchte. Und Murray sagte zu mir: »Und nun, wo Sie zurückkehren, begrüßt Sie ein beinloses Etwas, das durch den Garten gekrochen kommt …«

Das war nun wirklich eine Katastrophe. Es war das eine, was niemand vermuten, der eine Gedanke, auf den niemand kommen durfte. Ich spürte, wie mein Gesicht sich zusammenzog, ich weiß, daß mir das Blut aus dem Gesicht wich, als hätte jemand den Stopfen herausgezogen, und ich sah, daß Sie mich ansahen. Ich war so dumm und habe den armen alten Murray angefahren und beschimpft, und alle müssen sich gefragt haben, warum – alle außer Ihnen.

Allerdings war ich zu jenem Zeitpunkt ohnehin schon zu dem Schluß gekommen, daß es um mich geschehen war. Ich habe von dem schweren Fehler gesprochen, den ich gleich zu Anfang gemacht habe und der alles verdarb, was ich mir zurechtgelegt hatte. Und der Fehler war der:

Ich hatte das falsche Messer genommen.

Es hätte ein gewöhnliches Taschenmesser sein sollen, das ich eigens für diesen Zweck besorgt hatte. (Dieses Messer habe ich Ihnen am folgenden Tag gezeigt und Ihnen weismachen wollen, es sei mein eigenes.) Ich wollte es ihm in die Hand drücken und es dann am Teich liegenlassen, und damit wäre das Bild des Selbstmordes komplett gewesen.

Doch als ich schon zustach und es zu spät war, noch etwas zu tun, da sah ich, daß ich in der Hand mein eigenes Messer hatte – das Messer, das ich besessen habe, seit ich ein Junge war – das Messer, das tausend Leute in Amerika bei mir gesehen haben, mit Madeline Danes Namen in die Klinge geritzt. Sie erinnern sich, daß Sie trotz größter Anstrengungen keine Erklärung dafür fanden, wie der falsche Farnleigh an dieses Messer gelangt war. Wie es zu mir kam, darauf wären Sie schnell genug gekommen.

Alles wurde dadurch noch schlimmer, daß ich am Abend des Mordes gegenüber dem Grüppchen in der Bibliothek dies Messer erwähnt hatte. Als ich von den Vorfällen an Bord der Titanic berichtete, erzählte ich auch, wie ich den echten Patrick Gore kennengelernt hatte und wie es auf Anhieb zum Streit gekommen war, und wie man mich nur mit Mühe davon abhalten konnte, mit meinem Taschenmesser auf ihn loszugehen. Deutlicher hätte man den Charakter des Täters und die Tatwaffe wohl nicht bezeichnen können. Das kam daher, daß ich eine Lüge zu kunstvoll erzählen wollte, daß ich die ganze Wahrheit unterbringen wollte, bis auf den einen Punkt, der unterdrückt werden sollte. Ich kann Ihnen von dieser Technik nur abraten.

Da stand ich nun also am Teich, das gräßliche Ding, an das ich seine Fingerabdrücke praktiziert hatte, in meiner behandschuhten Hand, und von überallher kamen Leute gelaufen. Ich mußte blitzschnell entscheiden. Ich wollte nicht riskieren, das Messer dortzulassen. Also wickelte ich es in mein Taschentuch und steckte es ein.

Welkyn sah mich, als ich zur Nordseite des Hauses zurückkehrte, um meine Prothesen wieder anzulegen. Deshalb fand ich es am besten zu sagen, daß ich auf der Südseite gewesen sei. Ich wagte es nicht, das Messer mit mir herumzutragen, und mußte es verstecken, bis ich eine Möglichkeit fand, es ungesehen zu beseitigen. Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß ich ein Versteck auswählte, auf das nie jemand hätte kommen sollen. Ihr Sergeant Burton hat selbst gesagt, die Chancen seien eins zu einer Million gewesen, daß er das Messer in der Hecke finden würde, ohne daß er jede einzelne Heckenpflanze im ganzen Garten ausgrub. Was denken Sie, meinten die Parzen es besonders schlecht mit mir? Na, ich weiß nicht. Zugegeben, ich mußte meine ganze Taktik ändern und nun so tun, als glaubte ich an einen Mord. Doch Knowles, noblen Sinnes und zu jedem Opfer bereit, verschaffte mir sogleich ein Alibi; noch bevor ich das Haus an jenem Abend verließ, ließ er eine Andeutung fallen, und am folgenden Tag war ich für Sie bereit.

