XVIII Endlich: das Signal

Wie Bolitho vorausgesehen hatte, wich die erste allgemeine Begeisterung über die Rückkehr den Belastungen knochenbrechender Arbeit, die damit für jeden Mann verbunden war. Als sie aus der friedlichen Zone des Passats in die Roßbreiten gelangten, wurden sie das Opfer von irritierenden und enttäuschenden Verzögerungen. Denn in der Weite des Ozeans drehten die schwachen Winde unaufhörlich, manchmal zweimal während einer Wache, so daß alle ständig damit beschäftigt waren, die Segel neu nach dieser oder jener Seite zu trimmen, um auch nicht eine Mütze voll Wind zu vergeuden.

Schließlich setzte der Wind ganz aus, und zum ersten Mal seit St. Kruis schaukelte die Hyperion flügellahm mit schlaff hängenden Segeln in einer unangenehmen Dünung. Die meisten Leute an Bord waren zunächst dankbar für die Ruhepause. Doch ihre Hoffnung auf Ruhe verflog schnell, als Bolitho Inch befahl, sie anders zu beschäftigen und die Zeit zu nutzen, um die Schlechtwettersegel anzuschlagen, die sie bald brauchen würden.

Sechzehn Tage nach dem Ankerlichten erwischten sie eine steife Südwestbrise, halsten unter einem bleifarbenen Himmel und nahmen Kurs Ost für den letzten Abschnitt ihrer Fahrt.

Bolitho wußte, daß ihn viele Leute verfluchten, wenn wieder einmal der Ruf» Alle Mann! Alle Mann an Deck!«erscholl und ihre müden Leiber in die Wanten und auf die schaukelnden Rahen trieb. Ihre Welt bestand nur noch aus heulendem Wind und durchnässendem Gischt, wenn sie hoch über Deck mit aufgerissenen und blutenden Fingern die nasse Leinwand hochholten und mit Fäusten zusammenschlugen, bevor sie die Beschlagzeisinge herumschlingen konnten. Dabei hatten sie zu kämpfen, daß sie nicht den Halt verloren und nach unten in den sicheren Tod stürzten. Doch Bolitho hatte jetzt nur wenig Zeit für ihre Gefühle, wenigstens nicht mehr, als er sich selber in einem Augenblick der Ruhe gönnte.

Zu jeder anderen Zeit wäre er stolz, ja begeistert über die Art gewesen, wie das alte Schiff und seine Besatzung sich verhielten. Als die Meilen unter dem Kiel dahinrauschten und die Farbe des Ozeans in ein dumpfes Grau wechselte, wußte er, daß ihn viele Kommandanten um die schnelle Reise beneiden würden.

Wie immer, wenn er aufs Achterdeck kam, stand die Impulsive nicht weit hinter ihnen. Ihre dunklen Schlechtwettersegel gaben ihr das Aussehen von Zielstrebigkeit und grimmiger Entschlossenheit. Von der Hermes dagegen war nichts mehr zu erblicken. Bolitho hatte sich schon gefragt, ob Fitzmaurice sich vielleicht entschlossen haben mochte, vorsätzlich zurückzufallen und ihn sich selbst zu überlassen. Aber es war fruchtlos und unfair, so etwas überhaupt zu denken. Solche Gedanken entsprangen nur der Ungewißheit und seinem alles andere zurückdrängenden Willen, das Schiff wie nie zuvor anzutreiben.

Jeden Tag hatte er den Kommodore in seiner Schlafkammer besucht, doch selbst das schien jetzt zwecklos. Pelham-Martin sprach selten mit ihm und starrte aus seiner Koje nur an die Decke, ohne sich die Mühe zu machen, seine Genugtuung über Bolithos nichtssagende Berichte zu verbergen. Trotz Pelham-Martins stummer Feindseligkeit war Bolitho über dessen Aussehen beunruhigt. Er aß wenig, trank zum Ausgleich aber eine Menge Brandy. Er schien niemandem in seiner Nähe zu trauen und hatte sogar Petch mit einer Flut von Drohungen weggejagt, als der Unglückliche versucht hatte, ihm den Schweiß vom Gesicht zu wischen.

Seltsamerweise hatte der Kommodore jedoch nach Sergeant Munro verlangt, einem älteren Seesoldaten, der vor seiner Dienstzeit einmal Diener in einem Gasthof gewesen war und etwas vom Umgang mit Höhergestellten verstand. Bolitho hatte allerdings den

Verdacht, daß der Kommodore Munro mehr als Leibwächter gegen einen eingebildeten Feind denn als Diener ausgewählt hatte.

