Fünf Tage nach der Rückkehr der Hyperion zu den beiden anderen Schiffen saß Bolitho in seiner Kajüte, das Frühstück unangetastet vor sich, und blickte teilnahmslos durch ein Heckfenster auf den leeren Horizont. Er konnte sich an keine Tage erinnern, die so lang oder so inhaltslos gewesen wären, und wußte, daß das ganze Schiff seine dunkle Vorahnung teilte.
Als er wenige Minuten, nachdem sein Schiff im Kielwasser der anderen wieder seine Position eingenommen hatte, an Bord der Indomitable gekommen war, hatte er nichts anderes als das Gefühl völligen Versagens empfunden; als man ihn in die große Kajüte des Kommodore geführt hatte, hatte er wie ein außenstehender Zuschauer seiner Stimme gelauscht, während er seine Meldung machte.
Pelham-Martin hatte ihn wortlos und ohne Unterbrechung angehört. Tatsächlich konnte Bolitho sich nicht an einen Ausdruck oder irgendeine Reaktion erinnern, die entweder auf Verärgerung oder Besorgnis hinwies. Er hatte lediglich gesagt:»Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, Bolitho. Ich werde sofort einen Bericht für Sir Man-ley Cavendish aufsetzen.»
Und wieder war Bolitho wie ein unbeteiligter Zuschauer auf seinem Achterdeck hin und her gewandert, während an den Rahen des Flaggschiffs aufflatternde Signalflaggen wenigstens für ein paar Stunden Anzeichen der Dringlichkeit und Zielstrebigkeit verraten hatten. Zum Glück waren während der kurzen Abwesenheit der
Hyperion die beiden Schaluppen zu dem kleinen Geschwader zurückgekehrt, und während die eine nordwärts jagte, um die Schiffe des Vizeadmirals zu suchen, wendete die andere und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, um die beiden übriggebliebenen Fregatten zu holen.
Doch als Tag um Tag verging und nichts das Warten und die Ungewißheit unterbrach, wußte Bolitho, daß eine neue Demonstration der Stärke sinnlos war. Das Ausfalltor stand weit offen, doch war es unwahrscheinlich, daß noch mehr große Schiffe darauf warteten, die Wachsamkeit des Kommodore auf die Probe zu stellen.
Wieder und wieder stellte sich Bolitho die Frage, was er hätte tun können. Wenn er vor der Küste geblieben wäre, um die französischen Schiffe zu beobachten, wäre Pelham-Martin nicht informiert worden. Doch durch seine sofortige Rückkehr zum Geschwader hatte er dem Feind die Flucht erlaubt, ihm ermöglicht, sich in Luft aufzulösen, als hätte er nie existiert.
Die dritte Möglichkeit hatte er ohne zu zögern verworfen. Doch während er in seiner erzwungenen Isolation sich grämte und brütete, konnte er nicht länger den wahren Wert dieser einen Tat beurteilen. Menschlichkeit und Ehre wurden in der kalten und strengen Atmosphäre einer Kriegsgerichtsverhandlung anders gewertet. Es war wie eine finstere Drohung, daß Pelham-Martin dieses Mal von keinem verlangte, seinen Bericht mit zu unterschreiben.
Verschiedentlich hatte er angesetzt, Cheney wieder einen Brief zu schreiben, sie auf Nachrichten vorzubereiten, die jederzeit kommen und ihr nur Verzweiflung bringen konnten. Wenn PelhamMartin seinen Bericht so abgefaßt hatte, daß er damit die volle Verantwortung dem Kommandanten der Hyperion aufbürdete, dann würde es nicht lange dauern, bis man in Falmouth von Bolithos Schande erfuhr — mit allen schrecklichen Konsequenzen.
Er setzte sich auf, als eine Stimme rief:»An Deck! Segel in Luv voraus.»
Er zwang sich, am Schreibtisch sitzenzubleiben, bis ein Mid-shipman ihm in aller Form meldete, daß ein Schiff in Nordwest gesichtet worden war. Dann zog Bolitho trotz seiner wachsenden Ungeduld erst seinen Uniformrock an und begab sich gemessenen Schritts auf das Achterdeck.
Inch kam eilig auf ihn zu.»Eine Fregatte, Sir. «Besorgt beobachtete er Bolithos Gesicht.»Wird sie Depeschen bringen, Sir?»
«Vielleicht. «Bolitho spürte Inchs Befürchtungen und fügte ruhig hinzu:»Haben Sie keine Sorge. Ihre Rolle ist in meinem Logbuch eindeutig festgehalten.»
Inch trat einen Schritt vor.»Darüber mache ich mir keine Sorgen, Sir. Es geht nur darum, daß…»
Bolitho musterte ihn ruhig.»Um was geht es?»
Inch reckte seine schmalen Schultern.»Es ist so verdammt unfair, Sir. Wir denken alle gleich.»
Bolitho beobachtete die Möwen, die in Lee über die Laufbrücke schwebten und dann herunterschossen. Die Vögel waren töricht genug gewesen, den weiten Weg von Land her zurückzulegen, obwohl die Verpflegung sogar für die Besatzung selbst knapp genug bemessen war.
Dann sagte er:»Sie werden über Dinge, die Sie in diesem Zusammenhang vermuten, in der Offiziersmesse nicht mehr diskutieren, Mr. Inch. Es kann jederzeit erforderlich werden, daß Sie das Kommando übernehmen müssen. Falls Sie Ihr Herz zu freimütig offenbaren, könnten Sie sich dadurch verwundbar machen, wenn Sie es sich am wenigsten leisten dürfen. «Er bemerkte Inchs niedergeschlagenes Gesicht und fügte hinzu:»Trotzdem danke ich Ihnen.»
Als die Fregatte näherkam, wurde schnell offenkundig, daß sie mehr als nur Depeschen an Bord hatte. Als sie die Segel kürzte und direkt auf die langsamen Zweidecker zulief, erkannte Bolitho, daß sie am Fockmast die Flagge eines Vizeadmirals trug, und die Fülle der aufflatternden Signale sagte ihm, daß Sir Manley Cavendish persönlich gekommen war, um mit möglichst geringer Verzögerung Urteil und Strafe zu verkünden.
