Bolitho stellte sich breitbeinig hin und wartete, bis das Deck nach einer heftigen Schlingerbewegung wieder zur Ruhe gekommen war, bevor er das Fernrohr ans Auge hob. Das Tageslicht hatte schnell zugenommen, und so konnte er den gezackten Höhenrücken der nächstgelegenen Insel ausmachen, der sich kaum von den niedrig hängenden Wolken abhob. Dahinter lag eine kleinere Insel, deren Spitze wie der Bug einer antiken Galeere die vordere Insel überlappte. Vor ihr schlugen Brandungswellen hoch und schien die See zu kochen. Wahrscheinlich ein Riff, vermutete er, oder die unterseeische Fortsetzung der Insel, in Jahrtausenden von Wind und Wellen abgetragen und nun eine natürliche Barriere gegen ungebetene Gäste.
Er senkte das Glas und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Um ihn herum warteten die Seeleute an ihren Kanonen, beobachteten ihn oder starrten nur auf die geschlossenen Stückpforten, bereit, auf den nächsten Befehl sofort zu reagieren.
Pelham-Martin sagte plötzlich:»Todsicher wird etwas passieren! Vielleicht ist die Spartan auf Grund gelaufen!«Er wandte den kleinen Kopf und sah Bolitho verdrießlich an.
«Das werden wir bald wissen, Sir. «Er entfernte sich ein paar
Schritte, da er nicht länger zuhören mochte. Seine eigene Zuversicht war auch nicht allzu groß.»Sir!«Carlyon hielt die Hände hinters Ohr.»Geschützfeuer,
Sir!»
Bolitho sah ihn zweifelnd an, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen war unmißverständlich. Er war jung und noch nicht mit Dingen belastet, die über seinen Dienst hinausgingen. So hatten seine Ohren das weit entfernte Geräusch trotz des Windes eher als alle anderen wahrgenommen.
«Mr. Inch! Lassen Sie die Geschütze laden! Aber nicht eher ausrennen, als ich es befehle!»
Dann rief er Gossett zu:»Tragen Sie unseren Kurs genau ein. Die Riffe vor der entfernten Landspitze reichen weit hinaus.»
Der Master nickte.»Ich habe mitgekoppelt,[6] Sir. Wir stehen noch gut vier Meilen ab.»
«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks kam nur schwach gegen das Getöse des Windes und das Knattern der Segel an.»Ein Schiff kommt aus der Durchfahrt!»
Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken, um seine wachsende Erregung zu bändigen.»Mr. Inch! Ändern Sie Kurs um zwei Strich nach Lee! Schicken Sie die Leute an die Brassen!»
Dann ergriff er das Teleskop von Carlyon und blickte auf die Inseln. Sie schienen wie Treibgut vor dem mit Spritzern bedeckten Glas herumzutanzen, aber als sein Auge schon zu tränen begann, entdeckte er das Ende der tafelförmigen Insel, und wo noch vor kurzem nur Brandungswellen zu sehen gewesen waren, bewegte sich etwas: ein Schiff.
Er hörte Gossett rufen:»Kurs Südwest zu Süd!»
Inch starrte ihn fassungslos an.»Es ist eine Fregatte!«Ein kurzes Zucken ging über sein Gesicht, als das dumpfe Grollen von Geschützfeuer zu ihnen drang.»Bei Gott, die Franzmänner kommen tatsächlich!»
Bolitho stellte sich hinter ihn.»Schütteln Sie alle Reefs wieder aus, und setzen Sie Fock und Bramsegel!»
Er ging auf Pelham-Martins Seite hinüber, während Inch mit seinem Sprachrohr an die Querreling eilte.»Nun, Sir, wenigstens einige werden wir heute erwischen!»
Er beobachtete die Männer, die auf den Rahen auslegten, und spürte die unmittelbare Reaktion der Wanten und Stagen, als sich ein Bramsegel nach dem anderen mit Wind füllte. Der plötzliche Druck auf die Masten machte sich bis zum Kiel hinunter bemerkbar. Mit dem Wind nun fast genau von achtern, schien das Schiff sich nach vorne zu neigen, und als sich nun auch noch die große Fläche der Fock ausbauchte, meinte Bolitho, die See beiderseits des Bugs wie einen Mühlbach rauschen zu hören.
«Sie können jetzt die Kanonen ausrennen, Mr. Inch!«Er beobachtete, daß Pelham-Martin sich über die Reling beugte und zuschaute, wie die langrohrigen Zwölfpfünder quietschend in die offenen Pforten gezogen wurden. Ihre Bedienungen feuerten sich dabei gegenseitig mit Zurufen an, als wäre es ein Wettkampf.
Inch rief:»Die Fregatte hat die Durchfahrt passiert, Sir!»
Bolitho beobachtete das noch weit entfernte Schiff, dessen Silhouette sich verkürzte, als es langsam um die vorderste Landspitze herumdrehte. Bei dem jetzt nordöstlichen Wind hatte es wenig Platz zum Kreuzen und konnte leicht in Schwierigkeiten geraten, wenn ein Wendemanöver so dicht unter Land nicht klappte.
Zumindest konnte es dann in die Durchfahrt zurückgetrieben werden. Bolitho sah die Rahen wild herumschwingen und Gischt über den schnittigen Steven zusammenschlagen, als das Schiff sich wieder fing und nun einen Kurs steuerte, der auf die Hyperion zulief.
Ein schneller Blick achteraus bestätigte ihm, daß Fitzmaurice keine Anweisungen brauchte, sondern wußte, was er zu tun hatte. Die Hermes hatte bereits ihre Bramsegel gesetzt, und er sah, daß sie unter dem Druck des Windes beängstigend krängte, als sie das Kielwasser der Hyperion kreuzte. Die beiden britischen Schiffe würden wie die Backen einer Zange zuschnappen, und wenn die anderen Franzosen aus der Durchfahrt kamen, mußten sie zwischen den beiden darauf lauernden und entsprechend vorbereiteten Briten hindurch.
Er befahl:»Noch einen Strich nach Steuerbord! Kurs Südwest!«Er sah, daß Stepkyne vom Hauptdeck zu ihm herauf schaute und sich dann umwandte, um mit einem Feuerwerksmaaten zu sprechen. Und dann hörte er Tomlin, der seine Leute mit einer Stimme, die selbst den Lärm der Elemente übertönte, wieder an die Brassen schickte. Man hörte vermehrtes Geschützfeuer, lauter als bisher, und Bolitho sah, wie mehrere Wassersäulen nahe am Heck der Fregatte hochstiegen.
