Kapitel 16

Andrew MacAndrew Elliot hob ein Glas höchst passablen Rheinweins und musterte es.

»Miss Dane«, sagte er, »Sie sind die geborene Politikerin. Oder sagen wir Diplomatin – das klingt seriöser, ich weiß auch nicht, warum. Diese Sache mit dem Fußballtoto, das war genial. Besser hätte man auch mit tausend Worten den Geschworenen nicht die Augen öffnen können. Wie sind Sie darauf gekommen?«

In der langen, warmen Abenddämmerung saßen Elliot, Dr. Fell und Page mit Madeline in Monplaisir – ein Haus von unglücklichem Namen, doch großer Gemütlichkeit – beim Abendessen zusammen. Der Tisch stand an der offenen Glastür des Eßzimmers, die hinaus in einen großen Garten voller Lorbeerbüsche führte, und daran schlossen sich zwei Morgen Obstgarten mit Apfelbäumen an. Durch diesen Obstgarten führte in die eine Richtung ein Pfad zu dem Anwesen, in dem einst Colonel Mardale residiert hatte; in die andere Richtung ging es über einen Bach hinauf zum Hanging Chart, dessen bewaldeter Hügel sich links vom Garten dunkel vor dem Abendhimmel abhob. Wenn man diesem Pfad durch den Chart folgte, über die Kuppe und wieder bergab, kam man in den Garten auf der Rückseite von Farnleigh Close.

Madeline lebte allein; nur tagsüber kam eine Frau, die kochte und alles in Ordnung hielt. Es war ein schmuckes kleines Haus, voller Messing, geschäftig tickenden Uhren und voll bunter Drucke mit militärischen Motiven, eine Hinterlassenschaft ihres Vaters. Das Haus stand recht einsam – die nächste Nachbarin war die unglückliche Victoria Daly gewesen –, doch Madeline machte die Einsamkeit nichts aus.

Nun saß sie am Kopfende des Tisches an der offenen Terrassentür, umgeben von poliertem Holz und Silber in einem Zwielicht, das noch nicht ganz dunkel genug war, um die Kerzen auf dem Eßtisch anzuzünden. Sie trug Weiß. Die schweren, niedrigen Eichenbalken des Zimmers, das Zinngeschirr und die geschäftigen Uhren, das alles war nur der Hintergrund für sie. Als sie mit ihrer Mahlzeit fertig waren, entzündete Dr. Fell eine Zigarre von gargantuesken Ausmaßen; Page hatte Madeline eben Feuer für ihre Zigarette gegeben, und im Licht des Streichholzes konnte man sie auf Elliots Frage lachen sehen.

»Das Fußballtoto?« fragte sie und errötete ein wenig. »Ehrlich gesagt, ich bin überhaupt nicht darauf gekommen. Das war Nat Burrows. Er hat es aufgeschrieben, und ich mußte es auswendig lernen wie ein Gedicht. Nicht daß es nicht die Wahrheit wäre, jedes Wort davon. Ich habe es alles tief empfunden, in meinem tiefsten Innersten. Ich fand es ausgesprochen mutig von mir, daß ich es vor all den Leuten fertiggebracht habe, das alles zu sagen, und jeden Augenblick mußte ich damit rechnen, daß der arme Mr. Whitehouse mich unterbrechen müßte; aber Nat bestand darauf – es sei die einzige Möglichkeit. Als es vorüber war, bin ich oben im Bull and Butcher in ein Zimmer gegangen und habe geheult, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Meinen Sie, es war unanständig von mir?«

Alle starrten sie an.

»Nein«, antwortete Dr. Fell mit fester Stimme. »Es war eine bemerkenswerte Leistung. Aber lieber Himmel, Burrows hat Ihnen das eingepaukt? Alle Achtung!«

»Er war gestern die halbe Nacht hier, und wir haben geübt.«

»Burrows? Wann war er hier?« fragte Page überrascht. »Ich habe dich doch nach Hause gebracht.«

»Er kam, nachdem du wieder gegangen warst. Er hatte von Molly erfahren, was ich ihr gebeichtet hatte, und war fürchterlich aufgeregt.«

»Ich glaube, meine Herren«, brummte Dr. Fell und paffte nachdenklich seine große Zigarre, »wir sollten unseren Freund Burrows nicht unterschätzen. Page hat uns ja schon vor langem versichert, daß er ein verdammt cleverer Bursche ist. Am Anfang schien es, als könne Welkyn ihn bei diesem Zirkus in die Tasche stecken, doch in Wirklichkeit hatte er die ganze Untersuchung, psychologisch gesehen, vom ersten Augenblick an im Griff. Nur zu verständlich, daß er kämpft. Für die Kanzlei Burrows & Burrows macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sie den Farnleigh-Besitz weiter verwaltet oder nicht. Außerdem ist er keiner, der klein beigibt. Wenn – falls – der Fall Farnleigh kontra Gore vor Gericht geht, werden die Funken fliegen.«

Elliot war mit etwas anderem beschäftigt.

