Kapitel 12

Es war so still in der Bibliothek, daß Page deutlich die Schritte von Molly Farnleigh und Burrows hören konnte, als sie eintraten.

Murray räusperte sich. »Und das bedeutet …?« ermunterte er. »Habe ich denn nicht gehört, daß Miss Daly von einem Landstreicher ermordet wurde?«

»Das ist gut denkbar.«

»Und weiter?«

Doch nun ergriff Molly Farnleigh das Wort. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen«, hob sie an, »daß ich mich gegen diesen lächerlichen Anspruch wehren werde, Ihren Anspruch« – sie legte ihren ganzen Kampfgeist in den einen verächtlichen Blick, mit dem sie Gore ansah –, »und zwar bis zum Äußersten. Nat Burrows sagt, es wird sich über Jahre hinziehen und uns alle das letzte Hemd kosten, aber ich kann mir das leisten. Aber jetzt kommt alles darauf an, Johns Mörder zu finden. Dafür bin ich bereit, einen Waffenstillstand zu erklären, wenn Sie es Ihrerseits tun. Wovon habe ich da reden gehört, als ich hereinkam?«

»Denken Sie denn, Sie haben etwas gegen unseren Anspruch in der Hand, Lady Farnleigh?« fragte Welkyn, nun wieder ganz Anwalt. »Ich muß Sie warnen …«

»Ich habe mehr in der Hand, als Sie sich vorstellen können«, schoß Molly zurück, mit einem seltsam bedeutungsschwangeren Blick auf Madeline. »Wovon habe ich da reden gehört, als ich hereinkam?«

Dr. Fell, jetzt wieder mit Feuer und Flamme bei der Sache, sprach mit Donnerstimme.

»Wir sind einer hochinteressanten Angelegenheit auf der Spur, Ma’am«, sagte er, »und wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns helfen könnten. Gibt es auf dem Dachspeicher dieses Hauses nach wie vor eine Kammer, in der sich eine Sammlung von Büchern über Hexerei und dergleichen Themen befindet? Ja?«

»Natürlich gibt es die noch. Aber was hat das mit unserem Fall zu tun?«

»Sehen Sie sich dieses Buch an, Ma’am. Können Sie uns mit Bestimmtheit sagen, ob es aus dieser Sammlung kommt?«

Molly trat zum Tisch herüber. Alle erhoben sich, aber sie tat die Höflichkeit mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

»Ich glaube schon. Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Sie hatten alle dieses Exlibris, und das gibt es in keinem der Bücher hier unten – daran kann man sie erkennen. Wie sind Sie daran gekommen?«

Dr. Fell erzählte es ihr.

»Aber das ist unmöglich!«

»Wieso?«

»Weil um diese Bücher immer ein furchtbares Aufhebens gemacht wurde. Gerade von meinem Mann – ich habe nie verstanden, warum. Wir waren ja eben erst ein Jahr verheiratet.« Die ruhigen braunen Augen blickten in die Vergangenheit. Sie nahm auf dem Stuhl Platz, den Burrows ihr heranrückte. »Als ich herkam als – Braut, da gab er mir alle Schlüssel zum Haushalt mit Ausnahme dessen zu jener Kammer. Natürlich habe ich sie gleich an Mrs. Apps, die Haushälterin, weitergegeben; aber daß der eine fehlte, machte mich neugierig.«

»Wie bei Blaubart?« schlug Gore vor.

»Keine Provokation bitte«, brummte Dr. Fell, als sie sich mit wütender Miene dem Herausforderer zuwandte.

