VII Ungleicher Kampf

Bolitho schloß die Tür zum Kartenraum hinter sich und ging schnell zum Achterdeck. Nur neben dem schwach beleuchteten Kompaß hielt er kurz inne, um sich zu überzeugen, daß der Bug immer noch genau nach Norden wies. Den größten Teil der Nacht über waren die Vorbereitung zur Gefechtsbereitschaft ohne Unterbrechung weitergegangen, bis Bolitho, so zufrieden, wie er sein durfte, Halt geboten hatte und die gespannten, aber erschöpften Matrosen sich für wenige Stunden Ruhe neben ihren Geschützen hingelegt hatten.

Als Bolitho das Achterdeck überquerte, spürte er die leichte Brise kalt und feucht durch sein offenes Hemd und fragte sich, wie lange das anhalten würde, sobald die Sonne erst über den Horizont gestiegen war.

Inch begrüßte ihn mit:»Guten Morgen, Sir.»

Bolitho starrte auf seine blasse Gestalt und nickte.»Sie können jetzt laden und ausrennen lassen, aber mit sowenig Lärm wie möglich.»

Als Inch sich über die Reling beugte, um den Befehl weiterzugeben, sah Bolitho zum Himmel auf. Er war jetzt viel heller als vor einer halben Stunde. Jetzt konnte er die straff gespannten Netze erkennen, die Tomlin und seine Leute während der Nacht über dem Deck ausgespannt hatten, um die Kanoniere vor herabstürzenden Rahen und Stengen zu schützen. Vorher hatten sie sich vom dunklen Himmel nicht abgehoben. Am östlichen Horizont waren die letzten Sterne verblaßt, und ein paar kleine, vereinzelte Wolken waren auf der Unterseite von einem Hauch Lachsrosa überzogen.

Bolitho atmete ein paarmal tief ein, versuchte, das Knarren der Lafetten zu ignorieren und das dumpfe Poltern der Geschütze, deren Rohre durch die geöffneten Stückpforten ausgerannt wurden. Im Gegensatz zu seinen Leuten hatte er nicht geschlafen und die letzte halbe Stunde damit verbracht, sich im Licht einer kleinen Laterne zu rasieren. Zweimal hatte er sich dabei geschnitten, so stark war seine innere Spannung. Aber wenn er sich nicht intensiv mit etwas beschäftigte, gerieten seine Nerven in noch schlechtere Verfassung. Es war immer das gleiche. Die Zweifel und Ängste, die Furcht vor dem Versagen, die Angst vor einer schweren Verletzung und das Grauen vor dem Skalpell des Chirurgen, all das geisterte bedrohlich durch seine Gedanken.

Jetzt war das Warten nahezu vorüber. Dort vorn, schwarz und nach beiden Seiten ausladend, lag die Insel; jetzt brauchte er kein Glas mehr, um die gedämpft schimmernde, weißliche Brandung auszumachen, wo sich die anlaufende See über den Riffen brach.

Die Hyperion lag auf Backbordbug hart am Wind, die Marssegel und Bramsegel dichtgeholt, um den schwachen Wind mit größtmöglichem Vorteil zu nutzen. Alle unteren Segel waren aufgegeit, denn diese großen Leinwandflächen bedeuteten immer Brandgefahr, wenn der Kampf begann.

Inch richtete sich auf, als eine Stimme vom Hauptdeck rief:»Alle Geschütze ausgerannt.»

Wie Bolitho und die anderen Offiziere trug er nur Hemd und Hose; seine Stimme bebte leicht, entweder vor Aufregung oder wegen der Kälte.

«Sehr gut. Schicken Sie einen Midshipman zum Kommodore.»

Während Bolitho sich rasierte, hatte er mehrmals eine Pause gemacht und gelauscht. Doch dieses Mal hatte er kein sanftes Schnarchen durch die Zwischenwand wahrgenommen. Pelham-Martin mußte ruhelos grübelnd in seiner Koje liegen; er konnte sich nicht einmal mit Kampfvorbereitungen ablenken.

Gossett schneuzte sich in ein großes rotes Taschentuch. Das Geräusch erschütterte die allgemeine Stille wie ein Musketenschuß. Verlegen murmelte er:»Verzeihung, Sir.»

Bolitho lächelte.»Langsam! Vielleicht brauchen wir später Ihren ganzen Wind noch für die Segel.»

Ein paar Marinesoldaten lachten unterdrückt, und Bolitho war froh, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnten.

Inch fragte:»Was mögen die Froschfresser vorhaben?»

«Im Augenblick verhalten sie sich sehr still. «Bolitho beobachtete die kleinen Wellen mit ihren Schaumköpfen, die in Luv langsam am Schiff vorbeiliefen. Jetzt konnte er sie schon auf viel größere Distanz erkennen, und als er den Blick nach vorn richtete, sah er, daß das Land viel klarere Umrisse angenommen hatte und jetzt unmittelbar vor dem Bug aufzuragen schien. Das war eine normale Erscheinung im ersten Tageslicht, aber trotzdem mußten sie jetzt bald mehr sichten. Der Kurs der Hyperion verlief so dicht an den Riffen vorbei, wie sie nur wagten, um die günstigste Position zu gewinnen, wenn der Zeitpunkt zur Wende kam, um entweder an der Bucht vorbei oder in sie einzulaufen.

Sehr viel hing von den Verteidigungsanlagen der Insel ab. Kein Schiff war einer gutpostierten Küstenbatterie gewachsen, aber man konnte ihrer Schlagkraft nie sicher sein. Bolitho erinnerte sich daran, wie er und Tomlin die Klippen bezwangen, als sie auf Cozar im Mittelmeer erfolgreich die französische Batterie überwunden hatten. Wenn man fest genug entschlossen war, konnte man alles schaffen.

Inch rief:»Guten Morgen, Sir!»

Der Kommodore kam auf steifen Beinen an die Reling und schnüffelte in der Luft. Bolitho studierte ihn in dem ungewohnten Halblicht. Er trug einen Bootsmantel, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte, und war ohne Hut und ohne jedes Rangabzeichen.

Er würde stark ins Schwitzen geraten, sobald er in die Sonne kam, dachte Bolitho und empfand einen Anflug von Mitgefühl, als er an den Grund für diesen seltsamen Aufzug dachte. PelhamMartin war ein sehr breiter Mann, ein verlockendes Ziel für einen französischen Scharfschützen, auch ohne daß er sich in seiner richtigen Uniform zeigte.