Midshipman Gascoigne schrie:»An alle! Beidrehen!»
Als Offiziere und Mannschaften auf Stationen eilten, fügte er atemlos hinzu:»Flaggschiff an Hyperion! Kommandant in dreißig Minuten zum Rapport.»
«Bestätigen. «Bolitho sah Inch an.»Lassen Sie beidrehen und mein Boot aussetzen. «Vor den Augen seiner Umgebung bemühte er sich, gelassen zu erscheinen.»Ich habe noch Zeit, meine Galauniform anzuziehen.»
Während das Schiff im leichten Wind dümpelte und Petch ein sauberes Hemd und die beste Uniform bereitlegte, sah Bolitho sich in seiner Kajüte um, dachte an die vielen dramatischen und hoffnungsvollen Szenen, die sich hier abgespielt hatten und in Zukunft noch abspielen mochten. Von hier waren die Kommandanten an Deck gegangen, um im Kampf zu fallen oder über einen der Dutzend Feinde zu triumphieren, die England hatte. Waren gegangen, um befördert zu werden oder Zeuge beim Vollzug einer Auspeitschung zu sein, um einem Schiff in Not beizustehen oder lediglich, um die vorüberziehende Schönheit einer Wolkenformation oder eines Küstenstrichs zu bewundern. Es war merkwürdig, daß dasselbe Schiff, das dem einen Ruhm und Vermögen brachte, für einen anderen Schande und Untergang bedeutete.
Er zog seine Halsbinde fest und bemerkte, daß Petch ihn besorgt ansah. Wahrscheinlich fragte er sich, ob er am nächsten Tag um diese Zeit nicht schon einem neuen Herrn dienen würde.
Inch trat ein.»Ihr Boot ist klar, Sir«, meldete er. Nach einer Pause fügte er hinzu:»Der Kommodore hat sich bereits auf die Fregatte übersetzen lassen.»
Bolitho streckte die Arme aus, um sich in seinen schweren, goldbestickten Uniformrock mit den weißen Aufschlägen helfen zu lassen: den Rock, den Cheney so bewundert hatte. Es kam wie erwartet. Die beiden vorgesetzten Offiziere wollten sich zuerst ungestört unter vier Augen besprechen, dachte er grimmig.
«Sehr gut, Mr. Inch. Ich bin bereit.»
Er wartete, bis der umständliche Petch ihm den Säbel umgegürtet hatte, und ging dann schnell zur Tür.
Tiefe Stille lastete über dem Hauptdeck, als er auf die Schanzpforte zuschritt. Es berührte ihn merkwürdig, daß er immer noch so viele Gesichter unter der Besatzung sah, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte. Mit der Zeit hätte er das ändern können. Er blickte zum Rigg und zu den lose schlagenden Segeln auf. Mit der Zeit hätte noch sehr vieles anders werden können.
Die Pfeifen trillerten, und die Marinesoldaten präsentierten ihre Musketen, als er sich von Deck schwang und in das Boot hinunterstieg.
Er saß steif auf der Heckbank, als die Riemen den Schlag aufnahmen und das Boot zur fernen Fregatte ruderten. Erst jetzt bemerkte er, daß jeder Rudergast sein bestes kariertes Hemd angezogen hatte und daß Allday einen blauen Rock mit Messingknöpfen trug, den er noch nicht an ihm gesehen hatte.
Allday hielt die Augen auf die Fregatte gerichtet und sagte mit gedämpfter Stimme:»Nur um es ihnen zu zeigen, Captain. Sie sollen alle wissen, was wir empfinden.»
Bolitho packte den Griff seines Säbels und starrte über die Köpfe der Matrosen hinweg. Er konnte keine Worte finden, wagte nicht, auf Alldays schlichte Demonstration seiner Loyalität zu antworten.
Der Buggast machte an der Kette fest, und ohne zu warten, bis Allday aufgestanden war, zog Bolitho sich zum Deck der Fregatte hinauf und hob grüßend den Hut zum Achterdeck.
Einen Augenblick blickte er zu dem Schiff hinüber, das er gerade verlassen hatte. Dann reckte er die Schultern und nickte dem jungen Kommandanten der Fregatte flüchtig zu.»Gehen Sie bitte voran.»
Die Achterkajüte der Fregatte war niedrig und spartanisch im Vergleich zu der eines Linienschiffes, aber Bolitho fühlte sich augenblicklich zu Hause. Als er das erste Mal das Kommando einer Fregatte übernahm, fand er das Quartier, verglichen mit einer kleinen Schaluppe, fürstlich, doch als er jetzt unter den niedrigen Decksbalken den Kopf einzog, wurde ihm die Enge wieder bewußt, die durch die drei Anwesenden noch spürbarer wurde.
Vizeadmiral Sir Manley Cavendish war dünn und grauhaarig, und obwohl seine Haut sonnengebräunt und wettergegerbt war, wirkten seine Wangen eingefallen; unter dem prunkvollen Galarock schien sein Atem schnell und flach zu gehen. Bolitho wußte, daß er über sechzig war; die Tatsache, daß Sir Manley in den vergangenen zwei Jahren nur für wenige Stunden den Fuß auf festes Land gesetzt hatte, konnte kaum zur Stärkung seiner offenbar angeschlagenen Gesundheit beigetragen haben. Aber seine Stimme ließ keine Schwäche erkennen, und die eng über einer herrischen Nase stehenden Augen waren so klar und forschend wie die eines Leutnants.
«Zumindest pünktlich, Bolitho. «Er ließ sich mühsam in einen Sessel sinken.»Es ist besser, Sie setzen sich alle. Es kann eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, obwohl ich es nicht gewöhnt bin, mich zu wiederholen.»
Bolitho nahm einen Sessel und war sich ständig der Anwesenheit von Pelham-Martins massiger Erscheinung bewußt, der an der gegenüberliegenden Wand saß. Er hielt die rosigen Hände vor seiner Weste gefaltet, als ob er sich in Gegenwart seines Feindes selbst festhalten wolle.
