Am Mittag des folgenden Tages stand das erschöpfte Geschwader einhundertundzwanzig Meilen östlich von Las Mercedes und segelte — außer Sichtweite der Küste — mit starker Schlagseite hart an einem frischen Nordostwind anliegend. Der Himmel war wolkenlos und die Hitze — trotz des Windes — kaum zu ertragen, so daß die Männer, die nicht gerade eine Arbeit zu erledigen hatten, unter Deck gingen oder sonstwo einen schattigen Platz zum Ausruhen suchten.
Bolitho trat zur Leiter, die zur Schanz hinaufführte, kletterte ein paar Stufen hoch und beobachtete die Hermes, die sich etwa zwei Kabellängen hinter ihnen vorwärts wälzte. Sie hatte ihre Rahen so hart angebraßt, wie es überhaupt ging, und bei dem von Backbord vorn einfallenden Wind standen alle Segel voll und drückten das Schiff so stark auf die Steuerbordseite, daß die See fast über ihre Bordwand schlug.
Er hatte gerade die neu gewonnenen Seeleute begrüßt und war ermüdet und entmutigt nach achtern gekommen. Während er zu ihnen sprach, hatte er versucht, ihre Reaktion auf seine Worte herauszuspüren, irgend etwas wie einen Funken der Begeisterung oder der Ablehnung. Wenn überhaupt etwas, war es eher das letztere gewesen, was er spürte. Die erste Welle der Freude über ihre Errettung aus ungerechter Einkerkerung hatte sich in Ungewißheit, wenn nicht gar Furcht verwandelt. Ihnen stand jetzt der Dienst auf einem Schiff des Königs bevor, vielleicht für die Dauer von Jahren, und mancher von ihnen würde vielleicht nie wieder im Leben etwas anderes kennenlernen.
Die Annehmlichkeiten bequemer Unterkünfte und maßvollen Dienstes, verbunden mit guter Bezahlung und der Aussicht, am Ende jeder Reise zu den Lieben daheim zurückzukehren, war nun dahin. Ihr Groll stieß jedoch bei der Besatzung der Hyperion auf wenig Mitgefühl, denn die allgemeine Ansicht in der Navy und beim durchschnittlichen Seemann war: Warum sollen andere es besser haben als wir?
Bolitho aber bedrückte jede Art von Verstimmung, und so hatte er sich bemüht, die Leute zu beruhigen und ihre Vorurteile nach Möglichkeit zu zerstreuen. Daß ihm das mißlungen war, hinterließ bei ihm ein Gefühl der Müdigkeit und Verstimmung, obwohl er wußte, daß er durch seine persönlichen Probleme vielleicht daran gehindert gewesen war, die letzten Register seiner Überzeugungskraft zu ziehen.
Er wandte sich um und beobachtete die Midshipmen, die sich auf der Leeseite des Achterdecks versammelt hatten und mit mehr oder weniger großer Aufmerksamkeit dabei waren, als Gossett ihnen in der täglichen Unterrichtsstunde die Geheimnisse und Vorzüge des Sextanten zu erklären versuchte.
«Kommen Sie vor, Mr. Pascoe!«Die Stimme des Masters[2] klang rauh und leicht gereizt. Sicher dachte er schon an sein Mittagessen in der kühlen Offiziersmesse und an ein Gläschen hinterher.»Zeigen Sie uns, wie Sie damit umgehen.»
Pascoe nahm den in der Sonne glitzernden Sextanten und schaute ihn nachdenklich an.
Gossett seufzte.»Verlorene Zeit!«Er winkte mit einer seiner großen Hände.»Mr. Selby, kommen Sie nach achtern und zeigen Sie es dem jungen Herrn, ich bin total fertig!»
Bolitho faßte das Holzgeländer der Leiter unbewußt fester, als er sah, wie sein Bruder das Deck überquerte und dem Jungen den
Sextanten abnahm. Er war zu weit weg, um hören zu können, was er sagte, doch aus der aufmerksamen Miene Pascoes und seinem wiederholten Kopfnicken entnahm er, daß ihm die ruhig gegebenen Erklärungen eingingen.
Leutnant Stepkyne hatte die Wache und war der Unterrichtsstunde mit offenkundiger Ungeduld gefolgt.»Halten Sie sich damit nicht so lange auf, Mr. Selby!«Sein rauher Ton bewirkte, daß der Junge ihn beinahe haßerfüllt ansah.»Der Unterricht an Bord ist allgemein. Wir geben hier keine Privatstunden!»
«Aye, aye, Sir. «Hugh schaute nicht auf.»Tut mir leid, Sir.»
Bolitho blickte sich nach dem Master um, aber Gossett war schon in Richtung Messe verschwunden.
Stepkyne schlenderte wie zufällig zu der Gruppe der zuschauenden Midshipmen hinüber.»Falls Sie überhaupt etwas davon verstehen. «Er lehnte sich zurück und musterte den Steuermannsmaaten Selby, wie ein Bauer auf dem Markt ein Stück Vieh mustert.
Pascoe sagte schnell:»Er hat es mir erklärt, Sir. Wie ein Offizier damit umgehen muß.»
Stepkyne wandte sich zu ihm um und schaute ihn überlegen an.»So, hat er das getan?«Er lehnte sich wieder zurück» Wie ein Offizier damit umgeht? Woher — in Gottes Namen — wollen Sie das wissen, Mr. Selby?»
Bolitho sah die Midshipmen Blicke tauschen. Sie waren zu jung, um Stepkynes Bosheit ganz zu verstehen. Doch sie schämten sich seinetwegen, und das war schlimmer.
Aber Bolitho ging es nur um seinen Bruder. Er bemerkte ein kurzes Aufblitzen von Zorn in seinen Augen, ein trotziges Heben seines Kinns, aber dann antwortete er ruhig:»Sie haben völlig recht, Sir, davon verstehe ich nichts.»
Stepkynes Ärger verwandelte sich in Sarkasmus.»Dann bin ich ja beruhigt. Wir können doch nicht zulassen, daß unsere Leute ihre Stellung vergessen, nicht wahr?»
Bolitho trat aus dem Schatten hervor, seine Beine trugen ihn einfach vorwärts, bevor er wußte, was er tat.
«Mr. Stepkyne, auch ich wäre beruhigt, wenn Sie sich an Ihre Aufgaben hielten. Die Unterrichtsstunde ist beendet!»
Stepkyne schluckte heftig.»Ich wollte nur sichergehen, daß sie ihre Zeit nicht verschwenden, Sir.»
