IV Ein Schandname

«Captain, Sir!»

Bolitho schlug die Augen auf und starrte ein paar Sekunden lang in Inchs besorgtes Gesicht. Er hatte geträumt. Von einem grünen Feld und einem endlosen, von blühenden Hecken gesäumten Weg, und über diesen Weg kam ihm Cheney entgegen, um ihn zu begrüßen. Er war ihr entgegengelaufen, genau wie sie ihm, aber sie schienen einander nicht näherzukommen.

«Was ist?«Er sah, wie Inch nervös zurückzuckte, und fügte hinzu:»Entschuldigung. Wird es schon Zeit?»

Inch nickte, das Gesicht im Halbschatten.»Von der Küste kommt Nebel auf, Sir. Er ist nicht sehr dicht, aber Mr. Gossett sagt, er könne die endgültige Annäherung erschweren. «Er sprang beiseite, als Bolitho die Beine zu Boden schwang und nach seinem Uniformrock griff.

Bolithos Kopf war jetzt klar.»Wie ist unsere Position?«Inch zögerte.»Wir sind zehn Meilen nordnordwestlich von der Halbinsel, Sir.»

«Ich bin bereit. «Bolitho warf einen letzten Blick rundum durch die Kajüte und löschte die Lampe.

Auf dem Achterdeck war es noch dunkel; erst als Bolitho nach oben blickte, erkannte er die Dichte des Nebels. Er trieb recht schnell davon, so daß die Segel noch gut zogen, doch oberhalb der Großrah konnte er nichts mehr erkennen, ganz so, als ob eine Riesenhand die übrigen Segel und die Maststengen weggesäbelt hätte.

Aus dem Dunkel meldete Stepkyne:»Kombüsenfeuer gelöscht,

Sir.»

Auf allen Seiten herrschte nervöse Spannung, aber Bolitho zwang sich, nicht auf die anderen zu achten, als er zum Kompaß ging.

«Fallen Sie zwei Strich ab auf Kurs Südost!«Er hob die Hand.»Und machen Sie sowenig Geräusch wie möglich.»

Er ging nach Luv hinüber und sah zum nächsten Segel auf. Zu ärgerlich, daß wir nicht Segel kürzen können, dachte er. Die Hyperion glitt sehr langsam an der feindlichen Küste entlang, und im ersten Tageslicht mochte ein wachsamer Posten die Bramsegel des Schiffes wahrnehmen und Alarm schlagen, ehe Bolitho das letzte Stück zurückgelegt und sich in die günstigste Position gebracht hatte, um die Fregatte zu stellen. Wenn er genügend Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit erhalten wollte, um die Fregatte zu überraschen, ehe sie ihm ihr Heck zeigen konnte, mußte er wachsam bleiben.

Er kam zu einem Entschluß.»Alle Mann auf Station, Mr. Inch. Aber ohne Pfeifen oder Lärm. Geben Sie den Befehl mündlich weiter, und dann: Klarschiff zum Gefecht.»

Durch diese Vorsichtsmaßnahme wurde die Aufgabe, das abgedunkelte Schiff gefechtsbereit zu machen, zu einer noch schwereren Nervenprobe. Schatten glitten hin und her, während von den Decks gedämpftes Poltern und Schlagen heraufklang, als die Zwischenwände entfernt, die Geschütze von ihren Zurringen gelöst wurden und die Offiziere mit scharfem Flüstern ihre Leute zusammentrieben und antreten ließen. Und während der ganzen Zeit glitt die Hyperion wie ein Geisterschiff durch langgestreckte Nebelschwaden, die Segel naß von Gischt und Sprühwasser, mit knarrender Takelage, als der Rumpf in die starke Strömung geriet und die Männer im Ausguck die Augen anstrengten, um die Dunkelheit zu durchdringen.

Bolitho griff in die Netze und sah den Nebel wie eine milchige Flüssigkeit durch die Großwanten streichen, ehe der nächste Windstoß ihn hob und auf die offene See hinaustrieb. Hinter sich hörte er Hauptmann Dawson zu seinen Marinesoldaten sprechen, gelegentlich klirrte Stahl oder klapperte ein Ausrüstungsstück, wenn sie in dem befohlenen, engen Karree auf dem Achterdeck gegeneinander-stießen. Im Nebel wirkten ihre Uniformen schwarz, während die weißen, gekreuzten Brustriemen überraschend deutlich zu erkennen waren.

Inch erschien keuchend und schwitzend.»Schiff klar zum Gefecht, Sir.»

Bolitho grunzte. Wie würde er sich blamieren, wenn die See bei Tagesanbruch leer vor ihnen lag! Jedes Vertrauen, daß er bei der kaum ausgebildeten Mannschaft hatte gewinnen können, war wieder verloren, wenn es sich herumsprach, daß der Kommandant sich vor seinem eigenen Schatten gefürchtet hatte.

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte er gewartet. Erfahrene Leute konnten laden und ausrennen, wieder laden und weiter feuern, wenn alles um sie herum in einem Inferno ohrenbetäubender Explosionen und schreiender Menschen unterging; wenn es sein mußte, schafften sie das auch bei völliger Dunkelheit. Jetzt dachte er an diese Leute, die, hinter geschlossene Stückpforten geduckt, mit gespitzten Ohren auf jedes Geräusch lauschten, mit klopfenden Herzen und dankbar für die Dunkelheit, die ihre Furcht vor den Kameraden verbarg. Bei ihnen wäre das Risiko zu groß gewesen. Da er sich nun einmal hatte entscheiden müssen, war es ihm lieber, daß seine Leute hinter seinem Rücken über ihn lachten, als daß sie seiner Eitelkeit wegen starben.

«Sehr gut, Mr. Inch. Sie können Befehl zum Laden geben.»

