II Unter dem Kommodorestander

Richard Bolitho beendete die Eintragung ins Logbuch und lehnte sich müde in seinem Sessel zurück. Selbst in der geschützten Kajüte war die Luft kalt und feucht, und der Lederbezug seines Schreibtischstuhls fühlte sich klamm an. Das Schiff hob sich, hielt inne und taumelte dann in einer ungestümen, korkenzieherartigen Bewegung vorwärts, bei der selbst Nachdenken zu einer bewußten Willensanstrengung wurde. Er wußte aber, wenn er wieder auf das vom Wind überfegte Achterdeck zurückging, würde er für nicht mehr als nur wenige Minuten Frieden finden.

Er starrte durch die dicken Scheiben der Heckfenster. Sie waren aber so von Salz verkrustet und mit herabrinnendem Sprühwasser bedeckt, daß man nur gerade noch den Tag von der Nacht unterscheiden konnte. Es war kurz vor der Mittagsstunde, aber es konnte jede andere Tageszeit sein. Der Himmel war entweder schwarz und zeigte keine Sterne oder war schiefergrau wie jetzt. Und so war es Tag für Tag gewesen, während die Hyperion weiter und weiter nach Südosten segelte und tiefer in die Biskaya vorstieß.

Er war auf die Beschwerlichkeiten und die Langeweile des Blok-kadedienstes durchaus vorbereitet, und als am zweiten Tag nach dem Auslaufen von Plymouth der Ausguck im Mast die Schiffe des Geschwaders gesichtet hatte, war er bereits entschlossen, aus allem das Beste zu machen. Aber wie er nach fast fünfundzwanzig Dienstjahren auf See hätte wissen müssen: bei der Marine konnte man sich auf nichts mit Sicherheit verlassen.

Seine Befehle besagten, daß er sich dem Kommando von Vizeadmiral Sir Manley Cavendish unterstellen und seinen Platz mit all den anderen wettererprobten Schiffen bei der ständigen Bewachung einnehmen sollte, die über das Geschick von England und damit der gesamten Welt entscheiden konnte. Vor jedem französischen Hafen überstanden diese Schiffe Stürme oder kreuzten unermüdlich in ihrer kein Ende nehmenden Patrouille auf und ab, während dichter unter der Küste und manchmal sogar in Reichweite feindlicher Batterien schlanke Fregatten, die Augen der Flotte, jede Schiffsbewegung meldeten. Sie sammelten Informationen von aufgebrachten Küstenfahrzeugen oder segelten bei ihrer unaufhörlichen Suche nach Nachrichten verwegen fast in die französischen Häfen selbst hinein.

Seit Howes Sieg an jenem glorreichen l. Juni hatten die Franzosen wenig Neigung zu einem weiteren großen Zusammenstoß gezeigt, aber wie jeder andere denkende Offizier hatte Bolitho erkannt, daß diese bedrückende Tatenlosigkeit nicht ewig dauern konnte. Nur der Kanal trennte den Feind von einer Invasion Englands, doch bis die Franzosen eine starke Invasionsflotte aufgestellt hatten, war dieser Wasserstreifen so gut wie ein Ozean.

In den großen Kriegshäfen Brest und Lorient konnten sich die französischen Linienschiffe nicht regen, ohne von den kreuzenden Fregatten beobachtet und gemeldet zu werden, während in jedem anderen Hafen an der Westküste bis hinunter nach Bordeaux andere Schiffe warteten und auf eine Chance lauerten, sich davonzuschleichen und sich schnell den anderen Streitkräften im Norden anzuschließen. Bald würde es soweit sein, daß sie einen Ausbruch versuchten. Wenn das geschah, war es lebenswichtig, daß die Nachrichten über die Bewegungen des Feindes schnell die schweren Geschwader erreichten und, wichtiger noch, richtig gedeutet wurden, damit Maßnahmen ergriffen wurden, sie zu stellen und zu vernichten.

Schweigend hatte Bolitho in Lee des Flaggschiffes verharrt und beobachtet, wie die Flaggen zur Rah des mächtigen Dreideckers aufstiegen und Midshipman Gascoigne mit seinen Signalgasten sich verzweifelt abmühte, mit den Bestätigungen nachzukommen. Bei dieser Gelegenheit hatte er den ersten Hinweis darauf erhalten, daß nicht alles so war wie erwartet.

Gascoigne hatte geschrien:»Flaggschiff an Hyperion: Halten Sie sich bereit, Befehle und Depeschen zu übernehmen!»

Inch schien eine Frage stellen zu wollen, zog es aber dann vor, zu schweigen. Die beiden ersten Tage nach dem Auslaufen von Ply-mouth waren schwer für ihn gewesen. Innerhalb weniger Stunden, nach dem sie nach Süden abgedreht hatten, war der Wind zu annähernd Sturmstärke angewachsen. Unter gerefften Marssegeln und bei einer wilden, achterlich anlaufenden See, die das Schiff schwanken und wie betrunken von einem Wellental ins nächste taumeln ließ, war Inch einem Chaos von Fragen und Forderungen von allen Seiten ausgesetzt gewesen. Viele der neuen Leute waren seekrank und fast hilflos, und die meisten anderen waren ständig bei der Arbeit, Tauwerk zu spleißen, das wie alles neue Tauwerk die erste wirkliche Belastungsprobe nur schlecht bestand, und die übrigen wurden ständig hin und her geführt oder getrieben, entweder zum Trimmen der Segel oder zu der knochenbrechenden Arbeit an den Lenzpumpen.

Mehr als einmal hatte es Bolithos ganze Selbstbeherrschung erfordert, nicht in Inchs Tätigkeit einzugreifen, aber es war ihm auch nur zu klar bewußt, daß die Schuld allein bei ihm selbst zu suchen war. Für diese Arbeit war Inch noch zu unerfahren, das war jetzt ganz unverkennbar, doch wenn Bolitho jetzt sein Mißfallen zeigte, mochte es Inch völlig fertigmachen. Nicht, daß Bolitho auch nur ein Wort zu sagen brauchte. Inchs unglückliches Gesicht verriet, daß er sich seiner Unzulänglichkeit selbst nur zu bewußt war.

Das nächste Signal vom Flaggschiff war kurz gewesen:»Halten Sie sich bereit, den Flaggkapitän zu empfangen.»