Der Rest ist schnell erzählt. Als ich Molly erst einmal zu verstehen gegeben hatte, daß wir die Sache nun als Mord hinstellen mußten, glaubte sie, sie könne unsere Lage verbessern, indem sie das Heft mit den Fingerabdrücken stahl – denn eines solchen Diebstahls konnte ich ja kaum bezichtigt werden, wo das Heft doch als Beweis meiner Identität dienen sollte. Wir hatten ohnehin vor, es wieder zurückzustecken, und taten es um so schneller, als wir sahen, daß es eine Attrappe war.

Molly hat ihre Rolle gut gespielt, finden Sie nicht auch? Die kleine Szene im Garten gleich nach Entdeckung der Leiche (»Zum Teufel mit ihm, er hat es gewußt!«) hatten wir sorgfältig geprobt. Es sollte so gedeutet werden, daß ich recht gehabt hatte, als ich vor der versammelten Gesellschaft sagte, sie habe ihren Mann nie geliebt (ebenfalls eine einstudierte Szene), sondern immer nur das Bild, das sie von mir hatte. Es durfte ja nicht sein, daß die Witwe zu untröstlich war. Es durfte nicht sein, daß sie vor Kummer so darniederlag, daß sie mir für alle Zeiten feindlich gesonnen bliebe. Es war ein Plan, der in die Zukunft blickte, in eine Zeit, in der man das Kriegsbeil begraben würde – und was haben wir diesen schönen Plan verdorben!

Denn zu allem anderen kam noch der unglückliche Vorfall am folgenden Tag, als Betty Harbottle mich auf dem Dachboden beim Spiel mit dem Automaten erwischte. Auch da kann ich nur wieder mea culpa murmeln. Im Grunde war ich nur nach oben gegangen, um das Heft wieder zurückzuholen. Doch als ich die Hexe dort stehen sah, ging mir auf, daß ich sie nun endlich zum Leben erwecken konnte. Als Junge war ich hinter ihr Geheimnis gekommen, aber damals war ich schon zu groß, um noch hineinzukriechen. Und so konnte ich denn der Versuchung nicht widerstehen, daran zu basteln, wie ein braver Ehemann an einer braven alten Uhr auf einem braven Dachboden bastelt.

Als ich zu lange fortblieb, kam Molly nach oben. Sie kam gerade dazu, als Betty Harbottle im Bücherkabinett spionierte. Ich steckte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich in dem Automaten.

Molly erwartete, fürchte ich, allen Ernstes, daß ich mit dem Mädchen genauso kurzen Prozeß machte, wie ich es mit einem anderen getan hatte. Sie sah, daß Betty in dem Kabinett war, und verschloß die Tür. Aber ich wollte ihr nichts zuleide tun. Das Mädchen konnte mich natürlich nicht sehen, aber es war zu befürchten, daß sie meine Prothesen entdecken würde, die ich hinter der Maschine in die Ecke gestellt hatte. Was geschah, haben Sie sich wahrscheinlich längst ausgemalt. Zum Glück mußte ich dem Mädchen nicht weh tun; ein paar Bewegungen genügten; wobei ich schwören könnte, daß sie meine Augen entdeckte, die zu den Löchern in der Figur hinausspähten. Die Gefahr war für Molly und mich nicht allzu groß. Hätten Sie gar zu hartnäckig nach unserem Aufenthalt zu jenem Zeitpunkt gefragt, so hätten wir uns einfach zerknirscht und widerstrebend gegenseitig ein Alibi verschafft. Daß wir die Schürze des Mädchens – die ihr die Hexe bei der Pantomime mit ihren Krallen abgerissen hatte – übersahen, als wir sie nach unten schafften, war ein weiterer Fehler.