Als Inch heftig einem Midshipman winkte, erinnerte Bolitho sich der anderen Gelegenheiten, bei denen er ins Gefecht gesegelt war. Jedes Geschütz mit doppelter Ladung und zusätzlich mit Schrapnell geladen, um damit die erste verheerende Salve voll zur Wirkung zu bringen. Jetzt, mit nur halb ausgebildeten Leuten, die sich in der Finsternis des Zwischendecks zurechttasteten, konnte das eine Katastrophe herausfordern. Solche Methoden anzuwenden, verlangte Erfahrung. Eine falsche Ladung, und eine Kanone konnte explodieren und wenigstens ihre Bedienung töten.

Der Wind ließ ein wenig nach; in der plötzlich eintretenden Stille hörte er hastige Schritte auf den mit Sand bestreuten Decks: die Pulveräffchen, die von Geschütz zu Geschütz rannten und die Ladung verteilten, die sie gerade vom Magazin empfangen hatten, wo Johns, der Stückmeister, in funkensicheren Filzpantoffeln an dem einzigen Ort stand, von dem es kein Entkommen gab, wenn das Schiff im Gefecht in Brand geriet. Gott sei Dank war er ein erfahrener Veteran, der sich nicht blind auf das Können jener verlassen würde, die er mit Pulver aus seinem Magazin versorgte.

Gossett rief:»Nach meiner Berechnung liegt die Landzunge jetzt drei Meilen querab, Sir. «Er hustete.»Selbstverständlich ist es bei der Strömung und dem Nebel schwer, Genaueres zu sagen.«»Alle Geschütze feuerbereit, Sir.»

Bolitho hielt seine Uhr in das Licht der Kompaßlaterne. Jetzt mußte es bald hell werden. Er sah sich schnell nach allen Richtungen um. Lichtete sich das Dunkel tatsächlich schon, oder hatten sich seine Augen so sehr an die Finsternis gewöhnt, daß er die Neunpfünder in Lee schwarz und scharf umrissen vor dem Schanzkleid wahrnahm?

Gern hätte er noch einmal einen Blick auf die Karte geworfen, aber dazu blieb keine Zeit mehr. Er versuchte, sich genau zu erinnern, was er vor Augen gehabt hatte: die Landzunge und das geschützte Wasser dahinter, die unterschiedlichen Wassertiefen, der Verlauf des Fahrwassers und die Stärke der Strömung, in der jede unvorsichtige Annäherung zu einer Katastrophe führen konnte.

«Etwa mehr Steuerbord!«Er stand neben Inch an der Achterdecksreling, das Teleskop nach Luv gerichtet, während sich das Ruder knarrend drehte.

«Recht so!«Er konnte Inchs lautes Atmen hören und nahm einen der Achterdeckskanoniere wahr, der neben einem Neunpfünder kniete. Der Mann war trotz der eisigen Luft bis zu den Hüften nackt und hatte sein Entermesser achtlos hinten in den Gürtel geschoben, wo der Griff sich nun dunkel von dem bloßen Rücken abhob. Die Länge seines Zopfes verriet Bolitho, daß er kein Neuling war, und er hoffte, daß außer dem befehligenden Deckoffizier noch ein paar seinesgleichen für Ruhe und Ordnung sorgen würden, wenn es zum Gefecht kam.

Auf dem Hauptdeck ließ jemand eine Spake fallen, und als Bo-litho wütend nach vorn blickte, stellte er überrascht fest, daß er Vorschiff und Klüverbaum erkennen konnte. Doch je mehr das Schiff in der weichenden Dunkelheit an Gestalt gewann, desto dichter schien der Nebel zu werden, bis die Hyperion schließlich hilflos seitwärts abzutreiben schien, ein Eindruck, der noch durch die Geschwindigkeit, mit der der Nebel durch die Wanten und um sie herum strich, verstärkt wurde.

Plötzlich sagte Bolitho:»Entern Sie auf, Mr. Gascoigne. Sie haben scharfe Augen.»

Der Midshipman kletterte behende in die Webeleinen, und Inch sagte:»Wir könnten die Fregatte verfehlen, Sir.»

Bolitho sah das Großbramsegel in einer Fallbö killen und entdeckte in diesen Sekunden einen schwachen blauen Fleck: Über dem Nebel klarte der Himmel bereits auf, leuchtete hell und kalt, und das war gut so.

Blöcke und Taljen klapperten nervös, und Gossett bemerkte:»Der Wind frischt auf, Sir.»

Es war nur wenig, genügte aber. Mit einem Mal riß der Nebel auf und verflüchtigte sich zu einem tiefliegenden Dunst; als Gascoignes schriller Ruf noch nach unten drang, erkannte Bolitho schon die Umrisse des anderen Schiffes.

«Fregatte Steuerbord voraus!«schrie Gascoigne aufgeregt.»Vor Anker, Sir.»

Inch wandte den Blick von dem anderen Schiff ab und starrte Bo-litho an, als ob er es nicht glauben könne.

Bolitho beobachtete die Fregatte unbewegt, deren Umrisse immer klarer wurden, während der Nebel an ihr vorbei auf die offene See hinaustrieb. Dort lag die Landzunge, blaugrau im Dämmerlicht, und obwohl es noch nicht möglich war, den anderen Landarm der Flußmündung auszumachen, wußte er, daß er richtig gerechnet hatte, und empfand beinahe Mitleid mit dem Mann an Bord der Fregatte, der jetzt als erster die näherkommende Hyperion sehen mußte. Sie mußte auf ihn wie ein Bote der Hölle wirken, als sie sich vor seinen Fluchtweg schob, mit leicht killenden Bram- und Marssegeln, ihre Großsegel zum Gefecht aufgegeit, mit dieser goldschimmernden, starr blickenden Galionsfigur, die den Dreizack hob, als ob sie das Schiff geradewegs auf sein Opfer lenken wolle.

Über den Streifen Wasser hörte Bolitho plötzlich das Schmettern einer Trompete. Noch eine Meile trennte die Fregatte von dem Zweidecker, doch selbst wenn sie ihr Ankerkabel kappte, brauchte es Zeit, um die Besatzung auf Gefechtsstationen zu treiben und genug Segel zu setzen, um zu entkommen. Oben hörte Bolitho die Marssegel sich mit einem gedämpften Donnern füllen, als sein Schiff aus dem Windschutz der Landzunge glitt. Die Fregatte hatte keine Zeit mehr.

