Für Jean, deren unbezähmbarer Wille jedem Magusch gut angestanden hätte.
Niemals würde Parric diesen Sonnenaufgang vergessen – diese spektakuläre Dämmerung, mit der sich der grausame Zugriff des Winters endlich lockerte und ein wunderbarer Frühling seine sanften Flügel über die Welt breitete. Der Kavalleriehauptmann hatte während der langen Stunden der Dunkelheit auf der hohen Brüstung von Incondors Turm gestanden, durchgefroren bis auf die Knochen trotz seines Umhangs und einer zusätzlichen Decke, die er sich über die Schultern geworfen hatte. Die ungewohnte Last der Verantwortung für ein ganzes Volk hatte alle Hoffnung auf Schlaf zunichte gemacht, so daß er sich freiwillig erboten hatte, Wache zu stehen, während die anderen sich ausruhten; und nun war er hier hinaufgeklettert, um mit seinen Gedanken allein zu sein.
Parric hatte vieles zu bedenken, was seine Rückreise in das Land der Xandim betraf, und der Kavalleriehauptmann aus Nexis, der in den Rang des Rudelfürsten der Xandim aufgestiegen war, mußte nun noch eine zusätzliche Verantwortung tragen: die Sorge um Aurians seltsame neue Freunde aus dem Süden. Aber Parric fiel es an diesem Morgen ungeheuer schwer, sich auf banalere Dinge zu konzentrieren. Statt dessen ertappte er sich dabei, wie sein Blick immer wieder nach Nordwesten wanderte, zu den hohen Berggipfeln, hinter denen das prachtvolle Aerillia lag, die Zitadelle des Himmelsvolkes. Aurian, die halsstarrige junge Magusch, der der Kavalleriehauptmann durch die halbe Welt gefolgt war, hatte sich am vergangenen Tag in aller Eile dorthin auf den Weg gemacht, durch die Luft getragen von geflügelten Kriegern. Wieder einmal hatte sie Parric zurückgelassen, und das nahezu ohne jede Erklärung und obwohl er auf der Suche nach ihr so viele Gefahren bestanden und die junge Frau gerade erst wiedergefunden hatte.
Mit düsteren Gedanken stand er da und blickte über die trostlose Fläche der Schneefelder, die langsam unter einem bleichen Himmel sichtbar wurde, während das fahle Licht eines neuen wolkenreichen Sonnenaufgangs widerwillig über das triste, nackte Land kroch. Was, zum Kuckuck, führte Aurian jetzt wieder im Schilde? Was war so wichtig, daß sie ihren neugeborenen Sohn in Incondors Turm zurückließ? Parric wußte nur, daß sie sich auf die Suche nach dem Diener Anvar gemacht hatte, der in der Nacht von Forrals Tod mit ihr aus Nexis geflohen war. Parric runzelte die Stirn. Was bedeutete Anvar ihr, daß sie in so verzweifelter Hast davongestürzt war? Nun gut, sie hatte den Jungen immer gern gehabt, aber … »Ach, sei doch nicht so ein Idiot, Parric«, beschimpfte er sich. Es war reine Zeitverschwendung, sich um Aurian zu sorgen. Sie hatte ein wenig Zeit gefunden, um ihm von ihren Abenteuern zu erzählen, aber aus den Bruchstücken, die zusammenzusetzen ihm gelungen war, ging deutlich hervor, daß die Magusch mit weit mehr fertig werden konnte als mit einer Horde fliegender Monster, wie es das Himmelsvolk von Aerillia war.
Parric, dessen Laune sich ein wenig gebessert hatte, beschloß, sich etwas zu trinken zu besorgen, um die Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben. Als er jedoch von der Brüstung zurücktrat, erschreckte ihn eine Bewegung über seinem Kopf, eine Bewegung, die er kaum wahrzunehmen vermochte. Seine kampferprobten Reflexe ließen ihn mit gezücktem Schwert in einer geschützten Ecke der Brüstung in die Hocke gehen, noch bevor er überhaupt begriffen hatte, was vor sich ging. Als sein Verstand Zeit gefunden hatte, seinen Instinkt einzuholen, trat der Kavalleriehauptmann mit ein wenig törichter Miene aus seiner Zuflucht heraus und schob sein Schwert mit einem kläglichen Fluch zurück in die Scheide. Nur gut, daß niemand dagewesen war, der ihn hätte sehen können, dachte er. Wie ein Idiot hatte er sich benommen!