Der dritte Anwesende war ein Flaggleutnant, ein ausdrucksloser junger Mann, der starr in das aufgeschlagen vor ihm liegende Logbuch sah, die Feder wie einen kampfbereiten Degen über einer leeren Seite erhoben.
Cavendish sagte:»Ich habe die Berichte gelesen und erwogen, was getan werden kann, was getan werden muß.»
Bolitho sah auf die Feder. Sie verharrte regungslos.
«Ich habe mit Ihrem Kommodore gesprochen und alles gehört, was geschehen ist, sowohl vor als auch nach dem Verlust der Ithuriel.«Er lehnte sich zurück und sah Bolitho mit steinernem Blick an.»Alles in allem ist es ebenso beklagenswert wie bedrohlich, doch ehe ich mich endgültig entscheide, will ich hören, ob Sie noch irgend etwas zu Ihrer, äh, Einschätzung der Lage hinzuzufügen haben.»
Bolitho wußte, daß Pelham-Martin ihn scharf fixierte, aber er sah unverwandt Cavendish an.»Nichts, Sir.»
Der Flaggleutnant blickte zum erstenmal auf. Cavendish fragte ruhig:»Keine Entschuldigungen? Keine Schuld, die bei anderen zu suchen wäre?»
Bolitho unterdrückte den aufwallenden Ärger.»Ich habe gehandelt, wie ich es für richtig hielt, Sir. Ich trug die Verantwortung, und ich entschied mich für. «Er hob das Kinn.»Für das, was ich für das einzig Mögliche hielt.»
Die Feder kratzte eifrig über das Papier.
Der Admiral nickte bedächtig.»Wenn Sie geblieben wären und den Kampf aufgenommen hätten, hätten Sie Ihr Schiff und vielleicht sechshundert Menschenleben geopfert. Sie sagen, Sie wären dazu bereit gewesen?«Er verschränkte die Finger und beobachtete Bolitho ein paar Sekunden.»Sie waren aber nicht bereit, das Leben anderer aufs Spiel zu setzen, die für uns bereits verloren waren, sei es nun durch Versagen oder Nachlässigkeit?»
Bolitho erwiderte:»Dazu war ich nicht bereit, Sir. «Er hörte das geschäftige Kratzen der Feder und spürte, wie sich sein Körper zum erstenmal entspannte. Er belastete sich selbst, konnte aber nichts dagegen tun. Nicht, wenn er nicht bereit war, Pelham-Martin zu beschuldigen oder eine Handlung anzuprangern, die jener immer noch für richtig hielt.
Cavendish seufzte.»Damit ist alles gesagt, was dazu zu sagen war. «Er wendete scharf den Kopf und fixierte Pelham-Martin.»Wünschen Sie, noch eine Erklärung abzugeben?»
«Kapitän Bolitho war aus meinem Befehlsbereich abkommandiert, Sir. «Der Kommodore sprach schnell; in dem grellen Licht, daß durch die Heckfenster fiel, glänzte sein schweißbedecktes, rundes Gesicht.»Doch ich bin überzeugt. Das heißt, ich meine, daß er unter den herrschenden Umständen so handelte, wie er es für richtig hielt.»
Cavendish sah seinen Flaggleutnant an. Es war nur ein kurzer Blick, aber Bolitho glaubte, darin Verachtung aufleuchten zu sehen.
Dann begann er:»Ich habe Ihrem Kommodore bereits gesagt, was ich beabsichtige. Aber da Sie unmittelbar betroffen sind, will ich Sie über den Kern meiner Entschlüsse unterrichten. «Er blätterte in den Papieren vor sich und fügte knapp hinzu:»Vier Schiffe sind vor Lorient meinem Geschwader entkommen, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Nun können weitere unserer Wachsamkeit entgangen sein. Glauben Sie, daß zwischen ihnen kein Zusammenhang besteht?«Er klopfte mit seiner kleinen, welken Hand auf die Papiere.»Ich habe jede verfügbare Fregatte alarmiert, jeden denkbaren Informanten befragt, doch nirgends war auch nur eine Spur von diesen Schiffen zu entdecken. «Er schlug mit beiden Händen flach auf die Tischplatte.»Keine einzige Spur!»
Bolitho verhielt sich abwartend. Es war schwer zu erraten, wohin das führen sollte. Wollte Cavendish die ganze Schuld Pelham-Martin zuschieben — und damit auch ihm?
Schroff sprach der Admiral weiter.»Sagen Sie, Bolitho, haben Sie in den Tagen, die seit dem Debakel verstrichen sind, darüber nachgedacht, was den französischen Admiral zu dieser Brutalität veranlaßt haben kann?»
Bolitho antwortete:»Er hätte den Kampf mit meinem Schiff aufnehmen können. Wir hätten uns tapfer geschlagen, aber der Ausgang wäre unvermeidlich gewesen. Es stand vier gegen eins, und der größte Teil meiner Besatzung hatte keinerlei Gefechtserfahrung.»
Cavendish nickte ungeduldig mit dem grauen Kopf.»Schon gut, erzählen Sie mir keine langen Geschichten, sondern sagen Sie mir, was Sie denken, verdammt noch mal.»
«Eine Niederlage konnte er nicht befürchten, Sir. «Bolitho holte tief Luft.»Deshalb muß er sich vor Beschädigungen der Takelage gefürchtet haben. «Er blickte dem Admiral fest in die Augen.»Ich glaube, daß er zu einer weiten Reise auslaufen wollte, nicht nur zu einem raschen Überfall.»
Cavendish sah ihn mit funkelnden Augen an.»Danke. Die einzig nützliche Information, die wir aus der ganzen Sache gewonnen haben, ist der Name des französischen Admirals. Lequiller ist kein einfältiger Bauerntölpel, den die Revolution nach oben geschwemmt hatte. Er hat sich in vielen Einsätzen hervorragend geschlagen. In Westindien befehligte er eine Fregatte und hat oft gegen uns gekämpft. «Er heftete den Blick auf Bolitho.»Lequiller hat bei der Aufstellung und Ausbildung der amerikanischen Kaperschiffer mitgewirkt, von denen wenigstens Sie wissen werden, wie erfolgreich sie gegen uns gekämpft haben.»