Er packte die Reling und rief:»Alles herhören!«Die Leute an Geschützen und Brassen rissen die Blicke von der Fregatte los und starrten wie ein Mann nach achtern.»Das da drüben ist ein französisches Schiff, und ich beabsichtige, es anzugreifen. «Einer rief Hurra, verstummte aber unter dem strengen Blick des Kommandanten.»Wenn wir es als Prise nehmen können, schön. Aber wenn nicht, dann werden wir es vernichten. «Er ließ seine Worte wirken und fügte hinzu:»Doch lassen Sie sich durch ihren Anblick nicht täuschen. Sie kann sich als tapferer Gegner erweisen, und ich habe schon ebensoviele aus Selbstüberschätzung fallen sehen wie durch die Treffsicherheit des Feindes. «Dann lächelte er trotz des eisenharten Drucks in seiner Magengegend.»Tut euer Bestes, Jungs. Für das Schiff und für England.»

Er wendete sich wieder den Netzen zu, als Hurrarufe erklangen, die von den Männern im unteren Deck aufgenommen wurden, bis aus dem ganzen Schiff erregtes Schreien und Jubeln aufstieg.

Bolitho sagte ruhig:»Lassen Sie die Leute lärmen, Mr. Inch. Vielleicht geht es den Froschfressern auf die Nerven.»

Näher und näher kamen sie, und die ganze Zeit über beobachtete Bolitho das Durcheinander an Bord der jäh aufgeschreckten Fregatte. Zuerst erschien das flatternde Klüversegel und dann das Vormarssegel, ehe ein Ausguck herunterrief:»Sie hißt die Flagge!»

Bolitho sah die Trikolore sich an der Gaffel entfalten. Diesmal also die rechtmäßige Flagge. Jedenfalls war jetzt offenkundig, daß sie sich nicht kampflos ergeben würden.

«Geschütze ausrennen, Mr. Inch!»

Eine Pfeife schrillte, und als sich die Geschützpforten öffneten, schossen die Rohre um die Wette aus der Bordwand, bis die Hyperion dem französischen Schiff wie eine Doppelreihe schwarzer Zähne ihre volle Breitseite zeigte.

Stepkyne stand mit gezogenem Degen am Fuß des Fockmasts, den Blick zum Achterdeck gerichtet.

Noch weiter vorn wartete Leutnant Hicks von den Marinesoldaten neben den beiden gedrungenen Karronaden, während das Gros der Rotröcke ihr sauberes Karree auf dem Achterdeck aufgelöst hatten und über Hütte und Achterdeck ausgeschwärmt waren, um die langen Musketen schußbereit auf das näherkommende Schiff zu richten.

«Hart Backbord!«Bolitho hob die Hand, als ob er das Schiff steuern wolle.»Ruhig, Jungs!«Er beobachtete, wie der Klüverbaum auf den Fockmast der Fregatte zuschwang, bis es schien, als sei das andere Schiff bereits auf einem riesigen Stoßzahn aufgespießt.

«Ruhig!«Das Herz pochte ihm gegen die Rippen, und er spürte die salzige Trockenheit seiner Lippen.»Aufgepaßt, Mr. Gossett.»

Der feindliche Kommandant hatte wahrscheinlich abdrehen und das Weite suchen wollen. Denn es war ihm kaum möglich, der starken Artillerie der Hyperion unversehrt zu entkommen, aber wenn er offenes Wasser erreichte, konnte er ihr innerhalb von Minuten davonsegeln.

Bolitho wußte, daß die wahren Feinde jedes Kommandanten die» Wenn «und» Aber «waren.

Warum hatte der Ausguck die Hyperion nicht früher gesichtet? Oder wenn der Nebel nicht verhindert hätte, daß sie gesehen wurde, wenn Bolitho sich bei seiner blinden Annäherung geirrt hätte, und wenn die Segel ein paar Minuten schneller hätten gesetzt werden können. All das und vieles mehr mußte dem Franzosen durch den Kopf gehen, als er jetzt auf den glänzenden Zweidecker starrte, der direkt auf das Herz seines Schiffes lossteuerte.

Es blieb keine Zeit mehr zur Flucht. Sein ungeschütztes Heck diesen Vierundzwanzigpfündern zu präsentieren, hätte das Ende bedeutet, ohne auch nur einen Schuß zu erwidern.

Fast verzagt schwangen die Rahen der Fregatte herum, ihre Backbordbatterie wurde bereits ausgerannt, als sie sich bereit machte, die Herausforderung anzunehmen.

Bolitho rief:»Jetzt!»

Gossett bellte:»Ruder nach Lee!»

Als das Doppelrad herumwirbelte, schwenkten auch die Rahen schon knarrend herum, und während Bolitho nach der Reling griff, sah er, daß der Bugspriet sich weiter und weiter drehte und das alte Schiff unter der Wirkung von Ruder und Wind jetzt beinahe auf gleicher Höhe mit dem Feind lief.

«Klar zum Feuern!»

Er sah, wie Stepkyne zum vordersten Zwölfpfünder lief, sich neben den Geschützführer kauerte und durch die offene Stückpforte spähte, während das Schiff sich schwerfällig herumwälzte und die französische Fregatte vor den Mündungen vorbeizog.

«Feuer!«Bolitho durchschnitt die Luft mit seinem Säbel. Auf der ganzen Länge des Hauptdecks riß Geschützführer nach Geschützführer die Abzugsleine zurück, die See verschwand hinter einer dichten Wand aus wallendem, braunem Rauch, und die Luft wurde von Detonationen zerrissen.

Bolitho schrie:»Noch mal, Jungs!«Er wischte sich die tränenden Augen und spürte das Deck beben, als die ersten Geschütze ausgewischt, neu geladen und wieder ausgerannt wurden.

