Drei Wochen lang, nachdem die Hyperion und die beiden Fregatten das Geschwader verlassen hatten, liefen sie nach Südwesten; später, als der Wind launisch umsprang und sich zu voller Sturmstärke steigerte, wandte sie sich unter soviel Besegelung, wie die Sicherheit des Schiffes noch gerade erlaubte, nach Süden.
Als sich der Januar dann seinem Ende näherte, nahmen sie den Nordostpassat auf und hatten damit die längste und letzte Teilstrek-ke ihrer Reise erreicht. Mit dreitausend Meilen Ozean vor sich, waren sie auf nichts als die eigenen bescheidenen Hilfsmittel und Vorräte angewiesen.
Doch nach Bolithos Ansicht war das Wetter auf dem ersten Teil der Atlantiküberquerung ein willkommener Verbündeter gewesen. Kaum eine Stunde war vergangen, ohne daß die Besatzung alarmiert wurde, um Segel zu reffen oder zu trimmen; dadurch hatte sie wenig Zeit gefunden, über ihre unerwartete Einsamkeit oder die große Weite des Atlantik, die jeden Morgen ihre müden Augen begrüßte, zu brüten.
Trotz der Mühsal und Entbehrungen war Bolitho zufrieden, wie sich die Leute entwickelten. Wenn er an der Achterdecksreling stand und die Matrosen beobachtete, die sich mit Scheuersteinen und Schwappern plagten, konstatierteer offenkundige Veränderungen. Verschwunden waren blasse Hautfarbe und verhärmte Gesichter. Die Körper waren nach wie vor mager, aber zäh als Ergebnis harter Arbeit und der Seeluft, und sie verrichteten ihre täglichen Aufgaben, ohne daß sie ständig bewacht oder angetrieben werden mußten. Selbstverständlich spielte das Wetter dabei eine wichtige Rolle. Alle Farben waren anders. Der Himmel leuchtete blau statt des trüben Graus, und die seltenen Wolken glitten duftig einem
Horizont zu, der so hart und funkelnd wie eine Degenklinge schien. Die Hyperion nutzte den günstigen Passat zum größten Vorteil und hatte ihm ihre äußere Erscheinung angepaßt. Sie war jetzt mit hellen leichten Segeln getakelt anstelle der schweren Schlechtwetterleinwand und schien sich dem endlosen Panorama schimmernder Schaumkronen entgegenzuneigen, als ob es sie beglücke, die düstere Monotonie des Blockadedienstes hinter sich zu lassen.
Bolitho hob das Teleskop und bewegte es langsam oberhalb der Netze, bis er die winzige Segelpyramide fand, weit voraus an Steuerbord: ein kleiner Fleck am Horizont, der zeigte, daß die Fregatte Abdiel sich in der richtigen Position befand. Die andere Fregatte, die Spartan, stand zwanzig Meilen vor ihr und war völlig unsichtbar. Er schob das Glas zusammen und gab es dem Midshipman der Wache.
In solchen Augenblicken fiel es ihm schwer zu glauben, daß er nicht allein das Kommando hatte. Pelham-Martin schien nur selten an Deck zu kommen. Er hielt auf Distanz und blieb die meiste Zeit unerreichbar in der Achterkajüte. Jeden Morgen gewährte er Boli-tho eine kurze Audienz, hörte sich dessen Erläuterungen und Überlegungen an und beschränkte seine Äußerungen auf:»Das scheint ein recht guter Plan zu sein«, oder auf:»Wenn das Ihrer Ansicht nach das Beste ist, Bolitho?«Es war, als ob er sich selbst für die wirkliche Aufgabe aufsparte, die zu lösen noch bevorstand, und sich damit zufriedengab, den täglichen Kram dem Kommandanten zu überlassen.
Bis zu einem gewissen Punkt kam das Bolitho gelegen, doch soweit es um die wahre Bedeutung und den Sinn von Pelham-Martins Befehlen ging, tappte er völlig im Dunkeln.
Der Kommodore schien nicht bereit, der Betreuung der einzelnen Kapitäne mit bestimmten Aufgaben eine besondere Bedeutung beizumessen und überließ das völlig dem persönlichen Urteil Bo-lithos, obwohl der noch ein Neuling im Geschwader war. Bolitho dachte über die weit voraus segelnde Spartan nach und daß es Pelham-Martin beinahe zu überraschen schien, daß er den jungen Kommandanten der Fregatte schon kannte. Doch es war nur eine milde Überraschung, weiter nichts. Persönliche Beziehungen schien er auf Armeslänge von sich fernzuhalten, als ob sie überhaupt keine Bedeutung hätten.
Bolitho begann langsam auf- und abzugehen, dachte über die vergangenen Jahre nach, an die vielen Gesichter und Erlebnisse während seiner Dienstzeit auf See. Da war der Kommandant der Spartan. Charles Farquhar war unter ihm Midshipman gewesen, und Bolitho war der erste gewesen, der seinen Wert erkannte und ihn zum diensttuenden Leutnant ernannte. Mit neunundzwanzig Jahren war er jetzt Kapitän, und bei seiner Abkunft aus einer adligen Familie und seinen weitreichenden Verbindungen in der Marine würde er seine Karriere wahrscheinlich als Admiral und sehr reicher Mann beenden. Merkwürdigerweise hatte Bolitho ihn nie so recht leiden können, hatte aber dessenungeachtet von Anfang an erkannt, daß Farquhar scharfsinnig und einfallsreich war, wenn ihm jetzt auch nachgesagt wurde, daß er bei der Führung seines Schiffes ein Tyrann sei.
Doch die Spartan war jetzt das führende Schiff, und von dem raschen Urteil seines Kommandanten konnte Erfolg oder Fehlschlag dessen abhängen, was Pelham-Martin beabsichtigte.
