Bolitho wandte den sich nähernden Schiffen den Rücken zu und beobachtete die Spartan. Mit der kleinen Korvette im Kielwasser segelte sie — im starken Seegang heftig stampfend — etwa eine Meile in Luv vorbei. Er bekam Farquhars elegante Figur kurz ins Blickfeld seines Fernglases. Der wandte ihm das Gesicht zu, sah ihn aber gewiß nicht.
«Setzen Sie Signal für Spartan und Dasher.«Er bemerkte, daß
Carlyons Hände zitterten, als er Bleistift und Notizblock aufnahm.»Greifen Sie die feindliche Nachhut an!»
Die Geschwindigkeit, mit der Farquhar >verstanden< zeigte, und die geschäftige Tätigkeit an Deck und auf den Rahen der Spartan, die unmittelbar darauf einsetzte, sagten ihm, welche Erleichterung dieses Signal ausgelöst haben mußte. Zum Unterschied von den Linienschiffen brauchte Farquhar im Gefecht also nicht darauf zu warten, daß Salve auf Salve auf ihn abgefeuert wurde. Als sich die Segel der Spartan mit Wind füllten und weitere Leinwand an den Bramrahen gelöst wurde, wußte Bolitho, daß Farquhar sein Bestes geben würde. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre es glatter Irrsinn gewesen, ein solch leichtes Schiff kopfüber in den Kampf zu schik-ken. Aber wie Farquhar schon hervorgehoben hatte, besaß der Feind keine Fregatten mehr. So konnte ein Scheinangriff in den Rücken der Franzosen zu einer zumindest momentanen Zersplitterung beitragen.
Inch flüsterte:»Auch die Dasher, Sir?»
Bolitho warf ihm einen kurzen Blick zu.»Heute kann es keine unbeteiligten Zuschauer geben.»
Sie hörten Geschützfeuer und sahen, wie aus der obersten Batterie der Tornade orangefarbene Zungen schlugen. Aber die Spartan war schon aus der Gefahrenzone und auch an der Hyperion vorbei. Ihre Flagge wehte steif von der Gaffel des Besans aus, als sie we i-tere Segel setzte und dem jenseitigen Ende der französischen Linie zustrebte. Einige Kanonenkugeln schlugen noch hinter ihr ein und warfen hohe Wassersäulen auf, aber sie bot ein schwieriges Ziel, und ihr plötzlicher Vorstoß war augenscheinlich unerwartet gekommen.
Flaggen stiegen an der Rah der Tornade empor, und kurz darauf begannen die beiden letzten Zweidecker, sich von der Linie abzusetzen. Ihre Marssegel killten, als sie langsam und schwerfällig wendeten, um sich der anstürmenden Fregatte entgegenzustellen.
Bolitho mußte kurz lächeln. Das Schatzschiff war Lequiller also wichtiger als alles andere. Ohne dieses Schiff mit seiner Ladung an Männern und Reichtümern war ein Sieg ohne jeden Nutzen für ihn und sein Land.
Auch einige der anderen Schiffe feuerten nun, und die Abschüsse mischten sich miteinander und machten es den Geschützführern unmöglich, ihre eigenen Aufschläge zu beobachten und die beiden gischtübersprühten Briten flügellahm zu schießen, bevor sie an ihnen vorbei waren.
Bolitho hielt den Atem an, als die Korvette plötzlich heftig schaukelte und ihr niedriger Rumpf völlig von hochaufsteigendem Wasser eingehüllt wurde. Aber sie segelte weiter, obwohl ihre Groß- und Großmarssegel vielfach durchlöchert waren. Ein einziger Volltreffer hätte ihre dünnen Planken zu Brennholz zerschlagen können.
Ihr Kommandant brauchte daher auch keine Aufforderung, mehr Segel zu setzen. Er wußte, daß sein Heil in der Geschwindigkeit lag.
Bolitho wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem führenden französischen Schiff zu. Sie lagen jetzt fast Bug gegen Bug, der Dreidecker weniger als eine halbe Kabellänge entfernt und etwas an Steuerbord.
Inch murmelte:»Wir gewinnen die Luvposition, scheint mir.»
«Und der Wind ist immer noch frisch, Mr. Inch. «Bolitho blickte hoch, als eine Kanone vom stattlichen Vorschiff der Tornade auf sie feuerte und die Kugel das Besanmarssegel direkt über ihnen durchschlug.»Der Pulverqualm unserer Breitseiten wird ein noch besserer Schutz sein als unsere größere Beweglichkeit.»
Er drückte die Handfläche auf die kühle Klinge.»Batteriedeck — Achtung!«Er sah die Männer an den Kanonen niederkauern, sah ihre Züge sich straffen, als sie durch die Stückpforten schauten. Ihre Hände griffen nach Ansetzern und Vorholtaljen, als wollten sie sie nie wieder loslassen.
Er hörte, wie sein Befehl zum unteren Batteriedeck weitergegeben wurde, und versuchte, nicht daran zu denken, daß dort bald die Hölle los sein würde und sein Neffe mitten darin.
Die Rahen des Dreideckers drehten sich ganz langsam: das Schiff fiel etwas ab. Lequillers Kommandant beabsichtigte offenbar, parallel an der englischen Linie zu passieren und beim Beschuß keine einzige Kugel zu vergeuden.
Bolitho beobachtete den näherkommenden Giganten, dessen drei Geschützreihen, die unterste aus mächtigen Zweiunddreißig-pfündern bestehend, matt schimmerten.
Langsam hob er die Linke und spürte, wie Gossett hinter ihm gespannt auf das Zeichen wartete. Er zwang sich selber zu warten, bis die Rahen der Tornade wieder zur Ruhe gekommen waren, und brüllte dann:»Hart Steuerbord!«Er hörte die Speichen des Steuerrades knarren und sah, wie der Bugspriet sich langsam zu drehen begann, bis er direkt auf die Galionsfigur des Feindes zeigte.»Stütz'!«Er schlug auf die Reling, aber seine Stimme war beherrscht, als er befahl:»Und nun, Mr. Gossett, bringen Sie sie zurück auf den alten Kurs!«Die Steueranlage begann wieder zu quietschen, und auf dem Hauptdeck eilten Matrosen an die Brassen, während die Rahen oben wegen des Hin und Hers knarrend protestierten. Bolitho eilte an die Netze und schaute zum französischen Flaggschiff hinüber. Es drehte ab. Sein Kommandant war offenbar durch das plötzliche Manöver, das einen jähen Zusammenstoß heraufzubeschwören schien, irritiert. Bolitho brüllte:»Breitseite!»
Stepkyne senkte den Degen, und seine Stimme überschlug sich fast, als er:»Feuer!«rief.
Alle Kanonen schossen und wurden mit großer Gewalt nach innen geschleudert. Der Lärm der Detonationen schien wie ein Geschoß in Bolithos Gehirn einzuschlagen. Er beobachtete, wie der dichte Qualm davonwogte, und hörte seine Breitseite drüben einschlagen.