Bolitho fühlte sich benommen. Noch immer waren Disziplinar-maßnahmen mit keinem Wort erwähnt worden, und Pelham-Martin war deutlich anzusehen, daß Cavendishs scharfe Zunge ihn nicht geschont hatte.
Cavendish sagte:»Früher einmal genügte es, eine Flagge zu sehen, um einen Feind zu erkennen. Doch jetzt haben wir eine neue Form des Kriegs, und wir müssen uns den neuen Methoden anpassen. Jetzt müssen wir den Mann unter der Flagge kennenlernen, sein Herkommen und seine Motive studieren, wenn wir überleben wollen, und erst recht, wenn wir einen Sieg erringen wollen, der Bestand hat. Admiral de Villaret Joyeuse befehligt die französische Flotte in Brest. Schon jetzt mustert er Schiffe und Mannschaften für einen endgültigen Vorstoß an, um unsere Flotte und unser Land zu unterwerfen. Er ist ein engagierter und intelligenter Mann, und wenn er diesem Lequiller eine besondere Aufgabe anvertraut hat, dann muß sie von einiger Bedeutung und Lequiller ihr gewachsen sein.»
Bolitho mußte plötzlich an die Kanonenschüsse denken, an die
Männer, die vor seinen Augen wie Verbrecher am Galgen gestorben waren.
Cavendish musterte ihn leidenschaftslos.»Vielleicht bedient sich auch Lequiller neuer Methoden. «In plötzlicher Ungeduld hob er die Schultern.»Aber wichtiger sind mir seine Absichten. Ich vermute, daß er sich inzwischen mit den anderen Schiffen vereinigt hat und über den Atlantik nach Westen segelt. Das wäre die einzige Erklärung, weshalb meine Patrouillen ihn nicht gesichtet haben.»
«In die Karibik?«warf Bolitho ein.
«Das halte ich für sein wahrscheinlichstes Ziel. «Der Vizeadmiral wandte sich Pelham-Martin zu.»Und was ist Ihre Ansicht, falls Sie eine haben?»
Pelham-Martin schreckte mit einem Ruck aus seinen Gedanken auf.»Vielleicht will er die Inseln angreifen, die Sir John Jarvis den Franzosen abgenommen hat, Sir. «Unter Cavendishs scharfem Blick schlug er die Augen nieder.
«Um das zu schaffen, müßte er eine dreimal so starke Streitmacht haben. «Cavendish lehnte sich zurück und schloß die Augen.»Während der Amerikanischen Revolution wurde Lequiller oft in der südlichen Karibik gesichtet. Er wird seine Zeit genutzt haben, um sich dort Freunde zu erwerben und Dinge zu erfahren, die ihm später von Nutzen sein könnten.»
Bolitho sagte langsam:»Die meisten Inseln sind entweder spanisch oder niederländisch, Sir. Selbstverständlich sind beide Länder unsere Verbündeten, aber in einem Krieg wie dem gegenwärtigen gehört nicht viel dazu, um die Seiten zu wechseln.»
Cavendish öffnete die Augen wieder und sah ihn düster an.»Richtig. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Niederländer noch auf unserer Seite bleiben, wenn ihre Heimat von unserem gemeinsamen Feind endgültig überrannt ist. «Er hob die Schultern.»Und was die Spanier angeht, nun, sie sind eine geringe Hilfe für unsere Sache. Vielleicht grämen sie sich immer noch um Gibraltar oder träumen von vergangenem Ruhm.»
«Dann würde ich meinen, Sir, daß Lequiller ein anderes Ziel verfolgt. «Bolitho versuchte, sich die weitverstreute Inselkette vor Augen zu halten, die sich vor der Landmasse Südamerikas erstreckte. Es war beinahe, als denke er laut.»Wenn Spanien unser Alliierter bleiben soll, muß es reich bleiben. Und ein großer Teil seines
Reichtums kommt aus Amerika. Ein Gold- und Silbertransport reicht aus, um das Land ein Jahr lang zu unterhalten, vielleicht länger.»
Cavendishs kalte Augen funkelten.»Genau das! Aber wenn der Transport in feindliche Hände fiele, wäre er mehr wert als zehn Regimenter, wie Lequiller besser wissen muß als die meisten.»
Pelham-Martin räusperte sich unsicher.»Es kann Monate dauern, bis man Lequiller findet und zum Kampf stellt, Sir.»
Er kam nicht weiter. Diesmal schien Cavendish nicht mehr in der Lage zu sein, seine Abneigung vor seinen Untergebenen zu verbergen.
«Sehen Sie denn niemals über die Grenzen Ihres Achterdecks hinaus? Wenn Lequiller die spanischen und niederländischen Handels- und Nachschubrouten blockiert, werden viele darin ein Signal für die Zukunft sehen. Gott weiß es, unsere Kräfte sind jetzt schon weit genug verzettelt. Wie lange, meinen Sie, werden wir unsere Vormachtstellung auf den Meeren halten können, wenn die ganze Welt gegen uns ist?»
Der Ärger schien ihn zu ermüden, und er fügte erschöpft hinzu:»Ihr Schiff ist das schnellste, das zur Verfügung steht, Bolitho, bis die anderen von der Überholung zurückkehren. Ich habe Ihrem Kommodore schon gesagt, daß er sofort auf die Hyperion umsteigen soll. Zusammen mit den beiden Fregatten werden Sie mit höchster Geschwindigkeit in die Karibik segeln. Indomitable und Hermes werden Ihnen mit den Schaluppen folgen, aber ich will, daß Sie so schnell wie möglich dort sind. Ist das klar?»
Pelham-Martin stemmte sich von seinem Sessel hoch.»Ich möchte zurück auf mein Schiff, Sir. Ich habe eine Menge zu ordnen.»