Pelham-Martins Stimme war offenbar fester, aber er hatte es abgelehnt, daß Trudgeon nach ihm sah oder daß sein Verband in letzter Zeit gewechselt wurde. Bolitho war überzeugt, daß er sich nur verstellte und Zeit bis zu dem Augenblick gewinnen wollte, da er seinen Irrtum zugeben mußte.

Mit seinem Bruder hatte Bolitho nicht mehr gesprochen, aber eines Nachts, als der Wind unerwartet zu voller Sturmstärke auffrischte, hatte er ihn mit einigen Matrosen aufentern gesehen, um das Besanstagsegel zu bergen, das mit einem Knall, den man selbst im Tosen der See und dem Geheul der Takelage nicht überhören konnte, von oben bis unten zerrissen war. Pascoe war an seiner Seite gewesen, und als sie beide schließlich wieder an Deck standen, hatten sie einander so fröhlich zugelacht wie Verschworene, die etwas Privates, Besonderes verband.

Während die Tage vergingen, hielt sich Bolitho möglichst von seinen Offizieren fern und beschränkte sich auf dienstliche Kontakte. Der Südwestwind zeigte keine Ermüdungserscheinungen, und während das Schiff durch die endlose Weite der schaumgekrönten See stampfte und rollte, ging Bolitho ruhelos auf dem Achterdeck auf und ab, ohne auf seine durchnäßte Kleidung zu achten, bis Allday ihn schließlich überreden konnte, zu einem Teller Suppe und einer kurzen Ruhepause nach achtern zu kommen. Überall im Schiff troff es von Feuchtigkeit, und in den unteren Decks hockten die Männer der Freiwache zusammengekauert hinter den geschlossenen Stückpforten, schliefen oder warteten auf die nächste karge Mahlzeit; alle hofften, daß ihre Reise endlich ein Ende finden möge.

Die Köche hatten tatsächlich nur wenig anzubieten; in ihrer ewig schaukelnden Kombüse, zwischen dem Gewirr von Töpfen und angebrochenen Fässern mit gesalzenem Schweine- oder Rindfleisch, konnten sie ohne Zauberei kaum etwas Besseres hervorbringen.

Am Mittag des siebenundzwanzigsten Tages stand Bolitho an der Querreling und sah zu, wie Inch und Gossett eifrig mit ihren Sextanten hantierten. Es hatte etwas aufgeklart, und gerade über ihnen waren die Wolken zu langen Fahnen ausgefranst, zwischen denen ein wässriges Sonnenlicht die Illusion von Wärme verhieß. Gossett sagte bedächtig:»Ich hätte es nicht für möglich gehalten,

Sir!»

Bolitho übergab Carlyon seinen eigenen Sextanten und hielt sich mit einer Hand an der abgenutzten Reling fest. Siebenundzwanzig Tage, also drei weniger, als er sich in St. Kruis zum kaum erreichbaren Ziel gesetzt hatte.

Inch trat an seine Seite und fragte vorsichtig:»Was nun, Sir?»

«Die Spartan klärt dort schon seit ein paar Tagen auf, Mr. Inch. «Bolitho musterte den verschwommenen Horizont. In dem einheitlichen Metallgrau war kaum ein Unterschied zwischen Himmel und Wasser zu erkennen.»Wir bleiben bis zur Abenddämmerung auf diesem Kurs. Vielleicht hören wir bis dahin etwas Neues von Kapitän Farquhar.»

Aber nichts geschah, auch tauchte nirgendwo ein Segel auf und unterbrach die unendliche Monotonie der lang dahinrollenden Wogen. Bei aufkommender Dunkelheit wendeten sie und legten sich unter gerefften Marssegeln hoch an den Wind. Nichts in Sicht auch am nächsten Tag, noch am Tage darauf, und als die Ausguckposten im Mast einander immer wieder ablösten und ihr täglicher Trott sich über Minuten und Stunden hinschleppte, wußte Bolitho, daß es — außer ihm — nur wenige an Bord gab, welche die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten.

Die Stimmung an Bord wurde gereizter, hier und da flammten unter den auf engem Raum zusammengepferchten Leuten alte Spannungen auf und endeten in Prügeleien. Drei Mann wurden ausgepeitscht, und ein sonst zuverlässiger Bootsmannsmaat mußte in die Arrestzelle gesperrt werden, weil er sich geweigert hatte, zur Nachtwache aus seiner Hängematte zu kommen.

Fünf Tage, nachdem sie den vermutlichen Treffpunkt erreicht hatten, sichteten die Ausguckposten die Spartan, die sich aus südwestlicher Richtung näherte. Für kurze Zeit kehrte etwas von der alten Erregung zurück. Männer kletterten in die Wanten und Masten und sahen zu, wie die Spartan wendete und sich in Lee der Hyperion legte.