Das Übliche war, daß Kommandanten sich persönlich meldeten, um neue Befehle zu empfangen, wenn sie zu einem Geschwader stießen, obwohl in Fällen von wirklich schlechtem Wetter es vorkam, daß der wasserdicht versiegelte Beutel an einer Wurfleine von Schiff zu Schiff befördert wurde. Doch diesmal schickte der Admi-ral seinen Kapitän. Das Boot, das den Kommandanten des Flaggschiffs über das kabbelige Wasser brachte, war beinahe vollgelaufen, als es schließlich an den Ketten festmachte. Der untersetzte Offizier in seinem durchnäßten Bootsmantel gönnte dem Empfangskommando und den salutierenden Marinesoldaten kaum einen Blick, als er Bolithos ausgestreckte Hand ergriff und grollend sagte:»Gehen wir um Gottes willen unter Deck.»

Sobald der Besuch die große Kajüte betreten hatte, kam er sofort zur Sache.

«Ich bringe Ihnen neue Befehle, Bolitho. Sie werden weiter nach Südost segeln und sich dem vor der Küste operierenden Geschwader von Kommodore Mathias Pelham-Martin anschließen. Der Admiral hat ihn mit seinen Schiffen vor einigen Wochen zum Dienst vor der Gironde-Mündung detachiert. In Ihren neuen Befehlen werden Sie eine vollständige Liste der Schiffe und ihrer Aufgaben finden.»

Er hatte schnell, beinahe beiläufig gesprochen, aber Bolitho fühlte sich instinktiv gewarnt. Pelham-Martin. Der Name war ihm zwar durchaus vertraut, dennoch vermochte er sich an keinen Marineoffizier zu erinnern, sei es ein Kommodore oder ein anderer Rang, der sich so sehr ausgezeichnet oder auch blamiert hatte, um diesen besonderen Besuch des Flaggkapitäns zu rechtfertigen.

Unvermittelt sagte der Besucher:»Ich täusche nicht gern jemanden, schon gar nicht einen Kameraden im gleichen Rang. Das Verhältnis zwischen dem Admiral und dem Kommodore ist sehr gespannt. Wie Sie feststellen werden, ist Pelham-Martin ein Mann, unter dem zu dienen in gewisser Weise schwierig ist.»

«Und wie ist es zu diesen Spannungen gekommen?»

«Das liegt wirklich alles schon sehr lange zurück. Während der Amerikanischen Revolution…»

Bolitho hatte es plötzlich alles klar vor Augen.»Jetzt erinnere ich mich. Ein britischer Infanterieoberst ergab sich mit all seinen Leuten den Amerikanern, und als einige unserer Schiffe mit Verstärkung eintrafen, liefen sie direkt in eine Falle.»

Der Flaggkapitän schnitt eine Grimasse.»Dieser Oberst war der Bruder von Pelham-Martin. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer der Offizier war, der die Schiffe befehligte, oder?»

In diesem Augenblick erschien ein Midshipman.»Signal vom Flaggschiff, Sir: Kommandant sofort zurück an Bord.»

Bolitho verstand in diesem Augenblick vollkommen, was dieser Besuch für ihn und sein Schiff bedeutete. Kein Admiral konnte gegenüber einem Kommandanten, der seinem Geschwader neu zugeteilt worden war, sein Mißtrauen laut werden lassen. Aber durch einen gleichrangigen Kameraden konnte er Unbehagen und Unsicherheit zu erkennen geben.

Der Flaggkapitän blieb unter der Kajütentür stehen. Sein Blick war forschend.

«Ich kenne Ihre Karriere, Bolitho, und Sir Manley Cavendish kennt sie auch. Als die Nachricht eintraf, daß Sie zu dem Geschwader stoßen würden, sagte er zu mir, daß Sie in den Abschnitt von Pelham-Martin im Südosten geschickt werden sollten. Die Rolle, die Sie im vergangenen Jahr bei der Invasion von St. Clar gespielt haben, ist in guter Erinnerung, wenn Sie dafür auch nur denkbar wenig Anerkennung gefunden haben. Das Geschwader des Kommodore ist klein, aber seine Leistungen und seine Wachsamkeit könnten sich als lebenswichtig erweisen. Ihre Einsicht und Ihre Anwesenheit könnten dazu beitragen, daß diese dumme Fehde ein Ende findet. «Er hob zweifelnd die Schultern.»Das bleibt selbstverständlich unter uns. Falls mir auch nur ein Wort zu Ohren kommen sollte, daß eine Andeutung von Mißtrauen oder Unfähigkeit erfolgt sei, werde ich das natürlich mit allem Nachdruck bestreiten. «Und dann verließ er nach einem weiteren kurzen Händedruck das Schiff.

Als Bolitho später an seinem von Papieren bedeckten Schreibtisch saß, fiel es ihm schwer zu glauben, daß durch diese persönlichen Spannungen die Leistungsfähigkeit der hart bedrängten Schiffe und ihrer erschöpften Besatzungen Gefahr lief, beeinträchtigt zu werden. Diese Begegnung mit dem Flaggschiff lag nun vier Tage zurück, und während die Hyperion weiter nach Südosten vordrang und ihre Besatzung halbherzig gegen Seekrankheit und schlechtes Wetter ankämpfte, hatte Bolitho seine Befehle sorgfältig studiert und bei seinen einsamen Gängen auf dem Achterdeck versucht, ihre wahre Bedeutung zu ergründen.

Offenbar standen drei Linienschiffe und drei Fregatten unter Pelham-Martins Kommando, sowie zwei kleine Schaluppen. Eins der Linienschiffe sollte zur Überholung und Reparatur nach England geschickt werden, sobald die Hyperion seinen Platz übernehmen konnte. Es war wirklich eine sehr kleine Streitmacht.