»Hören Sie, Miss Dane«, sagte er steif. »Ich will nicht bestreiten, daß Sie uns einen großen Gefallen getan haben. Das war ein Triumph, wenn auch nur ein äußerlicher, einer für die Zeitungen. Jetzt können die Ermittlungen nicht eingestellt werden, selbst wenn der Assistant Commissioner sich die Haare rauft und flucht, daß die Geschworenen ein Haufen schwachköpfiger Bauerntölpel waren, die sich von einer gutaussehenden – ähm – Frau haben verzaubern lassen. Aber ich wüßte doch gern, warum Sie mit dem, was Sie an Information hatten, nicht zuerst zu mir gekommen sind. Ich bin schließlich kein Ungeheuer. Ich – äh – eigentlich bin ich gar kein so schlechter Kerl, wenn ich das sagen darf. Warum haben Sie es mir nicht anvertraut?«

Es war seltsam und schon beinahe komisch, dachte Page, wie persönlich er es offensichtlich nahm.

»Das wollte ich ja«, beteuerte Madeline. »Ehrlich, glauben Sie mir. Aber Molly mußte es als erste erfahren. Und dann ließ Nat Burrows mich Stein und Bein schwören, daß ich vor der amtlichen Untersuchung der Polizei kein Wort darüber sagen würde. Er traut der Polizei nicht, sagt er. Außerdem hat er eine Theorie, die er beweisen will …« Sie stockte, biß sich auf die Lippe und machte eine entschuldigende Geste mit der Zigarette. »Sie wissen doch, wie manche Leute sind.«

»Was haben wir denn nun überhaupt erreicht?« fragte Page. »Sind wir nach dem heutigen Vormittag nur wieder am Anfang unseres Kreises angekommen und fragen von neuem, welcher von beiden der echte Erbe ist? Wenn Murray beschwört, daß es Gore ist, und niemand etwas findet, die Beweiskraft seiner Fingerabdrücke zu widerlegen, scheint doch die Sache damit erledigt. Jedenfalls hätte ich das gedacht. Auch wenn mir heute vormittag ein- oder zweimal Zweifel kamen. Ein paar dezente Hinweise – und zwar von dir, Madeline – schienen ja genau auf unseren Freund Welkyn gemünzt.«

»Wirklich, Brian! Ich habe nur gesagt, was Nat mir eingetrichtert hat. Worauf willst du hinaus?«

»Nun, ich überlege, ob nicht Welkyn hinter dieser ganzen Affäre der angeblich unrechtmäßigen Erbschaft steckt. Welkyn, der Anwalt der Geisterseher, Advokat der Spiritisten. Welkyn, der eine Vorliebe für reichlich zwielichtige Freunde hat und auf Gore gekommen sein mag, wie er auf Ahriman und Madame Duquesne und all die anderen gekommen ist. (Daß Gore ein Taschenspieler ist, war mein erster Eindruck, als ich ihn sah.) Welkyn, der behauptet, zum Zeitpunkt des Mordes habe er ein Gespenst im Garten gesehen. Welkyn, der zum Zeitpunkt des Mordes gerade einmal fünf Meter vom Opfer fort war, mit nichts als einer Glasscheibe dazwischen. Welkyn …«

»Aber Brian, du hältst doch nicht ernsthaft Mr. Welkyn für den Mörder?«

»Warum denn nicht? Dr. Fell hat gesagt …«

»Ich habe gesagt«, schaltete sich der Doktor ein und betrachtete mit gerunzelter Stirn seine Zigarre, »daß er die interessanteste Person dieser Versammlung ist.«

»Das läuft doch in der Regel auf dasselbe hinaus«, beharrte Page finster. »Madeline, was meinst du denn nun wirklich – welcher ist der echte Erbe? Gestern hast du mir gesagt, für dich sei der tote Farnleigh der Hochstapler gewesen. Glaubst du das wirklich?«

»Ja, das glaube ich. Aber ich kann nicht verstehen, daß jemand kein Mitleid mit ihm hat. Begreifst du das denn nicht – er hat uns ja nicht mit Absicht etwas vorgemacht. Er wollte nur einfach wissen, wer er war. Und dein Mr. Welkyn kann unmöglich der Mörder gewesen sein. Er war der einzige von uns, der nicht auf dem Dachboden war, als – ach, das ist schrecklich, nach dem Essen und an einem so schönen Abend wieder davon anzufangen, aber er ist der einzige, der nicht oben war, als die Maschine die Treppe hinunterfiel.«