«An Deck! Ein weiteres Schiff kommt heraus!«Pelham-Martin hielt die Reling fest umklammert. Seine Augen waren halb geschlossen, als er aufmerksam nach vorn spähte. Bolitho sagte:»Nun werden wir es ja gleich sehen!«Er eilte zur Leeseite, um zuzuschauen, wie sich das erste Schiff von der tückischen Reihe der Riffe freisegelte und dabei stark krängte, als es auf Steuerbordbug hoch an den Wind ging. Es war ein gefährliches Manöver. Jeden Augenblick konnten die Segel backschlagen und das Schiff auf die Riffe getrieben werden, aber sein Kommandant hatte keine andere Wahl, um Seeraum zu gewinnen.
Bolitho hob die Hand.»Recht so!«Seine Augen tränten wieder wegen Wind und überkommender Spritzer, aber er behielt das andere Schiff im Blickfeld. Nur noch zwei Meilen trennten sie. Er hörte das Knarren der Handspaken, als die Geschützführer die Erhöhung ihrer Kanonenrohre vergrößerten, und fragte sich plötzlich, ob Fox sich wohl an die Batterie auf dem Hügel von St. Kruis erinnerte, während er sich jetzt um seine Kanonen im unteren Batteriedeck kümmerte.
Inch schrie ihm plötzlich zu:»Sir! Das zweite Schiff ist die Spartan!«Es klang enttäuscht.»Sie setzt ein Signal!»
Bolitho wandte sich zu Pelham-Martin um. Wenn die Spartan dem Feind so dicht auf den Fersen war, dann bedeutete das nur eines: Es waren keine weiteren Schiffe da.
Carlyon rief:»Von Spartan, Sir! Feindliches Schiff im Südwesten!»
Er wandte sich schnell um und hatte das Signal noch nicht ganz in sich aufgenommen, als der Ausguck rief:»Ein weiteres Schiff Backbord voraus, Sir!»
Inch schielte zur Mastspitze hinauf.»Was, zum Teufel, erzählt er da?»
Aber Bolitho zeigte mit dem Teleskop in die Richtung.»Sie müssen eine andere Durchfahrt benutzt haben! Schauen Sie mal hin, Mann. Sie müssen seine Mastspitzen sehen!»
Er spürte, daß jemand an seinem Ärmel zog, und als er sich umwandte, sah er in das vom Wind gerötete Gesicht des Kommodore.
«Sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben? Er entkommt uns, und Sie können es nicht verhindern. «Er schrie beinahe.»Ich sorge dafür, daß Sie gehängt werden, hol' Sie der Teufel! Der Teufel soll Sie holen!»
Bolitho befreite seinen Arm.»Kursänderung drei Strich nach Backbord! Neuer Kurs: Süd zu West!»
Die Leute warfen sich wieder in die Schoten und Brassen, während die Hyperion mit prall gefüllten Segeln, die an den Rahen zerrten, auf die zweite Insel zubrauste, vor der sich die Masten des Franzosen wie Schemen abhoben.
Als die feindliche Fregatte bemerkte, daß die Hyperion auf ihren ursprünglichen Kurs zurückkehrte, drehte sie auf die offene See zu. Ihr Ausbruchsversuch mochte eine Kriegslist gewesen sein, um ihrem Begleiter die Möglichkeit zu geben, durch die andere Ausfahrt zu entwichen; oder ihr Kommandant mochte geglaubt haben, nur so bestünde auch für sein eigenes Schiff eine Chance. Doch während die Spartan noch vorsichtig um die Riffe herumsteuerte, machte die Hermes ein Halsemanöver. Für Leute, die Zeit hatten, einen Blick hinüberzuwerfen, war es ein eindrucksvoller Anblick, als sie ihre gischtübersprühte Bordwand mit der doppelten Reihe von Kanonenrohren und die schneeweißen Segel vor der dunklen Wolkenwand der französischen Fregatte zudrehte. Und dann feuerte sie auf sehr große Entfernung. Als Bolitho den Blick von dem anderen französischen Schiff hinüberschweifen ließ, sah er, daß Fitzmaurice über schätzungsweise eine Meile bewegten Wassers geschossen hatte. Doch es hatte gereicht. Fockmast und Bugspriet der Fregatte brachen beim Einschlag der Salve zusammen, und als der Wind hineinfaßte, schlugen die zerfetzte Leinwand und das durchschossene Rigg wie verrückt hin und her. Das Schiff, das Augenblicke vorher noch ein Urbild der Schönheit und Grazie geboten hatte, tauchte nun wie trunken in ein tiefes Wellental ein und drehte hilflos in den Wind.
Bolitho wandte sich wieder dem anderen Schiff zu und fühlte, daß Ärger und Enttäuschung ihm die Kehle zuschnürten, weil dessen Umriß wieder spitzer geworden war.
Es war ein Zweidecker, wahrscheinlich der, den die Hyperion bei ihrem ersten vergeblichen Angriff auf Las Mercedes mit ihrer blindlings abgefeuerten Breitseite beschädigt hatte. Jetzt kam er frei von der Landspitze, und wenn er entkam, wie es jetzt möglich schien, würde Lequiller bald über das Mißlingen ihres Überfalls und über die Schwäche von Pelham-Martins Geschwader unterrichtet sein.
Gossett sagte:»Wir können ihn immer noch fassen, Sir!«Aber es klang nicht sehr überzeugend.
«An Deck!«Alle blickten nach oben. Es konnte doch nicht noch Schlimmeres kommen?» Ein Segel in Luv von der Landzunge!«Kurze Pause.»Es ist der Holländer, Sir!»
Bolitho lief an die Finknetze und preßte das Teleskop fest ans Auge.
Das französische Schiff war jetzt frei von den Riffen, aber vor ihm und noch weiter weg sah er das andere Schiff, dessen Segel in dem eigenartigen Licht gelb schimmerten. Es war die Telamon, unverwechselbar mit ihren hohen Aufbauten vorn und achtern und der schimmernden Pracht ihrer Galionsfigur. Ihre Segel waren dicht angeholt, und sie segelte hoch im Wind. Durch das unruhig schwankende Fernrohr schien es, als streife sie das Land.