Ruhig sagte er:»Bald ist es soweit, Sir. Der Wind kommt stetig von Nordost, und bis wir ganz dicht unter die Küste gelangen, haben wir genug Zug in den Segeln.»

Pelham-Martin zog seinen kleinen Kopf tief in den Kragen ein.»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Dessen bin ich sicher. «Er trat etwas zur Seite und versank wieder in Schweigen.

Bolitho wollte Inch gerade ansprechen, als er sah, daß die Augen des Leutnants wie Zwillingsfeuer aufloderten. Noch als er sich hastig umdrehte, hörte er eine gewaltige Explosion über das offene Wasser hallen und sah eine hohe Flammensäule zum Himmel aufsteigen, Funken nach allen Seiten sprühen und viele hundert Fuß hoch fliegen.

Inch keuchte:»Ein Schiff, das brennt!»

Bolitho kniff die Augen zusammen und versuchte zum hundertsten Mal, sich ein Bild von der Bucht zu machen. Das Schiff, das jetzt wie eine Fackel über seinem flammenden Spiegelbild loderte, war nur klein und befand sich irgendwo Steuerbord voraus.

Vereinzelte Schüsse waren zu hören, und Bolitho vermutete, daß der Feind Boote einsetzte, um noch im Schutz der Dämmerung das Ufer zu erreichen. Vielleicht war das Schiff durch einen Unglücksfall in Brand geraten, oder vielleicht hatten die Angreifer nur so viel Schaden wie möglich anrichten wollen, ehe sie sich wieder zurückzogen.

Wieder dröhnte eine dumpfe Explosion über das Wasser, doch diesmal gab es keinen Feuerschein; auch war weder die Richtung, aus der sie kam, noch ihre Entfernung zu schätzen.

«Ah, da ist sie!«Gossett hob einen Arm, als die Sonne über den Horizont stieg, die Schatten vertrieb und das endlose Muster der Wellenkämme mit blassem Gold überzog.

«An Deck! Zwei Schiffe in Lee voraus. «Dann ein überraschter Aufschrei:»Halt! Da ist noch eins, dicht am Ufer, Sir.»

Doch Bolitho konnte sie schon selbst sehen. In der Karibik war der Übergang von der Nacht zum Tag nur kurz. Die Sonne hatte den dunklen Schattenumriß der Insel bereits in ein Panorama aus Violett und Grün verwandelt; goldene Ränder hoben die Anhöhen auf der anderen Seite der Bucht hervor.

Die beiden ersten waren Linienschiffe, die langsam in entgegengesetzter Richtung segelten, fast im rechten Winkel zum Kurs der Hyperion und kaum zwei Meilen entfernt. Das dritte sah wie eine Fregatte aus; ein kurzer Blick auf ihre Segel verriet Bolitho, daß sie dicht unter der westlichen Landzunge vor Anker lag.

Vor Anker? Er schob alle Zweifel und Befürchtungen beiseite, als er die Wahrheit erkannte: Der Feind mußte das verankerte Schiff als Ablenkungsmanöver in Brand gesetzt haben.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Ankergrunds, wo angeblich die Hauptbatterie ihre Stellung haben sollte, hatten die Eindringlinge zu einem Großangriff angesetzt und die Verteidiger im entscheidenden Augenblick abgelenkt und überrascht. In der frühen Morgendämmerung konnte das nicht schwer gewesen sein, dachte Bolitho grimmig. Es war nur menschlich, sich am Unglück anderer zu weiden, selbst wenn es die eigenen Kameraden waren, solange man selbst verschont blieb.

Während die aufgeschreckten Kanoniere in ihren Geschützstellungen das brennende Schiff beobachtet hatten, waren die Angreifer mit ihren Booten heimlich gelandet und hatten die Landzunge von der anderen Seite her überwunden.

Pelham-Martin sagte mit gepreßter Stimme:»Sie haben uns gesichtet.»

Das führende französische Schiff gab bereits ein Signal an seinen Begleiter, doch als das erste Sonnenlicht auf das geschützte Wasser der Bucht und die weißgetünchten Häuser am Ufer fiel, verriet keines der beiden Schiffe Anzeichen dafür, daß es Richtung oder Absicht ändern wolle. Der erste Schock beim Anblick der Hyperion mußte schnell überwunden worden sein, als der Feind erkannte, daß sie nur von einer einzelnen Fregatte begleitet wurde.

Bolitho spürte die Sonne warm auf dem Gesicht. Er konnte vor dem Bug der Feinde in die Bucht einlaufen, doch wenn die Franzosen die Batterie besetzt hatten, konnten ihre Schiffe unbesorgt hinter ihm hersegeln. Wenn er sich aber zurückhielt, würden sie sich in die Bucht zurückziehen und konnten dann selbst eine größere Streitmacht daran hindern, ihnen zu folgen.

Er sah zu dem Kommodore hinüber, der, das Gesicht voller Unentschlossenheit, unverwandt zu den französischen Schiffen hinüberstarrte.

Inch murmelte:»Zwei Vierundsiebziger, Sir. «Auch er blickte Pelham-Martin an, ehe er hinzufügte:»Wenn sie die andere Seite der Bucht erreichen, sind sie uns gegenüber im Vorteil, Sir.»

Bolitho bemerkte, daß mehrere Matrosen an den Brassen die Hälse reckten, um zu den Franzosen hinüberzustarren. Die Schiffe sahen völlig intakt aus, zeigten keine Beschädigungen durch die Geschütze der Küstenbatterie und wirkten wegen ihrer langsamen Annäherung nur noch gefährlicher. Im Sonnenlicht schimmerten

Teleskope, die vom Achterdeck des führenden Schiffs auf die Hyperion gerichtet waren. Hier und da bewegte sich eine Gestalt, und im Großtopp flatterte ein Wimpel, als bewege er sich aus eigener

Kraft.

Aber sonst glitten die Schiffe langsam und behäbig über das leicht bewegte Wasser, bis es schien, als ramme der Klüverbaum die Hyperion den des führenden Franzosen wie die Stoßzähne zweier Mammuts, die gegeneinander kämpften.

Auf dem Hauptdeck war die Spannung inzwischen fast physisch greifbar. Hinter jeder offenen Stückpforte kauerten die Kanoniere, die nackten Rücken glänzend vor Schweiß, während sie darauf warteten, zum erstenmal an der Abzugsleine zu reißen. Jeder Niedergang wurde von einem Marinesoldaten bewacht, und die Scharfschützen und Bedienungen der Drehbassen in den Masten leckten sich die Lippen und spähten mit zusammengekniffenen Augen nach ihren Gegnern aus.