»Nun gut«, sagte Molly. »Ich habe natürlich doch erfahren, was in der Kammer war. Mein Mann wollte sie alle verbrennen – die ganze Sammlung, meine ich. Bevor er das Erbe antrat, wurde der Wert geschätzt, und es war eigens ein Mann aus London da, der sich die Bücher ansah. Die kleine Sammlung auf dem Dachboden sei Tausende und Abertausende von Pfund wert, erklärte er und hüpfte beinahe vor Freude, der dumme Kerl. Es seien Raritäten aller Arten darunter, eines davon sogar einmalig. Ich weiß noch, was es war. Ein gebundenes Manuskript, das seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert als verloren galt. Keiner wußte, wo es geblieben war, und dabei lag es dort oben auf unserem Dachboden. Das ›Rote Buch von Appin‹ hieß es. Angeblich enthielt es die geheimsten Geheimnisse der Schwarzen Magie, und jeder, der es gelesen habe – hieß es –, müsse von da an einen eisernen Ring um den Kopf tragen, damit er ihm nicht platzte. Daran erinnere ich mich noch gut, denn gestern abend haben Sie ja alle darüber geredet, und dieser Mann hier« – sie sah Gore an – »wußte nicht einmal, was es war.«

»Wie Dr. Fell schon sagt, keine Provokationen bitte«, erwiderte Gore mit freundlichster Stimme. Doch dann wandte er sich Murray zu. »Wo bleibt Ihr Sinn für Fairneß, Schulmeister? Sie wußten, daß ich das Zauberbuch nie unter diesem Namen gekannt habe. Aber ich kann Ihnen sagen, was es damit auf sich hat, und ich kann Ihnen auch zeigen, welches von den Büchern es ist, wenn es noch oben ist. Lassen Sie mich ein Beispiel für seine Wirkung geben. Es heißt, jeder der es kennt, könne voraussehen, welche Frage man ihm als nächstes stellen wird, noch bevor der Frager den Mund öffnet.«

»Das muß Ihnen ja gestern abend sehr gelegen gekommen sein«, spottete Molly.

»Ein schöner Beweis, daß ich das Buch gelesen habe. Außerdem soll es die Fähigkeit verleihen, unbelebte Dinge zu beleben, was ja beinahe vermuten läßt, Lady Farnleigh habe es ebenfalls gelesen.«

Dr. Fell pochte mit seinem Stock auf den Fußboden, um sich Gehör zu verschaffen. Als der Sturm, der loszubrechen drohte, gebannt war, sah er Molly wohlwollend an.

»Hä«, sagte Dr. Fell. »Hä-hä-hä. Wenn ich es recht verstehe, Ma’am, glauben Sie nicht an die magischen Fähigkeiten des ›Roten Buchs von Appin‹ oder überhaupt an dergleichen Dinge?«

»Ach, dieser …« tat Molly es mit einem Wort ab, das Madeline erröten ließ.

»Hmpf, ja. Sie sagen es. Aber nun weiter.«

»Jedenfalls machte mein Mann sich furchtbar viele Gedanken um diese Bücher, sie beunruhigten ihn. Er hätte sie am liebsten verbrannt. Ich wollte ihm klarmachen, wie dumm das war; wenn er sie unbedingt loswerden wollte, konnten wir sie ja verkaufen, und was richteten sie denn schon für einen Schaden an, wenn wir sie ließen, wo sie waren? Sie seien voller Wollust und Sünde, erklärte er.« Molly zögerte, doch dann fuhr sie in ihrer offenen Art fort. »Da spitzte ich, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, die Ohren. Als er mir die Kammer zeigte, blätterte ich in ein oder zweien davon, aber ich fand nichts Wollüstiges darin. Einen langweiligeren Kram kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Nichts für die niederen Triebe. Ein Haufen weitschweifiger Unsinn über Lebenslinien oder solche Sachen, und alles in Fraktur mit den ulkigen ›f‹ und ›s‹, die immer aussehen, als ob der Schreiber gelispelt hätte. Ich konnte gar nicht verstehen, daß sich irgendwo ein Mensch dafür interessieren sollte. Und als mein Mann darauf bestand, daß die Kammer verschlossen blieb, habe ich mich nicht mehr darum gekümmert, und ich denke nicht, daß seither noch einmal jemand oben war.«

»Aber dieses Buch hier« – Dr. Fell tippte mit dem Finger darauf – »kommt von dort?«