Midshipman Carlyon setzte sein Glas ab und blickte Bolitho an.

«Sie hat nichts zu melden, Sir. «Er senkte den Blick, als ob er daran schuld sei. »Spartan bittet um Befehle.»

Bolitho war sich bewußt, daß Inch und die anderen ihn beobachteten, obwohl sie, wenn er sich umdrehte, alle mit anderen Dingen beschäftigt schienen.

Langsam antwortete er:»Signalisieren Sie: Spartan soll Position in Luv von uns einnehmen, wie die Dasher.»

Er sah zu, wie die Fregatte abfiel und ihre Rahen herumschwangen, als Farquhar sich erst einmal von der Hyperion freisegelte. Die Bordwand der Spartan trug Streifen vom Salzwasser, und in ihrer Takelage waren mehrere Leute dabei, Schäden auszubessern, die sie von den ständigen Püffen des schlechten Wetters davongetragen hatte. Wie es auf der kleinen Korvette aussah, wagte Bolitho sich gar nicht vorzustellen. Trotzdem hatte die Dasher mit ihnen Schritt gehalten, hatte sich durch Stürme gekämpft und in Flauten mit ihnen gelitten, und zu jeder Morgenwache hatten ihre Marssegel herübergegrüßt.

Bolitho sagte:»Ich gehe nach achtern, Mr. Inch.»

Der Leutnant kam auf die Luvseite hinüber und fragte zögernd:»Werden Sie den Kommodore besuchen, Sir?«Er sah Bolithos Blick und fügte hinzu:»Noch ist Zeit, Sir. Wir können es gemeinsam ausbaden, wenn Sie wollen.»

Bolitho lächelte.»Es besteht kein Anlaß, diesen Augenblick beschleunigt herbeizuführen. «Er sah ihn ernst an.»Aber trotzdem vielen Dank. Die letzten Tage waren ziemlich hart für uns alle.»

Als er wegging, hörte er Inch sagen:»Diese verfluchten Froschfresser!»

Vor der Schlafkammer hielt Bolitho kurz an und machte erst dann die Tür auf. Pelham-Martin sah ihn einige Sekunden schweigend an. Dann fragte er:»Nun, geben Sie sich endlich geschlagen?«Bolitho klemmte seinen Hut fester unter den Arm.»Es ist nichts in Sicht, Sir. Das Rendezvous ist überfällig.»

Pelham-Martins Augen blitzten kurz auf.»Holen Sie mir meinen Schreibblock!«Er beobachtete Bolitho, der an das eingebaute Spind ging.»Ich werde Sie augenblicklich Ihres Amtes entheben. Sie haben meine Befehle nicht befolgt und haben Vorteil aus meiner Verwundung gezogen. In diesem Sinne werde ich meinen Bericht abfassen.»

Bolitho legte den Block auf die Koje und sah ihn unbewegt an. Seine Glieder fühlten sich so leicht, als ob er Opium genommen hätte; nichts schien ihn zu berühren, was hier vor sich ging.

Der Kommodore befahl:»Holen Sie einen Zeugen!»

In diesem Augenblick erschien Inch in der Tür und starrte sie neugierig an. Er sagte:»Der Ausguck im Vormars hat die Hermes gesichtet, Sir.»

Pelham-Martin rührte sich unter seiner Decke.»Gut, dann wird das Geschwader geschlossen nach England zurücksegeln. «Sein Blick konzentrierte sich auf Inch.»Sie werden dieses Dokument hier als Zeuge unterschreiben. Und wenn Sie sich entsprechend verhalten, werde ich Sie vor dem Kriegsgericht retten.»

Inch sagte heiser:»Nichts von dem, was geschah, geschah ohne meine Zustim.. »

Bolitho unterbrach ihn scharf:»Bezeugen Sie lediglich dieses Dokument, Mr. Inch, und seien Sie kein Narr!»

«Recht so!«Pelham-Martin schien sich in seine Decke verwik-kelt zu haben. Er rief:»Munro, kommen Sie sofort!»

Der Sergeant betrat die Kammer und stellte sich ans Kopfende der Koje.»Richten Sie mich auf, verdammt noch mal!»

Als Munro ihn um die Schultern faßte, stieß Pelham-Martin einen so gräßlichen Schrei aus, daß er ihn aufs Kissen zurückfallen ließ.

Bolitho befahl kurz:»Bleiben Sie dort stehen!«Er zog die Decke zurück und starrte die Schulter an, die aus dem Verband herausragte.»Holen Sie sofort den Arzt!«Ihm wurde fast übel vor Entsetzen: Der Oberarm des Kommodore und der sichtbare Teil der Schulter leuchteten hellgelb wie eine reife Melone, und als er die Haut vorsichtig berührte, fühlte sie sich brennend heiß an.