Doch wenn sie in der richtigen Position eingesetzt wurde, konnte sie sehr gut jede plötzlich erfolgende Bewegung feindlicher Fahrzeuge überwachen. Es war bekannt, daß mehrere große französische Schiffe Gibraltar unbemerkt passiert und bereits den Weg in die Biskaya gefunden hatten. Ebenso war bekannt, daß Spanien gegenwärtig zwar ein Verbündeter Englands war, es aber mehr dem Zwang der Notwendigkeit als echter Freundschaft oder Bereitschaft zur Kooperation folgte. Viele dieser Schiffe mußten dicht unter der Küste Spanien umsegelt und manche mochten sich sogar in spanischen Häfen verborgen haben, um dem Angriff durch britische Patrouillen zu entgehen. Um sich dem Gros der französischen Flotte anzuschließen, würden diese Schiffe wahrscheinlich versuchen, die Gironde oder La Rochelle zu erreichen, um dort ihre Befehle auf dem Landweg zu erhalten, und dann die erste Gelegenheit wahrnehmen, um dicht unter der Küste nach Lorient oder Brest zu gelangen.

An die Tür wurde geklopft, und Midshipman Gascoigne trat über die Schwelle.»Mr. Stepkynes Respekt, Sir, und wir haben gerade ostwärts ein Segel gesichtet.»

«Sehr gut. Ich komme sofort.»

Bolitho sah, wie die Tür sich wieder schloß, und rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie immer die Dinge auch liegen mochten, er würde jetzt nicht mehr lange auf eine Aufklärung zu warten haben.

Langsam stand er auf und griff nach seinem Hut. Er spürte das Amulett unter dem Hemd an seiner Brust, und plötzlich dachte er an Cheney. Er hatte ihr einen Brief geschrieben und ihn dem Flaggkapitän mitgegeben, zur Weiterleitung mit dem nächsten Schiff, das einen Heimathafen anlief. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, irgend etwas darin zu ändern, und sie würde glauben, daß er unverändert vor Lorient kreuzte. Aber zweihundert Meilen mehr oder weniger spielten auch keine Rolle, ging ihm flüchtig durch den Kopf.

Als er auf das Achterdeck hinaustrat, bemerkte er, daß die Offiziere in steifer Verlegenheit Haltung annahmen, und vermutete, daß sie vor seinem Erscheinen wahrscheinlich in eine heftige Diskussion über das ferne Schiff vertieft gewesen waren.

Bolitho blickte zu den straff geblähten Sege ln und der flatternden Zunge des Wimpels an der Mastspitze hinauf. Das Leinen war steif vor Nässe und Salz, und einen Augenblick empfand er Mitleid mit den Männern, die hoch oben über dem schwankenden Rumpf arbeiteten. Der Wind kam beinahe unmittelbar von achtern, und die See hatte sich zu einem zornigen Panorama kurzer steiler Wogen verändert, deren Schaumköpfe in dem grellen Licht wie gierig gebleckte Raubtierfänge wirkten. Der Horizont war kaum auszumachen, und obwohl sie sich nach seiner Schätzung etwa zwanzig Meilen vor der Küste befanden, war von ihr nichts zu sehen.

Von einem Midshipman nahm er ein Glas entgegen und stützte es gelassen auf das ausgespannte Netzwerk. Er wußte, daß die anderen ihn genau beobachteten, um seine Reaktionen zu erkennen und daraus vielleicht ihr eigenes Geschick zu erraten, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er die erste verschwommene Segelpyramide ins Blickfeld bekam. Er bewegte das Glas ein wenig und wartete, als die Hyperion in ein tiefes Wellental glitt und gleich darauf unbeeindruckt in eine weitere anrollende, schaumgekrönte Woge stieß. Dort war ein zweites Schiff und womöglich ein drittes.

Mit einem Schnappen schob er das Glas zusammen.»Legen Sie das Schiff auf Steuerbordbug und machen Sie sich zum Segelreffen bereit, Mr. Stepkyne.»

Stepkyne griff an seinen Hut.»Aye, aye, Sir. «Er sagte selten viel, es sei denn, er konnte einen ungeschickten oder unaufmerksamen Matrosen heruntermachen. Er schien nicht willens oder unfähig zu sein, ein vertrauliches oder beiläufiges Gespräch mit seinen Offizierskameraden zu führen, doch Bolitho wußte jetzt ebensowenig von ihm wie bei ihrer ersten Begegnung. Trotz allem war er ein sehr fähiger Seemann, und Bolitho war es nicht möglich gewesen, bei irgendeiner Arbeit, die er ausgeführt hatte, einen Mangel festzustellen.

Selbst jetzt, als er mit lauter Stimme Befehle austeilte und mit in die Hüften gestemmten Händen beobachtete, wie die Leute wieder einmal angetrieben wurden, die Brassen und Fallen zu bemannen.

Bolitho vertrieb Stepkynes kalte Tüchtigkeit und Inchs krampfhafte Bemühungen aus seinen Gedanken. Sobald das Wetter besser wurde, wenn auch nur für wenige Tage, würde Inch die Chance bekommen, die Leute zu drillen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Er sagte knapp:»Kurs Ost zu Süd, Mr. Gossett.»

Die Stimme des Ausgucks im Mast drang schwach über das Rauschen der Leinwand.»Drei Linienschiffe unter Vollzeug, Sir. «Es folgte eine Pause, während der jeder nicht Beschäftigte zu der winzigen Gestalt hinaufspähte, die sich vor den ziehenden Wolken abhob.»Das vorderste Schiff führt einen Kommodorestander, Sir.»

Ein Schuh scharrte auf dem Deck, und Bolitho sah Inch auf sich zueilen, dem ein paar Zwiebackkrümel auf dem Rock hingen.

Inch griff an seinen Hut.»Tut mir leid, daß ich so spät komme, Sir. «Er blickte sich besorgt nach allen Seiten um.»Ich muß einen Augenblick eingeschlafen sein.»

Bolitho betrachtete ihn ernst. Wegen Inch mußte er etwas unternehmen, dachte er. Er sah völlig übermüdet aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Ruhig sagte er:»Rufen Sie alle Mann an Deck, Mr. Inch. Wir werden gleich das Geschwader erreichen und müssen vielleicht wenden oder beidrehen. «Er lächelte.»Ein Kommodore ist nicht anders als ein Admiral, wenn es um seemännisches Können geht.»

Aber Inch nickte nur düster.»Aye, aye, Sir.»