»Sinister«, sagte der Doktor, »höchst sinister.«

»Sie müssen ein ungeheuer tapferer Mann sein«, sagte Madeline mit der größten Ernsthaftigkeit, »daß Sie darüber lachen, wie dieses eiserne Götzenbild auf Sie zugepurzelt kam …«

»Meine liebe junge Dame, ich bin nicht tapfer. Die See war rauh, und der Boden schwankte unter meinen Füßen. Später stieß ich wie einst Petrus Flüche und Verwünschungen aus. Dann machte ich meine Witze. Ahemm. Zum Glück lenkte mich der Gedanke an das Mädchen unten in dem Zimmer ab, das nicht so gut gepolstert war wie ich …« Seine Faust schwebte über der Tischplatte, gewaltig im Dämmerlicht. Die anderen spürten eine gefährliche Macht, die da hinter den Scherzen und der Zerstreutheit lauerte, eine Macht, die sie alle überwältigen konnte. Aber er schlug nicht auf den Tisch. Er blickte nur hinaus in den düsterer werdenden Garten und rauchte friedlich seine Zigarre.

»Dann sagen Sie es mir, Sir«, beharrte Page. »Wo stehen wir denn nun? Finden Sie nicht, daß Sie uns mittlerweile vertrauen können?«

Seine Antwort bekam er von Elliot. Elliot nahm sich eine Zigarette aus der Dose auf dem Tisch und zündete sie mit einer bedächtigen Bewegung an. Im Licht des Streichholzes sah man, daß sein Gesicht nun wieder streng und energisch war; Page hatte den Eindruck, daß seine Miene ihm etwas zu verstehen geben wollte, aber er wußte sie nicht zu deuten.

»Wir müssen bald los«, sagte der Inspektor. »Burton fährt uns nach Paddock Wood, und von da nehmen Dr. Fell und ich den Zehnuhrzug nach London. Wir haben ein paar Worte mit Mr. Bellchester vom Yard zu reden. Dr. Fell hat eine Idee.«

»Eine Idee, was man – hier tun könnte?« fragte Madeline gespannt.

»So ist es«, bestätigte Dr. Fell. Eine Weile lang saß er nur schläfrig da und rauchte. »Ich überlege. Eigentlich spricht ja nichts dagegen, daß ich Ihnen ein paar vorsichtige Andeutungen mache. Zum Beispiel, daß die heutige gerichtliche Untersuchung zwei verschiedene Zwecke verfolgte. Wir haben darauf gehofft, daß das Urteil auf Mord lautet, und wir haben gehofft, daß einer der Zeugen sich verplappert. Das Urteil haben wir bekommen, und es hat auch jemand heute morgen mehr gesagt, als er wollte.«

»War das die Stelle, an der Sie laut ›Donnerwetter‹ gesagt haben?«

»Ich habe am laufenden Band ›Donnerwetter‹ gesagt«, raunte der Doktor. »Aber nur im stillen. Wenn wir etwas im Gegenzug bekommen, werden der Inspektor und ich Ihnen verraten oder zumindest andeuten, warum wir an dieser Stelle ›Donnerwetter‹ gesagt haben. Aber wie gesagt: Wir wollen etwas dafür. Schließlich sollten Sie nicht uns etwas verwehren, was Sie für Mr. Burrows getan haben – unter demselben Siegel der Verschwiegenheit. Vor ein paar Minuten haben Sie gesagt, er arbeite an einer Theorie, die er beweisen wolle. Was ist das für eine Theorie? Und was will er beweisen?«

Madeline regte sich, dann drückte sie ihre Zigarette aus. In dem Halbdunkel wirkte sie kühl und klar in ihrem weißen Kleid, der tiefe Ausschnitt betonte ihren reizenden Hals. Das Bild von ihr in diesem Augenblick blieb Page für immer im Gedächtnis: das blonde Haar zu einer Art Locken über den Ohren aufgedreht, das breite Gesicht noch sanfter und ätherischer im Zwielicht, die Augen, die sie nachdenklich schloß. Draußen kam ein leichter Wind auf und raschelte in den Lorbeerbüschen. Nach Westen hin färbte sich der Himmel über dem Garten in einem blassen Gelborange wie craqueliertes Glas, und über der dunklen Masse des Hanging Chart erschien ein Stern. Es war, als hätte der Raum sich zurückgezogen, so als warte er auf etwas. Madeline legte die Hände auf die Tischplatte und lehnte sich zurück.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Leute kommen zu mir und erzählen mir Sachen. Sie vertrauen darauf, daß ich ein Geheimnis bewahren kann; ich sehe aus wie jemand, der das kann, und ich kann es auch wirklich. Jetzt habe ich das Gefühl, ich werde gezwungen, alle diese Geheimnisse preiszugeben, und es kommt mir sehr unanständig vor, daß ich heute so viel ausgeplaudert habe.«

»Und?« drängte Dr. Fell.