Plötzlich stieg der Qualm, wie von einem anderen Luftzug emporgeweht, nach oben und leuchtete dabei rot und orangefarben auf: Die Kanoniere der Tornade hatten sich besonnen und schossen zurück.
Bolitho taumelte und mußte sich an der Reling festhalten, um nicht zu fallen, als eine Kugel durch das Schanzkleid schlug und voll einen Neunpfünder auf der anderen Seite traf. Er hörte Stöhnen und Geschrei, doch schon schlug die nächste Salve des Franzosen ein und schüttelte die Hyperion von Bug bis Heck kräftig durch.
Über dem wallendem Qualm sah er in den Masten des Franzosen die Musketen unsichtbarer Scharfschützen aufblitzen. Er zählte die Sekunden, bis die zweite Breitseite der Hyperion das Deck unter seinen Füßen erschütterte, als seien sie aufgelaufen.
Er brüllte:»Lebhaft, Mr. Roth!«Seine übrigen Worte gingen in dem Lärm unter, den die eigenen Neunpfünder auf dem Achterdeck machten, als sie mit ihrem ohrenbetäubenden Gebell in das allgemeine Getöse einfielen und beim Abschuß binnenbords rollten, bis sie von ihren Brocktauen abgebremst wurden.
Musketenkugeln schlugen ins Deck, und Bolitho sah einen Seesoldaten wie betrunken hin- und herschwanken, bis er — die Hände auf den Leib gepreßt — gegen die Querreling taumelte und kopfüber in das Schutznetz darunter fiel.
Aber die Stengen der Tornade peilten schon achterlicher als dwars,[10] und als die untere Batterie der Hyperion ihre nächste Salve feuerte, sah er, daß die Kugeln in das hohe Achterschiff des Drei-deckers einschlugen und Holzsplitter und gebrochene Wanten in verrückten Figuren hochschleuderten.
Und da kam schon der nächste, ein Zweidecker, mit einem römischen Krieger als Galionsfigur. Sein Buggeschütz feuerte blind in den Pulverqualm hinein, während er sich bemühte, seinen Platz hinter dem Flaggschiff einzuhalten.
Bolitho formte ein Sprachrohr mit den Händen.»Geschützweise feuern, Mr. Stepkyne!«Er sah, wie der Leutnant von Stück zu Stück rannte und den Geschützführern den Befehl in die Ohren schrie.
Achteraus war verstärkter Kanonendonner zu hören, was Bolitho verriet, daß nun die Hermes mit dem Flaggschiff ins Gefecht gekommen war. Als er aber über die Netze nach achtern schaute, sah er nur Mastspitzen, alles andere darunter war in dichten Rauch gehüllt.
«Feuern!»
Geschütz um Geschütz der oberen Batterie feuerte auf das zweite Schiff der französischen Linie. Fluchende und einander anspornende Männer machten sich nach jedem Schuß daran, die Rohre auszuwischen, die nächste Ladung einzurammen und dann die Kanonen an ihren Taljen wieder in Feuerstellung zu zerren. Ihre nackten Oberkörper waren vom Pulverqualm geschwärzt und schweißüberströmt.
Bolitho fühlte, wie das Schiff unter ihm bebte, und zuckte zusammen, als weitere Kugeln in die Bordwand einschlugen, wobei sie gefährliche Holzsplitter losrissen; oder sie fegten durch die offenen Stückpforten in die dahinterstehenden Geschützbedienungen. Er sah, wie eine ganze Kanone umkippte und einen zuckenden und schreienden Mann unter sich begrub. Aber seine Schreie gingen in dem Donnergetöse der nächsten Breitseite unter, und Bolitho vergaß ihn, als er im Umdrehen sah, wie der Fockmast des Zweideckers in den Pulverqualm stürzte.
Er packte Inch am Arm, daß dieser zusammenzuckte, als hätte ihn eine Musketenkugel getroffen.»Die Karronaden!«Er brauchte nichts hinzuzusetzen, denn Inch winkte schon mit seinem Sprachrohr den auf dem Vorschiff kauernden Leuten zu. Die SteuerbordKarronade röhrte heiser auf, und ihr Pulverqualm trieb aufs Hauptdeck hinunter; aber dann sah Bolitho, wie das mit Kartätschenkugeln gefüllte Geschoß genau vor der Hütte des Franzosen detonierte. Als der Wind das Blickfeld freigab, waren Steuerrad und Rudergänger verschwunden. Das ganze Achterdeck sah aus wie unter einem Erdrutsch begraben.
Offenbar völlig außer Kontrolle geraten, drehte das Schiff nach Lee und zeigte der Hyperion sein hohes Achterschiff, das wie eine verzierte Felswand aus dem Qualm emporragte, mit der schlaff herabhängenden Trikolore darüber.
Die zweite Karronade rollte auf ihrem Schlitten zurück, und Bo-litho hörte jemanden jubeln, als das Geschoß gerade über dem Namensschild Cato einschlug und innerhalb des Achterschiffs detonierte. Er konnte sich vorstellen, welch fürchterliche Zerstörungen die Ladung anrichtete, als sie längsschiffs durch den Franzosen und seine dichtgedrängten Geschützbedienungen fegte. Zumindest trug sie zum allgemeinen Durcheinander, das man schon an Oberdeck bemerkt hatte, bei. Doch noch schossen einzelne Scharfschützen von den Masten des Franzosen auf die Bedienungen der Karronaden auf der Back.
Undeutlich sah Bolitho, wie ein Seesoldat vom Vorschiff aus Zeichen machte und aufs Wasser wies, und als er auf die Luvseite hinüberging, sah er etwas Dunkles, mit Seetang Bedecktes, wie ein Seeungeheuer an der Bordwand vorbeitreiben.
Inch rief heiser:»Allmächtiger Gott! Die Dasher!»
Bolitho drängte sich an ihm vorbei, als die Marsstengen und angebraßten Rahen des dritten Schiffes über dem Qualm sichtbar wurden. Die Korvette mußte eine volle Breitseite abbekommen haben oder zu nahe an das spanische Schatzschiff herangeraten sein. Ihr noch übers Wasser ragender Kiel, ein paar daneben aufsteigende Luftblasen und allerlei Treibgut — das war alles, was von ihr übriggeblieben war.
Er trieb seine Leute wieder an und biß die Zähne zusammen.
Jemand schrie:»Schiff voraus in Luv!»
Als der Qualm querab trieb, sah er de n anderen Zweidecker mit nahezu backgebraßten Segeln an der Backbordseite auf sich zutreiben. Es war eines der beiden Schiffe, die zum Schutz der San Leandro abgeteilt worden waren. Als seine Geschütze feuerrote Zungen aus den Pforten bleckten, wußte er, daß die Hyperion nun nach beiden Seiten gleichzeitig fechten mußte.