Pelham-Martin blickte zu ihm auf.»Was ist? Um Gotteswillen, warum starren Sie mich so an?»

Inch murmelte:»Du lieber Himmel!»

«Die Wunde hat sich entzündet, Sir.»

«Sie lügen!«Der Kommodore versuchte, sich aufzurichten, fiel aber mit einem Schmerzenslaut zurück.»Sie sagen das nur, um Ihren Kopf zu retten!»

Trudgeon drängte sich an Inch vorbei und musterte schweigend die verfärbte Haut. Dann sagte er tonlos:»Der Splitter muß entfernt werden, Sir. «Er sah Bolitho zweifelnd an.»Selbst dann bin ich nicht sicher…»

Pelham-Martin schrie wild:»Rühren Sie mich nicht an! Ich befehle Ihnen, sich fernzuhalten!»

«Es hat doch keinen Sinn, Sir!«Bolitho sah ihn ernst an.»Sie dachten, ein so kleiner Splitter könne kein Unheil anrichten. Dennoch haben Sie sich daran infiziert. «Sein Blick fiel auf die leere Karaffe.»Oder Ihr Blut ist infiziert. «Er schaute weg, da er die angsterfüllten Blicke des Mannes nicht mehr ertragen konnte.

Der Narr. Der arme, ängstliche Narr! Um einer Entscheidung aus dem Wege zu gehen, hatte er sich diese schreckliche Geschichte eingebrockt. Er dachte plötzlich an die Schiffe und all die Menschen, die von ihm abhängig gewesen waren, und setzte entschieden hinzu:»Es gibt keine andere Möglichkeit, Sir. «Er nickte Trud-geon zu.»Sie haben meine Einwilligung.»

Pelham-Martin schrie:»Ich befehle Ihnen. «Er wand sich hin und her, der Schweiß lief ihm über die Brust, als er Inch ins Auge faßte:»Ich habe Kapitän Bolitho bereits seines Kommandos enthoben!»

Über sich auf der Schanz hörten sie plötzlich Getrappel und gedämpfte Hochrufe. Sie sahen einander an und drehten sich wie auf Kommando zur Tür um, als Midshipman Carlyon hereinstürzte.

«Sir!«Er dämpfte die Stimme, als er den leidenden Kommodore sah.»Signal von Hermes!«Er hob sein zerschlissenes Notizbuch näher an die Augen.»Unbekanntes Segel im Nordwesten.»

Bolitho sah ihn an.»Vielen Dank, Mr. Carlyon. Nun aber schleunigst zurück zu Ihren Flaggen!«Und zu Inch sagte er:»Ich komme gleich an Deck. «Er lächelte.»Und Dank für Ihre Loyalität.»

Dann wandte er sich um und schaute auf den Kommodore hinunter.»Es muß Lequillers Geschwader sein, Sir. Ich werde Sie auf dem laufenden halten, soweit es mir möglich ist. «Er ging zur Tür, gerade als Trudgeon seinen Leuten winkte, hereinzukommen.

Die Luft an Deck war sauber und erfrischend. Ein leichter Sprühregen hatte eingesetzt, aber der Wind wehte noch immer beständig aus Südwesten, und der Wimpel an der Mastspitze stand fast bewegungslos vor dem trüben Himmel.

Gossett berichtete:»Kurs West zu Nord. Voll und bei, Sir.»

Bolitho nickte und hob ein Teleskop ans Auge. Backbord voraus konnte er die Obersegel der Hermes wie gestochen erkennen.

Carlyon rief:»Von Hermes, Sir! >Schätze auf fünf Linien-schiffe

Bolitho senkte sein Glas und sah Inch an. All diese Tage und Wochen des Wartens, Hoffens und Planens hatten sie zur rechten Stunde an die richtige Stelle gebracht.

Er befahl:»Gehen Sie einen Strich nach Steuerbord, Kurs Westnordwest. »

Während Inch nach seinem Sprachrohr suchte, winkte Bolitho Midshipman Carlyon zu sich heran und sah, wie Inch innehielt, um zuzuhören.

«Mr. Carlyon, machen Sie ein Signal für das ganze Geschwader. «Er zögerte, als er die Blicke der Leute rundherum auf sich gerichtet sah.

«Feind in Sicht!»

Als die Signalflaggen hochstiegen und auswehten, fragte sich Bo-litho, was die anderen Kommandanten wohl empfinden würden, wenn sie das Signal ablasen. Als sie noch in St. Kruis über seine Gedanken und Vorschläge nachgedacht hatten, mußten sie Zweifel, viele Zweifel gehabt haben. Jetzt aber, angesichts dieses Signals, würden sich ihre Zweifel verflüchtigen und ihre Gedanken sich nur noch auf den bevorstehenden Kampf richten. Auf einen Kampf, bei dem es um Leben oder Tod ging.