»Trotzdem sollten Sie das folgende wissen. Ich finde, ich sollte es Ihnen sagen. Nat Burrows verdächtigt jemanden, und er hat Hoffnung, daß er ihm die Tat auch nachweisen kann.«

»Und der Verdächtige …«

»Der Verdächtige ist Kennet Murray«, sagte Madeline.

Das glimmende Ende von Elliots Zigarette hielt in der Luft inne. Dann schlug Elliot mit der flachen Hand auf den Tisch. »Murray! Murray?«

»Wieso, Mr. Elliot?« fragte Madeline und öffnete die Augen. »Überrascht Sie das?«

Die Stimme des Inspektors blieb sachlich. »Murray wäre der letzte, den man verdächtigen könnte, sowohl nach den Ergebnissen der Ermittlungen als auch nach dem, was unser Doktor die Logik des Kriminalromans nennt. Er war der eine, den alle im Auge hatten. Selbst wenn es nur im Scherz gesagt war, war er doch derjenige, der Gefahr lief, ermordet zu werden. Dieser Burrows ist ein Klugscheißer – bitte um Verzeihung, Miss Dane, ich sollte meine Zunge im Zaum halten. Nein und nochmals nein. Hat Burrows einen Grund zu der Annahme, außer daß es so geistreich klingt? Der Mann hat doch ein Alibi so groß wie ein Haus!«

»Ich verstehe es nicht ganz«, sagte Madeline und legte die Stirn in Falten, »weil er mir nicht alles verraten hat. Aber genau darum ging es – ob er überhaupt wirklich ein Alibi hat. Ich erzähle Ihnen nur weiter, was ich von Nat erfahren habe. Nat sagt, dem Beweismaterial nach war der einzige, der ihn wirklich gesehen hat, dieser Mr. Gore, der am Bibliotheksfenster stand.«

Der Inspektor und Dr. Fell tauschten einen Blick. Sie sagten nichts.

»Und weiter?«

»Erinnern Sie sich, daß ich heute bei der Untersuchung von einem Schränkchen oder Bücherkabinett in der Bibliothek gesprochen habe – ähnlich wie jenes oben auf dem Dachboden? Der Schrank, in dem sich ein Zugang zum Garten öffnet, wenn man die richtige Feder drückt?«

»Ich entsinne mich«, bestätigte Dr. Fell recht grimmig. »Hmpf. Murray hat selbst davon gesprochen; er erzählte, er sei in diesen Schrank gestiegen, um das falsche Heft mit den Fingerabdrücken gegen das echte auszutauschen, damit ihn dabei niemand durchs Fenster sehen kann. Allmählich verstehe ich.«

»Genau. Ich habe Nat von dem Schrank erzählt, und er wollte alles ganz genau wissen. Er schärfte mir ein, daß ich das in meiner Aussage erwähnen muß, damit es ins Protokoll kommt. Soweit ich ihn verstehe, geht er davon aus, daß Sie den Falschen im Auge haben. Er sagt, die ganze Geschichte ist von Anfang an eine Intrige gegen den armen John. Weil dieser ›Patrick Gore‹ mit Worten umgehen kann und überhaupt eine interessante Erscheinung ist, haben Sie ihn für den Anführer der Gruppe gehalten, sagt Nat. Aber für seine Begriffe ist Mr. Murray der wahre – wie sagt man in den Kriminalgeschichten …«

»Kopf der Gruppe?«

»Ganz genau. Der Bande. Einer Bande, bestehend aus Gore und Welkyn und Murray, wobei Gore und Welkyn nur Strohmänner sind, die nie den Mut zu einem echten Verbrechen hätten.«

»Erzählen Sie uns mehr«, bohrte Dr. Fell.

»Nat war furchtbar aufgeregt, als er es mir erklärte. Er sagt, während der ganzen Sache hat Mr. Murray sich auffällig benommen. Das – das wäre mir natürlich nicht aufgefallen. Ich habe ja nicht viel von ihm gesehen. Er scheint schon ein wenig anders als früher, aber das sind wir ja sicher alle.