»Ja – ja, da bin ich mir sicher.«

»Und Ihr Mann hatte den Schlüssel zu dem verschlossenen Zimmer immer bei sich. Doch trotzdem kam es irgendwie aus dieser Kammer heraus und gelangte in den Besitz von Miss Daly. Tja.« Dr. Fell paffte kleine Rauchwölkchen; nun nahm er die Pfeife aus dem Mund und holte tief Luft. »Und das wäre eben die Verbindung, der Faden, der von Miss Dalys Tod zum Tod Ihres Mannes läuft. Nicht wahr?«

»Und was für eine Verbindung soll das sein?«

»Wäre es zum Beispiel denkbar, Ma’am, daß er Miss Daly das Buch selbst gab?«

»Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, was er von diesen Büchern hielt!«

»Das, Ma’am«, erwiderte Dr. Fell beschwichtigend, »war nicht die Frage. Wäre es denkbar? Schließlich haben wir gehört, daß er als Junge – und Sie bleiben ja dabei, daß er der echte John Farnleigh war – ganz anders über diese Bücher dachte.«

Molly ließ sich nicht unterkriegen.

»Da haben Sie mich in der Zwickmühle. Wenn ich sage, daß er diese Dinge geradezu maßlos haßte, können Sie mir entgegenhalten, ein so vollkommener Sinneswandel sei unmöglich und das sei der beste Beweis, daß er nicht John Farnleigh war. Wenn ich sage, es könne schon sein, daß er Victoria das Buch gegeben hat – na, ich weiß nicht, was Sie dann sagen werden.«

»Wir wollen nichts weiter als eine ehrliche Antwort, Ma’am«, beharrte Dr. Fell. »Oder sagen wir: Ihren ehrlichen Eindruck. Der Himmel stehe dem Menschen bei, der versuchen will, die ganze Wahrheit zu sagen. Aber wie war das – kannten Sie Victoria Daly gut?«

»Recht gut. Die arme Victoria hat sich immer bei guten Werken engagiert.«

»Würden Sie sagen« – Dr. Fell gestikulierte mit seiner Pfeife –, »würden Sie sagen, sie war auch jemand, bei dem Sie sich ein tiefergehendes Interesse am Thema Hexerei vorstellen könnten?«

Molly ballte die Fäuste.

»Können Sie mir bitte verraten, was dieses Hexengerede mit unserer Sache zu tun haben soll? Wenn es wirklich ein Buch über Hexerei ist – und wenn es aus der Dachkammer kommt, wird es das wohl sein –, beweist das denn etwas, nur weil sie darin gelesen hat?«

»Es gibt noch andere Indizien, glauben Sie mir«, sagte Dr. Fell sanft. »Wenn Sie nur ein wenig nachdenken, Ma’am, werden Sie darauf kommen, daß das Entscheidende die Verbindung aus Miss Daly und einer verschlossenen Bibliothek und diesem Buch ist. Zum Beispiel: Kannte Ihr Mann sie gut?«

»Hm. Das weiß ich nicht. Aber ich glaube kaum.«

Dr. Fell runzelte die Stirn. »Bedenken Sie aber nun sein Benehmen am gestrigen Abend, so wie man es mir beschrieben hat. Wenn ich es recht verstehe, war es doch so: Ein Mann, der Anspruch auf seinen Besitz erhebt, erscheint. Dieser Besitz, ob er ihn nun zu Recht hält oder nicht, ist die wichtigste Triebfeder in seinem Leben. Und nun steht seine Festung unter Beschuß. Mr. Gore und Mr. Welkyn mit ihren glaubwürdigen Geschichten und dem tödlichen Beweis der Fingerabdrücke stehen bereit zum Sturm. Gewiß, er geht nervös im Zimmer auf und ab – aber in dem Augenblick, in dem der Gegner zum Angriff bläst, scheint ihn eher die Tatsache zu beschäftigen, daß ein Detektiv im Dorf ist, der im Mordfall Victoria Daly ermittelt. Stimmt das nicht?«

Doch, es stimmte. Page erinnerte sich nur zu gut. Und Molly konnte es nicht leugnen.