Cavendish blieb sitzen.»Die französische Flotte wird bald auslaufen, und ich kann Ihnen keine weitere Fregatte überlassen. «In schärferem Ton fügte er hinzu:»Aus dem gleichen Grund kann ich auch nicht persönlich mit Ihnen kommen. Ich wünsche, daß Lequil-ler gestellt und seine Schiffe erobert oder vernichtet werden. Meine schriftlichen Befehle schicke ich in einer Stunde auf die Hyperion; Sie müssen bis dahin klar zum Aufbruch sein. Zuerst werden Sie die niederländische Insel St. Kruis anlaufen. Sie hat einen guten Hafen und liegt so günstig, daß Sie von dort aus die benachbarten
Inseln überwachen können. Sie ist weniger als hundert Meilen vom Festland und von Caracas entfernt, wo der größte Teil des Silbers und des Goldes nach Spanien verladen wird.»
Mit einem knappen Nicken entließ er den Kommodore. Dann sagte er fast zu sich selbst:»Das ist eine beachtliche Aufgabe, die ich ihm übertragen habe, Bolitho. Eine, die von jedem Kommandanten verlangt, daß er selbständig denkt, aber im Team handelt. Blockade ist nur eine halbe Lösung. Sie schiebt eher auf, als daß sie eine Entscheidung bringt, genauso, wie sie die Schwachen und die Schuldlosen mit den Schuldigen belastet. Aber wir können diesen Krieg nur gewinnen, indem wir dem Feind Schiff gegen Schiff, Kanone gegen Kanone, Mann gegen Mann gegenübertreten.»
Er seufzte und schien sich etwas zu entspannen.
«Ist Ihr Schiff segelklar, Bolitho? Weiß Gott, nach sechs Monaten Überholung sollte es das sein.»
«Mir fehlten fünfzig Leute zur vollständigen Besatzung, als es in Dienst gestellt wurde, Sir, und ich habe im Gefecht mit der Fregatte zehn Mann verloren.»
Die Augen des Vizeadmirals umwölkten sich.»Ah ja, die Fregatte. Ich bin froh, daß Sie die Ithuriel rächen konnten. «Sein Ton wurde härter.»Aber ich kann keinen Mann für Sie entbehren. Sie müssen selbst sehen, wie Sie sich Leute beschaffen. «Dann erhob er sich aus seinem Sessel und blickte Bolitho forschend an.»Ich kannte Ihren Vater, und Ihre Laufbahn ist mir vertraut. Wenn das nicht wäre, und die Tatsache, daß Sie schon Anker geworfen hatten, ehe Lequiller sein Ultimatum stellte, hätte ich Sie der Feigheit vor dem Feind für schuldig gehalten. «Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen.»In jedem Fall und gleichgültig, was ich geglaubt hätte, die Kriegsartikel stellen vergangene Verdienste oder privates Vertrauen nicht in Rechnung. Vor vierzig Jahren wurde Admiral Byng erschossen, weil er einen Fehler beging. Das Kriegsgericht würde nur wenig zögern, einen einfachen Kapitän zu hängen, wenn dies als Ansporn für andere dienen könnte.
Überraschend lächelte er und streckte die Hand aus.»Gehen Sie auf Ihr Schiff, und viel Glück. Wir schreiben jetzt 1795. Das Jahr kann für unsere Sache gewinnbringend sein — oder eine Katastrophe werden. Sie gehören zu der Generation von Marineoffizieren, die im richtigen Alter und zur richtigen Zeit da ist, um letzteres abzuwenden.»
Bolitho fand keine andere Antwort als:»Vielen Dank, Sir.»
Cavendish wurde plötzlich ernst und streng.» Wie ich höre, haben Sie geheiratet. «Er blickte auf den alten Säbel an Bolithos Hüfte.»Ich erinnere mich, daß schon Ihr Vater diese Waffe getragen hat. Vielleicht wird Ihr Sohn sie eines Tages tragen. «Er folgte Bolitho zur Tür und fügte gedämpft hinzu:»Sorgen Sie dafür, daß er sie ebenso ehrenvoll übernimmt wie Sie.»
Bolitho trat auf das Achterdeck hinaus. In seinem Kopf schwirrte es. Die Szene war die gleiche wie die, als er an Bord gekommen war, und doch so völlig verschieden. Selbst die Luft schmeckte sauberer, und er konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht zu seinem Boot zu rennen.
Der Kommandant der Fregatte wartete neben der Schanzpforte.»Haben Sie Post, die ich für Sie mitnehmen kann, Sir?»
Bolitho sah ihn an.»Ja, ich schicke sie Ihnen sofort herüber.»
Die unerwartete Frage brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er hatte sich gegrämt, daß er von Cheney so weit entfernt war. Jetzt würde er auf die andere Seite des Atlantik segeln. Bis zu jenem Teil der Karibik waren es annähernd fünftausend Meilen. Es konnten Monate vergehen, sogar Jahre, ehe er zurückkehrte. Falls überhaupt.
Er griff an seinen Hut und kletterte ins Boot hinunter. Allday studierte sein ernstes Gesicht.»Zum Schiff zurück, Sir?«Bolitho sah ihn an und lächelte dann:»Sonst kann man hier nirgendwo hin.»
Als das Boot, von kräftigen Riemenschlägen getrieben, der Hyperion entgegenfuhr, versuchte Bolitho, seine Gedanken auf die zahllosen Einzelheiten und Änderungen zu richten, die er in seinen Plänen und der täglichen Routine vornehmen mußte. Es gab Probleme und viele Mängel, und nicht die geringste seiner Sorge würde es sein, Pelham-Martin ständig als Gesellschafter zu haben.
Doch immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Haus in Falmouth zurück; das Gefühl der großen Ferne wurde immer stärker, bis es Teil einer anderen Welt zu sein schien.
Allday ließ seine Hand auf der Ruderpinne ruhen und behielt den Schlagmann im Auge. Während Bolithos Aufenthalt beim Vizeadmiral war Allday nicht untätig geblieben. Eine Fregatte war zu klein und beengt, als daß ein wichtiges Geheimnis lange verborgen blieb, und im Unterdeck erfuhr man von einer Änderung der Pläne fast ebenso schnell wie in der Offiziersmesse.