Der arme Nat hat sogar eine Theorie, wie sie die ganze Sache organisiert haben könnten. Mr. Murray war mit einem Winkeladvokaten bekannt (Mr. Welkyn). Mr. Welkyn hatte von einem Geisterseher aus seiner Klientel erfahren, daß Sir John Farnleigh das Gedächtnis verloren hatte und Höllenqualen litt – Sie wissen weswegen. Und so kam Murray, der alte Lehrer, auf die Idee, einen Betrüger einzuschleusen, für dessen – falsche – Identität er bürgte. Er ließ Welkyn unter dessen Klienten einen Mann mit den entsprechenden Fähigkeiten suchen (Gore). Ein halbes Jahr lang trainierte Murray ihn, bis er jede Einzelheit wußte. Deswegen, sagt Nat, war Gores Art zu sprechen und sich zu betragen derjenigen Murrays so ähnlich – was Sie ja, wie ich höre, so auffällig fanden, Dr. Fell.«

Der Doktor starrte sie über den Tisch hinweg an.

Er legte die Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte den Kopf in beide Hände, so daß Page nun nicht mehr an seinen Zügen ablesen konnte, was er dachte. Die Luft, die durch die Fenster hereinkam, war warm und duftend; und doch war es nicht zu übersehen, daß Dr. Fell am ganzen Leibe zitterte.

»Weiter«, drängte Elliot.

»Die Vorstellung, die Nat vom Abend des Mordes hat, ist – einfach grauenhaft«, erwiderte Madeline und schloß wiederum die Augen. »Ich sah es vor mir, auch wenn ich nichts weniger gewollt hätte. Der arme John, der nie einer Menschenseele etwas zuleide getan hatte, mußte umgebracht werden, damit niemand ihrem Anspruch widersprach, und zwar so, daß es aussah, als habe er sich selbst das Leben genommen. Was ja die meisten bis zu diesem Augenblick glauben.«

»Da haben Sie recht«, stimmte Inspektor Elliot gern zu. »Was die meisten bis zu diesem Augenblick glauben.«

»Welkyn und Gore, die feigen Strohmänner, hatten ihre vorgezeichneten Rollen. Die beiden bewachten die zwei Seiten des Hauses. Welkyn war im Speisezimmer. Gore sollte die Bibliothek bewachen, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, damit er Mr. Murrays Alibi bezeugen konnte, zum zweiten, um zu verhindern, daß jemand anderes hineinblickte, während Mr. Murray nicht in der Bibliothek war.

Sie haben sich an den armen John angeschlichen wie an – na, Sie können es sich ausmalen. Er hatte nicht die geringste Chance. Als sicher war, daß er im Garten war, schlich Mr. Murray sich nach draußen. Er ist ein kräftiger Mann. Er bekam John zu fassen und tötete ihn. Er entschloß sich zu der Tat erst, als ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Sie hatten gehofft, daß John nachgeben und erklären würde, daß er sein Gedächtnis verloren habe und nicht sicher sein könne, ob er wirklich der echte Erbe sei. Dann wäre es vielleicht nicht nötig gewesen, ihn umzubringen. Aber er sagte nichts. Und so blieb ihnen keine andere Wahl. Aber Mr. Murray mußte erklären, warum der ›Vergleich der Fingerabdrücke‹ so ungewöhnlich lange gedauert hatte. So erfand er die Geschichte von den zwei Heften, die er habe austauschen müssen, und brachte eines beiseite, das er später wieder zurücksteckte. Und Nat sagt«, brachte sie atemlos ihren Bericht zu Ende und sah dabei Dr. Fell an, »… er sagt, Sie sind genau in die Falle gegangen, die Mr. Murray für Sie aufgestellt hatte.«

Inspektor Elliot drückte nachdenklich seine Zigarette aus.

»Und das wäre die ganze Geschichte, hm? Erklärt Ihr Mr. Burrows denn auch, wie Murray ungesehen einen Mord unter den Augen von Knowles und praktisch auch unter den Augen von Burrows selbst beging?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hat er mir nicht verraten. Entweder, weil er es für sich behalten wollte, oder, weil er die Sache noch nicht zu Ende gedacht hatte.«

»Er hatte die Sache noch nicht zu Ende gedacht«, sagte Dr. Fell mit hohler Stimme. »Ein leichtes Nachlassen der zerebralen Aktivitäten. Hausaufgaben nicht rechtzeitig fertiggeworden. Beim Barte meiner Großmutter. Das ist ja eine haarsträubende Geschichte.«

Zum zweitenmal an jenem Tag hatte Madeline so heftig geredet, daß sie davon außer Atem war. Es war, als werde nun auch sie, die Nerven zerrüttet, von dem warmen Wind aus dem Garten geschüttelt, von dem Gefühl der Erwartung, das offenbar das ganze Haus gepackt hatte.