«Feuer!«Das Krac hen der Abschüsse erschütterte den Rumpf wie ein Erdbeben, und als die Neunpfünder des Achterdecks beim Rückstoß von ihren Taljen aufgefangen wurden, sah Bolitho den Fockmast der Fregatte zittern und dann wie trunken durch den Pulverqualm taumeln.

Er schrie:»Neu laden, verdammt noch mal!«Denn einige Kanoniere hatten ihre Posten verlassen, tanzten herum und jubelten über die Wirkung ihres Bombardements.

«Hart Backbord!«Er sah Rauch aufsteigen, von langen, gelben Zungen durchstoßen, als die Franzosen jetzt zum ersten Mal zurückfeuerten.

Die Wirkung der Geschosse war relativ kümmerlich, aber Bolitho spürte, wie sie in den Rumpf einschlugen, und schrie:»Dicht ran, Mr. Gossett!»

Die Kanoniere des Oberdecks hatten ihr Jubeln eingestellt; als Stepkyne seinen Degen senkte, feuerten ihre Geschütze wieder. Es mußte viele überraschen, daß eine bescheidene Fregatte einen derartigen Beschuß überstehen und auch noch zurückschlagen konnte.

Eine Kugel schlug in die Steuerbordgangway ein, und ein Mann schrie gellend auf. Wie ein Pfeil war ihm ein langer Holzsplitter in den Rücken gedrungen. Kameraden sprangen hinzu und wollten ihn zur Luke und nach unten schaffen, aber Bolitho schrie sie an:»Zurück an eure Plätze!«Ein weiteres Geschoß fuhr durch eine Geschützpforte und traf die zögernden Matrosen wie eine riesige Axt. Vor einem Augenblick waren sie noch eine Gruppe benommener, ratloser Männer gewesen, jetzt zuckten sie in einem wirren Durcheinander von Gliedmaßen und blutbedeckten Leibern.

Bolitho riß den Blick davon los und stellte fest, daß auch die Großmarsstenge der Fregatte verschwunden war; als ein Windstoß den Qualm vertrieb, sah er, was seine Breitseiten angerichtet hatten. Die Segel waren zerfetzt, und der tiefliegende Rumpf war fast bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Hier und dort feuerte noch eine Kanone, doch als die untere Batterie der Hyperion über den schmalen Streifen Wasser hinweg noch einmal aufbrüllte, sah er Blut aus den Speigatten der Fregatte rinnen. Eiskalt beobachtete er, wie Getroffene von den zersplitterten Masten und Rahen stürzten und zwischen den treibenden Wrackteilen versanken.

Große Stücke des Schanzkleids und der Gangways des französischen Schiffs wurden in die Luft geschleudert; selbst ohne Glas konnte Bolitho zerfetzte Leichen auf dem verwüsteten Deck liegen sehen.

Scharf befahl er:»Feuer einstellen!«Als sich Stille über die gräßliche Szene senkte, packte Bolitho beim Anblick der Fregatte verspätetes Entsetzen. Er hob die Hände als Trichter an den Mund und schrie hinüber:»Flagge streichen! Ergeben Sie sich!»

Vielleicht konnte die Fregatte noch repariert und als Ersatz für die Ithuriel eingesetzt werden. Ein Prisenkommando konnte sie nach Plymouth oder Cadiz bringen, und eine Prüfung ihrer Papiere und Dokumente mochte weitere Einzelheiten über sie offenbaren.

Unter seinen Füßen spürte er das Deck vibrieren, als die Geschütze nach dem Laden wieder ausgerannt und auf eine Distanz von kaum siebzig Metern wieder gegen den Feind gerichtet wurden.

Auf der Fregatte schoß kein Geschütz mehr, aber plötzlich knatterten Musketen auf ihrer Hütte los, und der Marinesoldat neben Bolitho schlug die Hände vors Gesicht und brüllte wie ein Tier, während ihm Blut zwischen den Fingern hervorströmte. Er schrie immer noch, als er gepackt und zum Arzt ins Orlopdeck geschleppt wurde. Gossett nahm seinen Hut ab und starrte den Blutfleck an, der darauf wie ein Kokarde leuchtete.»Dieser Froschfresser glaubt wohl immer noch, daß er uns entkommen kann, Sir.»

Bolitho sah über die Rücken der kauernden Kanoniere hinweg nach vorn. Es stimmte. Die Hyperion war der Fregatte in einem weiten Bogen gefolgt und lief jetzt geradewegs auf die gegenüberliegende Landzunge zu. Sie mußten bald wenden, und das mochte dem französischen Schiff das Entkommen ermöglichen.

Immer noch flatterte die Trikolore an ihrer Gaffel; das Musketenfeuer war eine klare Absage auf sein Angebot, den ungleichen Kampf zu beenden.

Doch er konnte den Befehl zum Feuern nicht geben. Auch ohne daß er sich über das Schanzkleid beugte, sah er die Doppelreihe der Geschützrohre vor sich, die wachsamen Augen und die drohende Mündung in jeder Stückpforte. Dagegen war jede Kanone der Fregatte, die zum Einsatz gekommen war, entweder umgestürzt oder zerschmettert, und ihr Rumpf lag bereits so tief, daß sie sich nicht mehr lange halten konnte, wenn sie keine Hilfe bekam. Er durfte sie nicht entkommen lassen, aber er durfte auch nicht das Leben seiner Leute beim Versuch, sie zu entern, aufs Spiel setzen. Der französische Kommandant mußte ein Fanatiker sein. Kaum konnte Bolitho ein Lächeln unterdrücken, und der halbnackte Seemann an seiner Seite schüttelte verwundert den bezopften Kopf. Aber Bo-litho lächelte aus Mitgefühl und Trauer. Er dachte daran, wie er selbst als junger Fregattenkapitän gegen ein Linienschiff gekämpft hatte. Die Umstände hatten an diesem Tag zu seinen Gunsten entschieden, aber vielleicht hatte er auch nur Glück gehabt.