Langsam, aber unaufhaltsam tauchten die Schiffe aus dem wogenden Dunkel auf, bis sie in einer Reihe sichtbar waren. Die Rümpfe glänzten vor Nässe, die gerefften Marssegel schimmerten wie Stahl in dem böigen Wind. Sie waren alle Vierundsiebziger wie die Hyperion, und in den Augen einer Landratte mochten sie sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Aber Bolitho wußte aus mühsam erworbener Erfahrung, daß selbst Schiffe, die nebeneinander auf derselben Werft von Stapel gelaufen waren, einander so unähnlich sein konnten wie Wasser und Wein, ganz wie es ihren jeweiligen Kommandanten in den Sinn kam.

Gossett, der den führenden Zweidecker prüfend betrachtete, sagte nachdenklich:»Das Schiff des Kommodore kenne ich, Sir. Es ist die Indomitable unter Kapitän Winstanley. Anno 1881 habe ich neben ihr gekämpft. «Er blickte Midshipman Gascoigne streng an.

«Sie hätten sie früher entdecken und melden müssen, junger Mann.»

Mit zusammengekniffenen Augen studierte Bolitho das führende Schiff, während sich unter dessen Signalrahe weitere Flaggen entfalteten; anscheinend nur Sekunden später setzte die ganze Formation zu einer Wende an, bis die Indomitable beinahe parallel, mit kaum zwei Kabellängen Abstand, neben der Hyperion herlief. Selbst ohne Glas waren die breiten Streifen von verkrustetem Salz und abgelagertem Schlick an Vorschiff und Bug zu erkennen, als sich das Schiff gewichtig in ein flaches Wellental senkte, wobei die unteren Geschützpforten einen Augenblick überspült wurden. Hinter sich hörte Bolitho Gossett vor sich hin murmeln:»Käpt'n Win-stanley hat die alte Dame gut im Griff, das muß man ihm lassen. «Aus seinem Mund war das ein Lob höchster Ordnung.

Diesmal war Gascoigne auf der Hut. Als weitere Signale zur Rah der Indomitable aufstiegen und sich im Wind entfalteten, schrie er gleich:»Flaggschiff an Hyperion: Kommandant ohne Verzug an Bord melden.»

Bolitho lächelte grimmig. Zweifellos wartete der Kommodore ungeduldig darauf, was sein alter Widersacher zu sagen hatte.

«Bewegung bitte! Mein Boot klarmachen!«Er starrte auf die brechenden Wogenkämme und konnte sich vorstellen, wie seine Bootsbesatzung den Kommodore wegen seines so schnell erteilten Befehls verfluchte.

Während die Matrosen sich an den Brassen abmühten, drehte die Hyperion langsam und widerstrebend, mit knatternden, wie Kanonenschüsse knallenden Segeln in den Wind. Tomlin trieb mit lauten Rufen die Leute an, die Bolithos Boot zu Wasser ließen. Eine Leine verfing sich dabei am Hals eines jungen Matrosen, der dadurch gegen einige Leute an den Brassen des Großbramsegels gerissen wurde. Einen Augenblick entstand ein wildes Durcheinander. Kreischend lief das gequollene Tau durch seinen Block. Die Männer stürzten taumelnd wie Marionetten übereinander, bis ein Bootsmannsmaat selbst zwischen die brüllenden und fluchenden Männer sprang und Ordnung schuf.

Stepkyne, der den Befehl auf dem Hauptdeck führte, packte den unglücklichen Matrosen und schrie ihn, das Gesicht nur wenige Zoll vom Gesicht des anderen entfernt, an:»Du elender Tölpel! Dir werd ich's noch beibringen!»

Der Matrose griff sich an die wundgescheuerte Kehle.»Aber, Sir, ich kann doch nichts dafür«, krächzte er, dem Weinen nahe.»Es war nicht meine Schuld, Sir!»

Stepkyne schien außer sich zu sein. Wenn der Bootsmannsmaat nicht eingegriffen hätte, hätte das Durcheinander zu einer Katastrophe führen können, besonders für die Männer, die oben auf der Rah arbeiteten. Bei dem Gewicht des Boots am einen Ende der Leine und dem Krafteinsatz mehrerer Bootsgasten am anderen, konnte der Mann von Glück sagen, daß ihm nicht der Kopf abgerissen worden war.

Inch packte die Achterdeckreling und brüllte gegen den Wind an:»Macht das Boot klar! Und diesen Mann können Sie zum Arzt hinunterschicken, Mr. Stepkyne!»

Der verletzte Matrose wollte zur Luke, aber Stepkyne trat ihm entgegen, während er mit funkelnden Augen zum Achterdeck hinaufstarrte.»Das hätte nicht passieren müssen. Wenn die Leute richtig gedrillt worden wären, hätte der Idiot die Gefahr rechtzeitig erkannt!»

Allday rief:»Boot ist längsseit, Captain!«Aber seine Blicke waren auf Inch und Stepkyne gerichtet.

Bolitho stieg schnell die Achterdecksleiter hinab und sagte kalt:»Sobald ich zurück bin, wünsche ich Sie in meiner Kabine zu sehen, Mr. Stepkyne. Wenn ein Befehl erteilt ist, haben Sie ihn zu befolgen, ohne Fragen zu stellen. Haben Sie verstanden?»

Er hatte seine Stimme gedämpft, wußte aber, daß der Schaden angerichtet war. Stepkyne hatte Unrecht gehabt, gegen Inch zu opponieren, und erst recht damit, dessen Handlungen zu kritisieren.

Bolitho wußte aber auch, daß Stepkynes Ärger gerechtfertigt war. Inch hätte jeden Mann erst überprüfen müssen, ehe er ihm seinen Platz zuteilte; ganz besonders die neuen und unerfahrenen Leute.

Mehr als jedem anderen gab er aber sich selbst die Schuld, weil er zuließ, daß Inch weiter sein Erster Offizier blieb.

Er berührte kurz seinen Hut und ließ sich durch die Schanzpforte hinab, und nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, sprang er in das stampfende Boot.

Als das Boot ablegte, blickte Bolitho nicht zurück. Das alles würde auf ihn warten, bis er zurückkam, inzwischen mußte er sich aber entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen sollte.

Kapitän Amelius Winstanley stand bereit, um Bolitho an der Schanzpforte der Indomitable zu empfangen, und noch ehe die schrillenden Pfeifen verstummt waren, trat er vor und ergriff dessen Hand, die er mit offenkundiger Erleichterung herzlich drückte.