Bolitho sah ihn kühl an.»Mir scheint es eher, als verschwendeten Sie Ihre Zeit, um sich einen Scherz zu erlauben. In Zukunft wüßte ich es gern, wenn Sie Zeit übrig und nichts Besseres zu tun haben. Bestimmt kann ich Ihre Fähigkeiten dann für dankbarere Aufgaben nutzen.»
Er drehte sich um und ging zur Hüttenleiter zurück; bei jedem Schritt fühlte er, wie sein Herz heftig schlug. In all den Jahren auf See hatte er — soweit er sich erinnerte — noch nie einen Offizier vor seinen Untergebenen abgekanzelt. Er verachtete jene, die das regelmäßig taten, ebenso wie er ihnen mißtraute. Aber Stepkyne war ein Grobian und verstand — wie die meisten dieses Typs — nur den gleichen Ton. Trotzdem fühlte er sich in seiner Rolle unbehaglich und war wie die Midshipmen eher beschämt als befriedigt.
Er begann, auf der Luvseite auf und ab zu marschieren, ohne auf die Sonnenhitze oder die Blicke der Wachhabenden zu achten. Mit dem Versuch, seinem Bruder zu helfen, mochte er gerade das Gegenteil erreicht haben. Wenn Stepkyne sich von seiner Überraschung und seinem Zorn erholt hatte, würde er nach einer Erklärung für das sonderbare Verhalten seines Kommandanten suchen, und dann.
Bolitho blieb plötzlich stehen und schaute nach oben, von wo der Ausguck herunterrief:»An Deck! Segel voraus in Luv!»
Er griff sich ein Teleskop und kletterte in die Besanwanten. Einen Augenblick dachte er, der Ausguck habe die kleine Korvette Dasher für ein fremdes Schiff angesehen, aber ein schneller Rundblick belehrte ihn eines besseren. Querab an Backbord und weit weg, die Bramsegel kaum über dem diesigen Horizont, sah er die Korvette auf ihrem befohlenen Platz.
Er wartete, bis die Hyperion aus einem langen Wellental auftauchte, und richtete sein Glas dann über den Bug nach vorn. Durch die eigene Takelage hindurch und über das farbenprächtige Heck der Telamon an der Spitze entdeckte er einen schwachen Schatten unter dem hellen Himmel. Das mußte ein auf sie zulaufendes Schiff sein.
Es kam platt vor dem Wind und unter allen Segeln, die es besaß, auf sie zu und gewann unheimlich schnell an Gestalt.
«An Deck! Es ist eine Fregatte, eine englische, dem Aussehen nach!»
Bolitho kletterte aufs Achterdeck hinunter und übergab das Teleskop dem Midshipman der Wache.
Inch kam — noch kauend — aus der Messe hoch.
Bolitho befahl kurz:»Rufen Sie >Alle Mann<, Mr. Inch, und treffen Sie Vorbereitungen zum Segelbergen. Die Fregatte hält genau auf uns zu und hat es offenbar eilig, uns etwas mitzuteilen.»
Er hörte die Bootsmannsmaatenpfeifen durch die Decks zwitschern und unmittelbar darauf das Getrappel von Füßen. Aus Niedergängen und Luken strömten die Matrosen hervor, die Augen in der plötzlichen Helle zugekniffen, und stürzten auf ihre Stationen.
Midshipman Carlyon stand — sich seiner Würde als Verantwortlicher für den Signalverkehr bewußt — mit seinen Signalgasten an den Leinen, während ein erfahrener Unteroffizier mit einem Fernglas im Besanwant hing, die Beine um die Webeleinen geschlungen und so die heftigen Bewegungen des Schiffes ausgleichend.
Bolitho nahm das Glas noch einmal vors Auge und musterte die sich schnell nähernde Fregatte, die gischtübersprüht Anstalten zum In-den-Wind-Schießen machte, während an ihrer Rah schon die Signalflaggen emporstiegen.
Ruhig sagte er:»Kapitän Farquhar ist also zum Geschwader zurückgekehrt.»
Inch wollte gerade etwas dazu äußern, als Carlyon rief: «Spartan an Telamon: Habe dringende Nachrichten für den Kommodore.»
Er sprang förmlich herum, als Inch bellte:»Passen Sie gefälligst auf das Flaggschiff auf, verdammt noch mal!»
«P-Pardon, Sir!«Carlyon schwenkte sein Glas herum auf die Te-lamon, von der ebenfalls Flaggen im blendenden Sonnenlicht auswehten. Er stotterte:»Befehl an alle: Beidrehen!»
Bolitho nickte nur kurz.»Machen Sie das, Mr. Inch, oder die Hermes kommt uns zuvor.»
Er ging durch die auseinanderspritzenden Reihen der Matrosen und Seesoldaten zur Reling, um das Manöver der Spartan zu beobachten. Farquhar halste, bevor noch das >Verstanden<-Signal auf der Telamon niedergeholt war.
Während die Hyperion heftig stampfend in den Wind drehte und die Bramsegel — von Drohungen und Flüchen an Deck begleitet — aufgeholt und festgemacht wurden, überlegte Bolitho, welche Art Nachrichten Farquhar wohl überbrachte. Es bedurfte sicher mehr als dieser Darbietung ausgezeichneter Seemannschaft, um den Kommodore zufriedenzustellen.
Das Deck schaukelte heftig im Wind und Wellengang, und alle Wanten und Fallen vibrierten, als die Männer auf den schwankenden Rahen mit der wild um sich schlagenden Leinwand kämpften und sie schließlich bändigten.
Inch sagte verächtlich:»Die Spartan wird nicht gerade Dank ernten, daß sie beim Angriff auf Las Mercedes nicht dabei war.»
Bolitho wischte sich das Spritzwasser aus den Augen, als weitere Signalflaggen über dem stampfenden Rumpf der Telamon erschienen. Weil die Korvette ihn zum Glück nicht gefunden hatte, lag Farquhar jetzt nicht mit seinem Schiff neben der Abdiel auf dem Meeresgrund.
Der Signalmaat rief:»Ein Boot setzt von der Spartan ab, Sir.»
Bolitho hielt sich an den Finknetzen fest und beobachtete die kleine Jolle, die im lebhaften Seegang auf- und niedertanzte, wobei ihre Riemen wie Möwenflügel nach oben und unten schlugen. Er erkannte die kerzengerade im Heck sitzende Gestalt Farquhars und seinen goldbestickten Dreispitz, der als zusätzlicher Ansporn über den Köpfen der sich mächtig ins Zeug legenden Ruderer schimmerte.