Füße klatschten laut aufs Deck, und einen Augenblick fürchtete Bolitho, ein Verwundeter wäre von einer Rahe gestürzt. Es war aber Gascoigne. Bolitho hatte den jungen Midshipman bis zu diesem Augenblick völlig vergessen.

«Nun, junger Mann, warum verlassen Sie Ihren Posten auf dem Mast?«Das war eine dumme Frage, aber sie gab ihm ein paar Sekunden Zeit, zu überlegen und zu entscheiden, was er tun sollte.

Gascoigne rieb sich die brennenden Hände.»Niemand hat mich gehört, Sir. «Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Flußmündung. Hinter den Schwemmsandbänken und den letzten Nebelschwaden sah Bolitho die dunklen Umrisse des Landes und das früher viel benutzte Fahrwasser nach Bordeaux.

Gascoigne platzte heraus:»Masten, Sir! Der Nebel ist oben noch so dicht, daß ich nicht viel erkennen konnte, aber es sind viele Masten!«Errötend riß er sich zusammen.»Drei oder vier Schiffe, Sir. Und sie segeln in unsere Richtung.»

Bolitho blickte über die Schulter des Jungen.»Jetzt wissen wir Bescheid, Mr. Inch. «Er trat an die Reling und deutete auf Leutnant Stepkyne.»Gehen Sie zu jedem Geschütz. Ich wünsche, daß jetzt jeder Schuß trifft. «Starr musterte er die langsam abtreibende Fregatte. Hinter ihr lagen Sandbänke, und die Hyperion befand sich schon fast in der Mitte des Fahrwassers.»Ich wünsche, daß sie auf der Stelle genau dort versenkt wird, Mr. Stepkyne. «Er nahm seinen Hut ab und blinzelte noch einmal, als eine Musketenkugel einen Neunpfünder traf und jaulend über die Hütte flog.

Stepkyne ging zum ersten Geschütz. Ein Midshipman stand an der Hauptluke bereit, um die Befehle an die untere Batterie weiterzugeben, damit beim letzten Akt jede Kanone einen Partner hatte.

«Feuer!«Bolitho wandte den Blick ab, als der Besanmast der Fregatte in einem Wirrwarr zerschmetterter Spieren und zerrissener Stage verschwand.

«Feuer!«Ein großes Stück des Hauptdecks barst in einer Splitterfontäne, von der Tote und Sterbende wie blutige Marionetten we g-geschleudert wurden.

Zwischen den paarweise erfolgenden Abschüssen hörte Bolitho Schreien und Schluchzen, als flehe das Schiff selbst um Erbarmen. Er packte die Reling, wollte mit aller Kraft, daß die Fregatte endlich sank und das Schlachten ein Ende fand.

«Feuer!»

Blasen wühlten das von Blut durchzogene Wasser um das Schiff auf; hier und dort sprang ein Überlebender verzweifelt über Bord, doch nur, um von der starken Strömung mitgerissen zu werden.

Gossett sagte mit belegter Stimme:»Sie sinkt, Sir. «Er sah Bo-litho an, als hätte er einen Fremden vor sich.

Zwei letzte Schüsse bellten aus der Bordwand der Hyperion; als der Befehl zum Feuereinstellen auch die untere Batterie erreicht hatte, sagte Bolitho rauh:»Wir wollen halsen, Mr. Gossett.»

Er riß den Blick von dem zerschlagenen, sinkenden Wrack los und sah Gascoigne an seiner Seite an.»Gut gemacht, mein Junge.»

Er versuchte zu lächeln, aber seine Lippen waren wie erstarrt. Selbst Gossett schien zu glauben, daß er hilflose Menschen ohne jeden Sinn abgeschlachtet hatte.»Weitermachen!«schnauzte er.

Segel klatschten und knallten, als das Schiff mit dem Heck langsam durch den auffrischenden Wind ging. Bolitho wartete und zählte die Sekunden, ehe er befahl:»Kurs Nordnordwest!»

Gossett wurde unter Bolithos Blick unsicher.»Verzeihung, Sir, aber wir müssen uns weiter westlich halten, wenn wir von der Landzunge freikommen wollen.»

Bolitho ignorierte ihn.»Lassen Sie Segel wegnehmen, Mr. Inch. Wir werfen gleich Anker.»

Wenn er die gröbste Obszönität geäußert hätte, hätte er keine größere Bestürzung auslösen können.

Er wartete nicht darauf, daß jemand etwas sagte.»Mr. Gascoigne hat gesehen, was die Fregatte vor uns verbergen sollte. Und warum es notwendig war, die Ithuriel zu erobern, ehe sie uns warnen konnte. «Er deutete achteraus.»Dort kommen feindliche Schiffe, meine Herren, mit Kurs auf die offene See. Und wir verfügen über keine Fregatte mehr, die wir zum Kommodore um Hilfe schicken könnten. Wir selbst sind für diese Aufgabe nicht schnell genug. «Er blickte der Reihe nach in ihre gespannten und schockierten Gesichter.»Wir ankern in der Mitte des Fahrwassers. «Er wandte den Kopf ab und sah, wie die Fregatte sich in einem Strudel aufsteigender Luftblasen und wirbelnder Wrackteile auf die Seite wälzte.»Jedes große Schiff muß erst an uns vorbei. Und das andere Fahrwasser wird durch das Wrack blockiert.»

Inch wandte leise ein:»Wir sind ganz allein, Sir.»

«Das weiß ich. «Er milderte seinen Ton.»Aber Pelham-Martin schickt vielleicht jemanden, um zu sehen, wo wir bleiben. «Er drehte sich um.»Inzwischen müssen wir so viele Schiffe wie möglich aufhalten oder beschädigen.»