Wieder die Karibik, dachte er. Und alles nur wegen dieses blutrünstigen Froschfressers, der wehrlose Gefangene aufhängen ließ. Es bedeutete Sonne und Schweiß, brackiges Wasser und die ständige Bedrohung durch Krankheiten. Und es konnte noch sehr viel Schlimmeres bedeuten.
Dann studierte er die Haltung von Bolithos Schultern und lächelte flüchtig. Wenigstens hatten sie ihren Kommandanten behalten. Und für Allday war das alles, worauf es wirklich ankam.
Leutnant Inch saß unbeholfen auf der Stuhlkante, den Hut zwischen die Knie geklemmt, als er aufmerksam Bolithos Neuigkeiten zuhörte.
Bolitho sagte:»Sie sehen also, es scheint, daß Sie Ihre Heirat noch eine Weile aufschieben müssen.»
Inch nickte, das Gesicht zu einer aufmerksamen Maske verzogen, als ob er jedes Wort im Gedächtnis behalten wollte.
«Sie können die Offiziere über das Ziel und die voraussichtlichen Absichten informieren, aber unseren Leuten will ich es selbst sagen, sobald ich die Zeit erübrigen kann.»
Bolitho hörte laute Befehle und das Scharren von Füßen auf der Gangway und nahm an, daß der Rest von Pelham-Martins persönlichem Besitz an Bord gehievt wurde.
Er fügte hinzu:»Der Kommodore ist an ein sauber gepflegtes Schiff gewöhnt, Mr. Inch. Mit Recht wird er auch die ihm zustehende Ehrenbezeigung erwarten.»
Ruckartig fuhr Inch aus seinen Gedanken auf.»Ich habe Hauptmann Dawson unterrichtet, Sir. Die Wache und die Trommler sind bereits angetreten.»
«Gut. «Bolitho sah sich in der Kajüte um. Er hatte seinen persönlichen Besitz bereits in den Kartenraum schaffen lassen, und nun würde Pelham-Martin in den Genuß dieses Quartiers kommen. Und auch den Ausblick durch die Heckfenster haben, dachte er bedauernd.
«Sobald wir unterwegs sind«, fuhr er fort,»will ich den Zahlmeister sprechen. Eine vollständige und detaillierte Aufstellung über die Bestände an Frischwasser und Limonensaft ist erforderlich. Es kann Monate dauern, bis wir unsere Vorräte durch frische Lebensmittel und Obst ergänzen können, und mancher wird auch ohne Skorbut oder Schlimmeres schwer genug mitgenommen werden.»
Inch stand auf, seine schlanke Gestalt paßte sich einer unerwarteten Schwankung des Schiffes mühelos an.»Tut mir leid, Sir, ich habe versäumt Sie zu unterrichten: Wir haben einen neuen Mids-hipman an Bord.»
Bolitho, der in seinen sauber geschriebenen Befehlen geblättert hatte, hielt inne und blickte auf.»Ist er vom Himmel gefallen, Mr.
Inch?»
Der Erste Offizier errötete.»Nun, Sir, als Sie bei dem Admiral an Bord der Fregatte waren, war ich so beunruhigt, daß ich es völlig vergaß. Er wurde mit der Post und Sanitätsmaterial von der Fregatte geschickt und kommt direkt aus Plymouth; er war noch nie auf einem Schiff des Königs.»
Bolitho lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.»Also ein Midshipman mehr, kann später sehr nützlich sein, ganz gleich, über welche Erfahrung er verfügt.»
Vom Hauptdeck her war ein lautes Poltern zu hören, und die Luft dröhnte von Tomlins laut gebrüllten Verwünschungen.
«Gut, Mr. Inch, schicken Sie mir den jungen Mann herein, und kümmern Sie sich dann um den Besitz des Kommodore. «Er lächelte schief.»Der Anfang könnte noch schlechter werden, wenn etwas beschädigt wird.»
Er wendete sich wieder seinen Befehlen zu, dachte an das, was vor ihnen lag, und an die Bemerkungen, die Vizeadmiral Cavendish ihm gegenüber privat geäußert hatte. Neue Methoden und ein neuer Typ Marineoffizier. Es war merkwürdig, aber zutreffend, daß Männer wie Rodney und Howe, Namen, die früher in der ganzen Marine mit Respekt und Ehrfurcht ausgesprochen wurden, jetzt von jüngeren und ehrgeizigen Offizieren offen kritisiert wurden. Wie von dem jungen Kapitän Nelson, dem Bolitho vor über einem Jahr in Toulon begegnet war und durch dessen persönliche Initiative und Wagemut Bastia unmittelbar vor der Nase der französischen Armee erobert worden war. Im richtigen Alter und zur richtigen Zeit, hatte Cavendish gesagt. Bolitho schob die Schreibtischschublade zu und schloß sie ab. Wir werden sehen, dachte er.
Es wurde zögernd an die Tür geklopft, und als Bolitho sich auf seinem Sessel umdrehte, sah er den neuen Midshipman unsicher auf der anderen Seite der Kajüte stehen.
«Treten Sie näher, damit ich Sie sehen kann. «Bolitho hatte kaum die Zeit, den Neuling zu begrüßen, aber aus eigener bitterer Erfahrung wußte er, wie es war, neu auf ein Schiff zu kommen, ohne ein vertrautes Gesicht, das die ersten Knüffe und Reibungen milderte.
Der Junge kam näher und blieb kurz vor dem Schreibtisch stehen. Für sein Alter war er groß, schlank, mit dunklen Augen und ebenso schwarzem Haar wie dem Bolithos. Er wirkte wild und ruhelos und erinnerte Bolitho an ein noch nicht eingerittenes Fohlen.
Wortlos nahm er den dicken Umschlag aus der Hand des Mids-hipman entgegen und schlitzte ihn auf; vom Hafenadmiral in Ply-mouth kommend, bestätigte er in dürren Worten die Abkommandierung auf die Hyperion. Der Name des Jungen war Adam Pascoe.
Bolitho blickte lächelnd auf.»Ein Landsmann aus Cornwall, also. Wie alt sind Sie, Mr. Pascoe?»