Er hörte, wie Leutnant Roth sagte:»Der bringt sicher schlechte Nachrichten.»
Inch maßregelte ihn.»Behalten Sie Ihre Meinung für sich!»
Bolitho beobachtete, wie die Jolle an den Rüsteisen des Holländers einhakte, wobei der leichte Bootskörper gegen die mächtige Bordwand geschleudert wurde und die Männer alle Hände voll zu tun hatten, es vorm Kentern zu bewahren. Er hatte trotzdem die Bitterkeit in Inchs Stimme bemerkt. Es war der gleiche Ton wie kürzlich, als er erklärt hatte, warum Pelham-Martin zum Angriff auf Las Mercedes zu spät gekommen war. Der Kommodore hatte offenbar nicht geglaubt, daß Bolithos Landungskorps imstande wäre, den Sumpf zu durchqueren und die versteckte Batterie zu zerstören. Bolitho hatte Entschuldigungsgründe für Pelham-Martins Bedenken, aber gleichzeitig konnte er sich auch die Enttäuschung und den Ärger auf den Schiffen vorstellen, als sie darauf warteten, was die Korvette Dasher über den Ursprung des Geschützfeuers meldete.
Über eines war sich Bolitho klar: Wenn er diese Geschütze lediglich zerstört hätte, ohne sie vorher gegen die vor Anker liegenden französischen Schiffe abzufeuern, hätte Pelham-Martin niemals diesen letzten und entscheidenden Angriff gewagt. Dann wären er und seine Leute elend umgekommen. Und außerdem: die Verantwortung für diesen Fehlschlag wäre dann, wie Fitzmaurice schon vorher geäußert hatte, in jede m Bericht nach Hause auf seine, Bo-lithos Schultern, abgewälzt worden.
In wachsender Ungeduld knirschte er mit den Zähnen, bis Car-lyon schließlich rief:»Befehl an alle: Kommandanten sofort zu mir an Bord!»
Bolitho machte eine heftige Handbewegung.»Mein Boot, bitte!«Er sah sich nach Allday um, doch der stand schon mit seinem goldbetreßten Hut und Rock da.
Während er seinen verschossenen Bordrock beiseite warf, sah er einige seiner Matrosen das geschäftige Treiben an Bord der Tela-mon mustern und fragte sich kurz, was sie jetzt wohl dächten. Nur die wenigsten an Bord wußten überhaupt, wo ihr Schiff sich befand und wie das nächstgelegene Land hieß. Auf all solche Dinge hatten sie keinen Einfluß. Sie hatten zu gehorchen und ihren Dienst zu verrichten, und viele seiner Kollegen sagten, das genüge völlig. Bolitho dachte anders darüber, und eines Tages…
Er blickte auf, als Inch meldete:»Boot liegt längsseit, Sir. «Er hatte nicht einmal bemerkt, wie es ausgeschwungen und zu Wasser gebracht worden war. Er war zu müde, zu erschöpft, und das begann sich zu zeigen.
Er nickte und eilte den Niedergang zur Fallreepspforte hinunter. Zwischen seinen Beinen konnte er die unteren Stückpforten sehen, und im nächsten Augenblick, als das Schiff zur anderen Seite überholte, die Kupferhaut des Unterwasserschiffs, die im Sonnenlicht aufleuchtete. Ein schnelles Atemholen und dann den richtigen Augenblick abgepaßt und gesprungen. Hände ergriffen seine Arme und Hüften, und als er zum Hecksitz taumelte, sah er die Hyperion schon zu- rückfallen, während die Riemen in die Wellenberge einschlugen und Allday auf die Telamon zuhielt.
Bolitho war kaum zu Atem gekommen, als es schon wieder Zeit war, an der Bordwand des Holländers zur schön verzierten Einlaßpforte hochzuklettern.
Als er einem dunkelhäutigen Leutnant zur Hütte folgte, bemerkte er, daß dort weitere Flaggen unter Aufsicht eines britischen Signalmaaten gehißt wurden. Er nahm an, daß dem Verband befohlen wurde, Kurs und Formation wieder aufzunehmen. Es würde also wieder eine lange Besprechung geben.
Plötzlich hörte er Kommandos und Rufe und sah, wie ein Bootsmannsstuhl, der von einem Takel über dem Fallreep herabhing, über die Laufbrücke eingeschwenkt wurde. Kapitän Fitzmaurice von der Hermes ging offenbar kein Risiko ein und zog es vor, sich wie ein Sack an Bord hieven zu lassen, statt sich der Gefahr auszusetzen, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken oder zwischen Boot und Bordwand zerquetscht zu werden.
In der Admiralskajüte war es, im Vergleich zum blendenden Sonnenlicht draußen, ziemlich dunkel, und Bolitho brauchte einige Minuten, bevor er Pelham-Martins massive, in einen Stuhl gequetschte Gestalt erkannte. Die Stuhlbeine waren fest an zwei Ringbolzen an Deck gelascht, um zu verhindern, daß der Stuhl samt Insassen bei heftigen Schiffsbewegungen quer durch den Raum rutschte. Farquhar stand in entspannter Haltung am Tisch, während Mulder, der Kommandant der Telamon, vom Heckfenster umrahmt wurde. Er hielt den Kopf geneigt, als lausche er auf die Tätigkeiten seiner Leute oben an Deck.
«Ah, Bolitho!«Pelham-Martin nickte ihm kurz zu.»Wir wollen auf Fitzmaurice warten, bevor wir anfangen.»
Bolitho hatte sich schon gefragt, was er wohl empfinden würde, wenn er wieder mit dem Kommodore zusammentraf. Verachtung oder Zorn? Er war überrascht, daß er gar nichts empfand. Man hätte erwarten können, daß der Kommodore etwas wie Freude über die Vernichtung zweier feindlicher Schiffe äußern würde. Quince hatte Bolitho verraten, daß er mehr als nur Verwundete auf der zusammengeschossenen Indomitable mit nach Antigua genommen habe; nämlich einen glühenden Bericht für den Admiral und ganz England über ihren Sieg, aber nichts über die Schiffe, die entkommen konnten. In dem Bericht stand auch nichts über das Rätsel Lequil-ler, das noch immer ungelöst war.
Indessen saß Pelham-Martin ganz gelassen und in völligem Schweigen da. Als Bolithos Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte er, daß Farquhars Gesicht müde und überanstrengt aussah und daß seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt waren. Als er Bolithos Blick bemerkte, gab er nur ein knappes Zeichen mit der Schulter.