Parric blickte finster hinauf zu dem sich ständig ändernden Himmel. Wolken. Nichts als verfluchte Wolken, das war’s, was ihn erschreckt hatte. »Ich muß wohl langsam alt werden«, murmelte er vor sich hin – bis er jäh stehenblieb und noch einmal hinsah; seine Augen wurden schmal, und er blinzelte in das heller werdende Licht. Irgend etwas Unnatürliches ging da vor. Die Wolken bewegten sich schneller und schneller, schossen dahin, jagten über den Himmel nach Norden. Turmhohe Bänke grauen Dunstes schoben sich über den Horizont, lösten sich vor Parrics ehrfurchtsstarren Augen auf, wurden zu rauchenden, jämmerlichen Fetzen, als würden sie von den Kiefern eines mächtigen Windes zerrissen – und doch regte sich auf dem Boden, wo der Kavalleriehauptmann stand, nicht die leiseste Brise.
Plötzlich erschienen helle blaue Flecken am Himmel, die Wolkendecke wurde dünner und zerstob. Parric blickte hinauf in ein solch atemberaubendes Blau, wie er es seit einer langen und unglücklichen Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er stieß ein leises, überraschtes Pfeifen aus und blieb eine Weile unschlüssig stehen, um den sich aufhellendem Himmel zu beobachten. Die unerwartete Schönheit dieses Anblicks hob seine Stimmung weit mehr, als jeder Weinbrand es vermocht hätte.
Als die letzten Wolken im Osten vom Horizont flohen, brach die Sonne in all ihrer Herrlichkeit durch und hüllte die Welt in eine flammende, goldene Wärme. Es war wie ein kostbarer Segen. Vor Parrics ungläubigen Augen begann der Schnee, der das Land so lange mit eisernen Ketten umschlossen hatte, zu schmelzen, sich aufzulösen und mit unheimlicher Geschwindigkeit in den Boden zu sickern. An den Wänden des Turms formten sich tröpfelnde Eiszapfen, und über das nahegelegene Dickicht legte sich ein Muster fallender Tropfen, während Äste und Zweige ihren Mantel aus Schnee abwarfen. Binnen weniger Minuten, so schien es Parric, verschwand die kalte weiße Decke, die die Berge für so lange Zeit umschlungen hatte, und hinterließ große Teiche und Seen stehenden Wassers, die ebenfalls bereits zu versiegen begannen – da plötzlich erklang ein vertrautes Geräusch, das der junge Hauptmann viele Monate lang nicht mehr gehört hatte: das fröhliche, plätschernde Lied dahinströmenden Wassers. Endlich waren Bäche und Flüsse von den Fesseln des Eises befreit!
Dieses Wunder mußte Aurians Werk sein! Die ungeübte junge Frau, die vor so vielen Monaten aus der nördlichen Stadt Nexis geflohen war, war jetzt älter und klüger und durch Leid und harte Kämpfe beträchtlich gereift. Und irgendwie – Parric spürte die Gewißheit tief in seinen Knochen und schauderte vor Ehrfurcht –, irgendwie hatte sie es geschafft, den lähmenden Zauberbann des Winters zu bezwingen, den die böse Wettermagusch Eliseth über die Welt verhängt hatte. Endlich, endlich hatte Aurian begonnen, die Woge des Bösen zu brechen, hatte den Kampf mit ihren Feinden aufnehmen können, die ihr eigenes Fleisch und Blut waren, und schon bald würde sie jenen den Krieg erklären, die ihren geliebten Forral getötet und die freien Sterblichen von Nexis versklavt hatten.
Parric wollte gerade den Turm hinunterstürzen, um die gute Nachricht mit seinen Freunden zu teilen – aber da kam noch mehr. Wie eine lebensspendende Flut ergoß sich ein Nebel verschiedenster Grüntöne über die braunen, frostverdorrten Hügel, während die Erde erwachte und die Pflanzenwelt, die so lange in Korn und Saat geschlafen hatte, sich zu regen und dem Himmel entgegenzurecken begann. Heide und Wacholder, Gras, Moos und Farn streckten in einer Explosion neuen Lebens ihre Blätter aus. Im Dickicht unter dem Turm sprangen neue Knospen auf, die wie winzige Banner eines Festes wirkten, das seinen Anfang genommen hatte, noch während die letzten Schneereste zwischen ausgebreiteten Wurzeln auf dem Boden lagen. Die Luft war feucht und erfüllt von Wohlgeruch und prickelndem neuem Leben. Mit Macht war der Frühling in die Berge eingekehrt und hatte jede Spur des Winters ausradiert, als hätte es ihn nie gegeben. Irgendwo, tief im Gebüsch, begann ein vereinzelter Vogel – ein winziger, zäher Überlebender der eisernen Kälte –, ein Lied zu singen.