»Sie sehen, unser Faden wird immer länger. Lassen Sie uns ihm folgen und sehen, wohin er uns führt. Diese versperrte Dachkammer kommt mir immer verlockender vor. Ist eigentlich noch etwas anderes oben außer Büchern?«

Molly zögerte.

»Nur diese künstliche Figur. Ich habe sie einmal gesehen, als ich noch ein kleines Mädchen war, und mochte sie sehr. Ich habe meinem Mann vorgeschlagen, daß wir sie doch herunterholen könnten und sehen, ob wir sie nicht zum Laufen brächten – ich mag solche mechanischen Sachen –, aber auch davon wollte er nichts hören.«

»Ah, die künstliche Figur«, wiederholte Dr. Fell und setzte sich mit einem Schnaufen aufrechter. »Können Sie uns davon mehr erzählen?«

Molly schüttelte den Kopf, und Kennet Murray sprang ein.

»Das wäre ein Thema für Sie, Doktor«, sagte Murray schwungvoll und machte es sich in seinem Sessel wieder bequemer, »da würde es sich lohnen, genauer nachzuforschen. Ich selbst habe vor Jahren mein Glück versucht, und der junge Johnny ebenfalls.«

»Und?«

»Die Fakten, die ich herausfinden konnte, sind folgende.« Murray legte besonderes Gewicht auf das Wort. »Sir Dudley hat mir nie gestattet, die Figur anzusehen, und ich mußte rein detektivisch vorgehen. Erbauer war Monsieur Raisin, der Organist in Troyes, der auch für Ludwig XIV. das von selbst spielende Cembalo baute, und in den Jahren 1676 und 1677 wurde die Figur mit großem Erfolg am Hof Karls II. gezeigt. Sie war beinahe lebensgroß, saß auf einer Art Sofa und war, heißt es, in ihrem Äußeren einer der Hofdamen nachgebildet, auch wenn Unklarheit darüber besteht, welcher. Was sie tat, versetzte die Leute damals in Begeisterung. Sie spielte zwei oder drei Melodien auf einer Cittern (dem Vorfahren unserer heutigen Zither), und sie drehte den Zuschauern eine lange Nase und hatte noch eine Reihe weiterer Gesten im Repertoire, einige davon höchst ungehörig.«

Sein Publikum lauschte gebannt.

»Sir Thomas Farnleigh, dessen Exlibris Sie in diesem Buch sehen, erwarb den Automaten«, sagte Murray. »Ob es das unanständige Betragen der Puppe war oder etwas anderes, was später dafür sorgte, daß sie in Ungnade fiel, habe ich nicht ermitteln können. Aber etwas fiel vor – und alle schweigen sich darüber aus, was es war. Der Grund scheint nicht schwerwiegend genug für das Entsetzen, das die Figur im achtzehnten Jahrhundert offenbar hervorrief, auch wenn man verstehen kann, daß ein solcher Apparat nicht gerade das Wohlwollen von Sir Dudley oder das seines Vaters oder Großvaters weckte. Man darf davon ausgehen, daß der alte Thomas wußte, wie sie in Gang zu setzen war, aber anscheinend wurde das Geheimnis nicht weitergegeben. Stimmt’s, junger Jo… – bitte um Verzeihung – Sir John?«

Gore war sichtlich verärgert über diese dick aufgetragene Höflichkeit, doch sein Interesse an anderen Dingen war zu groß.