Achteraus, auf der Impulsive, war das >Verstanden<-Zeichen bereits gehißt. Er konnte sich vorstellen, mit welchen Augen Herrick jetzt sein Schiff ansah, sein erstes Kommando, das er vielleicht binnen weniger Stunden wieder verlieren würde.

Er zog seine Uhr aus der Tasche und ließ den Deckel aufschnappen. Genau zwei Uhr. Wie zur Bestätigung schlug die Schiffsglok-ke auf der Back viermal an.

Als er sein Teleskop wieder hob, sah er, daß die Hermes größer und deutlicher geworden war. Er dankte Gott für die guten Augen ihres Ausgucks. Wie leicht hätten die beiden Geschwader aneinander vorbeifahren können, ohne etwas vom anderen zu bemerken. Oder was wäre gewesen, wenn sie einander gerade im Augenblick des Kontaktes in einer Regenbö wieder aus den Augen verloren hätten?

Lequiller hatte sehr wahrscheinlich seinerseits die Hermes gesichtet und kaum eine andere Wahl, als sie anzugreifen. Denn die Hermes stand zwischen ihm und seinem Ziel, der Küste, und da das Tageslicht noch mehrere Stunden anhielt, mußte er diesen dürftigen Gegner vor seinem Bug zum Kampf stellen und vernichten, wenn er nicht vom Jäger zum Wild werden wollte.

Bolitho befahl:»Signal an Hermes: Nehmen Sie Position hinter mir ein!«Er dachte wieder an Herrick. Ihn würde dieses Signal sicher enttäuschen, aber wenn sein Vierundsechzig-Kanonen-Schiff den ersten Zusammenprall überstehen sollte, mußte er den beiden stärkeren Zweideckern den Vortritt mit einleitenden Breitseiten lassen. Er setzte hinzu:»Danach machen Sie Signal an alle: Vorbereiten zum Gefecht!»

«An Deck!«Der Ruf vom Mast ließ alle nach oben blicken.»Segel voraus in Lee. «Kurze Pause.»Mehr als ein Schiff, Sir!»

Bolitho nickte Inch zu.»Lassen Sie >Klar Schiff zum Gefecht< und > Alle Mann auf Gefechtsstationen< anschlagen.»

Zwei Trommler der Seesoldaten eilten zum Niedergang und begannen mit ihrem eindringlichen Wirbel. Der schnelle Trommelschlag schien die Bestätigung all ihrer Hoffnungen zu sein, und als die Leute aus den unteren Decks hochkamen und auf ihre Plätze rannten, jubelten die anderen, die schon auf Wache waren, und winkten mit ihren Haltstüchern zur Hermes hinüber, die sich mit einem eleganten Manöver in die Mitte der Schlachtlinie einreihte. Bolitho sah Fitzmaurice mit seinen Offizieren und hob die Hand in Erwiderung seines Grußes.

Er hörte, wie unter Deck Zwischenwände und Möbelstücke we g-geräumt wurden, und sah, wie eilige Füße in den Wanten aufenterten, um die Rahen mit Ketten zu sichern, während wieder andere Tomlins Decksmannschaft halfen, die Schutznetze über den Geschützbedienungen auszubringen.

Er sagte zu Inch:»Geben Sie Befehl, die Boote in Schlepp zu nehmen. «Er dachte an ihre Entfernung vom Land und an die sonst geringe Überlebenschance, wenn das Schlimmste passieren sollte.

Inch kam wenige Sekunden später, bleich vor Anstrengung, zurück.»Schiff ist klar zum Gefecht, Sir. «Er schaffte ein Grinsen.»In genau sechs Minuten!»

«Sehr gut!«Bolitho lächelte ebenfalls.»Sehr gut!»

Er ging zurück zur Querreling und schaute auf das menschengefüllte Hauptdeck hinunter. Jede Kanone war besetzt und bereit. Die Geschützführer spähten — mit dem Gerät ihrer Zunft behangen — nach achtern. Die Decks waren mit Sand bestreut, und wenn die steife Brise anhielt, würden die Männer beim Ausrennen ihrer Geschütze festen Halt unter den Füßen wirklich brauchen können.

Er sagte:»Signal an alle: >Segelfläche reduzieren«. «Fröstelnd schaute er zum Wimpel hinauf. Bald war es soweit. Sehr bald. Hoffentlich würde der Feind seinen ersten Entschluß nicht ändern, wenn er sie in voller Stärke sah.

«An Deck! Fünf Linienschiffe und ein anderes, Sir!»

Gossett brummte:»Das wird das spanische Schatzschiff sein.»