Pelham-Martin räusperte sich.»Was beabsichtigen Sie zu tun?»

Bolitho entspannte sich etwas. Er fühlte, wie ihm der Schweiß über die Brust rann, und spürte seinen Herzschlag an den Rippen. Die Frage wirkte wie ein Dammbruch, befreite ihn von einer schweren Last. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, daß Pelham-Martins Nerven versagen und er den sofortigen Rückzug befehlen würde. Oder schlimmer noch: daß er in voller Fahrt in den Hafen einlaufen wolle, wo der Feind ihr Schiff in aller Ruhe zum Wrack schießen konnte.

«Wir werden vorm Bug des Feindes vorbeilaufen, Sir. «Er hielt den Blick auf das führende Schiff gerichtet. Wenn jetzt Anzeichen erkennbar wurden, daß der Feind mehr Segel setzte, dann mußte es für die Hyperion zu spät sein. Es bedeutete entweder eine Kollision, oder er mußte halsen und sein ungeschütztes Heck der Breitseite der Franzosen aussetzen.

Pelham-Martin nickte.»Und dann in die Bucht?»

«Nein, Sir. «Er drehte sich heftig um.»Einen Strich nach Steuerbord, Mr. Gossett!«Ruhiger fuhr er fort:»Wir werden halsen, sobald wir an dem führenden Schiff vorbei sind, und gegen seine Backbordseite Feuer eröffnen. «Er beobachtete die verheerende Wirkung, die seine Worte auf dem Gesicht des Kommodore auslösten.»Wenn wir Glück haben, können wir dann an seinem Heck vorbei und zwischen beiden Schiffen durchstoßen. Das bedeutet zwar, daß wir die Luvposition verlieren, aber wir können dabei beiden eine Lektion erteilen. «Er grinste und spürte, daß ihm die Lippen trocken wurden. Aber Pelham-Martin mußte doch begreifen! Wenn er versuchte, das Manöver mitten in der Ausführung abzubrechen, würde das katastrophale Folgen haben.

Wieder sah er zu den französischen Schiffen hinüber. Jetzt trennte nur noch eine halbe Meile das führende von seinen Geschützen. Es mußte in jedem Fall eine Katastrophe werden, wenn der Feind ihn mit seiner ersten Salve entmasten sollte.

Die französische Fregatte lag noch vor Anker; im Glas konnte Bolitho beobachten, wie ihre Boote zwischen Schiff und Landzunge hin und her jagten, und als er auf dem Gipfel der Anhöhe Rauch aufsteigen sah, wußte er, daß die zweite Explosion von einer Art Mine hergerührt hatte, als die Batteriestellung oder ein Magazin gesprengt worden waren.

Er spürte Pelham-Martins Hand auf seinem Arm.»Sir?»

Der Kommodore sagte:»Signal an Abdiel. Die Fregatte soll angreifen!«Er schüttelte sich unter seinem schweren Mantel.»Nun?»

«Ich schlage vor, daß sie in Luv bleibt, Sir, bis wir mit dem Angriff beginnen. Wenn sie nur einen Moment den Verdacht haben, daß wir nicht im Hafen Schutz suchen wollen, werden sie uns ausmanövrieren.»

«Ja. «Pelham-Martin fixierte einen Punkt über der Landzunge.»Ganz richtig.»

Bolitho riß sich los und eilte auf die andere Seite, um das führende Schiff zu beobachten. Plötzlich dachte er an etwas, das Winstan-ley ihm gesagt hatte, als er zum erstenmal an Bord der Indomitable gegangen war, um sich bei dem Kommodore zu melden.»Er wird Sie brauchen, ehe wir fertig sind. «Als Pelham-Martins dienstältester Kapitän mußte er dessen Schwächen besser kennen als jeder andere. Zweifellos verdankte der Kommodore seinen jetzigen Rang guten Beziehungen; oder vielleicht hatte er auch nur das Pech gehabt, für den Posten im rechten Moment verfügbar zu sein, obwohl er nicht die Erfahrung besaß, welche die Aufgabe erforderte.

Ein dumpfer Knall hallte über das Wasser, und Bolitho sah nach oben, wo plötzlich ein rundes Loch im Vormarssegel klaffte. Der Franzose hatte ein Buggeschütz abgefeuert, um sich auf die Entfernung einzuschießen. Bolitho drehte sich um und beobachtete, wie weit draußen in Luv eine dünne Fontäne aus der See stieg.

Er sagte:»Unterrichten Sie das untere Geschützdeck von meinen Absichten, Mr. Inch. «Als ein Midshipman zum Niedergang rannte, schnauzte er:»Langsam gehen, Mr. Penrose!«Der Junge drehte sich um und wurde rot.»Vielleicht beobachtet ein Franzose im Teleskop, was Sie tun. Lassen Sie sich also Zeit.»

Wieder ertönte ein Knall, und diesmal schlug das Geschoß an Backbord ein und schleuderte Sprühwasser hoch über die Netze, so daß sich einige Leute bei den Vorsegelschoten erschreckt duckten.

Bolitho rief:»Sorgen Sie dafür, daß die Männer auf dem Hauptdeck außer Sicht bleiben, Mr. Stepkyne. Wir werden gleich halsen, aber ich will nicht, daß auch nur ein einziger Mann eine Hand rührt, ehe ich den Befehl gebe.»

Er sah Stepkyne nicken und wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Feind zu. Er fragte sich, was Pascoe wohl auf seiner Station im unteren Geschützdeck tat, und wurde hin- und hergerissen von dem Wunsch, ihn in der Nähe zu haben, ihn andererseits aber unten, hinter dem zusätzlichen Schutz der dicken Planken zu lassen.

Merkwürdigerweise waren es im allgemeinen die älteren Leute, denen das Warten besonders schwerfiel, dachte er. Die jüngeren oder die Neulinge waren zu beeindruckt oder zu verängstigt, um noch klar zu denken. Erst wenn alles vorüber und der Lärm und der Anblick aus dem Gedächtnis verdrängt waren, dachten sie an den nächsten Einsatz und den, der darauf folgen würde.

Das nächste Geschoß des Franzosen traf das Bootsdeck, hob die Barkasse förmlich aus ihrer Halterung und füllte die Luft mit Splittern. Hinter dem Steuerbord-Schanzkleid stürzten drei Leute um sich schlagend und schreiend auf das Deck. Einer von ihnen war von einem langen Holzsplitter beinahe durchbohrt.