Inch murmelte grimmig:»Um Himmels willen! Mulder wird auf Grund laufen, wenn er nicht aufpaßt.»
Pelham-Martin nahm Inchs Glas.»Was geht da vor? Wird die Te-lamon angreifen?»
Bolitho schob sein Glas mit einem Schlag zusammen. Er fühlte, daß jeder Spant, jede Spiere seines Schiffes aufs Äußerste belastet war, und als er hochschaute, sah er die Segel hart wie Eisenplatten stehen, als das Schiff sich mit aller Kraft in das Verfolgungsrennen warf.
Mulders altertümliches Schlachtschiff hatte überhaupt keine Chance gegen den mächtigen Zweidecker, und das mußte er wissen. Wie er auch erkannt haben mußte, daß der Franzose in einem der vielen hundert Verstecke der Inselwelt unterschlüpfen würde, wenn er seinen jetzigen Kurs beibehielt und die Landzunge erst gerundet hatte.
Von achtern hörte man wieder dumpfe Explosionen, und einer der Seesoldaten auf der Schanz rief:»Die Fregatte hat ihre Flagge gestrichen. Jungs! Sie hat sich der Spartan ergeben. «Ihre Jubelrufe verstärkten nur Bolithos wachsende Besorgnis. Für die Leute war jeder Sieg ein Ereignis, aber gemessen an ihrem Gesamtplan, zählte er fast gar nicht.
Inch sagte besorgt:»Du lieber Himmel, sehen Sie mal den Holländer!»
Die Telamon hatte Kurs geändert, und als Bolitho sein Glas wieder hob, sah er sie abrupt durch den Wind drehen, ihre Segel schlugen wild, und ihr Mastwimpel stand querab wie ein Metallstreifen.
«Der Franzose halst, Sir!«Inch war heiser vor Aufregung.
So war es. Der feindliche Kommandant hatte auch kaum eine andere Möglichkeit. Mit den Riffen an Steuerbord und der vor seinen Bug drehenden Telamon mußte er schnell handeln, wenn er ein Auflaufen auf der einen oder einen Zusammenstoß auf der anderen Seite vermeiden wollte.
Aber als das französische Schiff sich dicht hinter der Telamon vorbeischob, hörte jeder auf dem Achterdeck der Hyperion das Krachen einer hintereinander abgefeuerten Breitseite, und alle sahen mit Schrecken, wie die Segel des Holländers in einer himmelhohen Wolke dichten Qualms verschwanden.
Bolitho hämmerte auf die Reling, er wollte Mulder helfen und ihn aus der tödlichen Umarmung heraushauen. Er hörte, daß auch die altertümlichen Kanonen der Telamon jetzt feuerten, unzusammenhängend, aber trotzig. Der Pulverqualm trieb dabei binnenbords und nahm den Richtschützen die Sicht, da Mulder weiter parallel zum Kurs des Gegners steuerte und sich in der Leeposition befand.
Gossett sagte:»Großartig! Die Telamon hat uns die Chance verschafft, dem Burschen an den Kragen zu gehen.»
«Batteriedeck — Achtung!«Bolitho sah, daß Stepkyne an seinen Hut tippte.»Steuerbordbatterie fertig!»
Er hörte Pelham-Martin ihm eifrig zuflüstern:»Packen Sie ihn, Bolitho! In Gottes Namen: packen Sie ihn!»
Der französische Zweidecker schoß immer noch fast pausenlos, und als der Wind einen Augenblick den Qualm wegblies, sah Bo-litho den Besanmast der Telamon in einer wirren Masse zerrissenen Tauwerks über Bord gehen. Er meinte zu hören, wie die volle Wucht der feindlichen Eisenladung in den Rumpf des Holländers schlug.
Leutnant Roth murmelte mit zusammengebissenen Zähnen:»Da geht auch ihr Fockmast!»
Als Spielball von Wind und Wellen war die Telamon schon hinter das Heck des Franzosen gesackt, und obwohl hier und da noch eins ihrer Geschütze feuerte, war sie bis fast zur Unkenntlichkeit zusammengeschossen.
Bolitho brauchte kein Fernglas, um zu sehen, wie die Rahen des Feindes herumschwangen; während er an dem zertrümmerten Vorsteven der Telamon vorbeibrauste, waren einige Männer schon oben, um in höchster Eile die Großsegel loszumachen, in die sofort der Wind einfiel und das Schiff auf die Seite drückte, wobei es seine kupferbeschlagene Unterseite zeigte.
Jetzt oder nie!
Bolitho rief:»Hart Steuerbord, das Ruder!»
Wie trunken begann die Hyperion sich zu drehen, wobei sämtliches stehende und laufende Gut wie zum Protest heftig ächzte und stöhnte. Gedämpfte Schreie kamen von unten, und er erriet, daß die See bei der plötzlichen scharfen Drehung in die offenen Pforten des unteren Batteriedecks geschlagen war.
Weiter gedreht und immer weiter, bis beide Schiffe fast auf gleicher Höhe und etwas mehr als zwei Kabellängen voneinander entfernt lagen. Eine schwierige Entfernung, aber da die Segel das Schiff stark auf die Seite drückten, hatten sie eine einmalige Gelegenheit.
«Feuer!»
Er packte die Reling, als das Schiff durch die kontrolliert gefeuerte Breitseite erschüttert wurde. Der französische Zweidecker drehte zwar bereits ab, doch als er der Hyperion schon fast das Heck zeigte, schlug die volle Ladung der Briten mit Donnergepolter in sein Achterschiff ein.
Seine Rahen schwangen wieder herum, und Bolitho war klar, daß der Kommandant seine mißliche Lage erkannt hatte. Er hätte erst einmal den Kampf mit der ihn verfolgenden Hyperion aufnehmen sollen. Dabei hätte immer noch die Aussicht bestanden, daß er sie beschädigen oder gar versenken konnte. Aber als der Franzose sich jetzt mühsam zurückwälzte, konnte Bolitho fast körperlich spüren, wie sich der wundgeschossene Schiffsleib quälte und die blanke See die Wunden noch weiter aufriß, die ihm von der vernichtenden
Breitseite geschlagen worden waren. Dadurch, daß das Schiff unter dem Druck seiner Segel stark überlag, hatte es einen Teil seiner Unterseite dem Gegner als Ziel geboten. Dort waren die vierund-zwanzigpfündigen Kugeln der unteren Batterie der Hyperion eingeschlagen und hatten die Bordwand derart durchlöchert, daß die Pumpen beim Aufrichten des Schiffs mit dem eindringenden Wasser nicht mehr fertig wurden.