Bolitho zwang sich, langsam zu gehen und die Hände auf dem Rücken zu behalten. Als er an den Neunpfündern des Achterdecks vorbeikam, drehten sich einige Leute um und beobachteten ihn, als könnten sie etwas von seiner scheinbaren Ruhe auf sich überfließen lassen und als Talisman bewahren.

Hauptmann Dawson kletterte von der Schanz herunter. Über ihm und rundherum standen die Seesoldaten in sauber ausgerichteten Reihen an den Netzen, die Musketen neben sich und die Uniformen so korrekt wie immer.

Bolitho nickte ihm zu.»Gehen Sie nach vorn und sprechen Sie mit Ihrem Leutnant. Die Karronaden werden heute viel Arbeit bekommen. Ihre Scharfschützen sollen den Bedienungen so viel Feuerschutz geben wie möglich.»

Dawson zupfte an seinem Kragen.»Jawohl, Sir. «Er warf einen mißmutigen Blick auf das graue Wasser.»Ein Bad würde mir heute ganz und gar nicht schmecken.»

Weitere Matrosen sprangen von den Wanten aufs Deck, nachdem das riesige Großsegel endlich festgezurrt war und das Schiff in einem Zustand der Hochspannung zur Ruhe kam. Abgesehen vom Zischen des Spritzwassers und dem Summen der Takelage war es wieder ganz still.

Inch fragte:»Werden wir die Luvposition einnehmen, Sir?»

«Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. «Bolitho machte einen langen Arm und schnappte sich das Glas von Carlyon. Als er es gegen die Netze stützte, sah er die feindlichen Schiffe zum ersten Mal. Es war schwierig, auf diese Entfernung ihre Formation zu erkennen.

Die einander überlappenden Marssegel und die flatternden Flaggen erweckten den Eindruck, als käme ein riesiges Ungeheuer über die Kimm gekrochen, um ihnen Tod und Verderben zu bringen.

Er gab das Glas zurück. Über das Schiff an der Spitze gab es keinen Zweifel. Es war Lequillers Flaggschiff, der gewaltige Dreidek-ker Tornade. Sie war erst zwei Jahre alt und mit einhundert Kanonen bewaffnet. Besser, sich an sie zu erinnern, wie sie damals vor Anker lag und die unglücklichen Gefangenen an ihrer Großrah baumelten, als jetzt über die Verheerungen nachzudenken, die ihre gewaltige Artillerie anrichten konnten.

Ohne dieses Schiff wäre das Kräfteverhältnis annehmbar, wenn auch nicht ganz fair gewesen. Fünf gegen drei. Aber die überragende Feuerkraft der Tornade verschob das Kräfteverhältnis ganz gewaltig zu ihren Ungunsten.

Er preßte den Mund zu einer dünnen Linie zusammen.

«Der Wind flaut etwas ab, Sir«, meldete Gossett verdrießlich.»Das ist die typische Bosheit der Biskaya.»

Bolitho nickte. Wenn der Wind ganz aufhörte, würde das ihr erstes Scharmützel noch verheerender machen und ihre Aussichten, Lequillers Schiffe so zu beschädigen, daß er seinen Plan verschieben oder aufgeben mußte, noch unwahrscheinlicher.

Unterhalb der Reling hörte Bolitho leise Stimmen, und als er hinunterschaute, sah er einige Seeleute, die sich an den Laufbrücken hochgezogen hatten und die näherkommenden Schiffe beobachteten, wobei sie wohl die Stärke des Feindes erkannten.

Das war schlecht. Auf die Annäherung des Feindes zu warten, war immer der schlimmste Teil des Gefechts. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und während der ganzen Zeit konnte man nichts anderes tun, als beobachten und überlegen; dabei ging leicht die Zuversicht verloren und machte Verzweiflung Platz.

Bolitho winkte einem der Spielleute.»Komm her, mein Junge. «Der Trommelbube schaute ängstlich unter seinem Tschako zu ihm hoch.»Kannst du auch Querpfeife spielen?«Er bemühte sich, ihm zuzulächeln, und spürte, wie sich dabei die Haut an seinen Mundwinkeln schmerzhaft verzog.

«Jawoll, Sir!«Der Knabe zuckte aufgeregt mit den Wimpern und zog die Pfeife aus seiner Bandeliere.

In diesem Augenblick, als Bolitho versuchte, sich eine Melodie oder einen Shanty einfallen zu lassen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Männer vom Feind ablenken konnte, ertönte aus dem Achterschiff ein schrecklicher Schrei. Er hielt auf gleicher Tonhöhe immer noch an, als die Männer an den Kanonen auf den dunklen Gang hinter dem Steuerrad starrten, der zur Kajüte führte. Ein Rudergänger löste sogar den Griff um die Radspeichen und sah sich entsetzt um.