Dann kam Fitzmaurice, und ehe er sich noch für seine Verspätung entschuldigen konnte, sagte Pelham-Martin kurz:»Kapitän Farquhar brachte sehr ernste Nachrichten. «Er schaute den jungen Kapitän an und setzte bedeutungsvoll hinzu: Sie wiederholen es am besten mit Ihren eigenen Worten.»
Farquhar schwankte vor Müdigkeit, aber seine Stimme war so frisch und unpersönlich wie je.»Vor vier Nächten patroullierte ich nordwestlich von Tortuga, als Kanonendonner in östlicher Richtung gemeldet wurde. Beim ersten Tageslicht entdeckte ich zwei Fregatten, die im heftigen Kampf miteinander lagen. Die eine war spanisch, die andere die französische Thetis, mit vierzig Kanonen. «Er wußte, daß alle an seinen Lippen hingen, zeigte aber weder Gemütsbewegung noch Stolz.»Ich bemerkte bald, daß die spanische Fregatte jene war, die ich in Caracas gesehen hatte und die als Begleitung für das alljährliche Schatzschiff bestimmt war. Sie sah schlimm aus und war fast völlig entmastet. «Er seufzte plötzlich, und dieser Ton wirkte bei einem sonst so beherrschten Mann ungewohnt menschlich.»Ich rief meine Leute auf Gefechtsstationen und griff die Thetis unverzüglich an. Wir kämpften fast eine Stunde, und ich verlor dabei zehn Leute, aber der Gegner muß die fünffache Zahl eingebüßt haben. «Sein Ton wurde etwas härter.»Darauf brach der Franzose das Gefecht ab, und ich beeilte mich, die Überlebenden des spanischen Schiffes zu retten.»
Fitzmaurice fragte:»Sie ließen die Thetis entkommen?»
Farquhar sah ihn kalt an.»Ich hielt die Informationen, die der Spanier mir geben konnte, für wertvoller als eine Prise oder — «, fügte er hinzu — ,»als das Prisengeld.»
Als Bolitho sich das erste Mal vernehmen ließ, wandte sich Far-quhar in der Annahme, daß noch jemand seine Handlungsweise kritisieren wolle, brüsk um.
Bolitho sagte aber nur:»Das war gute Arbeit. «Sie war auch gut für Farquhar gewesen, denn indem er das feindliche Schiff aufgespürt und angegriffen hatte, hatte er sich von seiner befohlenen Position entfernt. Dadurch hatte ihn die zu ihm entsandte Korvette nicht finden und zu seinem Untergang führen können.
Nach einer Weile fügte Bolitho hinzu:»Haben Sie etwas Wichtiges bei dem Spanier gefunden?»
Farquhar schien erleichtert.»Es war nur noch ein Offizier am Leben. Er erzählte mir, daß seine Fregatte das Schatzschiff San Leandro begleitet und Caracas vor sechs Tagen mit Ziel Teneriffa verlassen hatte. Auf der Höhe von Tortuga stürzten sich vier Linienschiffe und die Fregatte Thetis auf sie. Allem Anschein nach hatten die Dons[3] sich kräftig zur Wehr gesetzt, aber ohne eine Chance. Die San Leandro strich die Flagge, und ein Prisenkommando ging zu ihr an Bord. Die spanische Fregatte konnte es angesichts ihrer Schäden weder verhindern, noch konnte sie den Verband verfolgen, und während das Geschwader mit seiner Prise davonsegelte, drehte die Thetis bei und erwartete den kommenden Morgen, um ihr den Fangschuß zu versetzen. Den Rest kennen Sie, meine Herren.»
Das Schweigen in der Kajüte, das diesen Ausführungen folgte, war bedrückt und voller Spannung, da jeder der Anwesenden erst einmal über das Gehörte nachdachte.
Farquhar sagte abschließend:»Obwohl ich den Spanier in Schlepp nahm, konnte ich ihn nicht retten. Er schnitt im aufkommenden Seegang unter und versank mitsamt den meisten Leuten, die das Gefecht überlebt hatten.»
Mulder kam quer durch die Kajüte herüber und fragte, an den großen Tisch gelehnt:»Was haben Sie noch aus dem spanischen Leutnant herausbekommen?»
Farquhar zuckte die Achseln.»Mein Schiffsarzt mußte ihm den rechten Fuß amputieren, und bis jetzt befindet er sich noch in sehr schlechter Verfassung. Ich glaube, er nimmt den Verlust der San Leondro schwerer als den seines Fußes. Aber er hat noch einiges gesagt, von dem ich nicht weiß, ob es wichtig ist. Unmittelbar nach der Besetzung des Schatzschiffes wurde an dessen Großmast eine seltsame Flagge gehißt: gelb mit einem schwarzen Adler drauf.»
Kapitän Fitzmaurice, der bisher verdrießlich auf den Fußboden gestarrt hatte, fuhr ruckartig hoch.»Das war doch die Flagge, die über Las Mercedes wehte! Meine Leute vom Landungskorps haben sie gesehen, als sie die Gefangenen befreiten. «Er starrte in Bolithos ernstes Gesicht.»Es ist die Standarte des dortigen Gouverneurs.»
Pelham-Martins Hände hoben sich etwas von den Armlehnen und fielen gleich wieder kraftlos zurück. Er sagte stockend:»Was steckt hinter all dem? Eine neue Falle, ein weiterer Trick, um uns auf eine falsche Spur zu locken? Es kann viel bedeuten — oder gar nichts.»
Fitzmaurice blickte an ihm vorbei und kniff die Augen zusammen, da er sich sehr konzentrierte.»Wenn Lequiller das Schatzschiff gekapert hat, müßte das doch seiner Sache schaden. Die Dons werden dadurch weniger geneigt sein, die Fronten zu wechseln, wie sie es in der Vergangenheit mehrmals getan haben.»
Pelham-Martins Stimme klang gequält.» Wenn es Lequiller war!»
«Daran ist nicht zu zweifeln, Sir. «Farquhar beobachtete ihn ausdruckslos.»Der spanische Leutnant hat das führende Schiff ganz deutlich gesehen. Einen Dreidecker mit der Flagge des Vizeadmirals im Vortopp.»
Der Kommodore sank tiefer in seinen Stuhl.»Alles, was wir zu unternehmen versuchten, jede unserer Bewegungen wurde von Lequiller vorausgesehen.»
Farquhar blickte erstaunt auf.»Aber wenigstens haben wir es jetzt nur noch mit der Hälfte seines Geschwaders zu tun, Sir.»
Fitzmaurice unterbrach brüsk:»Aber zwei Schiffe sind bei Las Mercedes entkommen.»