Die Salve schlug über seinem Kopf ein und riß Tauwerk und Blöcke ab, die auf die Netze fielen. Ein Mann stürzte von der Be-sanstenge und schlug hart auf das Bodenstück eines Neunpfünders auf. Bolitho hörte, daß seine Rippen wie ein Weidenkorb, auf den man mit den Füßen trat, zerbrachen. Sein Gesicht war schmerz verzerrt, als die Matrosen ihn aus dem Bereich der Kanone wegzogen.
«Backbordbatterie — Achtung!«Seine Stimme war heiser, und die Kehle brannte vom ätzenden Pulverqualm wie rohes Fleisch.»Zeigt es ihnen, Jungs!«Er gab den Geschützführern das Zeichen mit geschwungenem Säbel und sah mehr als einen mit blitzenden Zähnen im rußbedeckten Gesicht zu sich herauflachen.
«Feuern!»
Die Backbordbatterie donnerte ihre erste Salve, und die doppelte Ladung krachte mit gewaltigem Getöse in Bug und Seite des neu Hinzugekommenen. Bolitho beobachtete nüchtern, wie der Fockmast und die Großmarsstenge des Feindes einknickten und dann langsam, wie zu einer höfischen Verbeugung, in den dick wallenden Qualm hinabsanken. Er schrie:»Mr. Stepkyne! Alle überzähligen Leute auf die Backbord-Laufbrücke!«Er sah, daß Stepkyne verwirrt und hutlos zu ihm aufschaute.»Wir müssen ein Enterkommando zurückschlagen!«Er gestikulierte dazu mit seinem Säbel, während das französische Schiff sich langsam von Backbord an ihr Vorschiff heranschob.
Auf der Steuerbordseite stand das dritte Schiff der französischen Linie jetzt querab von ihnen, hielt sich aber weiter entfernt als seine Vorderleute. Es war plötzlich aus dem Pulverqualm aufgetaucht, und als man gerade die Galionsfigur und den beigefangenen Anker erkennen konnte, feuerte es auch schon eine volle Breitseite, wobei der Mündungsdruck der doppelten Reihe von Geschützen den Qualm mit der Gewalt einer Sturmbö auseinanderriß.
Bolitho würgte und spuckte, und das Deck unter ihm bäumte sich auf und schwankte heftig. Männer schrien und jammerten um ihn herum, und er sah mit Entsetzen, daß Hauptmann Dawson auf den zersplitterten Decksplanken lag und Blut aus seinem Mund strömte.
Nach einer Pause, in der er beinahe taub gewesen war, hörte er, daß die Seesoldaten auf dem Achterdeck mit ihren Kameraden oben in den Masten um die Wette schossen, durchluden und wieder schossen, und sich gegenseitig auf die Scharfschützen in den Masten des Gegners aufmerksam machten.
Inch schrie:»Die Bastarde wollen uns entern!»
Bolitho hielt sich an der Querreling fest, als das Schiff sich plötzlich unter dem Anprall des Zweideckers gegen die Back schräg legte.
Die Geschütze der Backbordbatterie feuerten ohne Unterbrechung, und ihre Kugeln fanden auf diese nahe Entfernung von wenigen Metern alle ihr Ziel im gegnerischen Schiffsrumpf; aber über den Bug hinweg sah er blankes Eisen aufblitzen und hier und da das Mündungsfeuer einer Pistole, als das feindliche Enterkommando mit seinen eigenen Leuten ins Handgemenge geriet.
«Seesoldaten nach vorn!«Er wurde fast umgerissen, als die Rotröcke an ihm vorbeistürzten. Ihre Bajonette blitzten im Mündungsfeuer der von der anderen Seite schießenden Franzosen kurz auf.
Inch brüllte:»Vorsicht! Der Besan kommt runter!»
Bolitho sah hoch und stieß Inch gegen die Netze, als die Besan-stenge, Bram- und Marsrah eingeschlossen, knirschend herabstürzte und auf die Backbordseite des Aufbaudecks knallte. Blut floß über das Deck, während einige Leute noch in dem Gewirr von Holzteilen und Tauwerk gefangen waren und ihre Schreie sich in dem Gekrache der Kanonen verloren.
Tomlin und seine Männer waren zur Stelle und kappten grimmig und entschlossen mit ihren Äxten das außenbords hängende Gewirr von Trümmern und Tauen, ohne Rücksicht auf das jämmerliche Bitten und Schreien derer, die darin verstrickt waren. Als der Rest ins Wasser sank, zeigte Tomlin mit der Axt klar, während seine Männer noch die zerschmetterten Körper der Toten über Bord warfen und andere die Verwundeten zum Niedergang zogen, um sie in die Hölle des Gefechtsverbandsplatzes im Orlopdeck zu bringen.
Bolitho starrte mit brennenden Augen nach oben. Es sah so nackt und ungeschützt dort aus, ohne den Mast mit seinen Rahen und Stengen. Dann schüttelte er sich und rannte zur Backbord-Laufbrücke, um nach dem Schiff zu sehen, das noch immer in den Vorsteven der Hyperion verhakt war.
Die Rotröcke waren dort jetzt im Vormarsch, und in dem aufgewühlten Wasser zwischen den beiden Schiffsrümpfen schwammen viele Körper, ob tote oder lebende, war unmöglich zu sagen. Klingen wurden hinter und über den Netzen gekreuzt, und hier und da sprang ein Mann tretend und um sich schlagend von oben in das Handgemenge oder wurde von den nachdrängenden ins Wasser gestoßen.
Doch Stepkyne hielt dem Enterkommando stand, obwohl der französische Kommandant seine Kanonen von Männern entblößt haben mußte, um den Feind mit zahlenmäßiger Übermacht zu erdrücken. Jetzt mußte er dafür büßen. Denn als die schweren Vier-undzwanzigpfünder der Hyperion Kugel auf Kugel in seine Wasserlinie feuerten, blieben die französischen Kanonen stumm. Aber das Musketenfeuer war stark und genau, und Bolitho sah, daß um mehr als eines seiner Oberdecksgeschütze zahlreiche Tote lagen.
Er zog Roth am Ärmel.»Erledigen Sie diese Scharfschützen, um Himmels willen!»
Roth nickte, eilte auf der Backbord-Laufbrücke nach vorn, um den Leuten an der Drehbasse im Großtopp etwas zuzurufen. Er hatte erst wenige Schritte gemacht, als ihn eine Kartätschenladung voll in die Brust traf. Sein Körper wurde wie ein blutiger Lappen hochgeschleudert und fiel auf die Schutznetze, wo er mit klaffender Wunde liegenblieb.
Bolitho rief:»Mr. Gascoigne! Entern Sie auf!«Er beobachtete, wie der junge Leutnant an den Hängemattsnetzen entlang- und dann in den Wanten aufenterte. Das ist doch noch ein Knabe, dachte er halb benommen.