Als Bolitho Pelham-Martin gegenüber einmal erwähnt hatte, daß Farquhar sein Mitgefangener an Bord eines amerikanischen Kaperschiffs gewesen war, hatte der Kommodore lediglich gesagt:»Sehr interessant. Sie müssen es mir gelegentlich erzählen. «Und während Bolitho jetzt in Gedanken versunken hin- und herschritt, fragte er sich unwillkürlich, wie Pelham-Martin reagieren mochte, wenn er je entdeckte, daß der Mann, in dessen Gefangenschaft Bolitho geraten war, sein eigener Bruder gewesen war.
Inch kam in seine Nähe und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
«Nun?«Bolitho wendete sich Inch abrupt zu und verdrängte das seltsame Verhalten seines Kommodore aus seinen Gedanken.»Was kann ich für Sie tun?»
«Geschützexerzieren, Sir?«fragte Inch. Er zog seine Uhr.»Ich hoffe, daß wir heute besser abschneiden.»
Bolitho unterdrückte ein Lächeln. Inch war gegenwärtig so ernsthaft, hatte sich aber als Erster Offizier erheblich verbessert.
«Sehr gut«, erwiderte Bolitho.»Es dauert immer noch zu lange, bis das Schiff gefechtsklar ist. Ich wünsche, daß es in zehn Minuten geschafft wird und keine Sekunde länger dauert. Es gibt auch zu viele Verzögerungen beim Laden und Ausrennen.»
Inch nickte düster.»Ich weiß, Sir.»
Bolitho drehte sich halb um, als aus den Wanten des Großmastes plötzlich Gelächter zu hören war. Er sah drei Midshipmen um die Wette zum Masttopp aufentern und erkannte in einem seinen Neffen. Merkwürdig, daß sie sich auf dem dichtbesetzten Schiff so selten begegneten, und es war kaum möglich, sich nach Pascoes Wohlergehen zu erkundigen, ohne den Anschein der Begünstigung oder, schlimmer noch, des Mißtrauens zu wecken.
Er sagte kühl:»Sie kennen meinen Standard: Gefechtsklar in zehn Minuten oder schneller. Dann alle zwei Minuten drei Breitseiten. «Er blickte Inch ruhig an.»Ich schlage vor, daß Sie heute morgen ein Geschütz den Midshipmen überlassen. Es wird sie vor Dummheiten bewahren und, was wichtiger ist, unseren Leuten einen Ansporn geben. Es wird ihnen guttun, wenn sie wissen, daß sie eine Bedienung aus Offizieren in Schnelligkeit und Genauigkeit schlagen können.»
Inch nickte.»Ich werde es sofort veranlassen, Sir. «Er errötete verlegen.»Ich — ich meine, auf der Stelle, Sir.»
Bolitho nahm sein Auf-und-ab-Gehen wieder auf. Die Wangenmuskeln schmerzten ihn, weil er zu verhindern versuchte, daß sich sein Grinsen über sein ganzes Gesicht ausbreitete. Es sah ganz so aus, als ob Inch versuche, in allem seinem Kommandanten nachzueifern, sogar in seiner Sprechweise.
Genau bei zwei Glasen verließ Bolitho das Achterdeck und machte sich auf den Weg zur Achterkajüte. Er traf Pelham-Martin am Tisch sitzend an, eine seidene Serviette unter dem Kinn und als Abschluß seines späten Frühstücks eine letzte Tasse Kaffee trinkend.
Er sagte:»Ich habe für die Mannschaft Geschützexerzieren befohlen, Sir.»
Pelham-Martin betupfte seinen kleinen Mund mit dem Zipfel seiner Serviette und runzelte die Stirn, als das Deck vom Rumpeln der Geschützlafetten und dem Stampfen von Füßen erbebte.
«So hat es den Anschein. «Er brachte seine schwere Gestalt in eine andere Stellung in seinem Sessel.»Gibt es sonst etwas zu melden?»
Bolitho betrachtete ihn unbewegt. Es war immer das gleiche.»Wir steuern Westsüdwest, Sir, und der Wind ist stetig wie bisher.
Ich habe die Bramsegel setzen lassen, und mit etwas Glück sollten wir St. Kruis in drei Wochen erreichen.»
Pelham-Martin schnitt eine Grimasse.»Das klingt sehr zuversichtlich. Aber selbstverständlich kennen Sie diese Gewässer. «Er blickte auf den Stoß Papiere und Seekarten auf dem Schreibtisch.»Ich hoffe zu Gott, daß uns in St. Kruis neue Nachrichten erwarten. «Er runzelte die Stirn.»Natürlich kann man bei den Holländern nie genau wissen.»
Bolitho sah zur Seite.»Es ist für keinen leicht, wenn sein Vaterland erobert wird, Sir.»
Der Kommodore grunzte.»Das interessiert mich nicht. Der entscheidende Punkt ist, werden sie uns helfen?»
«Ich glaube schon, Sir. Die Holländer sind immer gute Freunde gewesen. Genauso, wie sie ehrenhafte und mutige Gegner waren.»
«Mag sein. «Pelham-Martin erhob sich auf seine kurzen Beine und bewegte sich langsam über das krängende Deck. Am Schreibtisch blätterte er unschlüssig in den Papieren und sagte dann bitter:»Meine Befehle geben mir keinen wirklichen Hinweis darauf, was ich zu erwarten habe. Keinerlei Richtlinien. «Er brach ab und drehte sich heftig um, als ob er auf Kritik gefaßt wäre.»Nun? Was meinen Sie?»
Langsam entgegnete Bolitho:»Ich finde, wir sollten uns etwas zutrauen. Versuchen, Lequiller und seinen Schiffen immer einen Schritt voraus zu sein und vorherzusehen, was er beabsichtigt. Er wird andere zwingen, ihm zu helfen und ihn mit Nachschub zu versorgen. Aber ihm muß auch ständig bewußt sein, daß sein Geschwader verletzlich ist. Darum muß er bemüht sein, es ohne Verzögerung und mit der größtmöglichen Wirkung einzusetzen. «Er trat an die Seekarte heran.»Ihm muß bewußt sein, daß er gejagt wird, und das gibt ihm einen Vorteil.»