Er trat wieder an die Reling und beobachtete schweigend, wie sein Schiff zielstrebig der Landspitze entgegenglitt. Nun empfand er keinen Ärger mehr über Pelham-Martins törichten Optimismus oder die Hoffnungslosigkeit der bevorstehenden Stunden. Unter Deck jubelten wieder einige Matrosen, als hätten sie gerade einen großen Sieg errungen. Das Schiff hatte fast keine Spuren des Gefechts davongetragen, und ohne den hellen Blutfleck unter den Netzen hätten sie aus einem Manöver kommen können.

Inch fragte beklommen:»Soll ich Ruhe befehlen, Sir?»

Doch Bolitho erstarrte, als der Ausguck laut aussang:»Zwei Schiffe Steuerbord achteraus, Sir.»

Inch musterte gebannt die Marssegel des führenden Schiffs. Sie bewegten sich über einer niederen Nebelbank, losgelöst und unpersönlich und darum um so bedrohlicher.

Schließlich antwortete Bolitho:»Lassen Sie die Leute jubeln. «Er hob die Stimme, um den Lärm zu übertönen:»Hart Steuerbord!»

Langsam drehte die Hyperion in den Wind.

«Marssegel aufgeien!»

Ihr Bugspriet war wieder auf das Land gerichtet. Bolitho ve r-krampfte die Hände auf dem Rücken, um seine aufsteigende Verzweiflung zu beherrschen.

«Fallen Anker!»

Der letzte Rest Nebel verzog sich, als ob endlich ein Vorhang von der See gehoben worden wäre, und ein Strahl wäßrigen Sonnenlichts beleuchtete den Fockmast des vorderen Schiffs wie ein goldenes Kruzifix.

Der Jubel an Bord der Hyperion erstarb, und über das ganze Schiff legte sich eine Stille, die man beinahe greifen konnte.

Bolitho hob das Glas und studierte die näherkommenden Schiffe. Das erste war ein Zweidecker, das zweite auch. Dann kam das dritte um eine vorspringende Landzunge herum, sein Rumpf glänzte, als es in der Strömung leicht krängte: ein Dreidecker mit der Kommandoflagge eines Vizeadmirals am Fockmast. Bolitho versuchte, sich nicht nervös die Lippen zu lecken. Es war hoffnungslos. Nein, noch schlimmer.

Er fragte sich, was der Kommandant des führenden Schiffes in diesem Augenblick denken mußte. Jedenfalls hatte er den Befehl zum Auslaufen bekommen. Die auf der Lauer liegende englische Fregatte war überwältigt worden, ehe sie Alarm schlagen konnte, und nach Monaten des Wartens wurden die Franzosen wieder aktiv.

Dort winkte die offene See und lockte mit dem hellen, wenn auch verschwommenen Horizont.

Doch mitten im Fahrwasser lag ein einzelnes Schiff vor Anker, bereit, bis zum Ende zu kämpfen.

Allday überquerte das Deck und hielt Bolitho seinen Säbel entgegen. Als er ihn Bolitho umgürtete, sagte er ruhig:»Dafür ist heute ein schöner Tag, Captain. «Als sich ihre Blicke begegneten, fügte er hinzu:»Das erste wirklich gute Wetter, seit wir England verlassen haben.»

Im ganzen waren es vier Schiffe, und während die Minuten verstrichen, schien es den beobachtenden britischen Seeleuten so, als ob sich das ganze Fahrwasser mit Segeln und Masten füllte.

Bolitho zwang sich, zum Niedergang zur Hütte zurückzugehen, wo Roth, der Vierte Offizier der Hyperion, wie hypnotisiert neben seinen Neunpfündern stand. Roth hatte sich als fähiger Offizier erwiesen, der schnell die Anforderungen seines ersten Kommandos auf einem Linienschiff begriff. Doch als er jetzt auf die näherkommenden Schiffe starrte, hatte seine Haut die Farbe von Pergament angenommen.

Bolitho sagte beherrscht:»Wenn ich falle, Mr. Roth, werden Sie den Ersten Offizier nach besten Kräften auf dem Achterdeck unterstützen, verstehen Sie?«Roth blickte ihm voll ins Gesicht.»Bleiben Sie bei Ihren Geschützen, und ermutigen Sie die Leute in jeder Weise, selbst wenn…»

Er drehte sich schnell um, als Inch heiser ausrief:»Das führende Schiff hat Anker geworfen, Sir! Gott helfe mir, daß zweite auch.»

Bolitho rannte an ihm vorbei und kletterte in die Besanwanten hinauf. Unglaublich, aber es stimmte. Er beobachtete, wie vor dem Bug des stattlichen Dreideckers eine kleine Wolke Gischt weiß aufsprühte, und wußte, daß auch dieser das gleiche getan hatte. Das letzte Schiff wurde von den anderen fast verdeckt, aber er konnte die lebhaften Bewegungen auf seinen Rahen ausmachen, bis erst ein Segel und dann ein weiteres verschwand. Die Franzosen hatten sich den letzten und einzigen Platz ausgesucht, wo sie noch sicher ankern konnten: die breiteste Stelle des Fahrwassers vor den trügerischen Sandbänken, die das letzte Stück vor dem Zugang in die offene See bewachten. Bolitho sprang wieder an Deck zurück und hörte nur halb die aufgeregten Stimmen und ungläubigen Ausrufe, als die Nachricht durch das ganze Schiff lief, daß die Franzosen Anker geworfen hatten, statt den Kampf anzunehmen.

«Was halten Sie davon, Sir?«Inch sah Bolitho an, als erwarte er eine sofortige Erklärung.»Die können sich doch unmöglich vor einem einzelnen Schiff fürchten?»

«Das meine ich auch, Mr. Inch.»