«Wenn ich nur mehr Schiffe hätte!«Pelham-Martin schien gar nicht zuzuhören.»Sir Manley Cavendish wußte genau, wem ich gegenüberstand, und doch gab er mir nur eine bescheidene Streitmacht, um damit fertigzuwerden.»
Farquhar wandte sich an Bolitho.»Was meinen Sie, Sir?»
Bolitho antwortete nicht sofort. Während die anderen redeten und Pelham-Martin sein Gewissen nach Gründen und Entschuldigungen erforschte, hatte er versucht, irgendeinen Hinweis zur Lösung des Rätsels zu entdecken, denn als solches erschien ihm das Verhalten des Franzosen von Anfang an.
Er fragte:»Was wissen Sie über den Gouverneur von Las Mercedes?»
Mulder machte eine vage Handbewegung.»Er heißt Don Jose Perez. Angeblich hat er seinen Posten in der Karibik zur Strafe und nicht als Auszeichnung bekommen. Er stammt aus einer reichen
Adelsfamilie und soll den spanischen Hof gegen sich aufgebracht haben, weil er die Steuern für seine Ländereien anderweitig verbraucht hatte. Las Mercedes muß ein Gefängnis für solch einen Mann gewesen sein; nach den zwanzig Jahren, die er dort verbracht hat, dächte ich.»
Bolitho fiel ihm ins Wort:»Zwanzig Jahre?«Er begann, in der Kajüte auf und ab zu gehen, von den anderen erstaunt beobachtet.»Ich fange an zu begreifen. Lequiller diente hier schon während der Amerikanischen Revolution und benutzte Las Mercedes mehrmals als zeitweilige Basis. Er mußte alles über Perez' Vergangenheit wissen, mag sein Vertrauen erworben und gemeinsam mit ihm Zukunftspläne geschmiedet haben. «Er hielt inne und sah die Versammelten nacheinander an.»Ich glaube, ich weiß jetzt, was Le-quiller im Schilde führt und wie seine Befehle lauteten, als er unsere Blockade durchbrach.»
Fitzmaurice sagte:»Ein Angriff auf die spanische Flotte?»
«Noch etwas viel Kühneres und Erfolgversprechenderes!«Bo-litho ging an die Heckfenster und schaute auf sein eigenes Schiff hinüber.»Jeder Angriff auf spanische Gebiete hier draußen würde die öffentliche Meinung nur gegen ihn aufbringen. Aber bedenken Sie, welchen Eindruck es machen würde, wenn er nach Spanien selber zurückkehrte!»
Pelham-Martin atmete schwer.»Aber das ist absurd! Der spanische Hof würde diesen Perez hängen lassen, ob er nun Aristokrat ist oder nicht.»
«Wenn er allein und ohne Beistand käme, gewiß. «Bolitho sah ihm kühl in die Augen.»Aber mit Lequillers Geschwader hinter sich und im Besitz des Schatzschiffes, in dessen Laderäumen gewaltige Goldwerte liegen, sieht der Fall ganz anders aus. «Als er sah, daß die Unsicherheit auf Pelham-Martins rundem Gesicht sich in Panik verwandelte, wurde seine Stimme noch härter.»Lequiller hat alle Register gezogen. Seine Devise lautet: teile und siege, und er hat fast alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Wir sind gewarnt worden, daß er von seiner Sache besessen und rücksichtslos sei. Die Tatsache, daß er wehrlose Gefangene aufhängen ließ, sollte Beweis genug dafür sein, wie entschlossen er ist, sein Ziel zu erreichen.»
Farquhar nickte.»Sie haben recht, weiß Gott. Das Vertrauen, das die spanische Regierung in unsere Fähigkeiten gesetzt haben mag, wird beim Auftauchen von Lequillers Geschwader untergraben. Und jeder Unwille, den der Hof noch gegen Perez hegen sollte, wird sich in Nichts auflösen, wenn ihm der Schatz unangetastet übergeben wird.»
«Die Kirche wird das Ihre dazutun. «Fitzmaurice setzte sich erschöpft hin.»Ein angemessener Teil des Schatzes wird zweifellos den Weg in ihre Kassen finden. «Weniger heftig fügte er hinzu:»Sind denn alle unsere Anstrengungen vergeblich gewesen? Schon jetzt mögen Lequillers Schiffe auf dem Heimweg sein. «Er sah den bewegungslos dasitzenden Kommodore fest an.»Können wir nichts tun?»
Bolitho sagte:»Die ganze Zeit habe ich versucht, die Lage mit Lequillers Augen zu betrachten, seine Taktik, seine Mißachtung all dessen, was nicht seinem Ziel dient. Als ich diese spanischen Soldaten in französischen Uniformen sah, hätte ich erraten sollen, wie weit seine Absichten reichen. Sie müssen diese Leute monatelang ausgebildet haben, vielleicht noch länger, und die Uniformen dienten lediglich dazu, die wirkliche Absicht des Gouverneurs zu tarnen. Schlimmstenfalls konnte er sich immer damit rechtfertigen, daß seine Garnison vom Feind überrannt worden sei. «Er machte eine kleine Pause, bevor er hinzusetzte:»Zumindest wird Perez eine gut ausgebildete Truppe hinter sich haben, wenn er in seine Heimat zurückkehrt, wo sicher viele zu seiner Fahne stoßen we r-den.»
Er sah, daß Fitzmaurice nickte, und fuhr unbeirrt fort:»Denken Sie nur an den Eindruck, den das in England machen wird! Spanien ist unser einziger Brückenkopf in Europa, das einzige Land, das noch stark genug ist, dem französischen Feind mit Waffen in der Hand entgegenzutreten. Bei einem plötzlichen Umsturz wäre alles in wenigen Wochen, vielleicht sogar schon in Tagen vorüber; dann stünde nichts mehr zwischen England und einem verbündeten Europa. Nichts als ein Streifen Wasser und eine dünne Linie von Schiffen!»
Bolitho warf einen schnellen Blick auf Mulder, dessen Miene Besorgnis zeigte. Vielleicht dachte Mulder zum ersten Mal als Holländer und nicht als Verantwortlicher für St. Kruis. Kein Ozean war breit genug, um ihn die Sorge vergessen zu lassen, die er um seine Heimat empfand, die unter Napoleons Stiefel zertreten war. Vielleicht war Holland sogar schon gezwungen worden, England den Krieg zu erklären? Dazu bedurfte es lediglich der formellen Unterschrift unter einen Vertrag, und damit würde dieses uralte Schiff auf der Seite seiner bisherigen Feinde stehen und ihm nur eine einzige Entscheidung übriglassen.