Pelham-Martin stützte sich schwer auf den Schreibtisch.»Das weiß ich selbst, verdammt noch mal.»
«Es ist notwendig, daß wir ihn stellen und daran hindern, seine Absichten zu verwirklichen, ehe er handeln kann.»
«Du lieber Himmel, Mann, wissen Sie, was Sie damit sagen?«Sein Ton war schockiert.»Sie schlagen vor, daß ich an irgendeinen Punkt auf der Karte segeln und mich da festsetzen und auf ihn warten soll.»
Ruhig erwiderte Bolitho:»Eine Jagd bleibt eine Jagd, Sir. Selten kann eine Formation Schiffe eine andere überholen, ohne ungewöhnlich viel Glück zu haben. Um einen Haifisch zu fangen, braucht man einen geeigneten Köder; einen, der so verlockend ist, daß auch der abgefeimteste Hai nicht widerstehen kann.»
Pelham-Martin strich sich über das Kinn.»Schatzschiffe. Denken Sie daran, Bolitho?«Mit unsicheren Schritten durchquerte er die Kajüte.»Wenn Lequiller beabsichtigt, anderswo anzugreifen, und wir am entgegengesetzten Ende der Karibik auf der Lauer liegen…«Er schauderte unwillkürlich.»Ich würde dafür verantwortlich gemacht.»
Vielleicht begann der Kommodore erst jetzt, die volle Bedeutung seiner Aufgabe zu erkennen, dachte Bolitho. St. Kruis ohne jede Verzögerung zu erreichen, war noch nicht einmal der Anfang. Es gab zahllose Inseln, manche nur den Piraten und Abtrünnigen jeder Art bekannt. Und Lequiller hatte bei seinen früheren Unternehmungen vermutlich viele davon kennengelernt: Verstecke für seine Schiffe, wo er Frischwasser übernehmen, wo er Informationen sammeln und Unrast säen konnte; immer standen ihm ausgedehnte Seegebiete zur Verfügung, um unverzüglich und unauffindbar zu verschwinden.
In seinem Dilemma tat Pelham-Martin Bolitho beinahe leid. Vermutlich war Cavendish bereits getadelt worden, weil es ihm nicht gelungen war, die französischen Schiffe in ihren Häfen festzuhalten. Noch wahrscheinlicher war sogar, daß er Pelham-Martin als Sündenbock benutzen würde, falls noch einmal etwas schiefging.
Andererseits räumten die klar formulierten Befehle dem Kommodore großen Spielraum ein. Und Bolitho wußte, wenn ihm die gleiche Chance geboten worden wäre, hätte er die Gelegenheit gierig wahrgenommen, Lequiller unter seinen Bedingungen zu stellen und zu schlagen.
Es klopfte, und Inch trat, den Hut unter dem Arm, über die Schwelle.
«Was gibt's?«Noch eine Minute länger, und es wäre möglich gewesen, daß Pelham-Martin ihm mehr anvertraut hätte.
Inch schluckte.»Bitte um Entschuldigung, daß ich störe, Sir. «Er sah Pelham-Martin an.
Der Kommodore ließ sich in einen Sessel sinken und winkte ab.»Sprechen Sie bitte, Mr. Inch. «Er schien über die Unterbrechung beinahe erleichtert zu sein.
Inch sagte:»Mr. Stepkyne wünscht eine Bestrafung zu verhängen, Sir. Aber die Umstände. «Er blickte auf seine Füße.»Es handelt sich um Mr. Pascoe, Sir.»
Pelham-Martin antwortete milde:»Kaum eine Affäre für den Kommandanten, möchte ich meinen.»
Bolitho wußte, daß hinter Inchs Worten viel mehr stand.»Schik-ken Sie Mr. Stepkyne bitte nach achtern.»
Pelham-Martin murmelte:»Wenn Sie Ihr Urteil lieber woanders verkünden wollen, habe ich dafür gewiß Verständnis, Bolitho. Es ist immer mißlich, wenn man einen Verwandten an Bord hat. Da kommt man manchmal nicht umhin, voreingenommen zu sein, oder?»
Bolitho sah auf ihn hinab, aber die Augen des Kommodore waren undurchsichtig und ohne Ausdruck.
«Ich habe nichts zu verbergen. Vielen Dank, Sir,»
Stepkyne kam in die Kajüte, das dunkle Gesicht sehr beherrscht.
Inch sagte:»Es war wirklich nichts Besonderes, Sir. «Fest fügte er hinzu:»Beim Geschützexerzieren wurde einem Kanonier der Fuß gequetscht, als sie einen Zwölfpfünder ausrannten. Die Mids-hipmen wechselten sich als Geschützführer ab, und Mr. Pascoe weigerte sich, sein Geschütz auszurennen, solange der Mann von der Konkurrenz nicht ersetzt war. Er sagte, das wäre ein unfairer Vorteil, Sir.»
Stepkyne hielt den Blick auf einen Punkt über Bolithos Schulter gerichtet.»Ich befahl ihm, mit dem Exerzieren fortzufahren, Sir. Beim Artillerieschießen ist kein Platz für so kindische Spielereien. «Er hob die Schultern, als sei die Angelegenheit zu trivial, um darüber zu reden.»Doch er war nicht bereit, meinen Befehl zu befolgen. Darum löste ich ihn ab. «Er preßte die Lippen zusammen.»Er muß bestraft werden, Sir.»
Bolitho spürte, daß der Kommodore ihn beobachtete, fühlte sogar, wie amüsiert er war.
«War das alles?»
Stepkyne nickte.»Ja, Sir.»