«Ein Mann nach meinem Herzen, Bolitho!«Er grinste, während Bolitho sich bemühte, seinen verrutschten Hut und seinen Säbel geradezurücken.»Auch ich hab's nie fertiggebracht, mich mit dem Bootsmannsstuhl an Bord eines fremden Schiffes hieven zu lassen.»

Bolitho war wieder zu Atem gekommen und versuchte, die Rinnsale zu ignorieren, die ihm über Brust und Beine liefen. Die Überfahrt zum Flaggschiff war rauh gewesen, das letzte Stück allerdings am schlimmsten. Während die noch aufragende Bordwand der Indomitable sich über ihnen hob und senkte, stand er schwankend im Heck des Bootes und versuchte zähneknirschend, Ungeduld und Befürchtungen zu unterdrücken, während der Buggast verzweifelt immer wieder versuchte, das heftig stampfende Boot an den Hauptketten des Schiffs anzuhaken. Einmal, als der besorgte Allday die Hand ausstreckte, um ihn am Arm zu stützen, hatte er wütend geknurrt:»Ich werde allein fertig, verdammt noch mal!«Es war vielleicht der offenkundige Mangel an Vertrauen seines Bootsführers gewesen, weshalb er den weiten Abstand bis zur Bordwand mit einem Sprung hatte überwinden können, und den angebotenen Bootsmannsstuhl abgelehnt hatte. Das wäre viel sicherer gewesen, aber Bolitho war es immer unwürdig erschienen, wenn Kapitäne strampelnd an Bord gehievt wurden, wobei Matrosen so eifrig mit Sicherungsleinen hantierten, als ob sie ein Stück Frachtgut verluden. Doch diesmal war es sehr knapp gewesen. Sein Säbel hatte sich zwischen seinen Beinen verklemmt, und einen Augenblick, als das Boot unter ihm wegsank, hatte er das Wasser an der Bordwand aufwirbeln sehen, das ihn fortzuschwemmen drohte, und hatte Alldays Alarmruf gehört. Doch durchnäßt und wütend gelang es Bolitho, die sichere Schanzpforte zu erreichen, und als die Pfeifen zu seiner Begrüßung gellten und das Seitenkommando stramm stand, musterte er schnell ihre hölzernen Gesichter in der Erwartung, Spott oder Enttäuschung zu bemerken, daß er nicht tatsächlich gefallen war, wenn auch nur, um den Leuten in den unteren Decks ein willkommenes Thema zum Klatsch zu bieten.

Winstanley geleitete ihn zum Achterdeck. Offenbar war er bemüht, seine dröhnende Stimme zu dämpfen. Er war ein Riese von Mann, gelenkig und äußerlich wenig anziehend, machte aber schon im ersten Augenblick den Eindruck eines sehr fähigen Seemannes. Sein Gesicht war von unzähligen Reisen gegerbt und verwittert, doch die zahllosen Krähenfüße, die seine kleinen, blinzelnden Augen umrahmten, ließen auch seinen gut entwickelten, gesunden Humor erkennen.

Der Kommandant eines Flaggschiffs, auch wenn es nur das eines gewöhnlichen Kommodore war, brauchte das alles und mehr, dachte Bolitho grimmig, als er sich die Leiter hinaufzwängte und den Schutz der Kampanje erreichte.

Winstanley sagte mit rauher Stimme:»Ich habe mir Ihr Schiff durchs Glas angesehen. Hat sich mächtig verändert, seit ich es das letztemal sah. Sieht aus wie neu. «Er blickte zu dem breiten Stander des Kommodore hinauf, der im Wind steif an der Mastspitze stand.»Die Vectis wird jetzt nach Plymouth segeln, nachdem Sie gekommen sind, um sie abzulösen. Und danach bin ich an der Reihe. «Er packte Bolitho am Arm, als sie sich der Admiralskajüte näherten.»Nach mir sind Sie der dienstälteste Kommandant, darum zweifle ich nicht, daß die Hyperion zu gegebener Zeit seinen Stander führen wird.»

Er mußte die Frage auf Bolithos Gesicht bemerkt haben, denn er fügte schnell hinzu:»Ich spreche später mit Ihnen. Pelham-Martin ist kein Mann, der warten kann.»

Er öffnete die Tür, und Bolitho folgte ihm in die Kajüte. Er hatte seinen Hut unter den Arm geklemmt und war sich der nassen Fußspuren bewußt, die er auf dem dicken, hellen Teppich hinterließ, als er auf den mit Papieren dichtbedeckten Schreibtisch zuging, der auf der einen Seite bei den Heckfenstern stand.

Der Kommodore saß bequem in einem hochlehnigen Sessel, anscheinend unberührt von dem langsamen, Übelkeit erregenden Schwanken um ihn herum. Er war unvorstellbar breit, doch als er langsam aufstand, empfand Bolitho einen gewissen Schock, denn er entdeckte, daß Pelham-Martin ungewöhnlich klein und stehend kaum größer als im Sitzen war. Seine gesamte Körpermasse schien sich in die Breite zu erstrecken, wie bei Tomlin, dem Bootsmann der Hyperion, aber da endete auch schon jede Ähnlichkeit. Er hatte ein rundes, auffallend blasses Gesicht, und sein blondes Haar war nach der neuesten Mode kurz geschnitten. Das mochte bei den jüngeren Offizieren der Marine angemessen sein, doch es ließ den Kopf des Kommodore über seinem breiten, massigen Körper noch kleiner erscheinen.

«Willkommen, Kapitän. «Seine Stimme klang weich, sogar sanft.»Sie müssen schnelle Fahrt gemacht haben. «Seine Blicke musterten ruhig Bolithos durchnäßte Erscheinung, aber er machte keine Bemerkung darüber. Dann deutete er auf einige Sessel und einen schwankenden, silbernen Weinbehälter.»Einen Drink vielleicht?»

Hinter seinen massigen Schultern deutete Winstanley ein Kopfschütteln an, und Bolitho erwiderte:»Nein danke, Sir. Im Augenblick nicht.»

Er bemerkte Winstanleys Erleichterung und sah, daß PelhamMartin lächelte. Er war Winstanley für seine Warnung dankbar, doch gleichzeitig reizte es ihn, daß der Kommodore ihn aus unerfindlichen Gründen einem privaten Test unterworfen hatte.