Inch fuhr mit der Hand zum Kopf und grinste albern, als er bemerkte, daß es zu spät war und sein Hut über die Reling geweht wurde.
Auch Bolitho lächelte.»Bleiben Sie nicht stehen, Mr. Inch! Sie geben sonst ein leichtes Ziel ab.»
«Verdammt!«Fluchend stürmte Allday nach vorn und schwang sein Entermesser, als eine Handvoll französischer Matrosen, an ihrer Spitze ein junger Leutnant, der in der einen Hand einen Säbel schwang, in der anderen eine Pistole hielt, gegen das Achterdeck vordrang.
Der scharfe Knall der Drehbasse im Großtopp ließ einige Leute straucheln, aber durch die Lücken, die von den Kartätschenkugeln gerissen waren, drängten andere nach. Der Leutnant schwang seinen Degen und stürmte auf die Hütte zu. Als er Bolitho bemerkte, hielt er an und richtete seine Pistole mit erstaunlich ruhiger Hand auf ihn.
Allday stürmte gegen ihn vor, verhielt aber, als Tomlin mit einem kräftigen Fluch seine Axt auf den Franzosen schleuderte. Die scharfe Klinge traf den Leutnant in die Brust. Als er nach hinten gegen seine Männer fiel, verdrehten sich seine Augen, während die Leute entsetzt auf die Axt starrten, die feststak wie in einem Baumstamm. Sie wollten kehrtmachen und zu ihren Kameraden zurücklaufen, stießen dabei aber auf entfesselte Seesoldaten, die nach ihrem Erfolg auf dem Vorschiff triumphierend nach achtern zurückkamen.
Bolitho riß sich vom Anblick der blitzenden Bajonette und des Blutes los, daß sich von der Laufbrücke wie roter Regen auf die Geschützbedienungen darunter ergoß.
«Eine neue Flagge, Mr. Carlyon!«Er drohte dem Jungen mit dem Finger, als der nach achtern rannte. »Gehen, Mr. Carlyon!«Er sah, daß der Midshipman ihn mit kalkweißem Gesicht fragend ansah.»Wie es sich für einen Offizier des Königs gehört«, fügte er besänftigend hinzu.
Erneutes Geschrei kam von vorn, und Bolitho sah, daß dort mehrere Äxte blitzten und der französische Zweidecker sich langsam von ihnen löste und an der Bordwand der Hyperion entlang nach achtern sackte. Sein Rumpf war Meter für Meter von den Kugeln der unteren Batterie durchlöchert.
Er ging zur Laufbrücke, schwang seinen Säbel und rief den Geschützbedienungen auf dem Hauptdeck zu:»Los, Jungs! Gebt ihm den Rest!»
Die Matrosen kehrten an ihre Kanonen zurück, zogen die Leichen und die stöhnenden Verwundeten zur Seite und warfen sich erneut in die Vorholtaljen.
Bolitho wartete ruhig, bis ein Geschützführer nach dem anderen die Hand hob und klarzeigte. Mehr als die Hälfte der Batterie war außer Gefecht gesetzt, durch Beschädigung oder weil ihre Bedienung ausgefallen war. So mußten die restlichen Stücke besonders sorgfältig zielen. Das schwer getroffene Schiff sackte weiter achteraus, während die Hyperion von ihren durchlöcherten Segeln langsam, aber unaufhaltsam auf den noch übriggebliebenen Zweidecker, einen der beiden, die zum Schutz der San Leandro entsandt worden waren, zutrieb. Auf seinem Achterdeck sah er Tote und Verwundete in Haufen liegen, Bordwand und Aufbauten waren vielfach durchlöchert, und an die reich geschnitzte Treppe zur Hütte klammerte sich ein Offizier, dessen eines Bein wie bei einer Puppe verdreht war. Es war wohl der Kommandant des Schiffes, dachte Bolitho geistesabwesend. Dann senkte er den Degen:»Feuern!»
Zufällig feuerten beide Decks im selben Augenblick. Als der Pulverqualm durch die Stückpforten nach innen trieb und die Männer hustend und fluchend nach Wassereimern und Schwämmen griffen, sah Bolitho, wie Groß- und Fockmast des Feindes gemeinsam herunterkamen und in die See fielen.
Inch rief:»Zwei zumindest schwer beschädigt, Sir! Und auch der andere Schurke wird den nächsten Tag nicht mehr erleben, wenn erst Seegang aufkommt!»
Bolitho wischte mit dem Ärmel über die brennenden Augen und beobachtete, wie der Umriß des letzten Schiffes im Qualm festere Formen annahm und es quer vor den Bug der Hyperion trieb, dabei aber aus mehreren Kanonen feuerte. Er schimpfte wutentbrannt. Kein einziges seiner Geschütze konnte den Franzosen jetzt erfassen, und wenn dessen Breitseiten auch schlecht gezielt waren, so konnten sie doch tödlich werden. Er fuhr herum, als eine schwere Kugel durch das Schanzkleid brach und bei den Männern an den Backbord-Neunpfündern einschlug.
Die halbnackten, geduckten Gestalten mit ihren Zöpfen und den entschlossenen Gesichtern hatten auf Bolitho noch kurz zuvor wie Statuen oder wie aus einem großen Schlachtengemälde herausgeschnitten gewirkt. Jetzt mußte er mit Brechreiz kämpfen, als er an derselben Stelle nur noch ein blutiges Gewirr von abgerissenen Gliedern, Fleischfetzen und weißlich hervorstehenden Knochen sah.
Trudgeons Leute waren fleißig bei der Arbeit, die schreienden Verwundeten herauszuziehen und mit Flüchen zum Schweigen zu bringen. Er sah, wie Carlyon sich über ein Speigatt erbrach.
Allday sagte trocken:»Das war ein mieser Schuß, Käpt'n.»
Und in dem Augenblick feuerte das französische Schiff ein zweites Mal. Sein Kommandant hatte nicht die Absicht, mit einem Gegner handgemein zu werden, der schon zwei seiner Gefährten zusammengeschossen hatte, ohne selber — von dem einen Mast abgesehen — sichtbaren Schaden zu nehmen. Er wollte vor dem Winde ablaufen, vorher schnell noch diese eine Breitseite in das Vorschiff des englischen Vierundsiebzigers donnern und dann verschwinden.
Die Luft schien plötzlich erfüllt von kreischendem Metall und umhersausenden Holzsplittern. Männer wurden — wie von einem wilden Raubtier — hochgeworfen und zerrissen. Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete Bolitho, daß der Fockmast erzitterte wie ein junger Baum unter dem ersten Beilhieb, und dann zunächst gemächlich, dann mit gewaltigem Aufschlag auf das voll besetzte Vorschiff niederstürzte. Die Hyperion gierte stark, als der Wind in die verbliebene Leinwand faßte. Er hörte die schrillen Schreie der Leute, die unter dem schweren Gewicht der Rahen und des stehenden und laufenden Gutes begraben lagen. Matrosen und Soldaten, die Sekunden zuvor noch mit den Karronaden auf den Feind gezielt hatten, lagen zerquetscht unter den Trümmern oder waren über die Reling ins Wasser gefegt worden.