Bolitho rief:»Mehr Leute an die Luvbrassen, Mr. Stepkyne!«Er sah, wie der Leutnant den Mund öffnete, um zu erwidern, doch dann wendete er sich mit wütendem Gesicht ab und gab den Befehl weiter.

Bis ein weiteres Geschoß in die Bordwand einschlug, fand Bo-litho Zeit für Verständnis und Mitgefühl mit Stepkynes Verärgerung. Diese sorgfältig gezielten Schüsse hinzunehmen, ohne das

Feuer zu erwidern, war fast mehr, als jemand ertragen konnte. Doch wenn er Gegenwehr zuließ, mochte der französische Kommandant seine wahren Absichten sofort durchschauen und hatte noch Zeit, seinen Kurs zu ändern.

Gossett knurrte:»Die Froschfresser segeln so dicht am Wind, wie sie nur können, Sir. «Er fluchte, als ein Geschoß über die Netze jaulte und weit querab einschlug.»Wenn er versucht, über Stag zu gehen, gerät er bald in die Klemme.»

Bolitho sah, wie die verwundeten Matrosen zum Hauptniedergang geschafft wurden; eine Blutspur markierte jeden Fuß des Wegs. An den Geschützen drehten sich ein paar Kanoniere mit erstarrten Gesichtern nach ihnen um.

Näher und näher kamen sich die Schiffe, bis der führende feindliche Zweidecker nur noch eine Kabellänge vom Backbordbug der Hyperion entfernt war.

Bolitho preßte die Hände hinter dem Rücken zusammen, bis der Schmerz wieder Ordnung in seine rasenden Gedanken brachte. Jetzt konnte er nicht länger warten. Jeder Augenblick mochte ein gutgezieltes Geschoß oder ein Zufallstreffer einen entscheidenden Schaden im Rigg anrichten oder sein Schiff manövrierunfähig machen, ehe er seine Drehung ausführen konnte.

Ohne Gossett anzusehen, befahl er scharf:»Ruder hart Backbord!«Als das Rad sich knarrend zu drehen begann, legte er die Hände als Trichter an den Mund und schrie:»Klar zur Halse! Alle Mann an die Schoten, Halsen und Brassen!»

Er sah die großen Schatten der Segel über die kauernden Kanoniere streichen, hörte das Winseln der Blöcke und das wilde Stampfen nackter Füße, als die Matrosen sich in die Taue warfen und sich das Schiff dann langsam dem Franzosen zuzuwenden begann.

Ein, zwei Sekunden dachte Bolitho, er hätte zu früh gehandelt und beide Schiffe würden vierkant zusammenstoßen. Doch als die Rahen zur Ruhe kamen, die Leinwand oben sich wieder füllte, sah er den anderen Zweidecker an Backbord vorüberziehen. Seine Masten befanden sich fast in einer Linie. Wie Gossett schon bemerkt hatte, konnte der Feind nicht wieder in die bessere Position kommen, ohne direkt in den Wind zu drehen, aber er konnte auch nicht abfallen, falls der Kommandant sein ungeschütztes Heck nicht der Breitseite der Hyperion aussetzen wollte.

Bolitho brüllte:»Volle Breitseite, Mr. Stepkyne!»

Er sah die Stückführer sich an ihren Geschützen ducken, die Abzugsleinen gespannt, während sie durch die offenen Pforten spähten und ihre Bedienungen bereitstanden, die Rohre mit Handspaken zu schwenken oder zu heben, wenn es erforderlich war.

Ein Geschoß schlug durch die Backbordgangway, und ein Mann schrie wie ein gepeinigtes Tier auf. Doch Bolitho hörte es kaum. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er das näherkommende Schiff. Die Leute um ihn herum und der Kommodore waren vergessen, als er sah, wie die Bramsegel seiner Hyperion ein verzerrtes Schattenmuster über den Bug des Franzosen warfen.

Er hob die Hand.»Auf dem Höhepunkt…«Er machte eine Pause, seine Kehle war trocken wie heißer Sand.»Feuer!»

Die Breitseite der Hyperion krachte laut wie hundert Donnerschläge, und während das ganze Schiff bebte, als ob es aufgelaufen wäre, wurde der Rumpf des Feindes von aufwallendem Pulverqualm völlig verhüllt.

Jenseits des nur fünfzig Meter breiten Wasserstreifens mußte die Breitseite wie eine Lawine gewirkt haben. Bolitho konnte sehen, daß Männer den Mund aufrissen und brüllten, aber hören konnte er noch nichts. Das schärfere, ohrenbetäubende Krachen der Neun-pfünder auf dem Achterdeck hatte Denken und Hören fast unerträglich schmerzhaft gemacht. Dann sah er über dem aufsteigenden Pulverrauch, daß die Rahen des französischen Schiffs unkontrolliert überkamen und die Obersegel im entgegenstehenden Wind wild schlugen.

Als er wieder hören konnte, vernahm er das Triumphgeschrei seiner Stückführer. Dann sah er Dawsons Marinesoldaten zu den Finknetzen gehen, die langen Musketen wie bei der Parade geschultert. Als Dawsons den Degen senkte, feuerten die Musketen wie eine einzige, und die Kugeln flogen durch den Rauch, um zur allgemeinen Verwirrung an Bord des Feindes beizutragen.

Stepkyne kam auf dem Hauptdeck nach achtern und fuchtelte mit den Händen, als ob er seine Leute zurückhalten wolle.»Zündlöcher verschließen! Auswischen!«Er blieb stehen und schlug den Arm eines Mannes zurück.»Auswischen, habe ich befohlen, verdammter Kerl!«Er packte einen Matrosen am Handgelenk.»Soll dir das

Ding vor der Nase explodieren?«Dann schritt er weiter.»Beeilung! Laden und ausrennen!»

An jeder Kanone arbeiteten die Leute wie in Trance. Ihnen war nur noch der Drill im Bewußtsein, den sie unter den wachsamen Augen ihrer Geschützführer gelernt hatten.

Bolitho rief:»Einzelfeuer!«Würgend und hustend trat er zurück, als die Geschütze wieder aufbrüllten, Qualm und Flammen spieen und das Wasser zwischen den beiden Fahrzeugen zu nächtlicher Finsternis verdunkelten.