Tja, ich hatte es verdorben – was soll ich darum herumreden. Schon am Tag nach dem Mord war offensichtlich, daß ich, wie man so schön sagt, geliefert war. Sie fanden das Messer. Auch wenn ich es leichthin mit der Behauptung abtun wollte, der Hochstapler habe es mir schon vor vielen Jahren entwendet, und auch wenn Murray mir, ohne daß er es wußte, mit seiner Theorie zu Hilfe kam, das Messer sei nicht die wirkliche Tatwaffe, beobachtete ich doch jeden Ihrer Schritte genau und begriff bald, daß Sie das Geheimnis der falschen Beine durchschaut hatten.

Sie haben das Gespräch auf Ahriman den Ägypter gebracht. Und gleich darauf fragte Inspektor Elliot den wackeren Welkyn nach dem Ding aus, das durch den Garten gehüpft war. Dann übernahmen Sie wieder mit ein paar eindringlichen Worten zum Thema Hexerei und zogen sehr geschickt Molly mit hinein. Ich legte Widerspruch ein, und Sie konterten mit vielsagenden Andeutungen. Als nächstes arbeiteten Sie heraus, wie all diese Dinge miteinander zusammenhingen; Sie begannen mit Victoria Daly und kamen über das Verhalten des verstorbenen Patrick Gore am Abend des Mordes zu Betty Harbottle und dem Bücherkabinett auf dem Dachboden.

Ihre Bemerkungen bei der Besichtigung des Automaten waren der vorletzte Schritt zur Entlarvung. Sie deuteten an, daß der Mörder sich in dieser Kammer an dem Automaten zu schaffen gemacht habe und daß dieser Umstand zu seiner Entdeckung führen werde; zugleich sagten Sie aber auch, daß Betty Harbottle ihn nicht gesehen habe und daß es deswegen für ihn auch nicht notwendig sein werde, sie zum Schweigen zu bringen. Als nächstes forderte ich Sie heraus zu demonstrieren, wie der Automat funktionierte. Sie gingen kaum darauf ein, sondern sagten nur, der Schausteller habe seinerzeit gewiß das traditionelle Gewand des Zauberkünstlers getragen. Und zum Schluß brachten Sie noch ein paar Worte an, die suggerieren sollten, daß Mollys Hexenkult binnen kurzem aufgedeckt werde, wenn es nicht sogar schon geschehen sei. Daraufhin stieß ich den Automaten die Treppe hinunter. Glauben Sie mir, mein Freund, ich habe in jenem Augenblick nicht daran gedacht, daß ich Ihr Leben in Gefahr brachte. Ich wollte nur, daß die Figur einen Schaden nahm, der groß genug war, daß kein Mensch jemals mehr ihr Geheimnis würde ergründen können.

Bei der gerichtlichen Untersuchung am folgenden Tage fielen zwei weitere Punkte auf. Knowles log offensichtlich, und Sie wußten es. Madeline Dane wußte weitaus mehr über Mollys Unternehmungen, als wir uns leisten konnten.

Molly, das muß ich leider sagen, mag Madeline nicht. Sie beschloß, Madeline durch Einschüchterung zum Schweigen zu bringen, und sollte das nicht helfen, durch härtere Maßnahmen. Daher Mollys nicht gerade inspirierte Idee, einen Telefonanruf von Madeline vorzutäuschen, in dem diese vorgeblich darum bat, daß der Automat nach Monplaisir gebracht werde: Sie wußte, wie tief Madelines Furcht vor dieser Maschine saß, und ich mußte ihr versprechen, sie zu Madelines Erbauung noch einmal zum Leben zu erwecken. Was ich dann aber doch nicht getan habe; ich hatte anderes zu tun.

Es war ein Glück für Molly und mich, daß ich im Garten von Monplaisir war, als Sie und der Inspektor dort mit Madeline und Page zu Abend aßen. Ich hörte Ihre Unterhaltung mit an und hatte nun keine Zweifel mehr, daß Sie alles wußten – die Frage war nur noch, was Sie davon beweisen konnten. Als Sie und der Inspektor das Haus verließen, fand ich es weitaus nützlicher, Ihnen durch den Wald zu folgen und zu horchen, was Sie noch zu sagen hatten.