Tomlin und seine Männer kletterten in das Gewirr, aber ihre Zahl war geringer als bisher, und ihre Bewegungen wirkten langsamer.
Inch rief plötzlich:»Hier kommt die Hermes!»
Bolitho schlitterte durch Blutlachen auf die Steuerbordseite, wo er sich hochzog, um über die Hängemattsnetze hinwegschauen zu können. Die Hermes hatte ebenfalls den Besanmast verloren, aber ihre Kanonen feuerten noch fast vollzählig auf den französischen Zweidecker, und die Kugeln schlugen akkurat längs der Wasserlinie des Feindes ein.
Weiter achteraus war der Qualm so dick, daß man nicht erkennen konnte, wer Freund oder Feind war, aber man hörte unaufhörlich
Kanonendonner. Also war auch Herrick noch da. Und noch im Kampf.
Inch zog Bolitho am Rock, und als er aufs Deck zurücksprang, sah er ihn aufgeregt gestikulieren.
«Sir, die Tornade hat gewendet! Sie überholt die Hermes und hält auf uns zu!»
Bolitho beobachtete, daß der Qualm erst dicker zu werden schien, dann plötzlich aufbrach und den vorgestreckten Klüverbaum und danach die Galionsfigur des gewaltigen Hundert-KanonenFlaggschiffs freigab. Trotz der dramatischen Situation empfand Bolitho kalte Bewunderung für die seemännische Leistung des französischen Kommandanten, der — fast im Winde liegend — seine überlegene Artillerie einsetzte und eine volle Breitseite in das ungeschützte Heck der Hermes feuerte.
Selbst auf die Entfernung von zwei Kabellängen konnte Bolitho hören, wie die todbringende Salve von achtern bis vorn durch das Schiff fegte und die Decks in ein Schlachthaus verwandelte.
Die großen Zweiunddreißig-Pfund-Kugeln mußten den Großmast an seinem Fuß getroffen haben, denn er fiel, mit allen Stengen und Rahen und den Männern, die sich vergeblich zu retten versuchten. Sein Wimpel zeigte dabei immer noch die Windrichtung an.
Wie von einem großen Blasebalg hochgepreßt, stieg schwarzer Rauch über dem Hauptdeck der Hermes auf, und als die Männer an den Kanonen der Hyperion erschreckt hinüberstarrten, wurde die Luft von einer ohrenbetäubenden Explosion erschüttert. Die Torna-de aber hatte sich schon wieder etwas abgesetzt und kam nun von Backbord achtern bei der Hyperion auf.
Die Explosion — wahrscheinlich war es das Pulvermagazin — hatte die Hermes fast in zwei Teile zerrissen, in deren Mitte gewaltige Flammen zum Himmel hochschlugen und den Fockmast mit seinen restlichen Segeln verschlangen wie ein obszöner Drache eine Lanze.
Noch eine Explosion, und dann noch eine, erschütterten das unselige Schiff, das sich — nur wenige Minuten nach dem Einschlagen der Breitseite — auf die Seite legte. Bolitho sah, wie das Wasser in seine offenen Stückpforten strömte, während die wenigen Überlebenden kopflos auf dem immer steiler werdenden Deck herumrannten, einige brennend als lebende Fackeln. Die Pforten ihrer oberen
Batterie glühten noch wie feurige Augen, bis auch hier das Wasser hineinströmte und die Brände löschte. Hinter einer Wand von brodelndem Dampf verschwand die Hermes schließlich unter der mit Trümmern bedeckten Wasseroberfläche.
Einer der Rudergänger hatte sich vom Steuerrad entfernt, um zuzuschauen. Er fiel auf die Knie, bekreuzigte sich und wimmerte:»Jesus! O süßer Herr Jesus!«Gossett, eine Hand in einer blutigen Binde, zog ihn hoch und schnauzte ihn an:»Dies ist kein schwimmendes Bethaus! Zurück auf Ihre Station, oder ich nehme Sie aus wie einen verdammten Hering!»
Bolitho wandte sich ab und befahl:»Klarieren Sie das Zeug am Vorsteven!«Er sah, daß Inch noch gebannt auf das sterbende Schiff blickte.»Gehen Sie selber nach vorn, und kümmern Sie sich darum, der Franzose hat uns sonst gleich am Wickel.»
Er wandte sich nach achtern, um die Tornade zu beobachten, die offenbar ihren neuen Kurs auf die Hyperion aufgenommen hatte. Immerhin waren auch ihre Vorsegel schon stark durchlöchert. Aber diesmal hatte sie die Luvposition, und sicher hegte sie die Absicht, den schon schwer beschädigten Gegner zu überholen und im Vorbeilaufen zur Übergabe zu zwingen. Bolitho beobachtete ihr bedrohliches Näherkommen fast gelassen. Es war nun bald vorüber. Sie hatten Lequillers Geschwader so großen Schaden zugefügt, daß er seinen Plan unmöglich noch in vollem Umfang verwirklichen konnte. Von weither hörte er die scharfen Detonationen der Geschütze der Spartan und vermutete, daß Farquhar mit der San Leandro Katz und Maus spielte. Sie hatten eine gute Vorstellung gegeben. Er schaute auf sein Schiff hinunter, und der Anblick zerriß ihm fast das Herz. Überall lagen Tote und Verwundete, und die verbliebenen Leute hatten alle Hände voll zu tun, die Trümmer wegzuräumen und das am Vorsteven außenbords hängende Tauwerk und Tuch wegzuschlagen. An den Kanonen befand sich kaum noch eine Seele. Dann schaute er zum Großtopp hinauf, von dem jetzt eine neue Flagge wehte. Lequiller sah sie sicher auch und erinnerte sich vielleicht daran, daß dies dasselbe Schiff war, das in der Gironde-Mündung vor Anker gelegen hatte und — allein gegen eine große Übermacht — seinen Ausbruch in die offene See verhindern wollte. Nun trafen sie sich also wieder. Zu einem letzten Ringen.
Langsam ging er, das Kinn auf die Brust gesenkt, über die zersplitterten Decksplanken. Diesmal war die Hyperion hier, um Le-quillers Rückkehr an Land zu verhindern. Er blickte erstaunt auf, denn es war ihm, als hätte jemand seine Gedanken laut ausgesprochen.
Er rief mit heiserer Stimme:»Macht schnell, Mr. Inch!«Dann fragte er Gossett:»Wird sie wieder auf das Ruder reagieren?»