Parrics Freudenschreie rissen die Menschen im Turm aus dem Schlaf. Einer nach dem anderen taumelten sie durch die schmale Tür, rieben sich ihre schläfrigen Augen und blieben dann wie angewurzelt stehen, um mit vor Erstaunen weit geöffnetem Mund hinauszustarren, als sie die Veränderungen bemerkten, die während ihres Schlummers mit der Welt vorgegangen waren. Alle drängten sie nun hinaus: die dunkelhäutigen Khazalim-Soldaten aus dem fernen Süden – ohne Anführer jetzt, da ihr Prinz, der fehlgeleitete, verräterische Harihn, ermordet worden war. Auch Parrics eigene Leute kamen heraus, die kleine Schar von Xandim-Kriegern, die er mitgebracht hatte, um Aurian zu retten. Bei ihnen waren die beiden Xandim-Verbannten, Schiannath und seine Schwester Iscalda, mit denen sich Aurian während ihrer Gefangenschaft im Turm angefreundet hatte. Sie waren jetzt von ihrem Fluch erlöst und wieder mit ihrem Volk vereint, und auf ihren Gesichtern leuchtete eine solche Freude, daß Parric nicht anders konnte, als in Antwort auf ihr Glück ebenfalls zu lächeln.
Ein wenig zögerlicher, als lebten sie noch immer in Angst vor ihren traditionellen Feinden, den Xandim, kamen die Leute näher, die Aurian bei ihren Reisen im Süden aufgelesen hatte – wie hießen sie noch gleich? Parric runzelte die Stirn, während er versuchte, sich zu erinnern. Eliizar – genau. Der kahlköpfige, schlaksige Einäugige war der Schwertmeister Eliizar, und die kleine, rundliche Frau, die in seinem Kielwasser nun ebenfalls aus dem Turm trat, war seine Ehefrau, Nereni, die zu Parrics Belustigung wie gewöhnlich pausenlos schwatzte und ihrem Erstaunen über den plötzlichen Frühling wortreich Luft machte. Der Kavalleriehauptmann brauchte ihre Sprache nicht zu beherrschen, um zu wissen, was sie in diesem Augenblick sagte!
Hinter Eliizar und Nereni kam Bohan, der alle anderen überragte. Voller Zärtlichkeit hielt der Eunuch die winzige Gestalt von Wolf in seinen gewaltigen Armen, Aurians Sohn, der inmitten eines Sturms von Gewalt und Blutvergießen nur zwei Tage zuvor auf die Welt gekommen war. (Waren es wirklich erst zwei Tage? Parric konnte es kaum glauben.) Das Kind hatte wirklich einen passenden Namen, überlegte er schaudernd. Das arme Wesen war vor seiner Geburt von dem bösen Erzmagusch Miathan verflucht worden, so daß es die Gestalt des ersten Tieres annehmen mußte, das Aurian nach seiner Geburt vor Augen kam. Als Aurian die wilden Wölfe aus der Umgebung herbeirief, damit sie ihr bei der Flucht aus dem Turm halfen, war das Schicksal des kleinen Wolf besiegelt gewesen. Parric blickte traurig auf das winzige Junge in Bohans Armen. Nur gut, daß das Kind einen so treuen Beschützer hatte! Das arme Würmchen hatte wahrhaftig keinen besonders guten Start ins Leben gehabt. Und wann würde seine Mutter zu ihm zurückkehren? Warum war sie so überstürzt aufgebrochen? Und was genau hatte Aurian eigentlich im Land des Himmelsvolkes zu suchen?
Der Frühling war nach Nexis gekommen. Sonnenlicht überflutete die Stadt wie eine honigfarbene Woge, vergoldete die Spitzen von Türmen und Türmchen, ergoß seine heilende Wärme über eingesackte Strohdächer und abblätternden Kalk und brachte das Eis auf den zerfallenen Steinmauern zum Schmelzen. Die Bäume, die die Landhäuser der Kaufleute auf dem Südufer des Flusses umringten, hüllten sich in einen Nebel frischer Blätter, in dem sich jede nur mögliche Grüntönung fand. Am anderen Flußufer erhoben sich aus jedem Kamin zarte Rauchschwaden, die schon bald von der wohlduftenden Brise davongeweht wurden, ein sicherer Hinweis auf die siedenden Kupferkessel in den Küchen darunter, in denen die Hausfrauen zu einer wahren Orgie des Frühjahrsputzes angesetzt hatten. Frisch gewaschene Kleider, die jeden einzelnen Zentimeter Platz auf Hinterhöfen oder Baikonen beanspruchten, umringten die Stadt wie ein regenbogenfarbiges Flechtwerk festlicher Banner.
Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher, und überall standen die Läden weit offen, um trockene Luft und Sonnenschein einzulassen; man hörte das Scharren von Sägen und das rhythmische Klopfen von Hämmern, mit denen die Bürger von Nexis sich an die Arbeit gemacht hatten, fest entschlossen, den Schaden des Winters auf der Stelle zu beheben. Die Frauen trällerten fröhliche Lieder, während sie mit Schrubber, Eimer und Besen zu Werke gingen; Kinder rannten kreischend durch den trocknenden Schlamm in den Gassen, außer sich über den berauschenden Gedanken, daß die endlosen, in dunklen, feuchten Zimmern verbrachten Tage nun vorüber sein sollten.
Nur in zwei Herzen fehlte die Freude über den Frühling vollkommen. Miathan, der Erzmagusch von Nexis, lehnte an der Brüstung des hohen, offenen Tempels, der das Dach des Maguschturmes krönte. Neben ihm stand Eliseth, die Wettermagusch, deren Pläne durch den Tod des unnatürlichen Winters, den sie geschaffen hatte, so unbarmherzig hintertrieben worden waren. Die endlose, eisumklammerte Jahreszeit war ihrer Macht entsprungen, sie hatte sie gehegt und gepflegt. Und jetzt, mit der unter ihr liegenden Stadt vor Augen, verzerrte eine Grimasse wütenden Entsetzens ihre makellosen Gesichtszüge, während ihre kalten grauen Augen an einen Falken erinnerten, der sein Opfer anvisiert – und verfehlt hatte.
Der Erzmagusch unterdrückte ein ironisches Lächeln. Obwohl auch seine eigenen Pläne durchkreuzt waren, war er doch alt und gerissen genug, um zu wissen, daß solche Nackenschläge nicht unbedingt bedeuteten, daß man den ganzen Krieg verloren hatte – und in der Zwischenzeit fand er einen gewissen Trost in der unwiderstehlichen Möglichkeit, sich auf Eliseths Kosten lustig zu machen – trotz der Tatsache, daß auch er bei seiner letzten Begegnung mit seinem abtrünnigen Lehrling Aurian nicht ungeschoren davongekommen war.
Miathan hatte offensichtlich nicht genug darauf geachtet, seine Gedanken zu verhüllen – oder aber Eliseths Geist hatte sich die ganze Zeit über schon in ähnlichen Bahnen bewegt. Jetzt drehte sie sich zum Erzmagusch um und versengte ihn mit einem haßerfüllten Blick. »Nun?« fuhr sie ihn an. »Bist du stolz auf deine Schülerin, ja? Sieh dir diese Bescherung an – und alles, weil du Aurian und ihren Buhlen Anvar hast entkommen lassen!« Sie starrte das sonnenerleuchtete Panorama unter sich an, als wäre es eine persönliche Beleidigung für sie. »Was, im Namen aller Götter, machen wir jetzt?«
»Ich habe keine Ahnung.« Mit einer abrupten Handbewegung brachte Miathan die Protestworte zum Verstummen, die sich auf den Lippen der Magusch bildeten. »Ich habe keine Ahnung – noch nicht«, fuhr er fort, »aber sei versichert, Eliseth, die Schlacht ist noch nicht vorbei – noch sehr, sehr lange nicht. Jetzt ist es vor allem wichtig, daß wir kühles Blut bewahren und nachdenken und planen und – was am allerwichtigsten ist – unsere Verteidigung aufbauen.« Mit langen Schritten lief er über das flache Dach zur anderen Seite hinüber und richtete den flackernden Blick der Juwelen, die jetzt seine Augen waren, gen Süden, als wolle er so die langen Meilen überwinden, die ihn von Aurian trennten. »Eines steht fest«, murmelte er bei sich. »Wenn wir nichts unternehmen, ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bevor Aurian zu uns kommt.«
Aurian wischte den Rost von ihrem Schwert.
»Mußt du das unbedingt im Bett erledigen?« protestierte Anvar schläfrig.