»Sie haben recht«, bestätigte Gore, »das Geheimnis ging verloren. Und niemand wird es je wiederfinden. Das weiß ich, meine Herren. In jungen Jahren habe ich mir das Hirn zermartert, um hinter das Geheimnis der Goldhexe zu kommen. Ich könnte Ihnen leicht vorführen, daß keine der naheliegenden Erklärungen zutrifft. Wenn wir …« Er machte ein verblüfftes Gesicht. »Bei allen Göttern, warum gehen wir nicht einfach nach oben und sehen sie uns an? Daß ich darauf nicht früher gekommen bin. Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken bin. Die ganze Zeit habe ich überlegt, unter welchem Vorwand ich nach oben kommen oder wie ich mich heimlich hinaufschleichen könnte, wie ich es früher immer getan habe. Aber warum nicht? Warum nicht ganz offen, im schönsten Tageslicht?«

Er schlug mit der Faust auf seine Sessellehne und blinzelte leicht, als sei auch er eben erst ans Licht des Tages gekommen. Inspektor Elliot fuhr mit schneidender Stimme dazwischen.

»Einen Moment, Sir«, sagte Elliot. »Das ist alles hochinteressant, und zu einem anderen Zeitpunkt können wir uns gern damit beschäftigen, aber ich wüßte nicht, was es mit unserem Fall zu tun …«

»Sind Sie sicher?« fragte Dr. Fell.

»Sir?«

»Sind Sie sicher?« wiederholte der Doktor mit großem Nachdruck. »Kann mir jemand beschreiben, wie dieser Automat aussieht?«

»Er ist natürlich inzwischen ziemlich unansehnlich geworden; jedenfalls war er das vor fünfundzwanzig Jahren …«

»Das ist wahr«, stimmte Madeline Dane mit einem Schaudern zu. »Bitte gehen Sie nicht dort hinauf. Ich flehe Sie an!«

»Aber warum denn nicht?« rief Molly.

»Ich weiß nicht. Ich habe Angst.«

Gore weidete sich an ihrem Anblick.

»Ja, vage erinnere ich mich noch, daß es dich seinerzeit beeindruckt hat. Aber Sie wollten wissen, wie die Figur aussieht, Doktor. Sie muß verblüffend lebensecht gewesen sein, als sie neu war. Der Körper ist natürlich aus Eisenteilen zusammengesetzt, aber das ›Fleisch‹ ist Wachs, mit Glasaugen – eines fehlte – und echtem Haar. Im Alter ist sie nicht schöner geworden; sie ist recht dick, und wenn man in der richtigen Stimmung war, konnte sie einem schon ziemlich angsteinflößend vorkommen. Sie trägt oder trug seinerzeit ein Brokatkleid. Hände und Finger sind aus lackiertem Eisen. Damit sie die Zither spielen und ihre Gesten machen konnte, sind die Hände lang und gelenkig und spitz, fast wie … Früher hat sie gelächelt, aber als ich sie zuletzt sah, war sie so verfallen, daß man es nicht mehr erkennen konnte.«

»Und Betty Harbottle«, sagte Dr. Fell unvermittelt, »Betty Harbottle hat, wie einst Eva, eine Schwäche für Äpfel.«

»Wie bitte?«

»Doch, erinnern Sie sich«, drängte Dr. Fell. »Betty Harbottle, das verängstigte Hausmädchen, ißt gerne Äpfel. Das war das erste, was wir erfahren haben, als wir das Personal befragten. Ich würde vermuten, die wackere Haushälterin, Mrs. Apps, wollte uns damit etwas zu verstehen geben. Bei den Mysterien von Eleusis, das ist die Lösung! Und Sie« – das rote Gesicht des Doktors glänzte vor Konzentration, als er zu Gore hinüberblickte –, »Sie haben mir eben gesagt, daß Sie einen Vorwand hatten, wenn Sie hinauf zu den Büchern und der Goldhexe wollten. Sie gingen sich einen Apfel holen, auf dem Dachboden gleich nebenan. Möchte jemand eine Wette mit mir eingehen, wo Betty Harbottle war, als sie sich so gräßlich erschrak, und wo das Heft mit den Fingerabdrücken die Nacht über verborgen war?«

Harold Welkyn erhob sich und machte eine Runde um den Tisch, doch kein anderer rührte sich. Page hatte es später genau vor Augen, den Kreis dieser Gesichter in der düsteren Bibliothek und den Ausdruck, bei dem er eines davon überraschte.