Der Master rieb sich das Kinn.»Mag sein, Sir.»
Bolitho sah ihn streng an:»Kein: >mag sein<, Mr. Gossett. Ich möchte Steuerwirkung haben, nichts anderes.»
Gossett nickte. Sein grobes Gesicht war durch die Anstrengungen und Sorgen gezeichnet.
Bolitho eilte zum Niedergang und auf das Hauptdeck hinunter. Am Luk zum unteren Batteriedeck rief er:»Mr. Beauclerk!«Er war überrascht, als das verschmutzte Gesicht eines Midshipman unter ihm erschien.
«Mr. Beauclerk ist tot, Sir. «Er zitterte, aber mit fester Stimme setzte er hinzu:»Mr. Pascoe und ich haben hier das Kommando.»
Bolitho schaute zum Großtopp hinauf und suchte nach Gas-coigne. Aber es war jetzt keine Zeit mehr. Er versuchte, klaren Kopf zu behalten. Nicht auszudenken: zwei Knaben kommandierten eine Hölle wie die da unten.
Ruhig sagte er:»Schön, Mr. Penrose. Schicken Sie alle Bedienungen Ihrer Steuerbordbatterie nach oben an die Backbordgeschütze. «Er sah den Midshipman einen Augenblick prüfend an und setzte dann hinzu:»Dann laden Sie Ihre Backbordgeschütze mit Doppelkugeln. «Er wartete etwas.»Glauben Sie, daß Sie das schaffen?»
«Aye, aye, Sir!»
Inch kam hinzu.»Es dauert noch eine Viertelstunde, Sir.»
«Verstehe. «Bolitho blickte über die zerfetzten Hängemattsnetze und sah Backbord achteraus die Fockbramstenge des Franzosen sich langsam, aber unaufhaltsam zur letzten Begegnung nähern.
«Wir haben nicht mehr viel Zeit, Mr. Inch. «Seltsam, wie ruhig er schien.»Holen Sie alle verfügbaren Leute nach achtern. Aber sie sollen hinter dem Schanzkleid verborgen bleiben. Schicken Sie fünfzig von ihnen in die Kajüte und den Rest in die Offiziersmesse.»
Inchs Blick war auf den Vortopp des Feindes mit der dort auswehenden Vizeadmiralsflagge gerichtet.
Bolitho fuhr im gleichen ausdruckslosen Ton fort:»Ich werde sie entern. «Er sah, wie Inch ihn anstarrte.»Es ist unsere einzige Chance. «Dann schlug er ihm auf die Schulter und lächelte.»Etwas mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf!»
Er machte kehrt und eilte zurück auf das trümmerübersäte Achterdeck. Allday stand neben den Kanonen und ließ sein Entermesser am Handgelenk baumeln.
Eine Kugel sauste mit kreischendem Ton über sie hinweg, fuhr durch das Großmarssegel und fegte einen Seemann von seinem Sitz auf der Rah. Er fiel hinunter auf das Schutznetz und blieb mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter liegen.
Bolitho befahl kurz:»Achtung, Mr. Gossett!«Er sah sich nicht um, als die eingeteilten Matrosen und Soldaten an ihm vorbei in das Dunkel der Hütte und andere in die Offiziersmesse darunter eilten.
Gossett konnte ihren von achtern kommenden Feind wegen des Hüttenaufbaus nicht sehen, aber er beobachtete gespannt Bolithos Gesicht.
Inch hielt sich an der Leiter und sagte:»Da kommt sie!»
Der Klüverbaum der Tornade passierte schon die Heckfenster, und als sie sich nun Meter um Meter vorschob, sah Bolitho die Männer in ihren Masten, die mit gezieltem Musketenfeuer die Offiziere der Hyperion ausschalten sollten. Die eigene Drehbasse im Großtopp bellte wieder auf, und er hörte Gascoigne jubeln, als ihre Kartätschenladung den hölzernen Schutzschild um den feindlichen Stand auf der Vormarssaling zerriß und die Scharfschützen dahinter wie Vögel vom Ast blies.
Die drei vordersten Kanonen an der Steuerbordseite der Tornade spieen Flammenzungen, und Bolitho spürte die Kugeln in sein Schiff schlagen. Eine um die andere krachte in das alte Holz oder fuhr durch die Stückpforten und trug Tod und Verderben in die untere Batterie. Bolitho knirschte mit den Zähnen und spürte die Wunden des Schiffes, als seien sie ihm selber zugefügt.
Gossett sagte leise:»Viel kann sie nicht mehr einstecken, Sir.»
Bolitho erwiderte rauh:»Sie muß!«Er zuckte zusammen, als eine Kugel durch eine Gruppe von Männern fuhr, die einen Verwundeten zum Hauptluk schleppten. Arme und Beine flogen durch die
Luft, und er sah einen alten Seemann, der auf das De ck glotzte, wo seine Hände inmitten einer sich ausbreitenden Blutlache lagen — wie ein Paar weggeworfene Handschuhe.
Er wurde von dem Anblick weggerissen, als die Tornade abermals feuerte und der gewaltige Donner ihrer Breitseite fast noch von dem Getöse übertroffen wurde, als das Eisen in die Bordwand und Decks der Hyperion schlug.
Bolitho sagte:»Jetzt, Mr. Gossett! Hart Steuerbord!«Er sah, wie einer der Rudergänger gerade in diesem Augenblick zu Boden fiel, und warf sich selber mit seinem ganzen Körpergewicht in das Steuerrad. Ruckweise gaben die Speichen unter seinen Händen nach, Beweis dafür, daß das Schiff versuchte, sich gegen den Feind, der es zerstören wollte, zu kehren. Er schrie:»Dreht weiter, Jungs!»
Er sah das französische Schiff nun fast genau querab und keine dreißig Fuß entfernt. Seine Kanonen feuerten, wurden ausgewischt, neu geladen und erneut ausgerannt, um — kaum daß der Qualm der letzten Salve fortgeweht war — erneut zu feuern. Die untere Batterie der Hyperion erwiderte das Feuer, aber die sporadischen Salven verloren sich in dem tiefen Gebrüll der feindlichen Kanonen.
Männer winkten von der Schanz der Tornade mit ihren Waffen und schrieen etwas herüber, andere machten die Scharfschützen im hinteren Mast auf ihn aufmerksam.
Inch murmelte gequält:»O Gott, es hat mich erwischt…«Er brach ab und faßte nach seiner Schulter. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
Bolitho lehnte ihn gegen das Steuerrad.»Wo sind Sie getroffen?«Er riß ihm den Rock auf und sah frisches Blut an seiner Brust hinunterlaufen.
Bolitho schrie:»Mr. Carlyon!«Als der Junge herbeistürzte, befahl er kurz:»Kümmern Sie sich um den Ersten Offizier!«Zu Inch gewandt sagte er:»Ruhen Sie sich aus, Inch.»