«Vierzehn, Sir. «Es klang angespannt und wachsam.
Bolitho betrachtete ihn. Pascoe hatte etwas Seltsames an sich, aber er vermochte es nicht einzuordnen. Er bemerkte die billige Qualität seiner Uniform, die minderwertige Vergoldung an seinem
Dolch.
Pascoe verriet unter dem prüfenden Blick keine Unsicherheit, sondern griff in seine Innentasche und zog einen weiteren Brief heraus. Schnell sagte er:»Dieser Brief ist für Sie, Sir. Mir wurde gesagt, ich soll ihn niemand anderem geben.»
Bolitho schlitzte ihn auf und wendete sich etwas ab. Es war durchaus üblich, unter diesen Umständen einen privaten Brief zu erhalten: Ein unerwünschter Sohn wurde zur See geschickt, um bevorzugte Behandlung wurde gebeten oder auch nur die eindringliche Bitte einer besorgten Mutter geäußert, über ihren Sohn zu wachen.
Das Papier knisterte zwischen seinen Fingern, als er es plötzlich fester packte. Denn der Brief kam von seinem Schwager Lewis Roxby, Grundherr und Friedensrichter in Falmouth und Ehemann von Bolithos jüngerer Schwester. Die ausladende Handschrift schien zu verschwimmen, als er den mittleren Absatz zum zweiten Mal las:
Als der Junge zu mir kam und um meine Unterstützung bat, war es natürlich notwendig, den Wert der Dokumente, die er mitbrachte, zu überprüfen. Es besteht kein Zweifel, daß die Forderungen, die seinethalben gestellt werden, berechtigt sind. Er ist der Sohn Deines verstorbenen Bruders Hugh. Es gibt Briefe von ihm an die Mutter des Jungen, die er anscheinend zu heiraten beabsichtigte, ehe er England verließ. Selbstverständlich hat der Junge seinen Vater nie gesehen und lebte bis vor kurzem bei seiner Mutter, die im Grunde kaum etwas anderes als eine gewöhnliche Hure gewesen ist.
In dem Brief stand noch sehr viel mehr, doch waren das alles Ausflüchte und Gründe, weshalb Roxby den Jungen unverzüglich von Falmouth fortschaffen wollte.
Bolitho schluckte schwer. Er konnte sich die peinliche Bestürzung, die das plötzliche Auftauchen des Jungen verursacht haben mußte, gut vorstellen. Zwar mochte er Roxby nicht besonders gut leiden und hatte seine Schwester nie recht verstanden, daß sie sich ihn zum Ehemann gewählt hatte. Roxby liebte ein gutes, üppiges Leben und kannte nichts anderes, als seine Tage mit Schießen und Hetzjagden in Gesellschaft anderer, die er wohl als seinesgleichen ansah, auszufüllen. Der Gedanke, in einen örtlichen Skandal hineingezogen zu werden, war für ihn Grund genug gewesen, diesen Brief zu schreiben und den Jungen stehenden Fußes zur See zu schicken.
Bolitho drehte sich wieder um und sah den jungen Midshipman an, beweiskräftige Dokumente hatte Roxby geschrieben. Doch ein einziger Blick auf den Jungen hätte genügen müssen. Kein Wunder, daß er ihm merkwürdig erschienen war: Es war, als ob er eine jüngere Ausgabe seiner selbst sehe.
Pascoe hielt dem Blick mit einer Mischung aus Trotz und Beklemmung stand.
Bolitho fragte leise:»Was weißt du von deinem Vater, mein Junge?»
«Er war Offizier und wurde in Amerika von einem durchgehenden Pferd getötet. Mutter hat ihn mir oft beschrieben. «Er zögerte, ehe er hinzufügte:»Als sie starb, sagte sie, ich solle nach Falmouth gehen und Ihre Familie aufsuchen, Sir. Ich — ich wußte, daß meine
Mutter nicht mit ihm verheiratet gewesen war, Sir, habe es immer gewußt, aber…«Er verstummte.
Bolitho nickte.»Ich verstehe. «So vieles blieb ungesagt: Wie es der Mutter gelungen war, dem Jungen Unterhalt und Kleidung zu beschaffen, ihn vor der Wahrheit zu bewahren, daß sein Vater von der Marine desertiert war und gegen sein eigenes Land gekämpft hatte. Es veranlaßte Bolitho zu sagen:»Wie du wissen mußt, war dein Vater mein Bruder. «Er blickte zur Seite und fuhr schnell fort:»Und du hast in Penzance gewohnt?»
«Ja, Sir. Meine Mutter arbeitete manchmal als Haushälterin beim Squire. Als sie starb, bin ich nach Falmouth gewandert.»
Bolitho studierte nachdenklich das Gesicht des Jungen. Zwanzig Meilen weit zu Fuß, allein und ohne zu wissen, was in der fremden Stadt auf ihn wartete.
Plötzlich sagte der Junge:»Tante Nancy war sehr großzügig zu mir, Sir. Sie hat gut für mich gesorgt. «Er senkte den Blick.»Als sie alles nachgeprüft hatten.»
«Ja, das war von ihr zu erwarten. «Plötzlich sah Bolitho seine Schwester deutlich vor sich, wie sie ihn selbst gepflegt und bemuttert hatte, als er nach seiner Rückkehr aus der Südsee fast am Fieber gestorben wäre. Sie wird für den Jungen besser gesorgt haben als jeder andere, dachte er.
Merkwürdig, sich vorzustellen, daß der Junge all diese Jahre knapp zwanzig Meilen von Falmouth und Bolithos Haus entfernt gelebt hatte, das eines Tages sein Eigentum geworden wäre, wenn das Schicksal nicht diese grausame Wendung genommen hätte.
Pascoe sagte leise:»Als ich in Falmouth war, Sir, bin ich in die Kirche gegangen und sah dort die Gedenkplatte für meinen Vater. Neben all den anderen. «Er schluckte schwer.»Das hat mir gefallen, Sir.»