«Nun, ich nehme an, daß Sie alle verfügbaren Berichte gelesen haben, Bolitho. Unsere Pflicht ist es, hier alle Zufahrten zur Giron-de-Mündung zu überwachen und alle einlaufenden oder ausfahrenden Schiffe anzuhalten. Ich habe der Vectis Befehl gegeben, zu Reparaturen nach Plymouth zurückzusegeln. Sie hat vor etwa zwei Wochen bei einem starken Sturm den Besan verloren, und Ersatz dafür ist hier nicht vorhanden. In einigen Monaten schließen sich uns zwei weitere Linienschiffe an, und inzwischen werden wir wissen, was die Froschfresser beabsichtigen, wie?«Er lehnte sich behaglich zurück und lächelte. Er sieht eher wie ein reicher Kaufmann aus als wie ein Marineoffizier, dachte Bolitho flüchtig.

«Die Franzosen werden früher auslaufen, Sir«, hörte er sich sagen.

Das Lächeln um Pelham-Martins kleinen Mund blieb.»So, meinen Sie? Woher haben Sie Ihre Informationen?«Er beugte sich etwas vor.»Hat der Admiral mir etwas vorenthalten?»

Bolitho lächelte.»Nein, Sir. Aber ich habe alle verfügbaren Berichte gelesen und bin der Ansicht, daß die Franzosen bald ausbrechen müssen, wenn sie ihrer Sache dienen wollen.»

Pelham-Martin nickte langsam.»Das ist ein Meisterstück der Selbsttäuschung, Bolitho. «Er deutete mit einer Hand auf die Heckfenster, durch das von Salz fleckige Glas konnte Bolitho das nächste Schiff erkennen, über dessen Bug sich Sprühwasser ergoß, das dennoch den Eindruck unüberwindlicher Stärke machte.

Der Kommodore fügte ruhig hinzu:»Diese Schiffe werden jede derartige Torheit verhindern. «Er schien ungeduldig zu werden und zog unter einigen in Leder gebundenen Büchern eine Karte hervor.»Wir stehen hier. «Er deutete mit einem rosa Finger auf die Karte.»Und ich habe die beiden Fregatten Spartan und Abdiel vor dem südlichen Fahrwasser stationiert, um uns vor jedem Versuch des Feindes zu warnen, aus spanischen Gewässern in dieses Gebiet vorzustoßen. «Sein Finger bewegte sich zu der langgestreckten Küstenlinie um die Gironde.»Hier habe ich meine dritte Fregatte, die Ithuriel, eingesetzt, um jeden Versuch der Franzosen zu beobachten und zu melden, Bordeaux nach Norden zu verlassen.»

Bolitho blickte auf.»Und die Schaluppen, Sir?«Wieder ein angedeutetes Kopfschütteln von Kapitän Winstanley, aber Bolithos Ärger über Pelham-Martins unbekümmertes Beiseiteschieben seiner Gedanken ließ ihn jede Vorsicht vergessen.

«Die Schaluppen?«Pelham-Martin nickte ernst.»Sie haben Ihre Berichte in der Tat gelesen, Bolitho. «Das Lächeln verschwand.»Ich habe sie nach Vigo geschickt, um — nun — um zusätzliche Vorräte zu holen.»

Bolitho blickte beiseite. Das war unglaublich! Vigo an der Nordwestküste Spaniens lag über vierhundert Meilen entfernt. Von der Gironde-Mündung noch weiter entfernt als selbst Plymouth!

Die Hand des Kommodore begann, einen lautlosen Wirbel auf der Tischkante zu schlagen. Wie zwei glatte rosa Krabben. Er fragte ruhig:»Sie scheinen das zu mißbilligen?»

Bolithos Stimme blieb beherrscht.»Die Fregatte Ithuriel steht ganz allein zu dicht unter Land, Sir. Und die beiden anderen Fregatten sind zu weit entfernt im Süden, um sie zu unterstützen, wenn sie angegriffen wird.»

Pelham-Martin musterte ihn ein paar Sekunden.»Der Kommandant der Ithuriel hat Befehl, meinen Befehl, verstehen Sie, zum Geschwader zurückzukehren, sobald er Anzeichen feindlicher Aktivität wahrnimmt. «Ein leichtes Lächeln erschien wieder.»Soviel ich weiß, sind Sie Kommandant einer Fregatte gewesen. Sicher werden Sie dem Kommandanten der Ithuriel die Möglichkeit nicht streitig machen wollen, zu beweisen, was er wert ist, oder?»

Bolitho entgegnete nüchtern:»Er hätte überhaupt keine Chance,

Sir.»

Kapitän Winstanley regte sich in seinem Sessel.»Was Captain Bolitho sagen will, ist.»

Pelham-Martin hob eine Hand.»Ich weiß, was er sagen will, Winstanley! Für ihn ist Blockadedienst nichts, meine Güte, nein, er will geradewegs auf die Küste lossegeln, um irgendein erbärmliches Schiff aufzubringen. Wegen des Prisengeldes, zweifellos.»

«Nein, Sir!«Bolitho packte die Armlehnen seines Sessels. Er hatte einen schlechten Anfang gemacht. Seine Sorgen wegen Inch und Stepkyne, sein beinahe erfolgter Sturz ins Wasser unter den Augen des Geschwaders hatten seine normale Zurückhaltung im Umgang mit Vorgesetzten beeinträchtigt.»Aber ich glaube, so lange wir nicht genau wissen, gegen wen und was sich unsere Blockade richtet, können wir niemals Schritte gegen irgendeine List unternehmen, zu der die Franzosen greifen.»

Der Kommodore fixierte ihn.»Meine Befehle lauten, in diesem Gebiet zu kreuzen und es zu überwachen. Und genau das tue ich. Also wirklich, Bolitho, ich weiß nicht, was Ihnen an Bord des Flaggschiffs von Vizeadmiral Cavendish gesagt wurde, aber ich kann Ihnen versichern, daß wir uns der Aufgabe, die uns hier anvertraut wurde, wohl bewußt sind.»