Inch trat einen Schritt vor.»Der Junge wurde provoziert, Sir. Ich bin überzeugt, er wollte nichts Unrechtes tun.»
Stepkyne zuckte mit keiner Wimper.»Er ist kein Junge, Sir. Er gilt als Offizier, und ich dulde keine Unverschämtheiten, weder von ihm noch von jemand anderem, der im Rang unter mir steht.»
Bolitho sah Inch an.»Hat Mr. Pascoe Ihrer Ansicht nach in irgendeiner Form Insubordination gezeigt?«Sein Ton wurde schärfer.»Die Wahrheit, Mr. Inch!»
Inch machte ein unglückliches Gesicht.»Nun ja, Sir. Er nannte den Zweiten Offizier einen verdammten Lügner.»
«Verstehe. «Bolitho verschränkte die Finger hinter dem Rücken.»Wer hat es außer Ihnen gehört?»
Inch antwortete:»Mr. Gascoigne und Ihr Bootsführer, glaube ich,
Sir.»
Bolitho nickte kalt.»Sehr gut, Mr. Inch. Sie können eine Strafe verhängen.»
Die Tür schloß sich hinter den beiden Offizieren, und PelhamMartin sagte vergnügt:»Nun, da drohte doch keine Meuterei, oder? Jedenfalls haben ein paar Schläge mit dem Rohrstock noch keinem geschadet. Ich möchte wetten, daß auch Sie in Ihrer Jugend die Bekanntschaft mit der Zuchtrute gemacht haben.»
«Mehrmals, Sir. «Bolitho sah ihn kalt an.»Aber ich erinnere mich nicht daran, daß es mir gutgetan hätte.»
Pelham-Martin zuckte mit den Schultern und erhob sich.»Dem sei, wie es mag. Jetzt werde ich mich eine Weile hinlegen. Ich habe über vieles nachzudenken.»
Bolitho blickte ihm nach, verärgert über sich selbst, weil er seine Sorge gezeigt hatte, und über Pelham-Martins Mangel an Verständnis.
Als Bolitho später in dem kleinen Kartenraum saß und in seinem Mittagsmahl stocherte, versuchte er, sich auf die französischen Schiffe zu konzentrieren, zu überdenken, was er aus des Kommodore kurzem Anfall von Vertraulichkeit erraten konnte, und sich dann in die Lage des feindlichen Befehlshabers zu versetzen.
Es klopfte, und er hörte den Wachtposten der Marinesoldaten rufen:»Midshipman der Wache, Sir.»
«Herein. «Ohne sich umzudrehen, wußte Bolitho, daß es Pascoe war. In der kleinen Kabine konnte er sein schnelles Atmen hören und nahm, als er sprach, den Schmerz in seiner Stimme wahr.
«Mr. Roths Respekt, Sir, und ob er mit den Neunpfündern auf dem Achterdeck exerzieren darf?»
Bolitho drehte sich um und betrachtete den Jungen ernst. Sechs Schläge mit dem Rohrstock des Bootsmanns waren immer schwer zu ertragen. Tomlins Arm war wie ein Baumast, und Pascoes schlanker Körper bestand mehr aus Knochen denn aus Fleisch. Und obwohl Bolitho es besser gewußt hatte, war er nicht in der Lage gewesen, sich von dem Skylight fernzuhalten, als die kurze Bestrafung vollzogen wurde; bei jedem zischenden Schlag hatte er unwillkürlich mit den Zähnen geknirscht und doch Stolz empfunden, als nicht ein einziger Schmerzensschrei oder Protestruf Pascoes zu hören gewesen war.
Jetzt sah er blaß aus und kniff die Lippen zusammen, und als ihre Blicke sich über dem Kartentisch begegneten, konnte Bolitho Pas-coes Schmerzen fast wie seine eigenen fühlen.
Als Kommandant hatte er sich von seinen Offizieren fernzuhalten, aber es wurde von ihm erwartet, daß er alles bemerkte und alles über sie wußte. Sie mußten ihm vertrauen und ihm folgen, aber er sollte sich in keiner Weise einmischen, wenn es um Fragen der Disziplin ging. Falls nicht. Die Worte klangen wie ein Vorwurf in ihm nach.
«Sie müssen verstehen, Mr. Pascoe, daß Disziplin auf einem Kriegsschiff von allergrößter Bedeutung ist. Ohne sie gibt es keine Ordnung und Schlagkraft, wenn es wirklich darauf ankommt. Noch stehen Sie am Fuß einer hohen, gefährlichen Leiter. Eines Tages, vielleicht früher als erwartet, werden Sie an der Reihe sein, Strafen zu verhängen, vielleicht sogar über das Leben eines Mannes zu entscheiden.»
Pascoe schwieg, den Blick auf Bolithos Mund gerichtet.
«Mr. Stepkyne hatte recht. Geschützexerzieren ist zwar ein Wettkampf, aber kein Spiel. Das Überleben dieses Schiffes und jedes einzelnen an Bord hängt von seiner Kampfkraft ab. Sie können ein Schiff von Plymouth bis ans Ende der Welt führen, und manche mögen dann sagen, Sie hätten Ihre Sache gut gemacht. Doch so lange Sie es nicht neben ein feindliches Schiff gelegt haben und die
Kanonen sprechen lassen, wissen Sie nicht, wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Untergang ist.»
Pascoe erwiderte leise:»Er hat gesagt, mein Vater wäre ein Verräter und Rebell, und er würde keinen Widerspruch von einem Bastard dulden. «Sein Mund bebte, Tränen des Zorns traten ihm in die Augen.»Ich — ich habe erwidert, daß mein Vater ein Offizier des Königs war, aber — aber er hat mich nur ausgelacht. «Er schlug die Augen nieder.»Da nannte ich ihn einen Lügner.»