Murray brach das Schweigen und strich sich dabei den Schnurrbart glatt.

»Ah. Ja. Ja, das ist zweifellos interessant. Wenn mir der Aufbau des Hauses noch richtig im Gedächtnis ist, gelangt man zur Dachbodentreppe über den Flur, der auch zum Grünen Zimmer führt. Sie meinen, man hat das Mädchen nach unten getragen und dorthin gebracht?«

Dr. Fell wiegte den Kopf hin und her. »Ich will nur sagen, daß wir entweder unseren Grips zusammennehmen müssen oder getrost zu Bett gehen können. Jede Spur führt zu jener Dachkammer. Das ist der Mittelpunkt des Labyrinths, das Herz all dessen, was geschehen ist, wie das kleine Schälchen Flüssigkeit in Das Haus und das Hirn – was ein passenderer Titel ist, als wir vielleicht denken. Wir sollten uns diese Kammer einmal ansehen.«

Inspektor Elliot sprach nachdenklich.

»Ich glaube auch. Und zwar jetzt. Hätten Sie etwas dagegen, Lady Farnleigh?«

»Nein, ganz und gar nicht; nur daß ich nicht weiß, wo der Schlüssel ist. Aber was soll’s! Brechen Sie das Schloß auf. Mein Mann hat ein neues Vorhängeschloß anbringen lassen, aber wenn Sie Hoffnung haben, daß uns das hilft, dann reißen Sie es – reißen Sie es …« Molly fuhr sich mit der Hand über die Augen und behielt ihre Gefühle für sich, und sogleich hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Soll ich vorangehen?«

»Ich bitte darum.« Elliot zauderte nicht. »Wer von den anderen ist schon einmal in der Kammer gewesen? Nur Miss Dane und Mr. Gore? Würden Sie beide dann bitte mit Dr. Fell und mir mitkommen? Und Mr. Page. Die anderen möchte ich bitten hierzubleiben.«

Elliot und der Doktor gingen als erste hinaus und unterhielten sich leise miteinander. Dann setzte Molly, die dezent weghörte, sich an die Spitze, so daß sie die beiden zwischen sich und dem Herausforderer hatte. Page und Madeline bildeten den Abschluß.

»Wenn du lieber unten bleiben magst …« sagte er zu Madeline.

Sie drückte seinen Arm. »Nein, bitte. Ich will nach oben. Ich will endlich begreifen, was hier vorgeht. Weißt du, ich fürchte, ich habe Molly etwas gestanden, was sie mir sehr übelnimmt – aber ich konnte nicht anders, es war der einzige Ausweg. Brian. Du glaubst doch nicht, daß ich ein Biest bin, oder?«

Er war verblüfft. Zwar lächelte sie halb dabei, als wolle sie sich über den Gedanken gleich wieder lustig machen, doch die schmalen Augen blickten ihn forschend an.

»Liebe Güte, nein! Wie kommst du denn auf so eine Idee?«

»Ach, nur so. Aber in Wirklichkeit hat sie ihn nicht geliebt. Sie macht das alles nur, weil sie meint, es wird von ihr erwartet. Glaube mir, auch wenn es noch so anders aussah: Die beiden haben eigentlich nicht zueinander gepaßt. Er war ein Idealist, sie ist praktisch veranlagt. Warte. Ich weiß, er hat sich als jemand ausgegeben, der er nicht war, aber du kennst die Umstände nicht alle, sonst würdest du verstehen …«

»Dann doch lieber das Praktische«, erwiderte Page grimmig.