»Ich habe darauf gewartet, daß du aufwachst. Jetzt, da das endlich passiert ist, bin ich sicher, daß mir etwas Besseres einfällt.« Mit blitzenden Augen blickte Aurian zu ihrem Seelengefährten hinüber. Daß er die Harfe der Winde errungen hatte, hatte ihn verändert, so wie sie selbst eine andere geworden war, als sie den Stab der Erde neu geschaffen und für sich beansprucht hatte. Anvar schien irgendwie mehr zu sein, als er zuvor gewesen war. Seine blauen Augen funkelten mit größerer Intensität, der Goldton seines Haares war heller geworden. Eine Aura vibrierender Macht umgab ihn; verwandelte sein ganzes Wesen in die Erscheinung von etwas, das mehr war als nur ein Mensch. Aurian jedoch hatte eine ganz ähnliche Veränderung durchgemacht, als sie den Stab der Erde für sich beanspruchte, und wußte daher, daß der äußere Schein trügerisch sein konnte. Da, worauf es ankam, in seinem Herzen, war Anvar noch immer derselbe.
Jetzt streckte er sich und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Wieviel Uhr ist es?«
Aurian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Sie blickte aus dem Fenster. »Es ist allerdings wieder dunkel, also müssen wir den ganzen Tag verschlafen haben.« Sie seufzte. »Ich schätze, sie werden jetzt bald kommen, um uns zu holen – zu Rabes Festbankett, das wahrscheinlich kein besonderer Schmaus werden wird. Dieser Winter hat den Himmelsleuten kaum etwas zu essen gelassen.«
»Ganz so schlimm wird es schon nicht werden«, erwiderte Anvar. »Während du dich heute morgen mit Shia unterhalten hast, sind Rabe wieder die Vorräte eingefallen, die wir im Wald am Rande der Diamantwüste zurückgelassen haben. Sie hat sich mit einer ganzen Schwadron Geflügelter auf den Weg gemacht, um sie herbeizuschaffen. Und um ihre jüngst zurückgewonnene Fähigkeit des Fliegens zu erproben«, fügte er stirnrunzelnd hinzu.
»Dieses verflixte Mädchen! Ich habe ihre Flügel gerade erst geheilt – und das war alles andere als einfach«, sagte Aurian. »Es war völlig falsch von ihr, sich so früh schon wieder einer solchen Belastung auszusetzen!«
Anvars Stirn war immer noch gerunzelt. »Und ich verstehe nicht, warum du es überhaupt getan hast«, brach es wütend aus ihm hervor. »Nachdem sie uns so schmählich verraten hat, hätte sie es wahrhaftig nicht verdient.«
»Pssst, Liebster.« Aurian legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Du warst immer noch in Schwierigkeiten hier in Aerillia, und Shia saß irgendwo in der Falle, erinnerst du dich? Ich wußte, ihr wart beide in Gefahr, und ich mußte auf schnellstem Wege hierher – ich brauchte einfach Rabes Hilfe.« Sie blickte hinunter auf Shia, die sich in tiefem Schlaf zusammengerollt hatte und den größten Teil des Platzes in dem merkwürdig aussehenden kreisförmigen Ding einnahm, das die Geflügelten als Bett benutzten.
Die große Katze war immer noch erschöpft von ihrem heroischen, beinahe unmöglichen Aufstieg über die schroffen Felsen nach Aerillia, um Anvar den Stab der Erde zu bringen – und ihr Anteil an dem Kampf, der in Incondors Tempel stattgefunden hatte, hatte zum Tod von Schwarzkralle geführt, dem bösen und korrupten Hohenpriester der Geflügelten. Shia war außerdem schwer gezeichnet von ihrem Kummer über das Schicksal Hreezas, der heldenhaften, kühnen, scharfzüngigen alten Katze, die ihre Freundin gewesen und im Tempel brutal niedergemetzelt worden war – von einem blutdurstigen Mob Geflügelter. Aurian seufzte. Noch immer hatte man die Leiche der armen Hreeza nicht gefunden.
»Es tut mir leid.« Anvars Stimme riß die Magusch aus ihren traurigen Gedanken. »Ich weiß, daß du gute Gründe hattest, Rabe zu heilen. Es ist nur – na ja, es macht mich wütend, das ist alles. Nach allem, was wir durchlitten haben, weil sie uns verraten hat …« Mit einiger Mühe gelang es ihm schließlich, das Thema zu wechseln. »Na ja, Rabe kann warten. Was waren diese Alternativen, von denen du gesprochen hast, als ich aufgewacht bin?« Jetzt grinste er, und in seinen Augen stand ein schalkhaftes Zwinkern.