Bolitho packte die Tischkante. Es war eingetreten, und er hatte selbst schuld. Er hätte damit rechnen müssen, daran denken sollen, daß auch Stepkyne aus Falmouth stammte und ganz bestimmt von seinem Bruder gehört hatte. Aber sein Wissen zu nutzen, um einen Untergebenen zu demütigen, der zu jung und unerfahren war, um die Bedeutung des Exerzierens zu erkennen, das war jämmerlich.
Langsam sagte er:»Sie haben Ihre Bestrafung tapfer hingenommen, Mr. Pascoe.»
«Darf ich etwas fragen, Sir?«Pascoe sah ihn wieder an, sein Gesicht bestand nur aus Augen.»Stimmt das, was er gesagt hat?»
Bolitho stand auf und ging zu den Regalen mit zusammengerollten Seekarten.»Nur teilweise. «Er hörte den Jungen hinter sich aufschluchzen und fügte hinzu:»Hugh hatte seine Gründe dafür, daß er so gehandelt hat, aber eines kann ich Ihnen versichern: Er war ein tapferer Mann. Einer, auf den Sie stolz gewesen wären, wenn Sie ihn gekannt hätten. «Er drehte sich zu dem Jungen um.»Und ich weiß, daß er auch auf Sie stolz gewesen wäre.»
Pascoe ballte die Fäuste.»Man hat mir gesagt…«Seine Stimme schwankte. Er suchte nach Worten.»Man hat mir immer gesagt…«Er fand die Worte nicht.
«Solange man klein ist, wird einem vieles erzählt. Wie Mr. Step-kyne gesagt hat, sind Sie jetzt Offizier und müssen lernen, mit der Wirklichkeit fertigzuwerden, in welcher Form sie sich auch zeigt.»
Pascoes Stimme kam wie aus weiter Ferne.»Ein Verräter? Mein Vater war ein Verräter?»
Bolitho sagte traurig:»Eines Tages werden Sie verstehen, genau wie ich gelernt habe, ihn zu verstehen. Ich werde Ihnen später mehr von ihm erzählen; vielleicht sind Sie dann nicht mehr ganz so verbittert.»
Pascoe schüttelte so heftig den Kopf, daß ihm das Haar über die
Augen fiel.»Nein, Sir. Weiter will ich nichts wissen. Ich will nie wieder von ihm hören.»
Bolitho wandte sich ab.»Machen Sie weiter, Mr. Pascoe. Mein Kompliment an Mr. Roth, und er kann eine Stunde lang mit den Geschützen exerzieren.»
Nachdem der Midshipman schnell die Kajüte verlassen hatte, starrte Bolitho auf die geschlossene Tür. Er hatte versagt. Im Lauf der Zeit konnte ein Teil des Schadens vielleicht repariert werden. Ärgerlich setzte er sich wieder. War das wirklich möglich? Unwahrscheinlich, und es wäre dumm, sich etwas vorzumachen. Doch als er an Stepkynes kaltherzige Anschuldigung und das gequälte Gesicht des Jungen dachte, wurde ihm bewußt, daß er etwas tun mußte.
Als er an Deck ging, um das Geschützexerzieren zu beobachten, bemerkte er, daß Gascoigne neben Pascoe trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Doch der Junge schüttelte sie ab und wendete sich ab. Es hatte ihn noch tiefer getroffen, als Bolitho befürchtet hatte.
Inch kam heran.»Es tut mir leid, Sir. «Er machte ein tief bedrücktes Gesicht.
Bolitho wußte nicht, ob er von dem Jungen sprach oder von der für ihn neuen Entdeckung über Bolithos Bruder. Mit unbewegtem Gesicht erwiderte er:»Dann lassen Sie uns mit den Achterdecksgeschützen exerzieren, Mr. Inch. Sonst könnte uns allen noch sehr vieles leid tun.»
Als das Schrillen der Pfeifen den Beginn des Exerzierens ankündigte, ging Bolitho nach Luv und blickte zum Wimpel auf. Wohin er auch ging, was er auch tat, immer schien die Erinnerung an seinen Bruder über ihm zu hängen. Und jetzt war auch ein anderer betroffen, einer, der noch weniger in der Lage war als er, mit Ereignissen fertig zu werden, die längst hätten vergessen sein sollen.
Manche Kanoniere, die seinen Gesichtsausdruck bemerkten, bemühten sich, schneller zu sein als sonst. Und Inch, der mit den Händen auf dem Rücken dabeistand, wie er es oft an Bolitho gesehen hatte, beobachtete ihn ratlos. Mit seiner eigenen Unzulänglichkeit konnte er es jetzt aufnehmen, denn er kannte seine Mängel. Doch als er Bolithos finsteres Gesicht sah, war ihm unbehaglich, und vage Befürchtungen überkamen ihn.
Vielleicht sollte man besser nicht die schützende Aura durchdringen, die einen Kommandanten umgab, dachte er. Ein Kommandant mußte den alltäglichen Umgang meiden, denn ohne Distanz hätte man einen gewöhnlichen Menschen in ihm sehen können.
Bolithos Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.»Mr. Inch, wenn Sie jetzt soweit sind, dann treten Sie von den Geschützen zurück.»
Inch fuhr auf und grinste mit einer gewissen Erleichterung. Das war der Bolitho, den er verstand, und er fühlte sich nicht mehr ganz so verletzlich.