Ich begnügte mich damit, die harmlose alte Hexe ans Fenster zu schieben, dann folgte ich Ihnen nach. Was ich von Ihrer Unterhaltung hörte, bestätigte mir, daß ich Ihre Schritte richtig gedeutet hatte. Heute sehe ich es klar vor mir, wie Sie vorgegangen sind, doch auch seinerzeit hatte ich mehr als nur einen Schimmer. Ich kannte Ihr Ziel: Knowles. Ich wußte, welches für mich die schwache Stelle war: Knowles. Ich wußte, daß es einen Zeugen gab, der mich an den Galgen bringen konnte: Knowles. Ich konnte mich darauf verlassen, daß er sich lieber foltern ließe, bevor er den Namen des Mörders preisgäbe. Aber ich wußte auch, daß es eine Person gab, bei der er nicht zulassen würde, daß ihr auch nur ein Haar gekrümmt würde, und das war Molly. Es gab nur ein einziges Mittel, ihn zum Sprechen zu bringen. Sie mußten Mollys Hals in die Schlinge legen und Sie mußten diese Schlinge enger und enger ziehen, bis er es nicht ertragen konnte. Das würden Sie als nächstes tun; ich war klug genug und konnte die Indizien genauso deuten wie Sie, und mir war klar, daß wir keine Chance mehr hatten.

Nur eines blieb uns noch, und das war die Flucht. Wäre ich die seelenlose und ganz und gar unglaubwürdige Person, als die Sie mich jetzt gewiß beschrieben finden, so hätte ich Knowles mit der Leichtigkeit umgebracht, mit der man eine Zwiebel schält. Aber wer könnte Knowles umbringen? Wer könnte Madeline Dane umbringen? Wer könnte Betty Harbottle umbringen? Das sind echte Menschen, die ich gekannt habe, und nicht einfach nur Puppen in einem Kriminalroman, und deshalb kann man auch nicht wie mit Schießbudenfiguren auf dem Jahrmarkt mit ihnen umgehen. Ich war müde und, ehrlich gesagt, auch ein wenig erschrocken – als sei ich in einen Irrgarten geraten und fände nicht mehr heraus.

Ich folgte Ihnen und dem Inspektor zum Herrenhaus und ging zu Molly. Ich machte ihr klar, daß die Flucht unsere einzige Hoffnung war. Vergessen Sie nicht, wir waren im Glauben, wir hätten noch reichlich Zeit; Sie und der Inspektor wollten am Abend nach London, und die Entlarvung würde noch einige Stunden auf sich warten lassen. Molly stimmte zu, daß wir nichts anderes mehr tun konnten – und ihr war auch, als habe sie Sie am Fenster des Grünen Zimmers stehen sehen, als sie das Haus verließ, den Koffer in der Hand. Ich glaube allerdings, daß es unklug von Ihnen war, uns gehen zu lassen, damit wir uns durch die überstürzte Flucht ans Messer liefern. Ein solches Vorgehen, Doktor, ist nur dann ratsam, wenn Sie sicher sein können, daß Sie Ihre Beute auch wieder zu fassen bekommen, wenn es soweit ist.

In einem Punkt – wenn ich das noch zum Abschluß dieses Berichtes sagen darf – machte Molly mir ein wenig das Leben schwer. Sie brachte es nicht fertig zu gehen, ohne daß sie vorher noch einmal bei Madeline vorbeigeschaut hatte. Als wir im Wagen davonfuhren, hatte sie die absurdesten Vorstellungen im Kopf (ich kann das sagen, denn sie weiß, daß ich sie liebe), wie sie es dem »Biest« in Monplaisir heimzahlen könne.

Ich konnte sie nicht aufhalten. Binnen weniger Minuten waren wir dort und ließen den Wagen in der Gasse beim alten Haus von Colonel Mardale. Wir kamen in den Garten – und blieben stehen und lauschten. Denn durch die Glastür zum Eßzimmer, die einen Spaltweit offenstand, hörten wir eine ausgesprochen klarsichtige Analyse der Geschehnisse um Victoria Dalys Tod sowie des Charakters der Hexenmeisterin, die dahintersteckte; wir hörten sie aus dem Munde von Mr. Page. Der Automat stand nach wie vor da, und ich schob ihn nur deswegen zurück in den Kohlenschuppen, weil Molly ihn durch die Glastür auf Madeline schleudern wollte. Ein solches Betragen ist gewiß kindisch, doch die Feindseligkeit meiner Herzdame gegenüber Madeline ist persönlicher Natur – genau wie meine Feindschaft mit dem verstorbenen Patrick Gore es war; und ich kann Ihnen sagen, daß nichts, was in der ganzen Affäre bisher geschehen war, sie so sehr in Rage brachte wie jener kleine Vortrag im Eßzimmer.