Er hörte Stepkynes bellende Stimme:»Kanonen ausrennen! Feuer!«Die Geschützführer stießen ein wildes Kriegsgeschrei aus, als sie eine weitere Doppelladung in das schwer kämpfende Schiff, das nun direkt vor ihren Visieren lag, hineinschossen. Der Franzose versuchte, zurückzuschießen, aber das Durcheinander bei ihm war so groß und der Pulverqualm, der von der Hyperion herübertrieb, so dicht, daß nur einige wenige Kugeln in ihrer Nähe einschlugen; die meisten sausten mit wimmerndem Ton über sie hinweg, vom höhnischen Geschrei der Marinesoldaten auf der Schanz begleitet. Diese Männer hatten sonst nichts zu tun, da die Entfernung für ihre Musketen zu groß war.
Doch der Abstand verringerte sich, bis beide Schiffe nur noch zweihundert Yards auseinanderlagen. Die Segel des Feindes waren mit Löchern wie Pockennarben bedeckt, und über sein zertrümmertes Oberdeck hing nach der nächsten Breitseite das Tauwerk wie abgeschnittene Schlingpflanzen herunter.
Inch rief:»Sehen Sie, Sir! Sie bricht das Gefecht ab!»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Wir müssen ihr Steuerrad getroffen haben. «Er beobachtete kühl, wie das feindliche Schiff abgetrieben und seine Bewegungen mit jeder Minute schwerfälliger und unkontrollierter wurden.
Gossett sagte:»Die ist erledigt!«Als einige Leute sich zu ihm umdrehten, setzte er hinzu:»Das Riff! Sie kann sich nicht mehr davon freisegeln!»
Bolitho nickte. Die Linie der weißen Brecher, die über die Landzunge hinausreichten, waren dem schwer getroffenen Schiff schon ganz nahe. Nur ein Wunder konnte sie noch davor retten.
Die Geschützbedienungen auf dem Achterdeck stimmten in die Jubelrufe der Seesoldaten ein, obwohl sie noch nicht dazu gekommen waren, ihre leichten Kanonen abzufeuern.
Bolitho ging auf die andere Seite und blickte zur Telamon hinüber. Auch sie war schwer beschädigt und in Gefahr, auf die Klippen getrieben zu werden. Bis auf einen kleinen Stumpf ihres Großmastes war sie entmastet und ihre Bordwand an zahllosen Stellen durchlöchert. Sie war fast ein völliges Wrack. Andere Schiffe ihrer Größe hätten die Schläge vielleicht eingesteckt und zurückgeschlagen. Aber ihre Planken waren so alt und so fest miteinander verwachsen, daß bei einem Treffer nicht einzelne Planken brachen, sondern gleich große Teile der Bordwand einstürzten und der See Einlaß boten. Und wie zum Beweis ihrer heldenhaften Aufopferung floß aus ihren Speigatten Blut in das Treibgut an ihrer Seite.
Bolitho sagte:»Mr. Tomlin soll die Schlepptrosse bereitlegen. Machen Sie die Geschütze fest, und schicken Sie jeden entbehrlichen Mann nach achtern.»
Einige Leute vom Hauptdeck kletterten auf die Gangways, von wo aus sie zum ersten Mal gewahr wurden, was ihr Sieg das holländische Schiff und seine Besatzung gekostet hatte.
Dann drehte sich Bolitho um, als Pelham-Martin krächzte:»Der Franzose hat noch nicht die Flagge gestrichen!«Seine Augen glühten seltsam.»Er könnte seine Schäden immer noch ausbessern.»
Bolitho starrte ihn an.»Und was wird aus der Telamon?»
Pelham-Martin gestikulierte wütend.»Signalisieren Sie der Hermes, sie soll den Holländer in Schlepp nehmen. «Sein Blick war fest auf den treibenden Zweidecker gerichtet.»Ich will, daß dieses Schiff versenkt wird«!»
Bolitho schaute zu Gossett hinüber.»Geben Sie einen Kurs an, der uns am Riff vorbeibringt!«An Inch gewandt, fuhr er im gleichen unbewegten Ton fort:»Eine Breitseite, wenn wir passieren. Es wird keine zweite Chance dazu geben, wenn wir erst mal frei vom Riff sind.»
Er ging wieder hinüber auf die Seite des Kommodore.»Sie müssen jeden Augenblick auf Grund laufen, Sir. «Doch er wußte, daß es vergeblich war, noch bevor er es aussprach. In Pelham-Martins Gesichtsausdruck war etwas Wildes, eine unmenschliche Gier, die Bolitho mit Abscheu erfüllte.
«Tun Sie, was ich befohlen habe!«Pelham-Martin hielt sich an den Netzen fest, als das Schiff sich leicht auf die Seite legte und Gossett meldete:»Kurs Südwest, Sir.»
Weit achteraus hörte Bolitho frohes Geschrei von der Hermes, und als er über die Netze hinwegschaute, sah er Leute auf den Laufbrücken der Telamon, die ihnen zujubelten und winkten. Irgend jemand hatte wieder eine Flagge an den gebrochenen Mast genagelt, und das war inmitten all der Trümmer und Not eine rührende und ermutigende Geste.
An Bord der Hyperion jubelte niemand, und selbst die Seesoldaten beobachteten schweigend, wie das feindliche Schiff auf die hohen Brecher zutrieb. Hier und da sah Bolitho gezackte Felsen wie schwarze Zähne aus dem Wasser ragen. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß der Franzose die Flagge streichen möge, bevor es zu spät war. Bei diesen Wellen, die über das Riff hinwe g-liefen, würden die Überlebenden es schwer haben, sich an Land zu retten, selbst wenn ihr Schiff nicht auseinanderbrach.
Aber die Trikolore wehte immer noch über dem Achterschiff, und obwohl der Rumpf tief im Wasser lag, sah Bolitho Leute an ihren Kanonen und eine Gestalt — wie bisher — auf dem Achterdeck.
«Ziel aufgefaßt!«Stepkynes rauhe Stimme durchbrach die Stille.