Vier Wochen später, als die Hyperion sich mühsam in einem leichten Nordost voranarbeitete, signalisierte die Abdiel, daß ihr Ausguck endlich die Insel St. Kruis gesichtet hatte. Bolitho nahm die Meldung mit gemischten Gefühlen entgegen. Es bot ihm nur geringen Trost, daß er nach mehreren tausend Meilen Ozean und ohne einem einzigen Schiff zu begegnen, eine perfekte Landung machen würde. Er wußte, daß sie ihr Ziel um Tage, sogar eine Woche früher hätten erreichen können, wenn nicht Pelham-Martins enervierende Unfähigkeit gewesen wäre, sich an einen festgelegten Plan zu halten, und seine offenkundig nicht vorhandene Bereitschaft, bereits beschlossene Entscheidungen auszuführen. Vor Trinidad zum Beispiel hatte die Abdiel einen einzelnen Segler am Horizont gesichtet, und nachdem an die Spartan Signal gegeben worden war, sich den anderen Schiffen anzuschließen, hatte Pelham-Martin eine Kursänderung befohlen, um den Unbekannten zu stellen. Das war kurz vor Einbruch der Abenddämmerung gewesen; Bolitho war der Ansicht, daß es sich um ein lokales Handelsschiff handelte, denn ihm schien es unwahrscheinlich, daß Lequiller sich so nahe bei einem spanischen Stützpunkt aufhalten würde.
Als sie wieder ihren alten Kurs aufnahmen, weil sie das fremde Schiff nicht gefunden hatten, war durch Pelham-Martins Saumseligkeit und Unentschlossenheit eine weitere lange Verzögerung entstanden, weil er eine Depesche aufgesetzt hatte, die durch die Spartan überbracht werden sollte. Aber nicht nach St. Kruis, sondern weit nach Südwesten an den spanischen Generalbevollmächtigten in Caracas.
Bolitho hatte neben dem Schreibtisch gestanden, während Pelham-Martin den dicken Umschlag versiegelte, und bis zum letzten Augenblick gehofft, daß er den Kommodore von seiner Absicht abbringen könne.
Die Spartan war nützlicher, wenn sie vor den beiden anderen Schiffen als Kundschafter eingesetzt wurde, statt dem spanischen Gouverneur eine wortreiche und überflüssige Nachricht zu überbringen. Nach Bolithos Erfahrungen hatten die Spanier nie im Ruf großer Schweiger gestanden, und bald würde sich weit und breit die Nachricht verbreiten, daß englische Schiffe aufgetaucht waren; es gab immer genug Spione, die solche Neuigkeiten an die Stellen weitergaben, für die sie von Bedeutung waren.
Und obwohl Pelham-Martin nicht bereit war zu kämpfen, obwohl der größere Teil seiner Streitkräfte noch Tage oder gar Wochen weit entfernt war, gab er Informationen preis, die ihm nur schaden konnten.
Doch Pelham-Martin blieb eisern.»Das ist eine Frage der Höflichkeit, Bolitho. Ich weiß, wie wenig Vertrauen Sie in die Spanier setzen, aber zufällig weiß ich auch, daß der Generalgouverneur ein Mann von hoher Herkunft ist. Ein Gentleman erster Ordnung. «Er sah Bolitho mit einem gewissen Mitleid an.»Kriege werden nicht nur mit Pulver und Kanonen gewonnen. Vertrauen und Diplomatie spielen eine wichtige Rolle. «Er hob den Umschlag.»Lassen Sie das hier zur Spartan bringen, und nehmen Sie dann den alten Kurs wieder auf. Signalisieren Sie der Abdiel, ihre gegenwärtige Position beizubehalten.»
Kapitän Farquhar mußte über seinen neuen Auftrag erleichtert gewesen sein. Fast noch ehe das Boot von der Spartan abgelegt hatte, um zur Hyperion zurückzukehren, blähten sich die Segel der Fregatte; ihr Rumpf wurde von plötzlicher Aktivität erfüllt, als sie wendete und sich von den anderen Schiffen entfernte.
Doch jetzt hatten sie endlich St. Kruis erreicht. Das grelle Licht der Mittagssonne wich langsam dem milden, orangefarbenen Abendglühen, als die Ausgucks der Hyperion meldeten, daß sie einen Höhenzug sichteten, der die kleine Insel in Ost-WestRichtung halbierte.
Bolitho stand an der Achterdecksreling und hob sein Glas, um den verschwommenen, violetten Umriß zu studieren, der langsam über den dunkler werdenden Horizont aufstieg. Über St. Kruis war nicht viel bekannt, aber das wenige hatte er sich deutlich eingeprägt.
Die Insel maß zwanzig mal fünfzehn Meilen und wies eine geräumige Bucht an der Südwestecke auf. Dieser große Naturhafen war der Hauptgrund für die Holländer gewesen, die Insel in Besitz zu nehmen. Ständig war er von Piraten und Kaperschiffen benutzt worden, um einem arglosen Westindienfahrer oder einer Galeone aufzulauern; die Holländer hatten diese Insel eher aus Notwendigkeit besetzt als aus dem Bedürfnis, ihren Kolonialbesitz zu erweitern.
Nach Bolithos Informationen gab es auf St. Kruis einen Gouverneur und gewisse Verteidigungsanlagen, welche die gemischte Bevölkerung aus holländischen Aufsehern und importierten Sklaven vor fremder Einmischung schützen sollten.
Er stützte die Hände auf die Reling und sah auf das Hauptdeck hinunter. Beide Gangways waren von Matrosen und Marinesoldaten dicht besetzt, die alle über den Bug hinweg auf den verwischten Flecken Land blickten. Wie fremd mußte er den meisten ersche inen, dachte er, diesen Männern, die an grüne Felder oder städtische Slums gewöhnt waren, an die Menschenfülle in den unteren Decks. Auch denen, die durch unerbittliche Preßkommandos von ihren Lieben fortgerissen worden waren, mußte er wie ein fremder Planet erscheinen. Nach Monaten auf See, bei schlechter Verpflegung und jedem Wetter, kamen sie jetzt an einen Ort, an dem ihre Sorgen unbekannt waren. Die Veteranen an Bord hatten ihnen oft genug von solchen Inseln erzählt, nun waren sie ein sichtbarer Teil der Welt geworden, in die sie freiwillig oder gezwungen eingetreten waren.