Dann riß er sich los und rief:»Ruder bleibt in Hartlage!«Fast taub vom Kampfgeschrei und dem mit schrecklichem Krachen zersplitternden Holz ringsum, lief er nach achtern in die Kajüte, die voll kaum erkennbarer Gestalten und mit ihrer verbrannten Täfelung und den klaffenden Löchern in den Wänden nicht wiederzuerkennen war.
Mit ihrem guten Dutzend Lecks unterhalb der Wasserlinie bewegte die Hyperion sich nur schwerfällig, aber sie folgte dem Ruder noch. Langsam, ganz langsam drehte der Bug von ihrem Angreifer weg, während das Heck im Schwung der Drehung näher an das des Dreideckers herankam.
Bolitho trat das nächstgelegene Fenster ein und faßte seinen Säbel fester. Seine Augen blickten wild und plötzlich wütend. Dann sah er seinen Bruder und Pascoe mit den anderen, und fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen.
Er hörte sich selber rufen:»Jetzt, Jungs! Auf sie und dazwi-schengeschlagen!»
Er fiel fast ins Wasser, als die beiden Schiffe knarrend zusammenstießen, aber nach kurzer Besinnung sprang er auf das reich verzierte Heckgeländer des Franzosen hinüber und hielt sich mit aller Kraft fest, während die anderen sich — wie die Verrückten brüllend — neben und über ihm hinüberschwangen. Unter seinen Beinen sah er Stepkyne mit seiner Gruppe aus den Fenstern der Offiziersmesse hinüberklettern. Ein Mann rutschte aus und fiel ganz langsam ins Wasser zwischen den miteinander verhakten Achterschiffen.
Vorne donnerten weiter die Kanonen und schrien Verwundete auf, während Bolitho mit gezogenem Säbel durch ein Heckfenster in die verlassene Kajüte stürmte. Weiter nach vorn! Ein Bootsmannsmaat trat eine Tür ein und wurde — bevor er zur Seite springen konnte — von einer Pistolenkugel getroffen. Der Fähnrich, der die Pistole abgefeuert hatte, schrie auf, als ein Entermesser ihn fällte. Und dann waren sie draußen auf dem riesigen Achterdeck der Tornade. Überraschte Gesichter und blinkender Stahl schienen Bolitho aufzuhalten, doch als weitere Leute seiner Gruppe aus der Hütte drängten und mit den Franzosen handgemein wurden, vergaß er alles andere außer dem Wunsch, zum vorderen Teil des Achterdecks vorzudringen. Denn dort sah er, inmitten einer Gruppe von Offizieren und umgeben von mehreren bewaffneten Matrosen, einen goldbestickten Hut: Admiral Lequiller.
Als der Qualm einen Augenblick beiseitegeweht wurde, sah er sein eigenes Schiff, das jetzt in ganzer Länge längsseit lag und mit Enterhaken, die wohl von beiden Seiten geworfen worden waren, festgehalten wurde. Die Hyperion wirkte klein und fremd, und als er sich abwandte, um den Schlag eines Entermessers zu parieren, sah er, wie ihr Großmast stürzte und über die Seite ging. Jetzt war sie ganz nackt und bloß wie eine in der Werft mit Schlagseite vergammelnde Hulk.[11]
Er hatte den Mast nicht einmal fallen hören, denn seine Ohren waren taub von den Schreien und Flüchen und dem Klirren von Stahl auf Stahl, aber er sah die Gesichter und Blicke und die wilde Entschlossenheit, die seine Männer wie Wahnsinn gepackt hatte.
Doch es war alles vergeblich. Schritt um Schritt wurden sie gegen die Hütte zurückgedrängt, als weitere Leute von den Kanonen zur Unterstützung herbeirannten und andere vom Besanmast mitten in sie hineinschossen, ohne Rücksicht darauf, ob sie Freund oder Feind trafen.
Eine Gestalt schoß unter seinem erhobenen Arm hindurch: Pas-coe. Als er ihn aufhalten wollte, schlug ihm ein französischer Leutnant den Säbel aus der Hand und anschließend mit dem Griff so heftig gegen den Kopf, daß er auf die Knie ging. Wogende Körper, Stich- und Hiebwaffen im Kampf um ihn herum, und dann Pascoe, der ihm wieder auf die Beine helfen wollte; im selben Augenblick sah er einen französischen Unteroffizier, der ganz ruhig und deutlich vom Himmel abgehoben dastand und mit einer Pistole auf die Schultern des Jungen zielte.
Eine andere Gestalt warf sich dazwischen und wurde einen Augenblick vom Mündungsfeuer der Pistole hell beleuchtet. Als der Körper zu Bolithos Füßen niedersank, sah er, daß es sein Bruder war.
Nach Atem ringend, fischte er seinen Säbel unter den stampfenden Füßen heraus und rammte ihn im Hochkommen dem Unteroffizier ins Gesicht, so daß es vom Mund bis zum Ohr in ein klaffendes, blutrotes Loch verwandelt wurde. Als der Mann gurgelnd zurückfiel, hieb er den französischen Leutnant nieder und stieß den fallenden Körper mit dem Fuß zur Seite.
Er keuchte:»Sehen Sie nach ihm, Pascoe. Bringen Sie ihn nach achtern!»
Allday kämpfte neben ihm, sein schweres Entermesser sauste mit erbarmungsloser Präzision nach vorn und hinten, nach oben und unten. Männer schrien und starben, aber auf dem Achterdeck drängten sich nun so viele zusammen, daß es unmöglich war, die
Übersicht zu behalten. Pardon wurde nicht verlangt und nicht gegeben. Bolitho drängte noch einmal zum vorderen Teil des Decks, als er merkte, daß seine Leute wieder Boden gewannen. Er stach mit seinem Degen nach einem verzerrten Gesicht und anschließend zwischen die Schultern eines Offiziers, der gerade versuchte, sich zwischen seinen Leuten nach rückwärts durchzudrängen.
Längst hatte er seinen Hut verloren, und sein Körper kam ihm wie zerbrochen vor, als ob er hundertmal getroffen wäre. Aber mitten im Getümmel sah er nur seinen Bruder vor sich. Seine letzte heroische Geste, als er sich zum Schutz vor seinen Sohn — und vielleicht auch vor ihn — geworfen hatte.
Ein Mann in Kapitänsuniform, mit einer tiefen Wunde auf der Stirn, schrie ihm über die Köpfe der kämpfenden Leute etwas zu. Bolitho starrte ihn an und versuchte zu verstehen, was er rief.
Der französische Kapitän schrie:»Ergebt euch! Ihr seid geschlagen!«Dann sank er zu Boden, weil ein Seesoldat ihm das Bajonett in die Rippen gestoßen hatte.