Bolitho ballte die Fäuste. Streicht die Flagge, verdammt noch mal! Streicht sie! Doch obwohl er so gern dem anderen Kommandanten seinen Willen aufgezwungen hätte, wußte er, daß er selber in gleicher Lage genauso gehandelt hätte.
Der Feind trieb jetzt mit dem Bug voran, so daß Bolitho die großen Löcher in seinen achteren Aufbauten und das pendelnde Tauwerk über seinem Heck sehen konnte. Er sah auch das Namensschild und las den Namen: Fortune. Es schien ihm, als schwenkte ein Offizier seinen Degen gegen die Hyperion, als sie vorbeizog, und dann feuerte der Feind seine letzte Salve mit den beiden Heckgeschützen, die auf dem Deck unterhalb der zertrümmerten Kajütenfenster standen.
Bolitho fühlte den Stoß, als die eine der beiden Kugeln in das Schanzkleid einschlug, und hörte das Pfeifen der Holzsplitter, die um ihn herumflogen; aber all dies war vergessen, als die Hyperion unter dem Rückstoß ihrer eigenen Breitseite schwerfällig überholte.
Als der Qualm abgezogen war, sah er, wie der Großmast des Feindes krachend herunterkam, doch er verschwand nicht seitwärts in der See; denn im selben Augenblick ging ein Ruck durch das Schiff, dann noch einer, und dann schlug es in seiner ganzen Länge auf dem Felsen auf. Über das Tosen des Windes hinweg konnten sie das Splittern von Holz und das Einströmen des Wassers hören. Die letzte Breitseite mußte die meisten Leute auf dem Oberdeck getötet oder verwundet haben, denn nun wurde das Schiff unter seinen zerfetzten Segeln noch einmal hilflos angehoben und dann quer auf das Riff geworfen, wobei sein Fockmast brach und mitten zwischen die auf der Back umherirrenden Leute fiel.
Bolitho wandte sich angeekelt ab. Er hörte, wie der Franzose auseinanderbrach, und konnte sich vorstellen, welche Panik unter Deck herrschen mußte, wenn die schweren Kanonen sich losrissen und von einer Seite auf die andere rollten, während die eingeschlossenen Matrosen im vergeblichen Versuch, dieser Hölle zu entfliehen, gegen das einbrechende Wasser ankämpften.
Aber die Trikolore war endlich verschwunden. Nicht gestrichen, sondern vom Geschützfeuer der Hyperion weggeblasen.
Er wandte sich langsam um.»Ihre weiteren Befehle, Sir?»
Doch seine Augen wurden starr, als Pelham-Martin schwankte und aufs Deck hinuntersank. Sein Uniformrock hatte sich im Wind geöffnet, und unter seiner Achselhöhle wurde ein heller Blutfleck sichtbar, der sich auf seiner weißen Weste schnell ausbreitete.
Bolitho rief laut:»Ein Mann zu Hilfe! Mr. Carlyon, holen Sie den Doktor!«Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und schlang den Arm um die Schultern des Kommodore.»Nur ruhig, Sir.»
Pelham-Martin schien nicht imstande, etwas zu sagen. Seine Miene spiegelte eher Erstaunen als Schmerz.
«Tragen Sie den Kommodore in seine Kajüte!»
Bolitho trat zur Seite, als Trudgeon, der Schiffsarzt, begleitet von seinen Maaten, aufs Achterdeck eilte.
Pelham-Martin keuchte:»Um Gottes willen! Seht euch vor, verdammt noch mal!»
Inch fragte:»Ist es so schlimm, Sir?»
Bolitho ging ans Schanzkleid und sah sich die aufgerissene Stelle über der Stückpforte an, wo die Kugel — wahrscheinlich ein Zwölf-pfünder — getroffen und wie mit einer Axt Teile aus dem Holz geschlagen hatte. Die Geschützbedienung war wahrscheinlich gerade beiseite getreten, um das andere Schiff zu beobachten. Anderenfalls wäre sie als Schutzschild für den Kommodore gestorben.
Er antwortete:»Holzsplitter verursachen die schlimmsten Wunden, wie Sie wissen. Ich staune, daß er es nicht stärker fühlte.»
Dann ging er an die Reling hinüber und schaute Steuerbord achteraus zum feindlichen Zweidecker, der immer wieder von den Wellen angehoben und auf das Riff geschmettert wurde. Gemessen an dem Winkel, den sein Achterdeck mit dem übrigen Schffskör-per bildete, mußte ihm schon das Rückgrat gebrochen sein. Es war doch seltsam, daß Pelham-Martin ohne seine hartnäckige Forderung nach diesem letzten Angriff jetzt noch unverletzt gewesen wäre.
Inch meldete:»Die Hermes hat die Telamon in Schlepp genommen, Sir.»
Gossett kam über das Deck und berührte die Einschlagstelle mit Verwunderung.»Was mag die Froschfresser veranlaßt haben, diesen letzten Schuß abzufeuern?»
Bolitho merkte, daß ihn Müdigkeit übermannte.»Hätten Sie das nicht auch getan?«Er wandte sich wieder zu Inch um.»Hat die Spartan ihre Prise gesichert?»
«Aye, Sir. «Inch betrachtete ihn besorgt.»Sie reicht ihrem Prisenkommando gerade eine Schlepptrosse hinüber.»
«Sehr gut. Schicken Sie Leute nach oben, und nehmen Sie einige Segel weg. Dann lassen Sie ein Signal für Hermes und Spartan setzen. «Sein Gesicht verfinsterte sich und er bemühte sich, nicht an die Geräusche des Schiffes zu denken, das auf dem Riff zerbrach und nicht an die Sinnlosigkeit seiner letzten Geste.»Wir fahren zurück nach St. Kruis. Lassen Sie nur so viel Segel stehen, wie erforderlich sind, um mit den anderen Schritt zu halten, und melden Sie, wenn alle bereit zum Rückmarsch sind.»
Er sah sich um, als Trudgeon aus der Hütte trat, wobei er sich noch die Hände abtrocknete.»Nun?»
Der Schiffsarzt war ein griesgrämiger, verschlossener Mann, der kein überflüssiges Wort sagte.»In der Tat ein Holzsplitter, Sir. Ist seitlich unter der rechten Achselhöhle eingedrungen. Ziemlich tief, würde ich sagen.»
«Können Sie ihn entfernen?»