Rücken und Schultern der Matrosen waren sonnengebräunt, wenn auch manche schlimme Blasen von der Arbeit in der unbarmherzigen Sonne aufwiesen. Bolitho war dankbar, daß nichts Schlimmeres als Blasen sie zeichnete. Bei einer neuen Besatzung hätten unter diesen Umständen die Rücken vieler Männer von den grausamen Narben der neunschwänzigen Katze entstellt sein können. Neben sich hörte er schwere Schritte, und als er sich umdrehte, sah er den Kommodore, der auf das Hauptdeck hinabblickte. Seine Augen waren halb verdeckt, weil er gegen die untergehende Sonne blinzelte.
Bolitho sagte:»Wenn der Wind nicht nachläßt, können wir morgen früh Anker werfen. Auf der Ostseite der Bucht befinden sich breite Riffe, deshalb müssen wir von Süden her einlaufen, um ihnen auszuweichen.»
Pelham-Martin antwortete nicht sofort. Er war ruhiger und entspannter, als Bolitho ihn je gesehen hatte, und schien guter Laune zu sein.
Plötzlich sagte er:»Seit einiger Zeit denke ich, daß dieser ganze Aufwand womöglich völlig ungerechtfertigt ist, Bolitho. «Er nickte gewichtig.»Ja, ich habe kürzlich sehr viel nachgedacht.»
Bolitho hielt die Lippen zusammengepreßt. Pelham-Martin hatte während der Überfahrt mehr Zeit in seiner Koje als an Deck verbracht, ob nun nachdenkend oder nicht, Bolitho hatte jedenfalls oft sein Schnarchen durch die dünne Trennwand zum Kartenraum gehört.
Pelham-Martin fuhr fort:»Lequillers Auftrag kann lediglich ein Ablenkungsmanöver sein. Um mehr Schiffe von der Blockade fortzulocken, von Oussant und Lorient, damit die ganze Flotte ausbrechen und in den Kanal einlaufen kann. «Er sah Bolitho vergnügt an.»Das wäre eine schöne Ohrfeige für Sir Manley, wie? Die Enttäuschung könnte er nie verwinden.»
Bolitho hob die Schultern.»Ich halte es für unwahrscheinlich,
Sir.»
Das Lächeln verschwand.»Ach, Sie sehen die Dinge nie richtig. Dazu braucht man Phantasie, Bolitho. Phantasie und das Wissen, wie der Verstand des Menschen funktioniert.»
«Jawohl, Sir.»
Pelham-Martin funkelte ihn an.»Wenn ich auf Sie gehört hätte, wären wir inzwischen in Gott weiß was verwickelt worden.»
«An Deck! Abdiel setzt zur Wende an, Sir.»
Pelham-Martin bellte:»Wenn er um Erlaubnis bittet, noch heute abend in den Hafen einzulaufen, teilen Sie ihm mit: abgelehnt!«Mit schweren Schritten ging er auf den Niedergang zu.»Wir werden gemeinsam einlaufen, und meine Flagge wird an der Spitze sein.«Über die Schulter fügte er gereizt hinzu:»Fregattenkapitäne! Verdammte junge Schnösel würde ich sie nennen.»
Bolitho lächelte grimmig. Kapitän Pring von der Abdiel konnte gerade noch trotz des schwindenden Tageslichts einen Ankerplatz erreichen. Wenn die Vorräte an Verpflegung und Wasser schon auf der Hyperion gering waren, dann mußten seine fast völlig erschöpft sein. Und er mußte wissen, daß der Zweidecker nach dem Ankern erst einmal seinen eigenen Bedarf decken würde. Ohne Mühe konnte Bolitho sich an Gelegenheiten erinnern, als er mit einer Fregatte von zweiunddreißig Geschützen untätig vor dem Hafen hatte warten müssen, während drei ankernde Linienschiffe die lokalen Händler und Lieferanten leergekauft hatten, ehe er seinen Bedarf aus den spärlichen Resten decken durfte.
Midshipman Gascoigne war bereits in die Besanwanten aufgeentert und hatte sein Glas auf die ferne Fregatte gerichtet. Als sie anmutig durch den Wind drehte, fing ihre Takelage die letzten Sonnenstrahlen auf, so daß die geblähten Rahsegel wie rosa Muscheln schimmerten.
Manche der Matrosen auf dem Achterdeck hatten die letzten Worte des Kommodore gehört und grinsten, als die Signalflaggen an der Gaffel der Abdiel auswehten.
Ein alter Stückführer, dessen Zopf bis zur Hüfte reichte, brummte:»Geschieht ihnen recht, finde ich. Die sollen sich Zeit lassen und uns die erste Chance bei den braunen Schönen geben.»
«Abdiel an Hyperion: Geschützfeuer in West zu Nord!»
Gascoignes Stimme erreichte viele der Männer auf den Gangways, und ihr überraschtes Murmeln ließ den Kommodore oben am Niedergang innehalten, als ob er vom Schlag getroffen wäre.
Bolitho befahl knapp:»Bestätigen!«Pelham-Martin rief er zu:»Das muß ein Angriff auf den Hafen sein, Sir.»
«Abdiel bittet um Erlaubnis, mehr Segel zu setzen, Sir. «Gas-coignes Blicke zuckten zwischen seinem Kommandanten und der gewichtigen Gestalt des Kommodore hin und her.
Pelham-Martin schüttelte den Kopf.»Abgelehnt. «Vor Hast, an Bolithos Seite zu kommen, stolperte er fast bei den zwei letzten Schritten.»Abgelehnt!«Er schrie das Wort, offenbar außer sich vor
Wut.