»Was halten Sie davon?« fragte sie.

Dr. Fell überlegte.

»Es sind Denkfehler darin. Schwere Denkfehler.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte sie und sah ihm ins Auge. »Ich glaube es ja selbst nicht so ganz. Aber jetzt habe ich Ihnen berichtet, was Sie wissen wollten. Und was wollten Sie uns nun noch an Hinweisen geben, über das, was wirklich geschehen ist?«

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu, als traue er ihr nicht.

»Haben Sie uns wirklich alles erzählt, Ma’am?«

»Alles, was ich – erzählen kann oder zu erzählen wage. Fragen Sie mich nicht nach mehr. Bitte nicht.«

»Eine Frage möchte ich Ihnen gern noch stellen«, beharrte Dr. Fell, »selbst wenn es den Anschein haben mag, als wollte ich alles noch mysteriöser machen. Sie kannten den verstorbenen Farnleigh sehr gut. Es ist nicht ganz eindeutig, und es geht auch wieder ins Psychologische – aber wenn wir die Antwort zu der folgenden Frage finden, sind wir der Lösung des Falles schon sehr nahe. Warum hat Farnleigh sich fünfundzwanzig Jahre lang gegrämt? Warum hat die Tatsache, daß er sich nicht erinnerte, ihn dermaßen bedrückt? Natürlich hätte es die meisten für eine Weile unglücklich gemacht, aber eine so entsetzliche Narbe hätte es nicht zurückgelassen. Hat ihn zum Beispiel das Gefühl gequält, er habe ein Verbrechen oder sonst eine Schandtat begangen?«

Sie nickte. »Ja, ich glaube, genau das war es. Er kam mir immer vor wie die alten Puritaner in den Büchern, in unsere heutige Zeit versetzt.«

»Aber er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war?«

»Nein – das einzige war dieses Bild von der krummen Türangel.«

Allein diese beiden Worte hatten schon etwas Beunruhigendes, Unheilvolles, fand Page. Es schien doch, daß Sie etwas bedeuten, auf etwas anderes verweisen sollten. Was war das für eine Türangel? Und warum war sie krumm?

»Vielleicht eine freundliche Formulierung für ›eine Schraube locker‹?« fragte er.

»N-nein, das glaube ich nicht. Ich meine, ich hatte nicht den Eindruck, daß es ein sprachliches Bild war. Manchmal erschien vor seinem inneren Auge wirklich eine Türangel, ein Scharnier; eine weiße Tür war es. Und dann bog sie sich vor seinen Augen und zerbrach oder zerbarst irgendwie. Er sagte, es sei ihm im Gedächtnis, wie einem das Muster einer Tapete im Gedächtnis bleibt, die man vom Krankenbett aus sieht.«

»Eine weiße Tür«, sagte Dr. Fell. Er blickte Elliot an. »Damit hätten wir es, mein Junge. Hm?«

»Ja, Sir.«

Der Doktor holte tief und geräuschvoll Luft.

»Nun gut. Lassen Sie uns überlegen, was an diesen Spekulationen wahr sein könnte. Ich will Ihnen ein paar Punkte nennen.

Erstens. Von Anfang an ist viel darüber geredet worden, wer einen Schlag auf den Kopf mit einem ›hölzernen Seemannshammer‹ bekommen hat und wer nicht. Alle haben sich Gedanken um diesen Schlag gemacht, aber keiner um den Hammer. Woher kam denn ein solches Werkzeug? Wieso war es überhaupt zur Hand? Ein Seemann auf einem modernen Dampfer hätte für einen solchen Hammer nicht mehr viel Verwendung. Mir fällt nur ein einziges Objekt ein, auf das dieser Ausdruck passen könnte.

Wenn Sie schon einmal über den Atlantik gefahren sind, haben Sie solche Hämmer wahrscheinlich gesehen. Einer davon hängt neben jedem Schott – jeder der Stahltüren, die man in modernen Schiffen in den Gängen unter Deck in regelmäßigen Abständen findet. Diese Stahltüren sind wasserdicht oder sollen es zumindest sein. Bei einem Unglück lassen sie sich schließen, man macht die Schotten dicht, damit eindringendes Wasser sich nicht ausbreiten kann. Der Hammer an jeder Tür – eine finstere Warnung – dient dem Steward als Waffe, falls es unter den Passagieren zur Panik kommt und sie ihn am Schließen der Tür hindern wollen. Die Titanic, werden Sie sich erinnern, war für ihre wasserdichten Schotten berühmt.«

»Und?« fragte Page, als der Doktor nicht weitersprach. »Was schließen wir daraus?«