«Wenn es sich um einen einfachen Seemann handelte, würde ich keinen Augenblick zögern, Sir. «Er zuckte die Achseln.»Aber der Kommodore schien nicht gewillt, sich von mir berühren zu lassen.»
«Bleiben Sie bei ihm, bis ich Zeit habe, nach achtern zu kommen. «Als Trudgeon Anstalten machte, zu gehen, setzte er eisig hinzu:»Und wenn ich Sie jemals dabei erwische, daß Sie einen einfachem Seemann weniger sorgfältig behandeln als einen meiner Offiziere, dann wird es Ihre letzte Behandlung gewesen sein.»
Inch zögerte, bis der Schiffsarzt verschwunden war.»Müssen wir denn nach St. Kruis zurück, Sir?»
«Die Telamon wird ohne Hilfe niemals durchkommen. «Er dachte an die Hochrufe, an die schrecklichen Verluste und an die unbestreitbare Tapferkeit der holländischen Seeleute.»De Ruyter[7] wäre stolz auf sie gewesen«, setzte er ruhig hinzu.»Und ich will sie jetzt nicht im Stich lassen.»
Er ging zur Querreling, die Achterdeck und Hauptdeck voneinander trennte, und lehnte sich gegen sie. Dabei übertrug sich das leichte Zittern des Schiffes auf seinen Körper, als wären sie fest miteinander verbunden. Unter ihm waren die Matrosen dabei, die Kanonen wieder festzuzurren und das Deck von Pulverresten zu säubern, wobei sie einander Scherzworte zuriefen. Wahrscheinlich wußten sie nicht, daß ihr Kommodore verwundet war. Ob sie die Ironie überhaupt verstehen würden, daß er ihr einziger Verwundeter an Bord war?
Inch beobachtete die Toppsgasten, die sich an den Stagen herunterhangelten, und sagte:»Das heißt, Sie befehligen jetzt das Geschwader, Sir.»
Bolitho lächelte.»Nicht, solange der Kommodorestander weht, Mr. Inch.»
Er dachte plötzlich an all jene, die gefallen oder fürs Leben ve r-stümmelt worden waren, seit das Schiff Plymouth verlassen hatte.»Ich glaube nicht, daß der Kommodore lange liegen wird. Wenn wir in ruhigeres Wasser kommen, wird Mr. Trudgeon den Splitter herausziehen können.»
Carlyon meldete:»Signal von Hermes, Sir: Beide Schleppzüge klar zur Weiterfahrt.»
«Verstanden. «Bolitho schaute Inch an.»Sie können jetzt halsen. Setzen Sie sich in Luv von den anderen. Aus dieser Position können wir sie besser schützen. «Er warf noch einen Blick hinauf in die Segel.»Ich werde den Kommodore informieren.»
Er fand Pelham-Martin in seiner Koje, den Körper mit vielen Kissen gegen die unbehaglichen Bewegungen des Schilfes abgestützt und um Brust und Schultern dick verbunden. Seine Augen waren geschlossen, und in dem schwachen Licht, das durch das Skylight einfiel, sah seine Haut wächsern aus.
Trudgeon kam herüber und sagte ernst:»Ich habe die Wunde noch einmal untersucht, Sir. «Er reagierte verlegen, als Bolitho ihn fest anschaute.»Die Fettschicht ist so dick, daß ich nicht feststellen kann, wie tief der Splitter eingedrungen ist.»
Bolitho schaute auf den Kommodore hinab.»Verstehe. Vielen Dank, warten Sie bitte draußen. «Als sich die Tür geschlossen hatte, beugte er sich über die Koje und bemerkte sofort den scharfen Geruch von Brandy. Eine halbleere Karaffe lehnte an einem der Kissen.
«Sir?«Er hörte die fernen Kommandos an Deck und das rumpelnde Geräusch der Steueranlage. Daraus entnahm er, daß Inch das Schiff auf den befohlenen Kurs drehte. Es würde ein langsamer Rückmarsch werden; auch wenn es unwahrscheinlich war, daß sie dabei auf einen Feind trafen, mußten sie doch jederzeit darauf vorbereitet sein, ihre zusammengeschossenen Schützlinge gegen einen Überraschungsangriff zu verteidigen. Er sagte mit besonderer Betonung:»Wir nehmen Kurs auf St. Kruis, Sir. Haben Sie weitere
Befehle?»
Pelham-Martin öffnete die Augen und sah ihn einige Sekunden starr an. Dann sagte er mit kraftloser Stimme:»Lequiller war nicht da. Er ist Ihnen wieder entwischt. «Er reckte den Hals und suchte nach seiner Karaffe.»Muß mich ausruhen. Will nicht mehr sprechen. »
Bolitho stand auf.»Ich schlage vor, daß wir unsere Prise de Block übergeben, wenn wir in St, Kruis ankommen, Sir. Die Tela-mon hat ausgedient; mit der Fregatte werden sie wenigstens in der Lage sein, sich zu verteidigen.»
«Machen Sie, was Sie wollen. «Pelham-Martin schloß die Augen und seufzte.»Mir geht es gar nicht gut.»
«Ich habe Trudgeon gesagt, was er tun soll, wenn wir die Bucht erreichen, Sir.»
Die Wirkung dieser Worte war verblüffend. Pelham-Martin stützte sich auf seine Ellenbogen, wobei ihm der Schweiß in kleinen Rinnsalen über Gesicht und Nacken lief.
«Ich will nicht, daß er mich anrührt, verstanden? Das hätten Sie wohl gern, daß dieser Tölpel an mir herumschneidet und Sie währenddessen mein Kommando übernehmen?«Er sank schwer atmend zurück.»Wir fahren zurück nach St. Kruis. Noch entscheide ich, was zu tun ist.»
Bolitho betrachtete ihn nachdenklich.»Wir wissen noch nicht, wo Lequiller steckt. Die San Leandro und die meisten Schiffe seines Geschwaders sind unbeschädigt. Ich meine, er ist drauf und dran, seinen alten Plan weiter zu verfolgen. «Seine Stimme wurde härter.»Wir können nicht länger warten, Sir.»
Aber Pelham-Martin drehte den Kopf weg und blieb still.
Bolitho ging zur Tür.»Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, Sir. «Als er auf den Gang hinaustrat, hörte er hinter sich das Klirren der Karaffe.