»Erlaube mir, es zu demonstrieren.« Eine Woge ungetrübten Glücks riß Aurian mit sich, als sie den mittlerweile wieder funkelnden Coronach, ihr kostbares und so lange nicht mehr benutztes Schwert, das sie aus dem Turm Incondors gerettet hatte, zurück in seine Scheide gleiten ließ und die Hand nach ihrem Liebsten ausstreckte. Sie ließ ihre Finger durch Anvars seidiges goldenes Haar gleiten und verlor sich in den blauen Tiefen seiner Augen. Ihre Arme umfingen ihn, seine Haut fühlte sich weich und glatt an unter ihrer Berührung, sein Körper, von den Entbehrungen ihres Feldzugs hart geworden, war auf Knochen, Muskeln und Sehnen reduziert. Seine Arme hießen sie willkommen …
Und ausgerechnet in diesem Augenblick hörten sie das Schwirren großer Schwingen auf der Landeplattform draußen vor ihrer Turmwohnung, gefolgt von einem donnernden Klopfen an der Tür und dem Klirren von Stahl, als Yazour und Chiamh im Nebenzimmer ihre Waffen zogen, wo sie zusammen mit Khanu, Shias zweitem Katzenkumpan, geschlafen hatten.
Aurian fluchte leise und tastete nach ihren Kleidern, die achtlos hingeworfen vorm Bett lagen.
»Was soll das denn schon wieder?« murrte sie verdrossen.
Der geflügelte Bote, der nun eingelassen wurde, befand sich in einem Zustand beträchtlicher Erregung. »Kommt schnell, kommt schnell!« rief er. »Etwas Furchtbares passiert in den Ruinen des Tempels. Wir haben Schreie gehört …«
»Das ist nicht fair!« brummte Linnet. Mit gerunzelter Stirn und wütendem Blick betrachtete das geflügelte Kind die mittlerweile verlassenen Ruinen von Yinzes Tempel und trat gegen einen Stein, der oben auf einem wackligen Haufen gelegen hatte. Der Stein holperte davon und zog einen kleinen Sturzbach weiterer Kieselsteine mit sich, die mit munterem Klappern hinter ihm her rutschten. Linnet sprang erschrocken zurück und breitete ihre Flügel aus, als wolle sie fliehen. Halb erwartete sie die tadelnde Stimme eines Erwachsenen hinter sich zu hören – beim Vater der Himmel, der Tempel war auch ohne ihr Zutun hinreichend zerstört –, aber kein Laut war zu hören bis auf das scharfe, langsam ersterbende Echo der klappernden Steine. Niemand war da, der Linnet hätte ausschimpfen können – niemand hatte bisher auch nur bemerkt, daß sie nicht mehr zu Hause saß, dachte das geflügelte Kind mit einem Anflug von Selbstmitleid. Die Erwachsenen waren alle drüben im Palast und feierten die unerwartete Einkehr des Frühlings in ihr Land, die Thronbesteigung der neuen Königin und die Wiederentdeckung der Harfe der Winde durch irgendeinen fremden, ausländischen, flügellosen Zauberer. Linnets kleiner, aber bedeutungsvoller Anteil bei diesen wunderbaren Ereignissen schien allgemein in Vergessenheit geraten zu sein.
»Das ist einfach nicht fair!« murmelte Linnet noch einmal. »Bei Yinze – dabei hätte ich eigentlich als Heldin gefeiert werden sollen!« Hatte Cygnus, der weißgeflügelte Himmelsmann, ihr nicht etwas Derartiges versprochen? Hatte sie nicht eigenhändig die Nachricht überbracht, daß die Königin von Schwarzkralle, dem bösen Hohenpriester, gefangengehalten wurde? Und das trotz der Androhung schwerster Bestrafung durch ihre Mutter, weil sie schließlich an einem Ort gespielt hatte, an dem sie auf keinen Fall hätte sein dürfen! Linnet setzte sich auf einen heruntergestürzten Balken und stützte ihr Kinn unglücklich in die Hände. »Dieser Cygnus hat mir außerdem eine Belohnung versprochen«, seufzte sie. »Aber bei dem ganzen Theater und der Aufregung über alles andere wird er sich daran wohl nicht mehr erinnern.«
Viele Dinge waren in Vergessenheit geraten, seit der seltsame flügellose Zauberer mit den Augen von der Farbe des Himmels aus dem Nichts in dem zerstörten Tempel erschienen war, in den Händen die Harfe der Winde. Linnet konnte nicht begreifen, was das ganze Theater eigentlich sollte. Eine Harfe – na und? Also wirklich, der alte Martin, der Instrumentenbauer, konnte Dutzende von Harfen machen! Nun ja, das Ding sah wirklich hübsch aus, soviel stand fest; es blitzte und funkelte, als wäre es aus reinstem Mondlicht und dem Blinken von tausend Sternen gefertigt – zumindest war dies Linnets flüchtiger Eindruck gewesen, bevor Louette, ihre Mutter, sie weggezerrt hatte, damit sie sich um ihren kleinen Bruder Lark kümmerte, während Louette selbst mit allen anderen in den Palast ging.