»Bringt Sie das nicht auf einen Gedanken?«

»Nein.«

»Der zweite Punkt«, fuhr Dr. Fell fort. »Jener hochinteressante Automat, die Goldhexe. Finden Sie heraus, wie der Automat im siebzehnten Jahrhundert funktioniert hat, und Sie haben das Haupträtsel dieses Falles gelöst.«

»Aber das ist doch Unsinn!« rief Madeline. »Ich meine – das hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was mir durch den Kopf geht. Ich dachte, wir kommen auf dieselbe Lösung, und jetzt …«

Inspektor Elliot warf einen Blick auf seine Uhr. »Sir«, sagte er nüchtern, »wenn wir den Zug bekommen und vorher noch im Herrenhaus vorbeisehen wollen, dann müssen wir los.«

»Gehen Sie nicht«, bat Madeline unvermittelt. »Lassen Sie mich nicht allein. Bitte. Du bleibst doch wenigstens hier, Brian, oder?«

»Auf so etwas habe ich schon gewartet, Ma’am«, entgegnete Dr. Fell mit schönster Ruhe. »Was liegt Ihnen auf der Seele?«

»Ich habe Angst«, gestand Madeline. »Ich glaube, das ist auch die Erklärung, weshalb ich soviel geredet habe.«

Als Brian Page begriff, wie ihr wirklich zumute war und was der Grund dafür war, war es für ihn wie ein Schock.

Dr. Fell legte die Zigarre auf seiner Untertasse ab. Er riß ein Streichholz an, lehnte sich vor und zündete bedächtig die Kerzen auf dem Tisch an. Vier goldene Flammen kräuselten sich zunächst und brannten dann stetig in der warmen, stillen Luft; sie schwebten wie schwerelos über den Kerzen. Das Zwielicht wurde hinausgedrängt in den Garten, und in ihrem gemütlichen Winkel am Rande des Dunkels glänzten Madelines Augen im Kerzenschein; sie blickten ruhig, doch die Pupillen waren groß. Es stand Furcht darin, doch zugleich blickten sie erwartungsvoll.

Der Doktor schien verlegen. »Ich fürchte, wir können nicht bleiben, Miss Dane. Es gibt ein paar Dinge in diesem Fall, denen wir nachgehen müssen, und das können wir nur in London tun. Trotzdem, Page, wenn Sie …«

»Brian, du wirst mich doch nicht alleinlassen, oder? Es tut mir leid, daß ich mich so anstelle und dir Unannehmlichkeiten mache …«

»Um nichts in der Welt lasse ich dich im Stich!« rief Page, in dem die Beschützerinstinkte mit einer Heftigkeit aufwallten, wie er sie noch nie gekannt hatte. »Sollen die Leute sich die Mäuler zerreißen. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen bis zum Morgen. – Nicht daß es wirklich etwas gäbe, wovor man sich fürchten müßte.«

»Vergißt du nicht, was für einen Tag wir heute haben?«

»Was für einen Tag?«

»Der Jahrestag. 31. Juli. Heute vor einem Jahr ist Victoria Daly umgebracht worden.«

»Zudem ist es«, fügte Dr. Fell hinzu und sah die beiden eindringlich an, »zudem ist es Lammas Eve. Elliot als braver Schotte wird Ihnen erklären können, was es damit auf sich hat. Das alte Erntefest. Und der Abend für einen der großen Hexensabbate, wo all das Gelichter aus der Zwischenwelt sich zeigt. Hmpf. Ha. Ich weiß schon, wie man Ihnen Mut macht, was?«

Page wußte inzwischen überhaupt nicht mehr, woran er war, seine Nerven waren gespannt, und das machte ihn wütend.

»Das kann man wohl sagen!« rief er. »Was haben Sie denn davon, wenn Sie Leuten solche Flöhe ins Ohr setzen? Madeline geht es auch so schon schlecht genug! Sie hat Sachen für andere getan und sich von anderen sagen lassen, was sie tun soll, bis sie nicht mehr konnte. Was denken Sie sich denn nur dabei, daß Sie es ihr jetzt noch schwerer machen? Hier gibt es keine Gefahr. Wenn hier etwas sein dummes Gesicht hereinsteckt, dann drehe ich ihm den Hals um und frage hinterher die Polizei um Erlaubnis.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Dr. Fell nur. Einen Moment lang stand er da, zu seiner gewaltigen Größe aufgerichtet, und sah sie mit müden, freundlichen, leicht besorgten Augen an. Dann nahm er seinen Umhang, den Schlapphut und den Krückstock von dem Stuhl, auf dem er sie abgelegt hatte.