«Ich war nicht an Bord des Flaggschiffs, Sir. «Bolitho bemerkte das kurze Aufflackern der Überraschung in den Augen des Kommodore, ehe der Vorhang wieder fiel. Ruhig fügte er hinzu:»Meine

Befehle wurden mir an Bord geschickt. «Das war eine Lüge, aber nur eine halbe.

Doch die Wirkung zeigte sich augenblicklich, und sie war mehr als überraschend. Pelham-Martin zog eine goldene Uhr aus der Tasche seiner eng anliegenden Weste und sagte:»Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie an Deck, Winstanley. Vergewissern Sie sich, daß alle meine Depeschen zur Vectis hinübergeschickt worden sind, ehe sie das Geschwader verlassen hat, ja?«Sobald sich die Tür hinter dem Flaggkapitän geschlossen hatte, fuhr er ruhig fort:»Es tut mir leid, wenn es den Eindruck machte, daß ich nicht gewillt wäre, mir Ihre Einschätzung unserer Situation anzuhören, Bolitho. «Er lächelte und nahm eine Karaffe aus dem silbernen Weinbehälter.»Ein Schluck Brandy? Ich habe ihn vor einer Woche einem französischen Küstenfahrer abgenommen. «Er wartete nicht auf Antwort, sondern schenkte freigiebig in Gläser ein, die verborgen unter der Tischplatte gestanden hatten.»Tatsache ist, daß ich nicht immer mit Sir Manley einer Meinung bin, verstehen Sie?«Er beobachtete Bolitho über den Rand seines Glases hinweg.»Es ist eine Familienangelegenheit, inzwischen eine tiefwurzelnde Auseinandersetzung von einigem Gewicht. «Er schwenkte sein Glas.»Auch in Ihrer Familie nichts Unbekanntes, glaube ich.»

Bolitho spürte den Brandy auf seinen Lippen brennen. Es schien, daß die Erinnerung an seinen Bruder, die Schande für den Namen seiner Familie, niemals in Vergessenheit geraten sollte. Jetzt benutzte Pelham-Martin sie zum Vergleich mit einer dummen Fehde, welche die Feigheit seines eigenen Bruders ausgelöst hatte. Oder was es sonst gewesen sein mochte, was den Oberst veranlaßt hatte, sich zu ergeben, ohne erst die Schiffe zu warnen, die gekommen waren, um ihn und seine Soldaten zu retten.

Der Kommodore nickte ernst.»Selbstverständlich hat mein Bruder sein Land nicht im Stich gelassen, aber das Endergebnis war das gleiche. Er versuchte, seine Leute vor einem sinnlosen Tod zu bewahren. «Er seufzte tief auf.»Aber die Geschichte urteilt nur über Ergebnisse, nicht über Absichten.»

Bolitho erwiderte nüchtern:»Ich bin sicher, daß weder der Vizeadmiral noch Sie deswegen den Einsatz der Flotte gefährden würden.»

«Ganz richtig. «Pelham-Martin lächelte wieder.»Aber als sein

Untergebener muß ich doppelt vorsichtig sein, verstehen Sie?«Sein Ton wurde härter.»Und deshalb befolge ich meine Befehle, sonst nichts. «Er machte eine Pause, ehe er hinzufügte:»Und das werden auch Sie tun.»

Das Gespräch war zu Ende, doch als Bolitho aufstand, sagte Pelham-Martin leichthin:»Auf jeden Fall wird dieser langweilige Dienst Ihnen reichlich Gelegenheit geben, Ihre Leute zu drillen, damit sie in Form kommen. «Er schüttelte den Kopf.»Die Seemannschaft war, um es höflich zu sagen, wirklich sehr kümmerlich.»

Bolitho verließ die Kabine und atmete draußen sehr langsam aus. So sollte es also werden: nach außen hin alles vollkommen in Ordnung, aber sobald es um Initiative und Feindberührung ging, sollten ihnen die Hände fest gebunden sein.

Auf dem Achterdeck empfing ihn Winstanley mit einem erleichterten Lächeln.»Es tut mir leid wegen der Warnung, Bolitho. Ich hätte es Ihnen früher sagen sollen. Der Kommodore hat es gern, wenn seine Offiziere einen in der Krone haben, ehe er seine Gespräche mit ihnen beginnt. Eine häßliche Gewohnheit, die mehr als einem eine schnelle Heimreise eingebracht hat. «Er grinste.»Mir natürlich nicht. Er braucht einen alten Fuchs, der ihm sein Schiff führt. «Er packte Bolithos Arm.»Genau wie er Sie noch brauchen wird, ehe wir hier fertig sind, mein Freund.»

Bolitho lächelte.»Leider brauche ich nicht erst etwas zu trinken, um ihn zu reizen.»

Winstanley folgte ihm zur Achterdecksreling, und gemeinsam blickten sie zur Hyperion hinüber, die in der steilen Dünung stark rollte.

Winstanley sagte:»Ich stimme mit Ihnen in allem überein, was Sie über die Fregatten gesagt haben. Ich habe ihm meine Ansicht wiederholt dargelegt, aber er glaubt immer noch, daß die wirkliche Bedrohung aus dem Süden kommt. «Er schüttelte den Kopf.»Wenn er sich irrt, wird er es mit mehr zu tun bekommen als nur einem wütenden Admiral. «Grimmig fügte er hinzu:»Und das gilt auch für uns.»

Der Wind hatte während der Unterredung nachgelassen, und Bo-litho hatte kaum Schwierigkeiten, in sein Boot zu steigen. Während der Rückfahrt zu seinem Schiff dachte Bolitho über jedes Wort nach, daß Pelham-Martin gesagt hatte, und auch über das, was er nicht ausgesprochen hatte.

Als er durch die Schanzpforte kletterte, fand er Inch vor, der auf ihn wartete; überrascht stellte er fest, daß seine Überlegungen über die Strategie des Kommodore das kleine Drama zwischen Inch und Stepkyne aus seinen Gedanken völlig verdrängt hatte.

Knapp sagte er:»Lassen Sie das Boot einsetzen, und machen Sie das Schiff klar zur Fahrtaufnahme, Mr. Inch. «Er schnallte seinen Säbel ab und reichte ihn Petch, seinem Diener. Gedämpft fügte er hinzu:»Ich würde Ihnen empfehlen, auf dem Oberdeck selbst die Runde zu machen, wenn Sie dazu Zeit haben. «Er hielt Inchs Blick fest.»Es ist besser, sich gleich zu überzeugen, als sich später zu entschuldigen.»