Es klopfte, und Midshipman Gascoigne trat behutsam ein. Gas-coigne war siebzehn und der dienstälteste Fähnrich auf dem Schiff. Als Inhaber des begehrten Postens des Signalfähnrichs war er als nächster an der Reihe, zum diensttuenden Leutnant ernannt zu werden. Er war auch der einzige, der schon vorher auf einem Kriegsschiff auf See gedient hatte.
Förmlich meldete er:»Empfehlung von Mr. Inch, Sir, und das Boot mit dem Kommodore an Bord legt von der Indomitable ab.»
Sein Blick schweifte zu dem neuen Midshipman hinüber, aber er zuckte mit keiner Wimper.
Bolitho stand auf und griff nach seinem Säbel.»Gut, ich komme. «Schärfer fügte er hinzu:»Mr. Gascoigne, ich unterstelle Mr. Pascoe Ihrer Obhut. Sorgen Sie dafür, daß er einer Station zugewiesen wird, und überwachen Sie sorgfältig seine Fortschritte.»
«Sir?«Gascoignes Gesicht war undurchdringlich.
Bolitho haßte Begünstigungen jeder Art und verabscheute alle, die Beziehungen aktiv oder passiv nutzten, um dadurch Beförderung oder eine besondere Behandlung zu erreichen. Doch das schien im Augenblick ohne Belang zu sein. Dieser arme, beklagenswerte Junge, der für die Chance, sich zu bewähren, dankbar und völlig unschuldig an seinem Schicksal war, das ihm einen Vater und sogar seinen richtigen Namen vorenthalten hatte, befand sich jetzt auf seinem Schiff; und laut Roxbys Brief gab es auch keinen anderen Platz auf der Welt, wohin er gehen konnte.
Ruhig sagte er:»Mr. Pascoe ist mein Neffe.»
Als er dem Jungen wieder in die Augen sah, wußte er, daß er richtig gehandelt hatte. Unfähig, die Qual in den dunklen Augen auch nur einen Augenblick länger zu ertragen, fügte er schroff hinzu:»Und nun fort mit Ihnen! Wir haben mehr als genug zu tun.»
Wenige Minuten später, als Bolitho bei der Schanzpforte stand, um den Kommodore zu empfangen, überraschte er sich bei dem Gedanken, was die Ankunft des Jungen noch alles bedeuten mochte. Flüchtig streifte er seine Offiziere mit einem Blick und fragte sich, wieviel sie wußten und was sie von dem Makel in der Familiengeschichte ihres Kommandanten hielten.
Ihre Gesichter drückten die unterschiedlichsten Empfindungen aus: gespannte Erwartung wegen der bevorstehenden weiten Fahrt, Besorgnis bei dem Gedanken, einem geliebten Menschen noch ferner zu sein, vielleicht auch Erleichterung, daß ihnen die Langeweile der Blockade erspart blieb; noch erkannten sie nicht die Ungeheuerlichkeit ihres Auftrags. Die plötzliche Änderung der Befehle hatte den Horror über die Hinrichtungen, den wilden Zusammenstoß mit der Fregatte aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Selbst die Erinnerung an die Kameraden, die bei dem einseitigen Kampf ums Leben gekommen waren und ein Seemannsgrab gefunden hatten, fast ehe noch ihr Blut von den Planken gescheuert war, schien verblaßt zu sein. Das war auch ganz gut so, dachte Bolitho grimmig.
Als Pelham-Martins Hut an der Schanzpforte auftauchte, als die Trillerpfeifen schrillten und die Trommeln und Querflöten der Marinesoldaten Heart of Oak anstimmten, schob Bolitho seine persönlichen Hoffnungen und Befürchtungen zunächst beiseite.
Er trat vor, nahm seinen Hut ab, erkannte an dem nach oben gerichteten Blick eines Schiffsjungen, daß sich der Kommodorestander im Masttopp genau im richtigen Moment entfaltete, und sagte förmlich:»Willkommen an Bord, Sir.»
Pelham-Martin stülpte seinen Hut auf und musterte die angetretene Besatzung der Hyperion. Er schwitzte stark, und Bolitho glaubte, eine Brandyfahne wahrzunehmen. Was Cavendish dem Kommodore unter vier Augen auch gesagt haben mochte, zweifellos hatte es ihn veranlaßt, sich für das Übersetzen auf sein neues Flaggschiff gründlich zu stärken.
Er sagte kurz angebunden:»Lassen Sie weitermachen, Bolitho. «Dann watschelte er, gefolgt von Petch, zum Niedergang des Ac h-terdecks.
Bolitho sah Inch an.»Bringen Sie das Schiff in Fahrt. «Er blickte zu dem Doppelstander hinauf.»Der Wind hat etwas rückgedreht, scheint mir. Setzen Sie Signal für die Fregatten Spartan und Abdiel, die befohlenen Positionen einzunehmen. «Er beobachtete Gascoi-gne, der auf seiner Tafel kritzelte, und die Flaggen, die zur Gaffel aufstiegen. Er bemerkte auch Pascoe neben Gascoigne, der aufmerksam den Kopf senkte, um alles mitzubekommen, was sein Vorgesetzter ihm erklärte. In diesem Augenblick sah der Junge auf, und über die Rücken der arbeitenden Seeleute hinweg und durch die zitternden Fallen begegneten sich ihre Blicke.
Bolitho nickte mit einem knappen Lächeln. Als er wieder hinsah, war der Junge von der Achterwache verdeckt, die sich an die Be-sanbrassen drängte.
Er sagte:»Kurs Westsüdwest, Mr. Gossett.»
Später, als die Hyperion sich kräftig in den Wind legte und immer mehr Leinwand sich knatternd unter ihren rundgebraßten Rahen blähte, ging Bolitho auf die Hütte und spähte nach achtern. Die beiden anderen Zweidecker und die Fregatte des Admirals waren bereits im Dunst verschwunden, und von der französischen Küste war keine Spur mehr zu entdecken.
Inch kam nach achtern und griff an seinen Hut.»Das wird eine lange Jagd, Sir.»
Bolitho nickte.»Hoffen wir, daß sie auch erfolgreich wird. «Damit ging er nach Luv hinüber und gab sich wieder seinen Gedanken hin.