«Geschlagen?«Bolitho schimpfte.»Streicht eure Flagge!«Er sah einen seiner Leute zur Flaggleine rennen und sie durchhauen, aber im gleichen Augenblick fällte ihn eine Musketenkugel. Langsam senkte sich die Trikolore als Leichentuch auf ihn herab.
Stepkyne arbeitete sich an die Seite von Allday vor. Sein Krummsäbel kreuzte sich mit einem französischen Degen. Er hob einen Arm und schrie auf, als ein Mann, der sich unbemerkt herangemacht hatte, ihm einen Dolch in den Magen stieß. Der Mann lief weiter, offenbar selber benommen und ohne bestimmtes Ziel. Einer von Bolithos Matrosen sah ihn vorbeiflitzen und schlug ihm das Entermesser in den Nacken. Sein Gesicht blieb dabei so ausdruckslos wie das eines Wildhüters beim Töten eines Kaninchens.
Bolitho taumelte gegen die Reling, der Schweiß rann ihm in die Augen, so daß er nichts mehr sehen konnte. Er war am Ende, es mußte das Ende sein, denn über dem Klirren aufeinandertreffenden Eisens und den schrecklichen Schreien glaubte er, Triumphrufe der Franzosen zu hören.
Allday schrie ihm ins Gesicht:»Kapitän Herrick, Sir!»
Bolitho sah ihn an. Allday hatte ihn noch nie, soweit er sich erinnerte, mir >Sir< angeredet.
Er schleppte sich an den immer noch kämpfenden und ineinander verbissenen Gestalten vorbei und blickte über sein Schiff hinweg auf die angebraßten Rahen und leicht getönten Segel eines anderen Schiffes, das gerade bei der Hyperion längsseit ging. Als dann Enterhaken in das zersplitterte Schanzkleid griffen, sah er Seeleute und Soldaten über die Hyperion wie über eine Brücke hinwegrennen, freudig begrüßt von den Verwundeten und den wenigen Leuten, die an den Kanonen ihres entmasteten Schiffs zurückgeblieben waren.
Kanonen wurden nicht mehr abgefeuert, und als weitere Männer sich ihren Weg durch Trümmer, Enternetze und Verteidiger bahnten, sah Bolitho die französische Admiralsflagge niedersinken und hörte die heiseren Rufe von Herricks Offizieren, mit denen sie die Franzosen aufforderten, sich zu ergeben und die Waffen niederzulegen.
Herrick selber kam nach achtern, den Degen in der Hand. Bolitho sah ihn stumm an. Das Kämpfen hatte aufgehört, und als der Wind die Segel ein wenig zur Seite wehte, sah er die Spartan nahe vorbeisegeln. Ihre Männer brachten ihm ein Hoch aus, trotz Tod und Zerstörung ringsum.
Herrick ergriff seine Hand.»Zwei weitere Schiffe haben sich ergeben. Und auch die San Leandro ist unser!»
Bolitho nickte.»Und der Rest?»
«Zwei sind nach Norden geflüchtet. «Er drückte ihm begeistert die Hand.»Mein Gott, was für ein Sieg!»
Bolitho befreite seine Hand und wandte sich zur Hütte. Er sah Pascoe neben Hugh knien; mit Herrick an seiner Seite bahnte er sich einen Weg durch die erschöpften und dennoch ausgelassen jubelnden Matrosen zu ihm. Bolitho kniete nieder, aber es war schon vorüber. Hughs Gesicht schien jünger, die tiefen Falten waren daraus verschwunden. Er drückte seinem Bruder die Augen zu und sagte:»Ein tapferer Mann. «Pascoe sah ihn an, und seine Augen schimmerten.»Er hat mir das Leben gerettet, Sir.»
«Das hat er. «Bolitho stand langsam auf und fühlte dabei, wie Schmerz und Erschöpfung ihn zu überwältigen drohten.»Ich hoffe, Sie werden sich immer seiner erinnern. «Er machte eine Pause.»So wie ich.»
Pascoe sah in forschend an, und ein paar Tränen rannen ihm dabei über die schmutzbedeckten Backen. Aber er sprach mit fester Stimme:»Ich werde ihn nie vergessen. Niemals!»
Allday meldete:»Man hat den französischen Admiral gefangen, Käpt'n.»
Bolitho drehte sich um; Jammer und Verzweiflung über die furchtbaren Verluste durchrannen ihn wie ein Feuerstrom. Erst die Jagd mit all ihren Enttäuschungen, und nun die vielen Toten. Aber Lequiller hatte überlebt!
Er musterte den kleinen Mann, der zwischen Leutnant Hicks und Tomlin stand. Er hielt sich krumm und trug einen Bart, ein dünnes Männchen, dessen beschmutzte Uniform ihm viel zu groß schien.
Bolitho mußte wegschauen, da es ihm unmöglich war, den Ausdruck ungläubigen Staunens auf Lequillers Gesicht zu ertragen. Er fühlte sich plötzlich beschämt. Im Kriege war es besser, wenn der Feind kein Gesicht hatte.
«Bringen Sie ihn unter Bewachung auf die Impulsive. «Er wandte sich zum Niedergang. Seine Leute jubelten ihm zu, Hände, manche davon blutbedeckt, streckten sich aus, um seine Schulter zu berühren, als er wortlos an ihnen vorbeiging.
Auf dem Achterdeck der Hyperion fand er Inch, der — einen Arm in der Schlinge und den zerschlitzten Rock wie ein Cape umgehängt — auf ihn wartete. Inchs Anblick trug mehr dazu bei, seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, als er für möglich gehalten hätte.
Leise sagte er:»Ich hatte Ihnen doch wohl befohlen, nach unten zu gehen?»
Inch zeigte seine Pferdezähne in einem mühsamen Grinsen.»Ich dachte, es würde Sie interessieren, Sir: der Kommodore war während der ganzen Schlacht ohne Besinnung. Aber jetzt ist er wieder hellwach und verlangt Brandy!»
Bolitho ergriff Inchs heile Hand, aber dessen Gesicht verschwamm vor seinen Augen.»Und er soll ihn haben, Mr. Inch!»
Er übersah Gossetts breites Grinsen und die ausgelassen herumspringenden Kanoniere. Das Schiff war ohne Masten und lag tief im Wasser. Er fühlte sein Leid fast wie eigenes.
Dann stülpte er seinen Hut über die rebellische Haarlocke und sagte mit fester Stimme:»Wir sind einen langen Weg zusammen gesegelt, Mr. Inch.»
Er schnallte seinen Säbel ab und gab ihn Allday.
«Wenn wir der Hyperion ein Behelfsrigg gegeben haben, können wir unsere Prisen nach Plymouth zurückbringen. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.»
Er fühlte Rührung in sich aufsteigen, fuhr aber im gleichen brüsken Ton fort.»Worauf warten wir also noch?»
Inch sah ihn müde an. Dann antwortete er:»Ich werde mich gleich darum kümmern, Sir!»