»Und jetzt haben alle ihren Spaß, nur ich nicht«, grollte das geflügelte Kind mißvergnügt. Zitternd hockte Linnet sich auf den Boden und hüllte sich fest in ihre Flügel ein. Es mochte ja durchaus Frühling sein, aber die funkelnde, sternenklare Nacht war immer noch von beträchtlicher Kühle, als wollte der Winter trotz seiner Niederlage gegen die Macht der Harfe den Rückzug nicht antreten.
Linnet versuchte, sich an dem Feuer ihres gerechten Zorns zu wärmen. »Ich sollte dort sein, im Palast! Ich sollte meine Belohnung dafür bekommen, daß ich die Königin gerettet habe – und nicht mit diesem kleinen Biest zu Hause sitzen!« Aber in Wahrheit wurde sie mittlerweile von Gewissensbissen gequält – denn sie war natürlich nicht zu Hause und kümmerte sich um Lark. Sobald ihr Bruder eingeschlafen war, war Linnet hinausgeschlichen und hatte sich auf den Weg zum Palast gemacht, in der Hoffnung, daß es ihr gelingen würde, sich so nah heranzuschleichen, wie sie es an jenem schicksalsschweren Tag getan hatte (war das wirklich erst gestern gewesen?), als sie die gefangene Königin gefunden hatte. Vielleicht konnte sie auch jetzt einen Blick durchs Fenster werfen und feststellen, was drinnen vor sich ging. Wenn sie nur die Aufmerksamkeit von Königin Rabes weißgeflügeltem Begleiter erregen könnte, ohne daß ihre Mutter sie zuerst sah, dann würde sie ihre Belohnung vielleicht doch noch bekommen.
Linnets Pläne sollten sich jedoch nie verwirklichen. Auf halbem Wege zum Palast verließ sie der Mut. Beim letzten Mal war es etwas anderes gewesen, als das gigantische Bauwerk buchstäblich leer stand, während die Geflügelten das Dahinscheiden von Königin Flammenschwinge betrauerten. Heute abend aber glühte in allen Türmen ein Fackellicht, das selbst die rotgoldene Pracht eines Sonnenuntergangs in den Schatten stellte, und lärmende Scharen aufgeregter Himmelsleute umkreisten die Türmchen, flogen geschäftig ein und aus und bereiteten das bestmögliche Festmahl vor, das sich aus den mageren Vorräten, die ihnen verblieben waren, zusammenstellen ließ. Das geflügelte Kind konnte sich nicht an das Gebäude heranwagen, ohne entdeckt zu werden – und wenn seine Mutter es erwischte, würde es keine Belohnung sein, die es bekam! Eine bitter enttäuschte Linnet hatte sich umgedreht und wollte gerade nach Hause fliegen – als ihr Blick auf die schwarzen, eingestürzten Mauern des Yinze-Tempels fiel.
Das Himmelskind mit dem rebellischen Geist hatte der Versuchung nicht widerstehen können, zu dem bedrohlichen, in Ruinen liegenden Tempel hinüberzufliegen. Schließlich hatte die Kleine es sich so verzweifelt gewünscht, bei den wichtigen Leuten im Palast Anerkennung zu finden – unklugerweise hatte sie auch schon bei ihren Freunden mit ihren Abenteuern und der Belohnung, die man ihr versprochen hatte, geprahlt. Der Gedanke an den Spott, der sie am Morgen erwartete, wenn die anderen Kinder herausfanden, daß man sie schmählich mit Lark zu Hause gelassen hatte, war ihr unerträglich. Jetzt boten ihr die Ruinen wenigstens die Hoffnung auf ein neuerliches Abenteuer oder zumindest – wenn sie ihre Phantasie benutzte – auf eine unglaubliche und aufregende Geschichte, mit der sie die anderen beeindrucken und hoffentlich von ihren Spötteleien abbringen konnte.
Mittlerweile war die Woge entrüsteter Enttäuschung jedoch ein wenig abgeflacht, und Linnet zweifelte an ihrer Entscheidung. Eben noch, als das letzte Licht des Sonnenuntergangs den Himmel noch in rosa- und bernsteinfarbenes Licht getaucht hatte, war die Ruine ihr wie derselbe alte, harmlose Steinhaufen erschienen, der sie vorher gewesen war – aber nun, da die Nacht ihr schattiges Netz über das vernarbte, rissige Gesicht des Tempels legte, hatte dieser ein weit finstereres Aussehen angenommen.