Dann feuerte das französische Schiff. Das Mündungsfeuer seiner Breitseite lief vom Bug bis zum Heck wie eine Doppelreihe gelbroter Flammenzungen.

Bolitho spürte, wie die Kugeln heulend durch Wanten, Tauwerk und Segel fuhren, und nahm den härteren, polternden Schlag wahr, mit dem einige sich tief in den Rumpf selbst gruben.

Ein Matrose fiel, anscheinend unverletzt, durch den Rauch aus dem Großmast und prallte zweimal von den ausgespannten Netzen ab, ehe er leblos über Bord stürzte.

Das Brüllen eines Geschützführers hinter Bolitho übertönte das donnernde Kanonenfeuer und das gelegentliche Knattern der Musketen. Seine Augen funkelten weiß in dem vom Pulverdampf geschwärzten Gesicht, als er seine Leute an den Taljen antrieb.

«Ausrennen, ihr lahmen Krüppel! Wir werden's denen schon beibringen.»

Dann riß er an der Abzugsleine, und der Neunpfünder, vom Rückstoß binnenbords geschleudert, spuckte Rauch aus seiner schwarzen Mündung; schon stürzten die Kanoniere sich wieder auf ihn, um auszuwischen und neu zu laden.

Durch den treibenden Rauchvorhang rannten die Pulveräffchen, ließen ihre Ladungen fallen und taumelten, fast ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, zur Luke zurück.

Pelham-Martin stand nach wie vor an der Reling. Sein schwerer Mantel war fleckig von Pulverasche und abgesplitterter Farbe. Er starrte zu den Masten des französischen Schiffs hinauf, von der Nähe des Todes anscheinend hypnotisiert, während Musketenkugeln um ihn herum auf das Deck hämmerten und ein Matrose, dessen Schreie das ihm aus dem Mund schießende Blut erstickten, den Niedergang hinabgeschleudert wurde.

Inch rief:»Wir sind bald vorbei, Sir!«Seine Augen tränten, während er durch den Qualm spähte und nach dem zweiten französischen Schiff suchte. Dann deutete er mit wilden Gesten, seine Zähne leuchteten weiß in dem schmutzigen Gesicht.»Ihr Besan fällt!«Er drehte sich nach Gossett um, ob der ihn auch gehört hätte.»Jetzt fällt er!»

Tatsächlich begann der Besanmast des Franzosen zu fallen. Ein Glückstreffer mußte etwa zehn Fuß über dem Deck eingeschlagen sein, denn noch als Bolitho sich am Netz festklammerte, um besser zu sehen, rissen Wanten und Pardunen wie Bindfäden, Spieren und wild flatternde Leinwand schwankten, pendelten einen Augenblick in einem unentwirrbaren Knäuel, ehe sie in den Rauch hinabstürzten.

Doch der Feind schoß nach wie vor, und als Bolitho angespannt nach oben spähte, stellte er fest, daß von den Marssegeln der Hyperion kaum Fetzen vorhanden waren. Noch während er hinaufsah, beobachtete er, wie das Großbramstag mit einem Knall riß, und als Matrosen auf enterten, um ein anderes an seiner Stelle anzusplei-ßen, fielen sie tot oder verwundet auf die Netze herab, da die versteckten französischen Scharfschützen ihr mörderisches Feuer auch durch den Qualm aufrechterhielten.

Der zerschossene Besanmast mußte dicht neben dem Achterschiff des Feindes ins Wasser gefallen sein, denn obwohl die langen, orangefarbenen Zungen weiter durch den Rauch stießen und einer von Bolithos Zwölfpfündern wie trunken schwankte, ehe er im Sturz zwei Männer seiner Bedienung erschlug, verkürzte sich der verschwommene Umriß des französischen Schiffs; langsam, aber unaufhaltsam begann es abzudrehen.

Gossett schrie mit rauher Stimme:»Der Besan muß als Treibanker wirken. «Er schlug einem seiner Rudergänger auf die Schulter.»Weiß Gott, wir können noch hoffen.»

Bolitho verstand, was er sagen wollte. Er rannte zur Reling und suchte nach der scharlachroten Uniform von Leutnant Hicks auf dem Vorschiff. Er wußte: Sobald der Feind den nachschleppenden Besanmast gekappt hatte, war er wieder kampffähig.

Er riß Inchs Sprachrohr an sich und schrie:»Die Backbordkarronade — Feuer!»

Er glaubte zu sehen, daß der Leutnant der Marinesoldaten mit dem Hut winkte, doch in diesem Augenblick feuerte der Feind eine weitere ungeregelte Breitseite ab; manche Kugeln schlugen durch offene Stückpforten, andere hämmerten in den Rumpf oder flogen wie heulende Dämonen über das Deck hinweg.

Durch das Leichentuch des Rauchs hörte er eine dröhnende Detonation und spürte ihr Nachbeben vom Bug bis zum Heck, als die niedrige, schwere Karronade ihre gewaltige Ladung von achtundsechzig Pfund gegen das Heck des Feindes schleuderte.

Als ein leichter Windstoß den Rauch beiseite schob, sah Bolitho die schwere Kugel drüben explodieren. Hicks war zu eifrig gewesen oder zu aufgeregt, denn statt durch die Heckfenster des Feindes und die ganze Länge seines unteren Geschützdecks zu fliegen, hatte sie das Achterdeck dicht unterhalb der Netze getroffen. Es folgte ein greller Blitz, als die Kugel barst und ihre enggepackte Schrapnell-Ladung freigab; er hörte entsetztes Gebrüll, während zugleich ein großer Teil des Schanzkleids fortgerissen wurde.

Gossett brummte:»Das zeigt es ihnen. Der alte Kracher nimmt ihnen die Luft!»

Bolitho sagte:»Die Ruderanlage ist getroffen, oder der Schuß hat den größten Teil ihrer Offiziere erwischt. «Er spürte, daß eine Musketenkugel an seinem Hemd zupfte, aber nicht mehr Wirkung erzielte als die Berührung eines Kindes. Doch ein Matrose hinter ihm stieß einen Todesschrei aus und wälzte sich von seinem Geschütz fort, die Hände gegen den Leib gepreßt, während sein Blut über die Planken und seine umstehenden Kameraden spritzte.