»Gute Nacht, Sir«, sagte Elliot. »Wenn ich die Lage des Landes richtig im Kopf habe, können wir den Pfad vom Garten nach links nehmen, und auf der anderen Seite des Waldes liegt Farnleigh Close. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Nun, dann – tja – gute Nacht. Noch einmal danke für alles, Miss Dane. Es war ein sehr schöner und aufschlußreicher Abend. Und Sie, Mr. Page, Sie halten die Augen offen.«

»Das werde ich. Und nehmen Sie sich im Wald vor Kobolden in acht«, rief Page ihnen noch nach.

Er blieb in der Terrassentür stehen, bis sie zwischen den Lorbeerbüschen verschwunden waren. Es war ein warmer Abend, und der Garten strömte einen Duft aus, der ihn nervös machte. Im Osten gingen vor dem zusehends dunkler werdenden Himmel die Sterne auf, doch sie funkelten nur schwach, als flimmerte die aufsteigende Hitze davor. All das machte Page nur um so gereizter.

»Ein Haufen Waschweiber«, knurrte er. »Versuchen uns …«

Er drehte sich um und sah den Anflug von Lächeln auf Madelines Gesicht. Sie war wieder ruhig, wenn auch noch verlegen.

»Es tut mir leid, daß ich mich so zum Narren mache, Brian«, sagte sie sanft. »Ich weiß, daß es nichts gibt, wovor ich mich fürchten müßte.« Sie erhob sich. »Kannst du mich für einen Augenblick entschuldigen? Ich möchte nach oben gehen und mir die Nase pudern. Bin gleich wieder da.«

»Ein Haufen Waschweiber. Versuchen uns …«

Er war allein. Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette an. Es dauerte nicht lange, bis ihm wieder besser zumute war, und binnen kurzem lachte er über seinen eigenen Ärger. Im Gegenteil, er konnte sich kaum etwas Schöneres vorstellen als einen Abend mit Madeline allein. Eine braune Motte kam durchs Fenster und flatterte in einem großen Bogen auf eine der Kerzen zu; er scheuchte sie hinaus und ging ihr aus dem Weg, als sie zu nahe an seinem Gesicht vorüberkam.

Der kleine Flecken Kerzenlicht hatte etwas sehr Freundliches und Beruhigendes, aber vielleicht war es doch besser, wenn es heller war. Er ging zum Lichtschalter. Die gedämpften Wandlampen brachten das Elegante des Raumes und das Muster der Chintzstoffe noch mehr zur Geltung. Es war seltsam, dachte er, wie klar und deutlich das Ticken einer Uhr sein konnte. Es waren zwei Uhren im Zimmer, und sie wetteiferten nicht miteinander, sondern jede füllte die Pausen, die die andere ließ, und der gemeinsame Laut war eine Art eiliges Rascheln. Eine war mit einem Pendel versehen, dessen Hin und Her den Blick des Betrachters auf sich zog.

Er ging zurück an den Tisch und goß sich von dem fast kalten Kaffee nach. Das Pochen seiner eigenen Schritte auf dem Fußboden, das Rasseln der Tasse in der Untertasse, das Klicken, als die Porzellantülle der Kaffeekanne den Rand der Tasse traf: All das waren Laute, die er ebenso klar und deutlich wahrnahm wie das Ticken der Uhren. Zum erstenmal wurde ihm klar, daß auch Leere etwas war, dessen Anwesenheit man spüren konnte. Dieser Raum ist absolut leer, dachte er – ich bin allein – aber was macht das schon?

Die Klarheit des Lichts betonte die Leere noch. Ein Thema verbannte er aus seinen Gedanken, auch wenn er an jenem Nachmittag ein gewisses Geheimnis erraten und ein Buch in seiner Bibliothek ihm bestätigt hatte, daß er recht hatte. Ein wenig Aufmunterung war angebracht – für Madeline natürlich. Dieses Haus mochte noch so hübsch sein, aber es stand zu einsam. Rundum erstreckte sich eine Mauer aus Dunkelheit, die eine halbe Meile weit reichte.

Madeline brauchte recht lange, um sich die Nase zu pudern. Wieder kam eine Motte durch das offene Fenster geflattert und landete auf dem Tisch. Vorhänge und Kerzenflammen flackerten ein wenig. Es war wohl besser, die Fenster zu schließen. Er durchquerte den hell erleuchteten Raum und trat noch einmal durch eine der verglasten Türen in den Garten hinaus, und dann stand er plötzlich mäuschenstill.

Im Garten, gerade außerhalb des erleuchteten Rechtecks, das die Lichter von drinnen durch die Fenster warfen, wartete der Automat von Farnleigh Close.


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