Bolitho sah zu den Männern auf den Rahen der Hyperion hinauf, die erst vor wenigen Minuten die Segel festgemacht und sich darauf vorbereitet hatten, dem Tod in einem letzten hoffnungslosen Kampf ins Auge zu sehen. Jetzt jubelten sie, und manche schüttelten die Faust gegen die ankernden französischen Schiffe, schrieen Schimpfworte und Verhöhnungen; aus ihren Stimmen sprach Verachtung, aber auch Erleichterung über diesen unerwarteten Aufschub. Das war alles sehr seltsam. Bolitho wandte sich von seinen diskutierenden Offizieren ab und sah zur nächsten Landzunge hinüber. Vielleicht holten die Franzosen schon von anderswo Hilfe herbei, etwa schwere Artillerie aus Tochefort? Diesen Gedanken gab er sofort wieder auf. Bis dahin waren es annähernd dreißig Meilen über Land, und ehe die Geschütze an einem Ort in Stellung gebracht worden wären, von wo aus sie die vor Anker liegende Hyperion hätten treffen können, hätte alles mögliche geschehen können. Der Wind mochte drehen, auch konnte der französische Admiral nicht wissen, welche Kräfte bereits unterwegs sein mochten, um dem einzelnen Schiff zu helfen, das seinen Fluchtweg blockierte. Nein, was er auch unternehmen wollte, er mußte es schnell tun.

Bolitho sagte:»Schicken Sie zusätzliche Leute in den Ausguck, Mr. Inch. Vielleicht können sie seewärts Segel ausmachen. Ob fremde oder eigene, ich will es sofort wissen. «Er hielt kurz inne.»Und befehlen Sie unseren Leuten, leise zu sein. Was hier vorgeht, durchschaue ich nicht, aber die Situation gefällt mir nicht. Das Schiff muß jederzeit gefechtsbereit sein.»

Eine halbe Stunde verstrich, die ankernden Schiffe schwojten sanft in der Dünung, durch eine über zwei Meilen breite Wasserfläche voneinander getrennt, die im grellen Licht wie zerknittertes Silber glänzte.

«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks ließ alle zusammenzuk-ken.»Ein Boot legt vom französischen Flaggschiff ab.»

Bolitho beobachtete das Boot prüfend durchs Glas und sagte dann:»Ein Parlamentär, Mr. Inch. Halten Sie sich bereit, das Boot zu empfangen, wenn es längsseit kommt, aber seien Sie auf Tricks gefaßt. «Es war nur eine kleine Gig, und als sie sich schnell der Hyperion näherte, hörte Bolitho überraschte Ausrufe von der Bugwache und einigen Marinesoldaten, die das Boot im Visier einer mit Schrapnell geladenen Drehbasse hielten.

Inch kam nach achtern gelaufen.»Sir, in dem Boot sitzt ein britischer Offizier, und auch die Rudergasten sind unsere Leute.»

Bolitho biß die Zähne zusammen, um seine Beunruhigung zu verbergen.»Gut. Seien Sie auf der Hut.»

Die Gig hakte an der Kette an, und die Matrosen an der Schanzkleidpforte traten zurück, als ein Leutnant in zerrissener, von Pulverqualm geschwärzten Uniform an Deck kletterte und ohne einen Blick nach rechts oder links zum Achterdeck ging. Er erblickte Bolitho und legte die letzten Schritte mit schleppenden Füßen zurück, als könnten seine Beine kaum noch das Gewicht seines Körpers tragen. Als er sprach, klang seine Stimme stumpf und leblos.»Leutnant Roberts, Sir. «Er versuchte, die Schultern zu recken, als er ergänzte:»Von seiner Britannischen Majestät Fregatte Ithuriel

Bolitho antwortete ruhig:»Kommen Sie in meine Kajüte, Mr. Roberts, wenn Sie eine Nachricht für mich haben.»

Aber der Leutnant schüttelte den Kopf.»Tut mir leid, Sir, dazu haben wir keine Zeit. Ich wurde auf Ehrenwort beurlaubt, um mit Ihnen zu sprechen und dann unverzüglich zurückzukehren. «Er schwankte und war nahe daran, zusammenzubrechen.»Die Ithuriel wurde von der Fregatte gekapert, die Sie eben versenkt haben. Wir untersuchten gerade ein paar Küstenlugger, als sie uns von See her überraschte. Es war eine raffinierte Falle, denn auch die Lugger waren voll Bewaffneter. Wir wurden entmastet und innerhalb einer Stunde geentert. Unser Kommandant fiel. «Er hob die Schultern.»Ich gab Befehl, die Flagge zu streichen. Mir schien, ich hatte keine andere Wahl. «Seine Augen verrieten plötzlich Verzweiflung und Zorn.»Wenn ich geahnt hätte, was dann kommen sollte, hätte ich meine Leute lieber im Kampf sterben lassen. «Er zitterte heftig, Tränen rannen ihm über das schmutzbedeckte Gesicht, als er mit fast versagender Stimme hinzufügte:»Der französische Admiral verlangt von mir, daß ich Ihnen mitteile, falls Sie nicht unverzüglich Anker lichten und verschwinden. «Er brach ab, wurde sich plötzlich der beobachtenden Gesichter bewußt.»Er läßt jeden einzelnen von der Besatzung der Ithuriel auf der Stelle aufhängen.»

Inch stöhnte:»Mein Gott, das ist doch nicht möglich!»

Der Leutnant starrte ihn mit vor Erschöpfung und Schock trüben Augen an.»Aber es stimmt, Sir. Der Admiral heißt Lequiller, und er tut, was er sagt. Glauben Sie mir.»

Ein Kanonenschuß dröhnte dumpf über die Flußmündung; als sofort darauf zwei zuckende, verzweifelt strampelnde Gestalten zur Großrah des französischen Flaggschiffs hinaufgezogen wurden, schien der Rumpf der Hyperion unter einem einzigen lauten entsetzten Aufstöhnen der Matrosen und Marinesoldaten zu erbeben.

Der Leutnant schrie verzweifelt:»Er läßt alle zehn Minuten zwei Mann hängen, Sir!«Schluchzend packte er Bolithos Arm.»Um Gottes willen, Sir, Lequiller hat zweihundert britische Gefangene in seiner Gewalt!»