Inch wartete auf dem Achterdeck und sah mit besorgtem Pferdegesicht zu, wie Bolitho erst den Kompaß und dann den Stand der Segel prüfte.
Er meldete:»Kurs Süd zu West, Sir.»
Bolitho nickte geistesabwesend, denn seine Gedanken waren noch immer bei Pelham-Martins seltsamem Benehmen. Er hatte erwartet, daß der Kommodore Bestürzung über seine Verwundung äußern würde und über das Unrecht, daß gerade er — als einziger der Besatzung — getroffen worden war. Stattdessen schien er endlich eine Rechtfertigung für sein Verhalten gefunden zu haben, die niemand anzweifeln konnte. Er war verwundet worden. Anscheinend nicht schwe r genug, um von seinem Kommando abgelöst zu werden, aber ausreichend, um ihn von jeder aktiven Mitwirkung bei den wichtigen Entscheidungen, denen sie sich jetzt gegenübersahen, auszuschließen.
Inch sagte:»Ich war gespannt, welche Befehle wir als nächstes bekommen würden.»
Bolitho ging an ihm vorbei.»Seien wir auf der Hut, Mr. Inch.»
«Sir?»
«Bis jetzt haben wir keine brauchbaren Hinweise bekommen. «Er blickte zur eroberten Fregatte hinüber, die hinter der Spartan hin und her pendelte und den Union Jack im roten Feld über der Trikolore gesetzt hatte.»Wir haben ja ein paar Gefangene gemacht. Vielleicht erfahren wir von ihnen etwas über Lequillers Absichten. «Sein Blick wanderte hinauf zu Pelham-Martins Kommodorestander.»Und wenn wir die haben, Mr. Inch, dann befinden wir uns ihm gegenüber zur Abwechslung einmal im Vorteil.»
Er ging auf die Leeseite und schaute nach Steuerbord achteraus. Die Sonne hatte sich ihren Weg durch die Wolkenschicht gebahnt, und er fühlte die Wärme in seinen ermüdeten Körper zurückkehren. Er warf einen Blick zurück auf die kleinen Inseln, die im aufkommenden Dunst immer mehr verschwanden. Es gab so vieles zu tun; vielleicht hatte Farquhar inzwischen weitere Hinweise, die von Nutzen für sie sein konnten. Aber zunächst war es notwendig, daß sie die Verwundeten und die beschädigten Schiffe nach St. Kruis zurückbrachten.
Dort würde es viel Wehklagen geben, wenn sie die Telamon sahen, dachte er betrübt. Man konnte nur hoffen, daß ihr großes Opfer nicht umsonst gewesen war.
Am Mittag des folgenden Tages war nur noch wenig von den bedrohlichen Wetterzeichen zu sehen, die ihre Abfahrt so beschleunigt hatten. Als die langsame Prozession der Schiffe in die Bucht einlief und die Anker fallen ließ, strahlte die Sonne auf eine spiegelglatte Wasserfläche herab, als wolle sie dafür sorgen, daß den stummen Beobachtern an Land auch ja nichts verborgen blieb.
Bolitho stand auf der Schanz und beschattete seine Augen gegen das blendende Licht. Er sah, wie die Telamon, die schon so tief abgesackt war, daß das Wasser ihre unteren Stückpforten bedeckte, auf den Sandstrand unterhalb der Landzunge gezogen und auf Grund gesetzt wurde. Alle verfügbaren Boote waren ausgesetzt worden, um ihre Verwundeten an Land zu bringen. Dort warteten viele Leute, meist Frauen, die den ankommenden Booten im flachen Wasser entgegenwateten, um so früh wie möglich hineinzuschauen. Ihr Schmerz wirkte auf die große Entfernung keineswegs geringer.
Auf der erbeuteten Fregatte, die unterhalb der Hügelbatterie geankert hatte, rührten sich viele Hände, um unter der Leitung von Farquhar Vorbereitungen zur Ausschiffung der Gefangenen zu treffen und gleichzeitig die Schäden aus dem Gefecht mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln zu beseitigen. Hugh würde bald zurückkehren. Bolitho biß sich auf die Lippe. Es war seltsam, wie er seine privaten Probleme während der Jagd vergessen hatte. Und ihr Hauptproblem war immer noch, wie man den Kommodore aus seiner unerschütterlichen Stumpfheit reißen konnte. Er drehte sich schnell um, als von der Hügelbatterie ein Schuß
fiel.
Inch kletterte zur Schanz hinauf.»Sie haben ein Schiff gesichtet,
Sir.»
Bolitho starrte über den flachen Teil der Landzunge hinweg auf die offene See. Es mußte schon um das Kap herum sein und Kurs auf die Bucht genommen haben. Ein einzelnes Schiff konnte kaum ein Feind sein. Er sah Inch an.»Sicherlich Verstärkung für uns. «Er ging zur Reling.»Endlich!»
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis das einlaufende Schiff sich in voller Größe zeigte, und als es langsam in die Bucht hineinkreuzte, konnte sich Bolitho eines Gefühls der Erleichterung und der Hoffnung kaum noch erwehren. Es war ein Zweidecker, aber kleiner als die Hyperion. Im hellen Sonnenlicht sah er die erst kürzlich gestrichenen Bordwände und die frisch vergoldete Galionsfigur glänzen.
Signalflaggen wurden wie von Zauberhand an ihren Rahen hochgezogen, und er hörte, wie Carlyon dem wachhabenden Offizier zurief:»Es ist die Impulsive, vierundsechzig Kanonen, Sir. Sie hat Depeschen für den Kommodore.»
Inch sagte:»Von England!«Es kam aus tiefstem Herzen.
Bolitho sagte nichts. Die Impulsive war da, und mit ihr sein Freund Thomas Herrick. Er fühlte, wie seine Glieder zitterten, als ob das alte Fieber wieder ausgebrochen wäre, aber er achtete nicht darauf. Endlich jemand, dem er sich anvertrauen konnte. Der einzige Mann, mit dem er je Gedanken und Sorgen geteilt hatte, damals, als Herrick noch sein Erster Offizier war, und jetzt als Kommandant eines Linienschiffes. Er war da, und nichts konnte mehr so schlimm sein, wie es vor dem Krachen des Signalgeschützes gewesen war.