Das ganze Schiff schien von mörderischem Wahnsinn gepackt zu sein. Die Kanoniere arbeiteten wildblickend und so benommen vom Schlachtenlärm und den grauenvollen Schreien der Verletzten, daß die meisten jeden Sinn für Zeit oder Vernunft verloren hatten. Manche Stückführer mußten mit den Fäusten zuschlagen, um ihre Leute durch die endlose Routine des Ladens, Ausrennens und Ab-feuerns zu treiben, weil sie sonst auf das leere Meer geschossen oder ihre Kanone ungeladen durch die Pforte geschoben hätten.

«Feuer einstellen!«Bolitho packte die Reling und wartete, als die letzten Schüsse von der unteren Batterie heraufdröhnten. Das französische Schiff war im wallenden Qualm fast verschwunden. Nur seine Bramsegel ragten noch über den Rauchvorhang auf.

Inch sagte zwischen zusammengebissenen Zähnen:»Der zweite Franzose fällt ab, Sir.»

Bolitho nickte. Er beobachtete, wie die Rahen des Zweideckers herumschwangen und das Schiff langsam nach Steuerbord abdrehte. Die Hyperion hatte bereits zu ihrer zweiten Drehung angesetzt, doch statt zwischen den beiden Schiffen hindurchzustoßen, würde sie jetzt — wenn der Franzose seinen neuen Kurs beibehielt — mit dem Feind parallel laufen. Über Bolitho hoben sich die zerrissenen Segel und knatterten in einem plötzlichen Windstoß, und mit müder Würde legte die Hyperion sich auf die Seite und nahm dann ihren neuen Kurs auf, vom Lande fort.

Bolitho rief:»Steuerbordbatterie klar zum Feuern!«Er sah Step-kyne einigen Leuten auf der anderen Seite heftig zuwinken und sie an die Steuerbordgeschütze befehlen.

Pelham-Martin hob eine Hand zum Gesicht und starrte dann seine Finger an, als ob es ihn überrasche, daß er noch lebte. Zu Bo-litho sagte er mit gepreßtem Murmeln:»Die werden nicht so lange warten, ehe sie das Feuer erwidern.»

Bolitho sah ihn fest an.»Abwarten, Sir.»

Dann fuhr er herum, als von neuem Geschützdonner durch die Rauchschwaden drang; vermutlich hatte die Abdiel den Kampf mit der feindlichen Fregatte aufgenommen.

Inch rief:»Wir überholen sie, Sir.»

Trotz ihrer zerfetzten Segel schaffte es die alte Hyperion. Vielleicht hatte der französische Kommandant zu lange gewartet, bis er die Segel auffierte, oder vielleicht hatte er sich auch nicht vorstellen können, daß sich ein einzelner Zweidecker nach diesem ersten harten Gefecht noch einmal zum Kampf stellte. Der Klüverbaum passierte bereits das Achterschiff des Franzosen in kaum dreißig Meter Abstand. Über der vertrauten Hufeisenform des Heckfensters mit seinen vergoldeten Verzierungen und dem Namen Emeraude konnte Bolitho das Sonnenlicht auf gerichteten Waffen funkeln sehen und gelegentlich einen Musketenschuß hören. Doch unter ihrem Heck entstand zunehmend Gischt, und er sah, wie sich das Schiff etwas auf die Seite legte, den Wind in den geblähten Segeln fing und mit zunehmender Geschwindigkeit davonglitt.

Inch knurrte:»Die holen wir nicht ein, Sir. Wenn sie wieder in

Luvposition kommen, können sie sich gegen uns wenden und das andere Schiff decken, bis es wieder gefechtsbereit ist.»

Bolitho ignorierte ihn.»Mr. Gossett — Backbordruder!«Er hob die Hand.»Still jetzt! Achtung!«Er sah, daß der Bugspriet der Hyperion sich ganz leicht windwärts drehte, so daß sie für wenige Augenblicke dem Heck des französischen Schiffs ihre volle Breitseite zeigte.

«Feuer frei, Mr. Stepkyne!«Er riß die Faust scharf nach unten.»Jetzt!»

Stepkyne hastete das Hauptdeck entlang und verharrte bei jedem Geschützführer gerade lange genug, um den Feind durch die Stückpforte zu beobachten.

Aus der Bordwand der Hyperion feuerten die Geschütze, immer zwei und zwei, schmetterten die Kugeln in einem gelassenen und erbarmungslosen Bombardement in das Heck und die Wasserlinie des Feindes.

Doch jemand an Bord der Emeraude behielt offenbar klaren Kopf, denn sie luvte bereits an, drehte sich, um gegen den Angreifer in Position zu kommen, und lief dann wieder parallel zu ihm.

Dann schoß sie, und auf der Steuerbordseite der Hyperion schlug die eiserne Faust ein, donnerte in die schweren Planken oder fuhr jaulend durch die Geschützpforten und brachte Tod und Chaos über die zusammengedrängten Männer unter Deck.

Durch den Rauch konnte Bolitho die Maststengen des ersten Schiffs wahrnehmen, den hell züngelnden Wimpel im Masttopp, als sie über Stag ging und sich wieder dem Gegner zuwandte. Ihre Buggeschütze bellten bereits bösartig, obwohl es unmöglich zu erkennen war, ob die Schüsse trafen oder über ihr Ziel hinausflogen und auf ihrem Verbündeten einschlugen.

Pelham-Martin schrie:»Wenn sie dichter herankommt, dann schlagen sie von beiden Seiten auf uns ein!«Er fuhr mit wilden Augen herum.»Warum, bei allen Heiligen, habe ich nur auf Sie gehört?»

Bolitho fing einen Matrosen auf, der vom Netz zurücktaumelte und dem das Blut bereits aus der Brust strömte. Er fuhr einen bleichen Midshipman an:»Hier, Mr. Penrose, helfen Sie diesem Mann aufs Hauptdeck!»

Inch war wieder an seiner Seite.»Der hier hält sich nur zurück, bis auch sein Kampfgefährte da ist. «Er zuckte zusammen, als eine Kugel eine tiefe Furche in die Steuerbordgangway riß und einen bereits verstümmelten Toten zur Seite schleuderte.

«Falls wir es ihm erlauben, Mr. Inch. «Bolitho deutete auf den Bug des anderen Schiffs.»Steuerbordruder! Wir werden ihn zwingen, an uns heranzukommen.»

Sehr langsam, denn ihre Segel bestanden fast nur noch aus Fetzen, reagierte die Hyperion auf den Druck des Ruders. Weiter und weiter schwang sie herum, bis ihr Bugspriet hoch über das Deck des Feindes zu ragen schien, als ob sie geradewegs durch seine Fockwanten fahren wollten.