Inch nickte. Sein Gesicht war so voll Dankbarkeit, daß Bolitho sich für ihn schämte. Und auch für sich selbst. Er hatte fest beabsichtigt, den schärfsten Tadel zu erteilen, den er aufbringen konnte, und wußte im Innersten, daß er Inch wahrscheinlich keinen Gefallen erwies, wenn er es unterließ. Doch angesichts der Haltung, die der Kommodore gegenüber seinem Vorgesetzten eingenommen hatte, und der Gefahren, die sich daraus für sie alle ergeben mochten, konnte er sich nicht dazu überwinden, Inch um den letzten Rest seines Selbstvertrauens zu bringen.

Noch während das Boot über die Backbordgangway gehievt wurde, rief Gascoigne aus:»Flaggschiff an Hyperion: Beziehen Sie Position am Ende der Formation.»

«Bestätigen. «Bolitho legte die Hände auf dem Rücken zusammen. Am Ende der Formation, dachte er erbittert. Die Vectis war bereits im Dunst verschwunden, und jetzt waren hier nur noch diese drei Schiffe, zu weit vom Gegner entfernt, um von sonderlichem Nutzen zu sein. Und irgendwo weit hinter dem Flaggschiff befand sich eine einsame Fregatte. Er konnte ihren Kommandanten nur bemitleiden.

Die Pfeifen schrillten, und die Besatzung schwärmte auf Stationen aus, als ob sich jeder einzelne der Nähe des Flaggschiffs bewußt wäre, um so eifriger, als sie auch die Unzufriedenheit ihres eigenen Kommandanten spürten.

Doch trotz der Ungeschicklichkeit und des erwarteten Durcheinanders bei manchen Leuten wurden die Manöver ohne weitere

Zwischenfälle beendet. Die Hyperion wendete und zeigte ihr kupfernes Unterwasserschiff, als sie hoch an den Wind ging, um ihre Position hinter dem anderen Vierundsiebzig-Kanonen-Schiff, der Hermes, einzunehmen, so daß einem fremden Zuschauer, falls einer dagewesen wäre, nichts verriet, daß ein neuer Wachtposten eingetroffen war, und auch nicht, daß ein anderer bereits alle Segel gesetzt hatte, um für eine vorübergehende Ruhepause vom Blockadedienst nach England zu segeln.

Schließlich überquerte Inch das Achterdeck und legte die Hand an seinen Hut.»Bitte um Erlaubnis, die Wache unter Deck zu entlassen, Sir.»

Bolitho nickte. Dann sagte er:»In Zukunft, Mr. Inch, seien Sie fest, wenn Sie Befehle erteilen. Ob Leuten gegenüber, die es besser wissen, oder solchen, die nur meinen, daß sie es besser wissen. Dann werden die Leute Vertrauen zu Ihnen haben. «Die Worte stockten ihm im Hals, als er hinzufügte:»Genau wie ich Vertrauen zu Ihnen habe. «Er machte auf dem Absatz kehrt und ging nach Luv hinüber, unfähig, die rührende Entschlossenheit auf Inchs Gesicht mitanzusehen.

Inch packte die Achterdecksreling und starrte blind auf das Gewühl der Matrosen um den Fuß des Fockmastes, die vom Dienst entlassen worden waren. Er hatte sich vor Bolithos Rückkehr gefürchtet, nicht, weil ihm sein Versagen vorgehalten werden sollte, sondern weil er sich dessen besser als jeder andere bewußt war. Daß er Bolithos Mißfallen erregt und ihn enttäuscht hatte, konnte er nicht ertragen. Für Inchs simples Gemüt war Bolitho eher ein Gott als ein Kommandant. Wenn Heldenverehrung eine treibende Kraft war, dann besaß Inch davon mehr als Lebenswillen.

Plötzlich streckte er die Hand aus und rief:»He, der Mann da! Los, Sie können mehr, als Sie da bieten!»

Der angerufene Matrose blickte schuldbewußt auf und wendete sich dann wieder seiner Arbeit zu. Er wußte nicht, was er falsch gemacht hatte, und verrichtete in jedem Fall seine Arbeit so gut, wie er es gelernt hatte. Er konnte auch unmöglich erraten, daß er für den Ersten Offizier nicht mehr als ein nebelhafter Schatten war, ein Fleck unter vielen, als Inch über das stampfende Schiff starrte und seine Zukunft noch einmal zum Leben erwachen sah.

Gossett, der neben dem Rudergänger stand und auf seine Tafel schrieb, blickte zu Inch hinüber, dann zum Kommandanten, der, den Kopf in Gedanken gesenkt, die Hände auf dem Rücken, auf und ab ging, und nickte langsam, verständnisvoll. Der arme Inch, dachte er. Mancher Kommandant, den er kannte, hätte auf einen Offizier wie ihn niemals Rücksicht genommen. Aber Bolitho schien sich um jeden Gedanken zu machen. Wenn einer ihn enttäuschte, schien er darin ein persönliches Versagen zu sehen; aber wenn einer Erfolg hatte, schien er immer den Lohn mit ihm zu teilen. Der alte Steuermann lächelte insgeheim. Gerecht, das war das treffende Wort. Es paßte sehr gut auf Bolitho: Dick der Gerechte. Ein breites Grinsen zog über sein Gesicht.

Bolitho hielt im Hin- und Hermarschieren unvermittelt inne und sagte scharf:»Mr. Gossett, an Bord dieses Schiffes befinden sich sechs Midshipmen, deren Unterricht in Navigation nach meiner Berechnung vor fünfzehn Minuten beginnen sollte.»

Gossett griff an seinen abgenützten alten Hut, konnte sein Grinsen aber nicht unterdrücken.»Aye, Aye, Sir. Ich werde sofort damit beginnen. «Bolitho blickte ihm finster nach. Es behagte ihm nicht, wenn Gossett anfing, am hellen Tag zu träumen. Er nahm seinen Spaziergang wieder auf und kehrte zu seinen Gedanken zurück. Ohne Zweifel würden sie alle genügend Zeit haben, unter PelhamMartins Stander bei hellem Tag zu träumen.

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