Er eilte die Leiter hinunter und sah seine Leute auf den Laufbrücken zu dem Neuankömmling hinüberstarren. Genau wie für ihn selber, war er ihnen mehr als nur eine Verstärkung. Die Impulsive kam aus England, und das bedeutete, daß sie für jeden etwas Besonderes darstellte: die Erinnerung an ein Dorf, eine grüne Wiese, an das Gesicht eines geliebten Menschen.
Leutnant Roth stand schon an der Einlaßpforte und musterte die angetretene Ehrenwache.
Bolitho beobachtete, wie der Anker der Impulsive ins Wasser klatschte und wie flink die Segel an den Rahen festgemacht wurden. Herrick hatte sich nicht zugetraut, selber ein Schiff zu führen. Oft genug hatte Bolitho ihm gesagt, daß er grundlos an seinen Fähigkeiten zweifle. Was er soeben an perfekter Seemannschaft gezeigt hatte, bestätigte das völlig.
Er hörte, wie Inch Leutnant Roth erzählte, daß der Kommandant, den sie gleich an Bord empfangen würden, früher einmal Erster Offizier auf der Hyperion gewesen war. Er war gespannt, ob Herrick bemerken würde, welche Veränderungen mit Inch infolge seiner größeren Verantwortung und vieler harter Arbeit vorgegangen war. Es würde ihm vielleicht wie ein kleines Wunder vorkommen. Bolitho mußte bei dem Gedanken an ihr Zusammentreffen lächeln. Aus dem Augenwinkel sah er Hauptmann Dawson seinen Säbel ziehen und die angetretenen Seesoldaten Haltung annehmen, als das Boot der Impulsive in die Kette der Rüsteisen einhakte.
Als ein Dreispitz in der Einlaßpforte auftauchte und die Bootsmannsmaatenpfeifen trillerten, trat Bolitho vor und streckte beide Hände zum Willkommensgruß aus.
Kapitän Herrick kletterte durch die Pforte und nahm seinen Hut ab. Dann ergriff er Bolithos Hände und hielt sie einige Sekunden fest. Seine Augen, die so strahlend blau und klar waren wie am ersten Tag, als sie einander begegnet waren, musterten ihn mit offensichtlicher Bewegung.
Bolitho sagte:»Es tut gut, Sie hier zu haben, Thomas. «Er nahm ihn am Arm und führte ihn zur Achterdeckstreppe.»Der Kommodore leidet noch an einer Verwundung, aber ich werde Sie sofort zu ihm bringen. «Er machte eine Pause und sah ihn wiederum an.»Wie sieht's aus in England? Konnten Sie Cheney noch sehen, bevor Sie ausliefen?»
«Ich habe Plymouth angelaufen, um Vorräte zu ergänzen, und bin auch aufs Land gefahren, um sie zu besuchen. «Herrick drehte sich um und ergriff seine Hände.»Mein Gott, wie soll ich es Ihnen sagen?»
Bolitho starrte ihn an, und es lief ihm eiskalt über den Rücken.»Was ist los? Ist etwas passiert?»
Herrick sah an ihm vorbei, und vor seinem Blick verwischte sich alles, als er noch einmal seinen Teil dieses schrecklichen Dramas durchlebte.
«Sie hatte Ihre Schwester besucht. Es sollte die letzte Reise sein, bevor das Kind geboren wurde. In der Nähe von St. Budock muß irgend etwas die Pferde erschreckt haben, denn sie gingen plötzlich durch, die Kutsche kam von der Straße ab und stürzte um. «Er machte eine Pause, aber als Bolitho nichts sagte, fuhr er fort:»Der Kutscher war sofort tot, und Ferguson, Ihr Verwalter, der mit im Wagen saß, zunächst besinnungslos. Als er wieder zu sich gekommen war, trug er Cheney zwei Meilen weit. «Er mußte heftig schlucken.»Für einen Einarmigen war das gewiß wie hundert Meilen. «Er faßte Bolithos Hände mit festem Griff.»Aber sie war tot. Ich habe den Doktor des Ortes und den Garnisonsarzt von Truro, der herübergeritten kam, gesprochen. Sie konnten nichts mehr für sie tun. «Er senkte den Blick.»Und auch nicht für das Kind.»
«Tot? «Bolitho zog die Hände zurück und trat zur Reling. Hinter ihm gingen die Seesoldaten der Ehrenwache plaudernd auf dem Weg in ihr Wohndeck vorbei, und hoch über ihm auf der Großrah saß ein Matrose und pfiff bei seiner Arbeit munter vor sich hin. Wie durch einen Nebel erkannte er Allday, der ihn von der obersten Stufe der Achterdeckstreppe beobachtete. Aus diesem Blickwinkel wirkte er kleiner, und sein Gesicht lag im Schatten. Es konnte nicht sein. Im nächsten Augenblick würde er aufwachen, dann war alles wieder wie zuvor.
Herrick rief:»Allday, sorgen Sie für Ihren Kommandanten!»
Und als Inch mit überraschtem und fragendem Gesicht auf ihn zutrat, gab er ihm einen Klapps auf die Schulter und sagte:»Melden Sie mich beim Kommodore, ob er verwundet ist oder nicht. «Er streckte den Arm aus, als Inch zu Bolitho hinübergehen wollte.»Und zwar sofort, Mr. Inch!»
Allday schritt schweigend neben Bolitho her, bis sie den Kartenraum erreicht hatten. Als Bolitho gleich am Schott in einen Stuhl sank, fragte er leise:»Was ist passiert, Käpt'n?»
«Meine Frau, Allday! Cheney…»
Doch ihren Namen auszusprechen, war zu viel. Er fiel nach vorn auf den Kartentisch und vergrub das Gesicht in den Armen, unfähig, seine Verzweiflung länger zu verbergen.
Allday stand Stockstill, überwältigt von Bolithos Kummer und seiner eigenen Unfähigkeit, ihm zu helfen.
«Ruhen Sie sich aus, Käpt'n. Ich hole Ihnen einen Drink.»
Er ging zur Tür, die Augen auf Bolithos Rücken gerichtet.»Wir werden wieder in Ordnung kommen, Käpt'n, passen Sie auf. «Dann rannte er aus dem Kartenraum, nur darauf bedacht, irgendwie zu helfen.
Wieder allein, richtete Bolitho sich vom Tisch auf und lehnte sich gegen das Schott. Dann, ganz vorsichtig, knöpfte er sein Hemd auf der Brust auf, nahm das Medaillon heraus und umschloß es fest mit der Faust.