Der schreckliche Schrei brach ab, sein Echo schien aber noch lange in der Luft zu hängen. Bolitho biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht an den fetten, nackten, auf dem Tisch festgehaltenen Leib zu denken, in den das Messer des Schiffsarztes den ersten tiefen Einschnitt getan hatte.

Er fragte scharf:»Also?»

Der Trommelbube hob die Pfeife, aber seine kleinen rauhen Hände zitterten, als er sie an die Lippen führte.

Gossett sagte barsch:»Wie wär's mit dem Mädel aus Ports-mouth«. Er warf den Kanonieren und den reglos dastehenden Seesoldaten einen drohenden Blick zu.»Los, singt, ihr Waschlappen, oder ich fahre gleich zwischen euch!»

Als ein neuer schrecklicher Schrei die Luft zerriß, wurden die schwachen Pfeifentöne von den Matrosen auf dem Achterdeck aufgenommen, dann — zunächst langsam — von den Bedienungen der Zwölfpfünder und sogar von einigen Leuten oben auf den Gefechtsständen der Masten.

Bolitho ging auf die Luvseite und hielt das Gesicht in den Wind. Die Stimmen der Männer, die lauter wurden und sich über den Wind erhoben, das geistige Bild von Pelham-Martins Qualen, alles war Teil der Unwirklichkeit um ihn herum. Aber fast am schlimmsten waren die Worte des Liedes, das Gossett so eilig vorgeschlagen hatte, um die Schreie aus der Kajüte zu übertönen.

«Ich kannte ein Mädel in Portsmouth Town.»

Es war der gleiche Shanty, den sie gesungen hatten, als die Hyperion sich an jenem bitterkalten Wintermorgen aus dem Plymouth-Sund freigearbeitet hatte.

Er wandte den Kopf, als einer von Trudgeons Gehilfen mit einem Leinenbündel aus der Hütte trat. Der Mann hielt einen Augenblick inne und lauscht dem Gesang, bevor er das blutbefleckte Bündel über die Leereling warf.

Bolitho fragte:»Wie ging es?»

Der Sanitätsmaat zog eine Grimasse.»Ein kleiner Splitter, Sir, nicht größer als meine Fingerspitze. «Zornig zuckte er die Achseln.»Aber Eiter und Dreck für zehn Männer!»

«Verstehe. «Es war sinnlos, weitere Fragen zu stellen. Der Maat war nur eine Verlängerung von Trudgeons Armen, mit denen ein Opfer festgehalten wurde; die Schrecken seines Berufs hatten ihn so abgehärtet, daß er für Gefühle kein Organ mehr besaß.

Bolitho ließ ihn stehen und hob wieder das Teleskop. Wie schnell die französischen Schiffe eine Kiellinie gebildet hatten und wie unzerstörbar sie aussahen! Unter gerefften Segeln, die Rümpfe in dem eigenartigen Licht matt glänzend, schienen sie sich wie an einer unsichtbaren Schnur zu bewegen, und zwar auf einem Kurs, der mit dem der drei englischen Schiffe zusammenlief. In weiter Ferne, und durch ihr hohes Achterschiff gerade noch hinter der dräuenden Schlachtlinie erkennbar, sah er die San Leandro, auf der Perez und seine Ratgeber zweifellos warteten, daß ihm der Weg für seine Heimkehr zu Macht und Reichtum geöffnet wurde.

De Block hatte erzählt, daß der Gouverneur von Las Mercedes schon über siebzig Jahre alt sei. Es war unwahrscheinlich, daß er lange genug lebte, um sich seiner Heimat längere Zeit zu erfreuen, selbst wenn die Franzosen es ihm erlaubten.

Er warf das Teleskop in seine Halterung. Nun war er schon so weit, daß er ihre Niederlage in seine Gedankenkette einbaute. Nein, Lequiller würde nicht siegen, und Perez würde die Vernichtung seiner Verbündeten noch erleben.

Knapp drei Meilen trennten die beiden Geschwader, aber immer noch ließ sich nicht sagen, welche Schiffe die Luvposition einnehmen würden. Es war besser, den augenblicklichen vorsichtigen Annäherungskurs beizubehalten, als die Schlachtordnung durch ein Manöver in letzter Minute zu gefährden.

Das Singen hatte aufgehört, und als Bolitho das Schiff entlang blickte, sah er, daß die Männer an ihren Kanonen standen und nach achtern, auf ihn, schauten.

Er nickte.»Sie können jetzt laden und ausrennen lassen, Mr. Inch. Es wird Zeit, daß wir ihnen die Zähne zeigen.»