»Brian!«

»Das ist mein Ernst. Idealisten wie er können mir gestohlen bleiben. Wenn er wirklich all das getan hat, was sie sagen – und was du ja auch schon zugegeben hast –, dann war unser verstorbener Freund ein hundertkarätiges Schwein, und das weißt du auch. Du warst doch nicht etwa selbst in ihn verliebt?«

»Brian! So etwas darfst du nicht sagen!«

»Ich weiß; aber habe ich recht?«

»Nein, hast du nicht«, sagte Madeline gefaßt und blickte zu Boden. »Und wenn du Augen im Kopf hättest oder einmal deinen Verstand gebrauchen würdest, dann müßtest du so etwas nicht fragen.« Sie zögerte; es war offensichtlich, daß sie nicht weiter darüber sprechen wollte. »Was halten denn Dr. Fell und der Inspektor von – der ganzen Sache?«

Er öffnete den Mund zur Antwort, und erst da ging ihm auf, daß er keine Ahnung hatte.

Nicht die leiseste Ahnung. Inzwischen waren sie über die breite, ausgetretene Eichentreppe ins obere Stockwerk gekommen, hatten die Galerie durchquert und bogen nun in einen Gang nach links. Zur Linken kam das Grüne Zimmer, dessen Tür offenstand und den Blick auf schwere Büromöbel des vergangenen Jahrhunderts und Wände in bedrückenden Farben freigab. Zwei Türen zur Rechten führten in Schlafzimmer. Der Gang endete an einem Fenster mit Blick auf den Garten. Die Treppe zum Dachboden – erinnerte Page sich dunkel – befand sich in der Außenmauer, und man erreichte sie durch eine Tür in der linken Wand.

Doch im Augenblick beschäftigte ihn etwas anderes. So umgänglich Dr. Fell auf seine polternde Art auch war, so offen Inspektor Elliot sich gab, hatte er doch, wie ihm erst jetzt aufging, nicht das mindeste von ihnen erfahren. Sicher, beide würden weiterreden bis zum Jüngsten Tag. Aber wie sah es mit den eigentlichen Ermittlungen aus? Ein Fingerabdruck hier, eine Fußspur dort, Elliots Suche im Garten, ein Indiz, das in einen verschlossenen Umschlag kommt? Gewiß, vom Fund des Messers hatte er erfahren, doch auch das wohl nur deshalb, weil es unter den Umständen unvermeidbar war. Aber sonst – hatte er auch nur Vermutungen gehört? Aussagen waren aufgenommen worden; was war von diesen Aussagen nun zu halten?

Natürlich taten sie nur ihre Arbeit, aber trotzdem beunruhigte es ihn. Sie pflügten in einem Boden, von dem er gedacht hätte, er sei längst gründlich umstochen, und brachten neue Erkenntnisse zutage, so wie in Blenheim noch immer Totenschädel aus der Erde kamen, und man ahnte nichts, bis plötzlich der Schädel über den Tisch gerollt kam. Aber das war kein schönes Bild. Der gewaltige Rücken von Dr. Fell, der vor ihm ging, schien die ganze Breite des Ganges zu füllen.

»In welchem Zimmer ist sie?« fragte Elliot leise.

Molly wies auf die hintere der beiden Türen, gegenüber dem Zugang zum Dachboden. Elliot klopfte sanft an die Tür, doch aus dem Inneren drang ein unterdrückter Schrei.

»Betty«, flüsterte Madeline.

»Da drin?«

»Ja. Sie haben sie ins erste Schlafzimmer gebracht, das zur Hand war. Ihr Zustand«, fügte Madeline hinzu, »ist ernst.«

Was man sich darunter vorzustellen hatte, wurde Page erst allmählich klar. Dr. King öffnete die Zimmertür, warf einen Blick über die Schulter, schlüpfte hinaus auf den Gang und schloß sie leise hinter sich.

»Nein«, sagte er. »Sie können noch nicht zu ihr herein. Heute abend vielleicht; aber eher morgen oder erst übermorgen. Ich wünschte, die Beruhigungsmittel wirkten, aber sie schlagen nicht an.«

Elliot blickte ratlos und verwirrt drein. »Sicher, Doktor, aber es ist doch nicht – nicht …«

»Gefährlich, meinen Sie?« fragte Dr. King und senkte seinen grauen Bart, als wolle er damit zustoßen. »Lieber Himmel! Entschuldigen Sie mich.«

Nach einer Weile kam er wieder heraus.