Bolitho sagte:»Ich stimme Ihnen zu, Sir. Schiffe, die stark genug sind, einen befestigten Hafen anzugreifen, würden mit seinen schwachen Planken kurzen Prozeß machen. «Was er wirklich dachte, behielt er für sich. Daß die Situation nämlich völlig anders hätte sein können, wenn die Sparten noch bei ihnen gewesen wäre. Zwe i schnelle Fregatten, die von der offenen See her anstürmten, konnten einiges an Wirkung erzielen, ehe sie sich den Vorteil der sinkenden Dunkelheit zunutze machten. Aber vom Kommandanten der Abdiel allein wäre es zuviel verlangt gewesen; außerdem mußten Stunden vergehen, bis die Hyperion eine vorteilhafte Position erreichen konnte. Inzwischen war es dann dunkel und zu gefährlich, zu dicht unter Land zu gehen.
Pelham-Martin sagte rasch:»Signalisieren Sie an Abdiel, Position in Luv einzunehmen. «Er beobachtete, wie die Signalflaggen zur Rah aufstiegen.»Ich muß nachdenken.»
«Abdiel hat bestätigt, Sir.»
Bolitho sah, daß die Rahen der Fregatte rundgebraßt wurden, als sie begann, sich in Richtung des Hecks der Hyperion zu drehen. Er vermochte sich die Enttäus chung ihres Kommandanten vorzustellen.»Wir können nach Südwest steuern, Sir. Beim ersten Tageslicht sind wir dann in einer besseren Position, um die Angreifer zu überraschen.»
Pelham-Martin schien sich bewußt zu werden, daß auf dem dichtbesetzten Hauptdeck zahllose Augen auf ihn gerichtet waren.»Schicken Sie diese Maulaffen an die Arbeit. Ich will nicht von einer Bande verdammter Faulenzer angestarrt werden.»
Bolitho hörte die plötzlich überall einsetzende Aktivität und die gebrüllten Befehle. Pelham-Martin wollte nur Zeit gewinnen. Sein rasch wechselnder Gesichtsausdruck verriet deutlich seine Ratlosigkeit.
In etwas beherrschterem Ton sagte er: «Indomitable und Hermes können in wenigen Tagen hier sein. Mit ihrer Unterstützung werde ich mehr erreichen, ode r?»
Bolitho sah ihn ernst an.»Sie können ebensogut noch Wochen aufgehalten werden, Sir. Auf diese Chance können wir uns nicht einlassen. Und auch nicht auf das Risiko.»
«Chance? Risiko?«Pelham-Martin sprach in einem wilden Flüstern.»Es geht dabei um meinen Kopf. Wenn ich angreife, den Kampf aufnehme, und wir überwältigt werden, was dann?»
Bolithos Ton wurde härter.»Wenn wir es nicht tun, können wir die Insel verlieren. Unsere Schiffe brauchen nicht erst in der Schlacht geschlagen zu werden. Sie können auch durch Hunger und Durst bezwungen werden.»
Pelham-Martin suchte in Bolithos Gesicht, sein Ausdruck war gleichzeitig verzweifelt und flehend.»Wir könnten nach Caracas segeln. Die Spanier haben vielleicht Schiffe, die uns unterstützen.»
«Das würde zu lange dauern, Sir, selbst wenn die Dons dort Schiffe hätten und bereit wären, uns zu helfen. In der Zwischenzeit hat Lequiller dann St. Kruis genommen, und wir müßten eine Flotte aufbieten, um ihn zu vertreiben, und das unter hohen Kosten.»
Der Kommodore wandte sich wütend ab.»Lequiller! Das ist alles, woran Sie denken können. Vielleicht ist er gar nicht hier.»
Kalt entgegnete Bolitho:»Ich glaube nicht, daß daran ein Zweifel bestehen kann, Sir.»
«Also, wenn Sie ihn nicht hätten entkommen lassen, wenn Sie die Stellung gehalten hätten, statt Anker zu lichten, wäre es zu all dem hier gar nicht gekommen.»
«Und die zweihundert Gefangenen hätte ich hängen lassen sollen, Sir?«Bolitho bemerkte, daß sich die breiten Schultern des Kommodore spannten.»Hätte ich das tun sollen?»
Pelham-Martin wendete sich ihm wieder zu.»Entschuldigen Sie, aber ich bin überarbeitet. «Er spreizte die Hände.»Aber was soll ich tun mit nur einem Linienschiff?»
«Sie haben keine Wahl, Sir. «Bolitho bemühte sich, ruhig zu sprechen, konnte seinen Zorn aber nicht verbergen.»Sie können kämpfen, oder Sie können Zuschauer bleiben. Wenn Sie sich für das Letztere entscheiden, weiß der Feind, daß er tun kann, was er will. Und unsere Freunde hier werden es auch wissen.»
Pelham-Martin sah ihn an. Sein Gesicht lag jetzt im Schatten, nachdem die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hinter dem Horizont verschwunden waren.»Also gut. «Er wartete, als ob er auf seine eigenen Worte lausche.»Ich werde tun, was Sie vorschlagen. Doch wenn wir versagen, Bolitho, werde nicht ich allein die Konsequenzen tragen. «Er drehte sich um und ging in seine Kajüte.
Bolitho starrte ihm mit gerunzelter Stirn nach. Wenn wir versagen, wird keiner mehr übrig sein, um darüber zu streiten, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, dachte er bitter.
Dann sah er sich nach Inchs hagerer Gestalt an der Reling um.»Mr. Inch, lassen Sie für die Abdiel eine abgeschirmte Hecklampe setzen. Dann können Sie die Großsegel für die Nacht bergen. «Er hörte, wie Inch seine Befehle weitergab, hob dann sein Glas und blickte durch das dunkle Netz des Riggs.
Die Insel war in der Dunkelheit verschwunden, ebenso jeder Widerschein von Geschützfeuer. Der Feind mußte jetzt auf die Morgendämmerung warten.
Inch kam nach achtern getrabt.»Sonst noch etwas, Sir?«Es klang atemlos.
«Sorgen Sie dafür, daß die Leute gut verpflegt werden. Vielleicht müssen wir morgen auf das Frühstück verzichten.»