Stumm beobachtete Inch, wie die Kanonen auf dem Hauptdeck an ihren Taljen wieder binnenbords geschleudert wurden. Die Gestalten um sie herum hasteten durch den dichten Rauch, die nackten Körper schwarz vom Pulver und glänzend vor Schweiß, während sie sich bemühten, ihren Offizieren zu gehorchen.

Doch die Salven fielen unregelmäßiger und weniger gut gezielt, und der Abstand zwischen den einzelnen Schüssen wurde länger. Im Vergleich dazu schien der Feind schneller und genauer zu schießen; die Netze über Bolithos Kanonieren schwankten wild unter abgerissenem Tauwerk und zerfetzter Leinwand. Und auch mehr als ein Dutzend Körper waren über die Netze verstreut. Manche schlaff und kraftlos, andere zuckend und aufschreiend wie gefangene Vögel, während sie ungehört und unbeachtet starben.

Hauptmann Dawson winkte mit seinem Degen und schrie zu seinen Leuten in den Masten hinauf. Die Marinesoldaten feuerten so schnell wie bisher, und hier und dort stürzte ein Mann aus der Takelage des Feindes, als Beweis für ihre Treffsicherheit. Wenn einer der britischen Marinesoldaten tot oder verwundet ausfiel, trat ein anderer an seine Stelle, und Munro, der riesige Sergeant, gab brüllend den Takt beim Laden und Zielen an, fuchtelte dazu mit seinem Säbel, wie Bolitho es beim täglichen Drill an ihm gesehen hatte, seit sie aus Plymouth ausgelaufen waren.

Der französische Kommandant schien nicht bereit zu sein, diese neuerliche Herausforderung anzunehmen; er steuerte sein Schiff mit herumschwingenden Rahen wieder fort, bis er den Wind genau von achtern hatte.

Hicks hatte seine andere Karronade abgefeuert, doch wieder war es ein kläglicher Schuß. Er traf die Bordwand des Feindes, die Kugel barst unter den Stückpforten des Hauptdecks und hinterließ ein gezacktes Loch in Form eines riesigen Sterns.

Bolitho blickte zu seinen eigenen Leuten hinunter und biß sich auf die Lippe, bis sie beinahe blutete. Der Mut begann sie zu verlassen. Sie hatten sich besser gehalten und besser gekämpft, als er zu hoffen gewagt hatte, aber es konnte nicht mehr lange so weitergehen.

Ein Chor lauter Stimmen veranlaßte ihn, aufzublicken; starr vor Entsetzen, sah er die Großbramstenge mit Rah und Segel schwanken und sich dann wie trunken nach Backbord neigen, ehe sie, Segel und Männer wegfegend, auf Deck stürzte.

Über dem Lärm hörte er Tomlins laute Stimme, sah Äxte in der Sonne blinken und beobachtete wie im Traum einen nackten Matrosen, der, nur einen Streifen Leinwand um die Hüften, irren Blicks auf die Großwanten zuraste und wie ein Affe in die Webeleinen auf enterte. Pelham-Martins Stander flatterte hinter ihm her, als er auf den Mast hinaufkletterte, um den gefallenen Wimpel zu ersetzen.

Der Kommodore murmelte mit belegter Stimme:»Mein Gott, o du barmherziger Gott.»

Schwerfällig glitt die zersplitterte Spiere über die Gangway und stürzte neben der Bordwand hinab. Ein toter Toppgast hatte sich in den Resten des Riggs verfangen, den Mund in einem letzten Fluch oder Protestschrei noch weit geöffnet.

Midshipman Gascoigne band sich einen Fetzen ums Handgelenk. Sein Gesicht war blaß, aber entschlossen, während er beobachtete, wie ihm das Blut über die Finger rann. Mitten zwischen Qualm und Tod, Blutlachen und winselnden Verwundeten schien nur PelhamMartin unverletzt und unberührt zu sein. In seinem schweren Mantel wirkte er mehr wie ein Felsbrocken als wie ein menschliches Wesen, und sein Gesicht war eine Maske, die wenig über den Mann selbst verriet.

Vielleicht war er über Angst oder Resignation schon hinaus, dachte Bolitho dumpf. Unfähig, sich zu rühren, stand er nur da und wartete auf das Ende seiner Hoffnungen, die Vernichtung seiner selbst und aller um ihn herum.

Bolitho erstarrte, als aus dem Achterdecksniedergang eine Gestalt auftauchte und über einen ausgestreckten Marinesoldaten wegstieg. Es war Midshipman Pascoe mit bis zum Gürtel offenstehendem Hemd. Das Haar klebte ihm in der Stirn, und er sah sich um, wohl benommen von den blutigen Opfern und dem Durcheinander. Dann hob er entschlossen das Kinn und kam zur Achterdecksleiter.

Inch sah ihn und schrie ihm entgegen:»Was gibt's?»

Pascoe antwortete:»Mr. Beauclerks Respekt, Sir, und er läßt Ihnen mitteilen, daß Mr. Lang verwundet worden ist.»

Beauclerk war der Fünfte und jüngste Offizier. Es wäre zuviel von ihm verlangt gewesen, die dreißig Vierundzwanzigpfünder zu kommandieren.

Bolitho befahl laut:»Mr. Roth! Sie übernehmen unten das Kommando!»

Als der Leutnant zum Niedergang lief, winkte Bolitho den Mids-hipman heran.»Alles in Ordnung, Junge?»

Pascoe sah ihn mit leerem Blick an und strich sich das Haar aus den Augen.»Aye, Sir. «Er schauderte, als ob ihm plötzlich eiskalt wäre.»Ich glaube, ja.»

Eine Musketenkugel, die ihre Kraft verbraucht hatte, fiel vor seinen Füßen aufs Deck, und er wäre gestürzt, wenn Bolitho nicht zugegriffen hätte.

«Bleib hier, Junge. «Bolitho hielt seinen Arm, spürte seine Magerkeit und die klamme Kälte der Angst.

Pascoe sah sich um, seine Augen leuchteten sehr hell.»Ist es fast vorüber, Sir?»

Oben riß wieder ein Fall, und ein schwerer Block fiel klappernd auf den Verschluß eines Geschützes. Ein Seemann schrie im dichten Rauch auf, fluchte und stammelte sinnlose Wörter, bis das Geschütz feuerte und er sich wieder in seine Umgebung einfügte.