Inch grinste und eilte davon. Minuten später klappten die Deckel der Stückpforten hoch und rumpelten die Kanonen auf quietschenden Rollwagenlafetten an die Verschanzung. Die Geschützführer griffen nach den Abzugsleinen und gaben leise letzte Anweisungen.

Midshipman Pascoe kam aus dem Hauptluk gerannt und meldete vom Fuß der Leiter zum Achterdeck:»Untere Batterie geladen und fertig, Sir!«Er drehte sich um und wollte zurückrennen, als Bolitho ihn anhielt.»Kommen Sie her, Mr. Pascoe!»

Der Junge stieg aufs Achterdeck und legte die Hand an den Hut. Seine Augen strahlten, und seine sonst bleichen Wangen hatten vor Eifer Farbe bekommen.

Bolitho sagte ruhig:»Schauen Sie mal da hinüber!«Er wartete, bis der Junge auf einen Poller geklettert war, um über die Hängemattsnetze hinwegsehen zu können.

Pascoe starrte eine volle Minute auf die große Ansammlung von Segeln, die sich von Steuerbord voraus bedrohlich auf sie zu bewegte. Dann sprang er wieder herunter und sagte:»Das sind 'ne ganze Menge, Sir. «Er hob das Kinn, und als er ihn ansah, meinte Bolitho, daß dieses Gesicht gut in die Ahnengalerie des nun leerstehenden Hauses in Falmouth passen würde. Impulsiv streckte er die Hand aus und faßte Pascoe am Arm.»Passen Sie auf sich auf, Mr. Pascoe. Keine Tollheiten heute, ja?«Er griff in seine Tasche und zog das kleine geschnitzte Schiff heraus, das de Block ihm geschenkt hatte.»Hier, nehmen Sie das als Erinnerung an Ihre erste Fahrt.»

Der Junge drehte es in den Händen und sagte:»Es ist wunderschön. «Dann steckte er es in seine Jacke und machte wieder die Handbewegung zum Hut. Bolitho sah ihm nach, und das Herz wurde ihm plötzlich schwer.

«Er ist da unten sicher, Käpt'n.»

Allday stand hinter ihm, das Säbelgehänge und seinen besten Uniformrock über dem Arm.

Verschiedene Leute sahen zu, als Bolitho aus seinem abgetragenen Alltagsrock schlüpfte und die Arme in jenen mit den weißen Aufschlägen und Goldstickereien steckte: in den Rock, den Cheney so bewundert hatte.

Allday zog den Gurt über dem Bauch zurecht und trat dann zu einem kritischen Blick zurück. Gelassen sagte er:»Es wird harte Arbeit geben, bevor wir heute Schlafengehen, Käpt'n. Und viele Leute werden nach achtern schauen, wenn die Dinge schlecht stehen. «Er nickte zufrieden.»Die wollen Sie dann sehen, um zu wi s-sen, daß Sie bei ihnen sind.»

Bolitho zog den Säbel ein Stück aus der Scheide und berührte die Schneide mit einem Finger. Er war schon alt, aber der Mann, der ihn geschmiedet hatte, hatte etwas von seinem Handwerk verstanden. Er war leichter als die meisten neueren Waffen, aber scharf wie ein Rasiermesser. Er schob ihn in die Scheide zurück und verschränkte die Hände auf dem Rücken.»Wenn ich heute falle, sorgen Sie dafür, daß der Junge gerettet wird«, sagte er.

Allday stand hinter ihm, ein schweres Entermesser ohne Hülle im Gürtel. >Wenn du fällst, dann nur, weil ich vorher zu Brei verwandelt worden bin<, dachte er. Laut erwiderte er:»Keine Sorge, Käpt'n. «Er zeigte lachend die Zähne.»Ich will ja noch Bootssteu-rer eines Admirals werden!»

Man hörte einen dumpfen Knall, und Sekunden später stieg eine dünne Wassersäule an Backbord vor ihrem Bug hoch. Bolitho sah, daß brauner Qualm vom Vorschiff des Dreideckers wehte.

Er stellte sich vor, daß Lequiller und sein Flaggkapitän jetzt ihre langsame Annäherung beobachteten, und fühlte, wie sein Atem ruhiger und er geradezu gelassen wurde. Die letzte Ruhe, bevor der Wahnsinn begann. Der Augenblick, in dem kein Platz mehr war für Mutmaßungen oder Reue.

Eine weitere Kanonenkugel pflügte waagerecht durch die Wellenkämme und hüpfte zum Horizont weiter.

Er bemerkte, daß er starr lächelte. Du wirst schon näherkommen müssen, mein Freund, viel näher. Dann zog er den Säbel und legte ihn flach auf die Reling.

Das Warten war vorüber. Jetzt kam es darauf an.

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