Allein der Gedanke daran erfüllte Bolitho schon mit unmäßigem Zorn und Entsetzen. Während all dieser ermüdenden und nutzlosen Wochen, die sie hinter dem listigen Feind hergesegelt waren, hatte Lequiller die Partie nach seinen eigenen Regeln gespielt. Regeln, die sie erst jetzt zu durchschauen begannen, da es zu spät war. Nur ein entschlossener und sehr rücksichtsloser Admiral konnte es wagen, sein halbes Geschwader dem zu überantworten, was seine Gegner im Schilde führten, und dabei eventuell vier Schiffe abzuschreiben, während er selbst dem großen Preis nachjagte: dem vollbeladenen Schatzschiff und all dem, was dessen Besitz für seine Sache bedeutete. Er mußte sicher gewesen sein, daß PelhamMartins Streitmacht selbst dann, wenn sie seine vier Schiffe zerstört hätte, so schwer von der versteckten Landbatterie mitgenommen sein würde, daß sie ihn für einige Zeit nicht mehr aufhalten konnte.
Bolitho sagte:»Ich habe keine andere vernünftige Erklärung dafür, Sir.»
Pelham-Martin zog ein Schnupftuch aus der Tasche und starrte es geistesabwesend an.»Wir wissen nichts Bestimmtes, Bolitho. Was Sie vorbringen, sind Vermutungen. Überlegen Sie nur, was es bedeuten würde, wenn ich das Geschwader irgendwohin zur Verfolgung ausschicke — wohin genau, ist noch rätselhaft — , und Lequiller inzwischen unsere hiesigen lebenswichtigen Verbindungen, die wir so mühsam aufgebaut haben, angreift und zerstört.»
«Es wäre klug, die Alternativen ebenfalls in Betracht zu ziehen, Sir. Unser Befehl lautet, Lequillers Geschwader zu stellen und zu vernichten. Darin haben wir versagt. «Bolitho achtete darauf, daß seine Worte auf die verwirrten Kommandanten einwirken konnten, und fuhr dann fort:»Nun wurde die San Leandro in Gewässern genommen, die wir bewachen und sicher machen sollten. Wir können einfach nicht mehr Zeit damit vergeuden, Lequillers Schiffe zu suchen. Wir haben lediglich die Spartan für Aufklärungszwecke.
Die Korvetten sind zu schwach und eine leichte Beute für den Feind.»
«Was schlagen Sie also vor?«Pelham-Martin versuchte, seine Haltung zurückzugewinnen.»Eine Rückkehr nach Las Mercedes?»
«Nein, Sir. Das würde uns nur weitere wertvolle Zeit kosten, die wir nicht haben. Ich glaube, Lequiller hat St. Kruis bei seinem ersten Erscheinen in der Karibik nur angegriffen, weil er eine zweite Basis für seine Schiffe suchte. Wegen unseres unerwarteten Erscheinens und der mutigen Gegenwehr der holländischen Verteidiger wurde ihm das verwehrt. Daraus entnehme ich aber, daß Lequiller nicht herkam, um Überfälle zu machen und zu plündern. Kaperschiffe und Fregatten wären für solche Aufgaben viel geeigneter gewesen. Aber Sie können ein Schlachtschiffgeschwader nicht auf ewig verstecken. «Er warf einen schnellen Blick zu Far-quhar hinüber.»Wie stark haben Sie die Fregatte Thetis beschädigt?»
«Der Fockmast und die gesamt Takelage haben viele Treffer abbekommen. Außerdem gab es erhebliche Schäden auf dem Oberdeck.»
Bolitho nickte.»Und eines der Schiffe, das bei Las Mercedes entkam, hatte ebenfalls ziemliche Schäden in der Takelage. Wenn es für Lequiller seinerzeit wichtig war, hier mit einem intakten Geschwader aufzukreuzen, so gilt das auch für seine künftigen Operationen, insbesondere, da er inzwischen einiges von seiner Überlegenheit verloren hat.»
Wieder war es der schnell denkende Farquhar, der Bolithos Faden aufnahm.
«Dann muß also noch eine Basis existieren?«Er rieb sich unschlüssig das Kinn.»Aber hier gibt es zahllose Inseln. Man würde eine ganze Flotte und viele Jahre brauchen, sie alle abzusuchen. «Dann nickte er heftig.»Aber Sie haben recht, er braucht einen Ankerplatz, wo er seine Schäden ausbessern und neue Pläne ausarbeiten kann.»
Fitzmaurice fragte:»Kennen Sie solch einen Platz?»
«Noch nicht. «Bolitho schaute Mulder an.»Aber Sie werden darüber sicher nachdenken.»
Pelham-Martin erhob sich mühsam und stützte sich auf seine Stuhllehne.»Wenn nur meine Verstärkungen kämen!«Dann atmete er tief aus.»Aber ach, ich hätte durch meine bisherigen Erfahrungen gewarnt sein sollen. «Er sah Bolitho an, und sein Gesicht spiegelte plötzliche Verzweiflung.»Sie sind mein ältester Kommandant, und ich muß Ihren Rat ernsthaft in Betracht ziehen, denn ich weiß, daß er sich auf langjährige Erfahrung im Dienste des Königs stützt. Aber ich habe das Kommando, und die letzte Entscheidung treffe ich. Wir werden mit größter Beschleunigung nach St. Kruis zurückkehren, und von dort werde ich eine Korvette mit einem Bericht direkt nach England schicken.»
Bolitho beobachtete ihn ungeduldig. Es überraschte ihn immer wieder, wie schnell sich Pelham-Martin aus fast völliger Mutlosigkeit aufraffen konnte. Der Gedanke, daß immer noch Aussicht bestand, sein Ansehen zurückzugewinnen, bevor Admiral Cave n-dish von seinem Versäumnis erfuhr, den Feind völlig zu vernichten, schien ihm neue Hoffnung und Selbstvertrauen zu geben. So blickte er jetzt auch mit einem Anflug seiner bisherigen Strenge auf Farqu-har.
«Ich hatte eigentlich vor, Ihnen einen Verweis dafür zu erteilen, daß Sie Ihr Aufklärungsgebiet selbständig verlassen haben. Da Ihre Initiative uns indessen die einzige nützliche Information gebracht hat, muß ich Sie wohl mit Nachsicht behandeln und Ihre Aktion im Protokoll aufnehmen.»