Bolitho zog den Jungen zu den Netzen.»Noch nicht, mein Sohn, noch nicht. «Grinsend zeigte er die Zähne, um seine Verzweiflung zu verbergen. In wenigen Augenblicken würden sie den beiden Schiffen wieder auf kurze Entfernung gegenüberstehen. Gleichgültig, welchen Schaden sie ihnen zufügen konnten, das Ende war unausweichlich.

«Captain, Sir!«Inch kam durch den Qualm auf ihn zu.»Der

Feind dreht ab!«Er deutete aufgeregt hinüber.»Sehen Sie doch, Sir, sie setzen beide mehr Segel!»

Bolitho kletterte in die Besanwanten, seine Glieder waren schwer wie Blei. Aber es stimmte: Beide Schiffe drehten ab und nahmen bei dem achterlichen Wind schnell Fahrt auf. Der Rauch wirbelte hinter ihnen hoch wie aus dem Wasser aufsteigender Dunst.

In einem Streifen Sonnenlicht sah er, daß auch die französische Fregatte mit rundgebraßten Rahen ablief. Ihre durchlöcherten und geschwärzten Segel zeugten vom Einsatz der Abdiel.

Er packte ein Glas und richtete es über das Achterdeck auf die Abdiel, die zögernd durch den Rauchvorhang stieß. Ihre Masten waren alle unversehrt, aber ihr Rumpf war an mehreren Stellen beschädigt.

Bolitho schwenkte mit dem Glas von der kleinen Fregatte ab, und als er über eine geschwungene, grüne Halbinsel hinausblickte, glaubte er einen Augenblick, er habe den Verstand verloren.

Dort kam ein weiteres Schiff um die Landzunge. Seine Segel schimmerten weiß in der Morgensonne, seine hohe Bordwand warf die tanzenden Reflexe der Wellen zurück, als es majestätisch durch den Wind ging und Kurs auf die Hyperion nahm.

Pelham-Martins Stimme zitterte.»Wer ist das?»

Die Kanoniere der Hyperion verließen bereits ihre heißgeschossenen Geschütze, standen auf den Gangways und starrten zu dem stattlichen Neuankömmling hinüber. Als dann die Besatzung der Abdiel zu jubeln begann, stimmten die Matrosen der Hyperion so laut ein, daß sogar die Schreie der Verwundeten übertönt wurden.

Bolitho beobachtete das Schiff. Er konnte die lange, dreifarbige Flagge an ihrer Gaffel auswehen sehen, die schmucken, vergoldeten Schnitzereien an der Hütte. Er sagte sich, daß die Hyperion zwar alt war, daß dies aber das älteste Schiff war, das ihm je vor Augen gekommen war.

Langsam antwortete er:»Das ist ein Holländer. «Er setzte das Glas ab und fügte hinzu:»Was befehlen Sie, Sir?»

Pelham-Martin beobachtete das holländische Schiff, als es noch einmal über Stag ging und dann gemächlich in Lee hinter der Hyperion vorbeisegelte.

«Befehlen?«Er schien sich zusammenzureißen.»In den Hafen einlaufen!»

«Signal an Abdiel, Mr. Gascoigne: In die Bucht einlaufen und unverzüglich ankern«, befahl Bolitho. Er ging auf die andere Seite des Achterdecks. Der Jubel hallte ihm in die Ohren, aber sein Kopf war noch benommen von der Nähe des Todes.

Inch sah Midshipman Pascoe an und schüttelte den Kopf.»Merken Sie sich diesen Morgen gut. Was Sie auch später tun oder erreichen werden, einem Mann wie ihm werden Sie nie wieder begegnen. «Dann trat er an die Reling, um die übriggebliebenen Toppsgasten zusammenzurufen.

Bolitho hörte Inchs Worte nicht, er sah auch nicht den Ausdruck in den Augen des Jungen. Er beobachtete das fremde, veraltete Linienschiff, das wieder über Stag ging, um sie in die Bucht zu geleiten. Wenn es nicht gekommen wäre… Er hielt inne und blickte auf seine Uhr. Einen Augenblick glaubte er, sie wäre stehengeblieben, doch nach einem weiteren Blick aufs Zifferblatt schob er sie wieder in die Tasche. Eine Stunde, länger hatte es nicht gedauert. Doch ihm kam es vor, als wären Sie zehnmal so lang im Gefecht gewesen. Er zwang sich, zum Hauptdeck hinunterzublicken, wo der Arzt mit seinen blutbefleckten Helfern die noch nicht betreuten Verwundeten einsammelte. Wie lange mußte es erst seinen Leuten vorgekommen sein?

Mit einem Seufzer schob er seinen erschöpften Körper von der Reling fort und wandte sich der Hütte zu. Er bemerkte den Jungen, der ihn beobachtete, in den Augen tiefe Verwunderung.

«Wie Sie sehen, Mr. Pascoe, kann man des Ausgangs nie sicher sein. «Lächelnd ging er nach achtern, um mit dem Kommodore zu sprechen.

Als er an den Neunpfündern in Luv vorbeikam, traten die Kanoniere grinsend zurück und winkten ihm. Er spürte das starre Lächeln auf seinen Lippen und lauschte auf die eigene Stimme, die ihren erregten Ausrufen antwortete, wie jemand, der neben sich selbst steht; ein Zuschauer.

Doch als er die Hütte erreicht hatte und sein Schiff in seiner ganzen Länge überblickte, spürte er noch etwas. Es mochte vom Kampf zernarbt und blutig sein, aber es war unbesiegt. Trotz aller Beschädigungen und Verstümmelungen, trotz des schrecklichen Lärms und der nervenzerfetzenden Einschläge, war ihm etwas Gutes geschehen.

Es war nicht mehr nur ein Schiff mit zusammengewürfelter Mannschaft. Zum Guten oder Bösen war es eins mit den Menschen geworden, die auf ihm dienten. Als hätte die kurze wilde Schlacht alle zu einer Einheit zusammengeschweißt, die ein einziges Ziel verfolgten: zu überleben.

Er sah den Arzt auf sich zukommen und stählte sich für das, was vor ihm lag. Menschen waren im Sonnenlicht dieses Morgens gestorben. Wie viele, das wußte er noch nicht.

Als er zu den zerfetzten Segeln und gesplitterten Spieren aufblickte, empfand er diesen unbekannten Toten gegenüber eine seltsame Dankbarkeit. Seine Aufgabe würde es sein, dafür zu sorgen, daß ihr Opfer nicht vergeblich gebracht worden war.

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