Ich wußte nicht, daß sie aus Farnleigh Close eine Pistole mitgebracht hatte. Ich sah es erst, als sie sie aus der Handtasche zog und damit ans Fenster klopfte. Woraufhin, Doktor, mir klar wurde, daß ich sofort handeln mußte, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen konnten wir es in dem Augenblick wirklich nicht brauchen, daß die beiden Frauen sich in die Haare gerieten, und zum zweiten hatte im selben Moment ein Wagen (Burrows’) vor dem Haus gehalten. Ich klemmte mir Molly unter den Arm und machte ihr klar, daß wir keine Zeit mehr zu verlieren hatten. Zum Glück lief drinnen das Radio, so daß dies alles unbemerkt blieb. Gewiß war es nur eine sich nun anschließende Liebesszene von außerordentlicher Wirrheit – eine Szene, die sich an der offenen Glastür abspielte –, die mich in meiner Wachsamkeit nachlassen ließ, so daß Molly sich losreißen und noch einen Schuß in Richtung Eßzimmer abgeben konnte, als wir uns schon zur Flucht umgewandt hatten. Meine Dame ist ein guter Schütze, und sie hatte nicht vor, jemanden zu verletzen; sie läßt ausrichten, daß es lediglich als Kommentar zur Moral der armen Madeline gemeint gewesen sei und daß sie es jederzeit wieder tun würde.

Ich habe meinen guten Grund dafür, daß ich diese unwichtigen, ja geradezu lächerlichen abschließenden Ereignisse hier noch beschreibe, und das Motiv ist dasselbe, mit dem ich diesen Brief begonnen habe. Niemand soll denken, wir hätten uns in größter Tragik unter dem finsteren Murmeln der Götter davongeschlichen. Niemand soll denken, die Natur habe ihren Atem angehalten, als dies Gelichter sich fortstahl. Denn ich könnte mir vorstellen, Doktor – ich könnte es mir gut vorstellen –, daß Sie, um Knowles ein Geständnis zu entlocken, ihm eine weit verworfenere Molly vorgaukeln mußten, als es sie in Wirklichkeit je gab.

Sie ist nicht verschlagen; sie ist sogar das Gegenteil davon. Ihr kleiner Hexenkult war nicht das Werk eines verkommenen Verstandes, der sich daran delektieren wollte, wie er andere korrumpiert; sie ist das Gegenteil einer solch eiskalten, berechnenden Seele, und das wissen Sie genau. Was sie getan hat, hat sie getan, weil es ihr Spaß machte. Und ich würde vermuten, daß es ihr auch weiterhin Spaß machen wird. Es hinzustellen, als habe sie Victoria Daly ermordet, ist absurd, und was den Tod jener Frau in Tunbridge Wells angeht, sind die Ergebnisse Ihrer Ermittlungen so vage geblieben, daß Sie niemanden dafür verantwortlich machen können. Daß sie viel von den niederen Sphären in sich hat, gebe ich zu, und das gilt ja auch für mich; aber was haben Sie ihr sonst vorzuwerfen? Als wir beide aus Kent und aus England verschwanden, da schloß sich hinter uns – das habe ich versucht Ihnen klarzumachen – nicht der Vorhang eines mittelalterlichen Moralitätenspiels. Es hatte eher etwas von einem ganz gewöhnlichen Familienausflug an die See, bei dem der Vater sich im Trubel nicht mehr erinnern kann, wo er die Fahrkarten hingesteckt hat, und Mutter plötzlich sicher ist, daß sie das Licht im Badezimmer angelassen hat. Ähnlich überstürzt, male ich mir aus, sind seinerzeit Herr und Frau Adam aus einem größeren Garten aufgebrochen, und das, könnte der König sagen, und diesmal widerspräche auch Alice ihm nicht, ist eben die älteste Vorschrift im ganzen Buch.


Ihr ergebener


JOHN FARNLEIGH (weiland Patrick Gore).


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