Farquhar betrachtete ihn mit dem Anflug eines Lächelns auf seinem hochmütigen Gesicht.»Als ich noch als Midshipman unter Kapitän Bolitho diente, hatte ich einen ausgezeichneten Lehrherrn, Sir. Da habe ich gelernt, daß Angriff und Kampf ohne vorherige Aufklärung ebenso töricht wären, wie einen Blinden mit einer Muskete ins Gefecht zu schicken.»
Bolitho räusperte sich.»Werden Sie jetzt auf mein Schiff zurückkehren, Sir?»
Pelham-Martin schüttelte den Kopf.»Später. Ich muß erst gründlich nachdenken. Fahren Sie alle auf Ihre Schiffe zurück, meine Herren!»
Außerhalb der Kajüte standen die drei Kommandanten schweigend herum, während Mulder davoneilte, um ihre Boote herbeizurufen.
Fitzmaurice brach als erster das Schweigen.»Als ich Farquhars Bericht hörte, schien mir alles ziemlich hoffnungslos zu sein. Es kam mir vor, als hätte man mich zum Narren gehalten und als sei alles, wofür ich bisher mein Leben eingesetzt habe, vergeblich gewe sen. «Er sah Bolitho ernst an.»Aber als ich Ihnen dann zuhörte, wie Sie Ihre Gedanken vortrugen, fühlte ich neue Kräfte in mir. «Er suchte nach den rechten Worten.»Mein Erster Offizier, Quince, hat es nach der Rückkehr aus dem Sumpf ausgesprochen. Er sagte: Wenn Sie, Bolitho, das Kommando über das Geschwader gehabt hätten, wäre Lequiller gar nicht erst von der französischen Küste weggekommen.»
Farquhar lächelte.»Hoffen wir, daß es noch nicht zu spät für einige Korrekturen ist.»
Bolitho beobachtete, wie sein Boot von achtern heranruderte. Es war typisch für Farquhars Freimut gewesen, wie er mit PelhamMartin gesprochen hatte. Doch er mußte es ablehnen, wenn sich die anderen Kommandanten von Gefühlen leiten ließen.
Farquhar brauchte allerdings keine Angst vor Pelham-Martins Einflüssen außerhalb der Marine zu haben. Seinem Vater gehörte halb Hampshire, und er stammte aus einer langen Reihe berühmter Seeoffiziere, von denen einige sogar Admirale gewesen waren. Dennoch lag es Farquhar fern, Dreistigkeit zu demonstrieren, die ihm später vielleicht als Komplott oder mangelhafte Unterstützung seines Kommodore hätte ausgelegt werden können. So etwas ging ebenso gegen seine Natur, wie einen gewöhnlichen Seemann als Gleichgestellten zu betrachten.
Als Bolitho später auf dem Achterdeck der Hyperion stand und beobachtete, wie die Spartan an ihren langsameren Gefährten vorbeipreschte, fühlte er etwas wie Neid in sich aufsteigen. Eine Fregatte war doch etwas ganz Besonderes: schnell, unabhängig und sehr persönlich. Dort war einem das Gesicht und das Verhalten jedes einzelnen Mannes ebenso vertraut wie der Satz ihrer Segel. Auf einem Linienschiff dagegen lebte man in einer anderen Welt: hier die mehrere hundert Seelen zählende in ihren engen Quartieren zusammengepferchte Besatzung, dort die Offiziere, und beide zusammengehalten durch eine strikte Disziplin.
Die schwache Verbindung mit der anderen Welt, die er so sehr liebte, schien sich nun weiter zu lockern. Als er den Kameraden seinen skizzenhaften Plan erklärt hatte, war ihm das plötzlich bewußt geworden, und es erschreckte ihn. Es war der Schritt vom
Gehorchen zum Befehlen, von einfachen Aufspüren eines Feindes, von Längsseitlegen, um zu siegen oder unterzugehen, zur Notwendigkeit taktischer Überlegungen und Rücksichtnahme auf andere Schiffe oder auf ein weit verstreutes Geschwader. Erst als er seine Ansicht ausgesprochen hatte, war ihm blitzartig bewußt geworden, was er tat. Indem er seine tiefsten Gedanken enthüllte, die später in Handlungen umgesetzt werden konnten, hatte er einen kaum noch umkehrbaren Schritt in seiner Karriere getan.
Aber strategisches Denken konnte, wie Pelham-Martin und andere vor ihm erfahren hatten, noch mehr als den Tod seines Urhebers zur Folge haben. Es konnte den Ausgang einer Schlacht, ja die Existenz einer ganzen Nation bestimmen.
Inch trat zu ihm und tippte an seinen Hut.»Haben Sie irgendwelche Befehle, Sir?»
Bolitho schaute noch der Spartan nach, die sich heftig stampfend in die mit Schaumkronen bedeckte See warf.
«Ich gehe in den Kartenraum. «Er stockte, denn er wußte, daß sein nächster Schritt zwar mehr persönlich, aber nicht weniger lebenswichtig war.»Schicken Sie den neuen Steuermannsmaaten Selby zu mir.»
Inch trat auf der Stelle, das Gesicht voll offenkundiger Neugier. Bolitho sah ihn an.»Und sorgen Sie dafür, daß ich nicht gestört werde.»
In dem dunkel getäfelten Kartenraum lehnte er sich im Bemühen, seine Zweifel zu überwinden, gegen das Schott. Die gewohnten Geräusche an Deck klangen hier nur gedämpft herein, und der ferne Klang der Pumpe schien mit seinem Herzschlag den Takt zu halten.
Es klopfte an die Tür, und er rief:»Herein!»
Sein Bruder stand auf der anderen Seite des Kartentisches und schaute ihn aufmerksam und fragend an.»Sie haben mich rufen lassen, Sir?»
Bolitho zupfte an einer Ecke der zuoberst liegenden Karte. Schweigen umgab sie, und es schien Bolitho, als halte das ganze Schiff den Atem an.
Dann begann er stockend:»Ich brauche einige Informationen. «Er bemühte sich um einen so distanzierten Ton, als ob der Mann ihm gegenüber tatsächlich nur irgendein Steuermannsmaat wäre.»Als du damals in der Karibik warst. «Seine Zunge zögerte bei dem Wort >damals<. Wieviel Kummer und Ungewißheit hatte Hugh damals ihrem Vater bereitet! Scharf fuhr er fort:»Als du das Kaperschiff Andiron führtest, mußtest du dich doch in dieser Inselwelt gut ausgekannt haben. «Er zog mit dem Finger weite Kreise auf der Karte.»Du warst auf deine eigenen Hilfsquellen angewiesen. Um deine Leute verschnaufen zu lassen und Schäden auszubessern, mußtest du doch kleine oder größere Buchen kennen.»