»Hat sie etwas gesagt?«

»Nichts für Ihr Notizbuch, Inspektor. Delirium, die meiste Zeit. Ich wünschte, ich könnte aus ihr herausbekommen, was geschehen ist.«

Seine Zuhörer waren mäuschenstill. Molly, nun mit ganz anderer Miene, wandte sich offen an den Arzt. Dr. King und ihr Vater waren lebenslange Freunde gewesen, und der Doktor gehörte für sie fast zur Familie.

»Onkel Ned, sag mir die Wahrheit. Ich würde alles für Betty tun, das weißt du. Aber ich hatte nicht geglaubt, daß es – es steht doch nicht wirklich ernst um sie? Man verliert doch nicht wirklich den Verstand vor Schrecken? Oder doch?«

»Oh, so schlimm ist es nicht«, erwiderte der andere. »Ein gesundes, kräftiges Mädchen wie du mit Energie im Überfluß und Nerven wie Drahtseilen – wenn dir einer dumm kommt, dann schlägst du zu. So bist du nun einmal. Aber andere sind anders. Vielleicht war es nur eine Maus oder der Wind im Kamin. Doch was immer es war – ich hoffe, daß ich ihm nie begegne.« Sein Ton wurde milder. »Nein, sie kommt schon wieder in Ordnung. Ich brauche auch keine Hilfe, danke; Mrs. Apps und ich kommen zurecht. Eine Kanne Tee könnte nicht schaden.«

Die Tür schloß sich wieder hinter ihm.

»Tja, meine Freunde«, meinte Patrick Gore, die Hände tief in den Taschen vergraben, »etwas ist hier geschehen, da gibt es keinen Zweifel. Sollen wir jetzt hinaufgehen?«

Er öffnete die Tür gegenüber.

Die Treppe war steil, und es herrschte jener säuerliche Geruch, den man bei altem Stein findet, wenn die Luft nicht herankommt. Es war, als sähe man die Rippen und Knochen im Inneren des Hauses, noch nicht durch die Kunstfertigkeit späterer Zeiten gemildert. Die Dienstbotenkammern, das wußte Page, befanden sich am anderen Ende des Hauses. Im Aufgang gab es keine Fenster, und Elliot, der voranging, hatte eine elektrische Taschenlampe eingeschaltet. Dr. Fell folgte ihm, dann kam Molly, dann Madeline und Page, und Gore bildete die Nachhut.

Nichts an diesem Dachboden war verändert worden, seit Inigo Jones seine kleinen Fenster skizziert hatte und seinen Stein mit Backstein verkleidet. Oben kam der gewölbte Fußboden dermaßen schräg auf die Treppe zu, daß jeder falsche Schritt den Unachtsamen hinunterkatapultieren mußte. Die Eichenbalken waren von gewaltigen Ausmaßen, zu dick, als daß sie malerisch gewirkt hätten, nur ein Bild gewaltiger Macht, die stützen oder auch zermalmen konnte. Ein fahlgraues Licht drang herein, und die Luft war abgestanden, feucht und heiß.

Die Tür, nach der sie suchten, fanden sie am anderen Ende des Ganges. Es war eine schwere, schwarze Tür, die man eher in einem Keller als auf dem Dachboden vermutet hätte. Die Scharniere stammten aus dem achtzehnten Jahrhundert; der Knauf war fort, ein nicht ganz so altes Schloß unverschlossen, und statt dessen sicherte sie nun eine starke Kette mit einem Vorhängeschloß. Doch nicht auf das Schloß richtete Elliot zunächst den Strahl seiner Lampe.

Etwas war zu Boden geworfen und beim Schließen der Tür halb zerdrückt worden.

Es war ein angebissener Apfel.


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