Bolitho befreite seinen Arm und versuchte noch einmal, seine Gefühle vor den Umstehenden zu verbergen. Die eiskalte Unmenschlichkeit, das furchtbare Ultimatum des Admirals erfüllten ihn mit ohnmächtigem Zorn und ratloser Verzweiflung. Er blickte auf das dichtgefüllte Oberdeck hinab, wo seine Leute von den Geschützen zurückgetreten waren und gebannt zu ihm hinaufsahen oder sich gegenseitig anstarrten, als wären sie zu benommen, um sich zu bewegen. Sie waren darauf vorbereitet gewesen, kämpfend zu sterben, aber dazustehen und der langsamen, unbarmherzigen Hinrichtung wehrloser Gefangener zuzusehen, das hatte ihren Kampfgeist weit wirksamer gebrochen, als es die schwerste Breitseite vermocht hätte.

«Und wenn ich seiner Forderung nachkomme?«Bolitho zwang sich, die Jammergestalt des Leutnants anzusehen.

«Dann will er die Leute von der Ithuriel an Land setzen und unter Bewachung nach Bordeaux bringen lassen, Sir.»

Wieder hallte ein Schuß über das Wasser, wurde vom Echo zurückgeworfen, und Bolitho drehte sich um, um das Bild aufzunehmen und im Gedächtnis zu bewahren, damit er es nie vergessen würde: zwei kleine, zappelnde Gestalten. Was mußten diese Männer empfunden haben, als sie mit dem Strick um den Hals warteten? Die Hyperion war das letzte, was sie auf dieser Welt sahen.

Bolitho packte den Leutnant am Arm und schob ihn auf den Niedergang zu.»Fahren Sie zum Flaggschiff zurück, Mr. Roberts.»

Der Leutnant starrte ihn mit tränenblinden Augen an.»Heißt das, Sie ziehen ab, Sir?«Anscheinend glaubte er, nicht richtig verstanden zu haben, denn er versuchte, die Hand zu heben, als er im gleichen gebrochenen Ton fortfuhr:»Sie wollen sich um unserer Leute willen zurückziehen?»

Bolitho wandte sich ab.»Bringen Sie ihn zu seiner Gig, Mr. Inch. Und lassen Sie das Ankerspill besetzen und das Schiff zum Segelsetzen fertig machen.»

Er bemerkte Gossett, dessen Gesicht Anteilnahme und Verständnis verriet.»Legen Sie bitte einen Kurs fest, der uns von der Landzunge fortführt. «Bolitho konnte ihn nicht ansehen, noch konnte er Inch ins Gesicht blicken, als er sich rasch wieder seinem Platz an der Reling zuwendete.

Die Männer mußten auf ihre Stationen getrieben werden, als wären sie von dem Geschehen betäubt worden. Die Älteren und Erfahreneren konnten nur nach achtern auf die schlanke Gestalt ihres Kommandanten starren, der zwar von anderen umgeben, aber dennoch allein dastand und die französischen Schiffe beobachtete; denn sie verstanden die Ungeheuerlichkeit seiner Entscheidung und ihre Tragweite. Doch Bolitho nahm keinen von ihnen wahr und war sich kaum des Durcheinanders und der gebellten Befehle bewußt, als Matrosen das Gangspill besetzten und über die Webeleinen aufenterten. Manche trugen noch die Entermesser im Gürtel, mit denen sie bereit gewesen waren, zu kämpfen und zu sterben.

Die Gig ruderte zu den französischen Schiffen zurück, so schnell sie gegen die starke Strömung ankommen konnte. Bolitho ballte die Fäuste, daß ihm die Nägel ins Fleisch bissen, als das Geschütz wieder feuerte und zwei weitere Unglückliche zappelnd zur Großrah des Flaggschiffs aufstiegen.

Der französische Admiral hatte nicht einmal die Rückkehr der Gig abgewartet. Er hielt sich an die gesetzte Frist. Hielt seine Drohung ein.

Die Gig verschwand hinter den ankernden Schiffen, und dann murmelte Gossett:»Eins holt schon die Ankertrosse ein, Sir.»

Vom Bug kam der Ruf:»Anker kurzstag, Sir.»

Inch trat vor, aber er sah Gossetts grimmiges Gesicht und dessen kurzes Kopfschütteln. Deshalb machte er auf dem Absatz kehrt und befahl laut:»Weitermachen! Marssegel setzen!«Selbst als er sein Sprachrohr senkte, verriet Bolitho mit keinem Zeichen, daß er etwas gehört hatte, noch wendete er die Augen von den feindlichen Schiffen ab.

«An die Brassen! Beeilung!«Ein Tampen schlug einem Mann klatschend über die Schultern, und vom Bug her kam der Ruf:»Anker ist los!»

Langsam, sogar widerstrebend, fiel die Hyperion ab und gewann Fahrt. Das wäßrige Sonnenlicht fiel wie Silber auf ihre sich blähenden Segel, als sie mit dem ablandigen Wind davonsegelte.

Bolitho ging nach Luv, den Blick immer noch auf die französischen Schiffe gerichtet. Lequiller. Den Namen würde er sich merken. Lequiller — ein Schandname!

Ein Steuermannsmaat legte grüßend die Hand an die Stirn.»Verzeihung, Sir?»

Bolitho starrte ihn an. Er mußte laut gesprochen haben. Er sagte:»Der Tag wird kommen. Verlassen Sie sich darauf!»

Dann kletterte er die Leiter zur Hütte hinauf und sagte knapp:»Sie können Ihre Leute wegtreten lassen, Hauptmann Dawson.»

Sobald der letzte Marinesoldat an ihm vorbeigepoltert war, begann er auf dem verlassenen Hüttendeck auf- und abzugehen. Sein Kopf war völlig leer. Bis auf einen Namen.

Das war alles, was er hatte. Doch eines Tages würde er ihn stellen, und wenn dieser Tag kam, würde er weder Mitleid kennen noch Pardon gewähren, bis die Erinnerung an jene elenden, zuk-kenden Gestalten getilgt war.

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