Sein Bruder rückte näher heran, und sein Gesicht wirkte unter der hin- und herschwankenden Lampe plötzlich zerfurcht und müde.
«Das ist lange her. Ja, ich kannte viele solcher Ankerplätze.»
Bolitho ging um den Tisch herum und streifte dabei die Spinde und die hin- und herschwingende Hängematte, ohne es zu bemerken.
«Du kennst natürlich Lequiller und weißt auch, was wir hier vorhaben. Ich glaube, daß er seine beschädigten Schiffe ausbessern wird, bevor er…»
Er brach ab, als er sich bewußt wurde, daß sein Bruder ihn nachdenklich betrachtete.
«Ich habe allerlei gehört. Daß Lequiller das Schatzschiff gekapert hat und du die Absicht hast, ihn zu verfolgen und abzufangen. «Er zuckte die Achseln.»Nachrichten verbreiten sich schnell in den unteren Decks, wie du weißt.»
«Als du in Las Mercedes warst, hast du da gehört oder gesehen, was dort vor sich ging?»
«Nicht viel. Wir sahen, daß die Soldaten exerzierten, und als die französischen Schiffe in die Bucht einliefen, gab es große Aufregung. Ich wußte gleich, daß uns das Unannehmlichkeiten bringen würde.»
Bolitho konnte seine Bitterkeit nicht unterdrücken. »Uns? Das bedeutet wohl eine Sinnesänderung bei dir?»
Sein Bruder sah ihn ernst an.»Möglicherweise. Denn schon bei meinem nur kurzen Aufenthalt auf deinem Schiff habe ich dich wieder achten gelernt. So wie damals in St. Clar, als die Strafgefangenen dir zujubelten. «Er lächelte etwas gequält.»Zwischen einem Strafgefangenen und einem Seemann auf einem Schiff des Königs besteht nur ein geringer Unterschied, und ich habe gehört, was sie von dir denken. «Er schaute auf die Karte.»Sie würden dir überallhin folgen. Frag mich nicht, warum. Und erwarte auch nicht, daß einer das ausspricht. Es ist eben etwas, das du an dir hast und auf sie ausstrahlst. «Er zuckte abermals mit der Schulter.»Aber macht nichts. Ich sage das nur, weil ich meine, du solltest das nicht beiseite schieben, nur um den guten Namen deines Kommodore zu retten.»
Bolitho antwortete scharf:»Ich habe dich nicht hergerufen, um deine Meinung über meine Motive zu hören. «Er klopfte auf die Karte.»Also?»
«Hier ist ein geeigneter Platz. «Hughs Finger wies auf eine Stelle der Karte.»Die Pascua-Inseln, etwa fünfzig Meilen nordwestlich von St. Kruis. «Seine Augen bewiesen fachliches Interesse, als er sich über die Karte beugte.»Zwei Inseln, die durch eine Kette kleiner und kleinster Eilande und ausgedehnter Riffe miteinander verbunden sind. Ein gefährlicher Ankerplatz, eigentlich nur eine letzte Zuflucht. «Er nickte nachdenklich.»Der Hauptvorteil ist, daß es zwischen den Riffen Durchlässe gibt. Mit deinem kleinen Geschwader könntest du gar nicht alle überwachen. «Sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.»Ich selbst bin da Rodneys Fregatten mehrmals entwischst.»
Bolitho fragte ruhig:»Was würdest du an meiner Stelle tun?»
Sein Bruder sah ihn lange an, und sein Ausdruck wechselte dabei von Überraschung zu Mißtrauen. Schließlich antwortete er:»Eine Fregatte würde zwischen den Riffen durchkommen. Ein Überraschungsangriff auf diesem Wege würde die vor Anker liegenden Schiffe sicherlich veranlassen, durch die Hauptpassage auszulaufen; davor könntest dann du stehen und sie in Empfang nehmen.»
Bolitho betrachtete ihn ernst.»Nur ein sehr erfahrener Mann wäre imstande, ein Schiff durch die Riffe zu steuern, nicht wahr? Jemand, der die genaue Lage aller unter Wasser liegenden Hindernisse kennt.»
Hugh beobachtete ihn verständnisvoll.»So ist es. Ohne solch einen Mann wäre es Wahnsinn. Als ich die Durchfahrt das erste Mal benutzte, hatte ich einen alten Mulatten als Lotsen. Er kannte sich sehr gut aus und hat dann mir beigebracht, was er selber als Fischer in vielen Jahren mühsam gelernt hatte.»
Bolitho richtete sich straff auf.»Willst du's tun?«E sah das Mißtrauen in den Augen seines Bruders weichen und fügte hinzu:»Ich weiß, das Risiko ist groß. Der Kommandant unserer einzigen
Fregatte ist Charles Farquhar. Er könnte sich an dich als seinen alten Gegner, der ihn einst gefangennahm, erinnern.»
«Ich erinnere mich noch gut an ihn: ein frecher junger Laffe.»
«Aber wenn alles klappt, könnte es dir für eine spätere Begnadigung sehr viel nützen. Es ist die letzte Chance für dich.»
Sein Bruder zeigte nur ein resigniertes Lächeln.»Es ist genau, wie die Leute sagen: Du denkst nie zuerst an dich selber. «Er legte eine Hand auf den Tisch.»Ich habe keinen Augenblick daran gedacht, meine eigene Haut zu retten. Kommt es dir denn nicht in den Sinn, daß es schlecht für dich stünde, wenn Farquhar oder sonst wer über mich Bescheid wüßte? Du hast einen Flüchtling versteckt, dich mit einem Hochverräter verbündet. Sie würden dich kreuzigen.»
Als Bolitho nicht antwortete, setzte Hugh eindringlich hinzu:»Denk an dich selber! Und hör' auf, dir Sorgen zu machen, über deinen Kommodore, über mich und über den ganzen Rest. Sorge dich wenigstens dieses eine Mal um dich selber!»
Bolitho schaute beiseite.»Es ist also abgemacht. Wenn wir in St. Kruis ankommen, werde ich den Kommodore informieren. Mag sein, daß wir auf dem von dir genannten Ankerplatz nichts finden. Aber wir werden sehen.»
Sein Bruder ging zur Tür.»Es gab bisher nur einen einzigen Mann, der mir damals in der Karibik überlegen war. So hoffe ich, daß dir das Glück auch ein zweites Mal zur Seite steht.»
«Vielen Dank!«Aber als Bolitho den Kopf nach Hugh wandte, war der Kartenraum leer.