Ein Schaudern durchlief das geflügelte Kind. In der trügerischen Dunkelheit überall um sie herum fanden unheimliche Verwandlungen statt. Ein hoch aufragender Stein, der einzige Überrest eines einst prachtvollen Bogenganges, wurde zu einer großen, in einen Umhang gehüllten Gestalt, deren Gesichtszüge in den unergründlichen Tiefen einer Kapuze aus schwärzestem Schwarz verborgen waren. Verbogene Stücke geweihten Silbers nahmen das schauerliche Glänzen geisterhafter Schemen an, während ein am Boden liegender Kristallsplitter aus dem gewaltigen Buntglasfenster, das den Fall Incondors darstellte, zu dem Funkeln ungezählter fremder Augen wurde. Ein Haufen herabgefallener Steine verwandelte sich in die geschmeidigen finsteren Umrisse eines in die Hocke gegangenen Tieres.
Überall tauchten Schatten auf: tiefe Löcher aus noch tieferem Schwarz gegen die zunehmende Dunkelheit. Sie schienen die Hände nach Linnet auszustrecken – und was verbarg sich hinter ihnen? War es der Geist Schwarzkralles, der durch die verlassene Ruine seiner Festung irrte? Würde er aus der Dunkelheit zu ihr herüberkriechen, die schauerliche Trophäe seines abgetrennten Kopfes in Händen?
»Oh, um Yinzes willen – stell dich doch nicht so an!« sagte das geflügelte Kind wütend zu sich selbst, wobei es mit lauter Stimme sprach, um sich Mut zu machen. »Es gibt keine Geister – sie existieren einfach nicht!«
Trotzdem schien ihr ein taktischer Rückzug an dieser Stelle eine sehr gute Idee zu sein. Immerhin, sagte sie sich, könnte Lark vielleicht gerade in diesem Augenblick aufwachen, und er würde sich sicher fürchten, so allein zu Hause … Linnet brauchte lediglich ein Andenken zu finden – irgendeine ganz besondere Kleinigkeit, um ihren Freunden zu beweisen, daß sie tatsächlich hier gewesen war …
Sie bückte sich, spähte mit schmal gewordenen Augen in die sich vertiefende Finsternis und wünschte, sie hätte genug Verstand besessen, eine Fackel mitzunehmen. Dann, gerade als sie die kalten, rauhen, scharfkantigen Steine durchstöberte, drang ein Geräusch an ihre Ohren, das ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Ein leises, blubberndes Stöhnen, das durch die Steine unter ihren Füßen vibrierte und zu einem unheimlichen, jammernden Crescendo anschwoll. Mit einem atemlosen, entsetzten Quietschen breitete das geflügelte Mädchen seine Schwingen aus, um zu fliehen – und fiel der Länge nach auf Hände und Knie, als ihr linker Fuß zwischen zwei lockere Steine rutschte. Obwohl Linnet, die in ihrer Panik den Schmerz nicht wahrnahm, mit der ganzen Kraft ihrer Angst zog, ließ sich der Fuß nicht befreien. Sie saß in der Falle.
Linnet biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien – ein flüchtiges Aufflackern gesunden Menschenverstands sagte ihr, daß das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, die Aufmerksamkeit irgendwelcher anderer Leute war. Da hörte sie wieder dieses Jammern – leiser diesmal, als hätte sich die Kreatur, von der das verzweifelte Geräusch kam, über alle Maßen verausgabt.
Linnet machte sich in die Hose. Die warme, sich langsam ausbreitende Feuchtigkeit war eine unendliche Demütigung – die ihr jedoch nur am Rande bewußt wurde. In diesem Augenblick beherrschte sie allein die Angst. Das geflügelte Mädchen zerrte abermals an seinem unnachgiebigen Fuß, zu verängstigt, um auch nur zu weinen, als eine weißglühende Lanze des Schmerzes Linnets Bein durchbohrte. Ganz plötzlich schien die Zeit sich zu verlangsamen, während Linnets Gehirn gleichzeitig mit der Geschwindigkeit der Verzweiflung zu arbeiten begann. Sie analysierte ihre prekäre Lage mit einem Aufblitzen von aus Angst geborener Inspiration. Sie sah, daß die beiden großen Steinbrocken, die ihren Fuß gefangenhielten, zu schwer waren, als daß sie sie mit ihren kindlichen Kräften hätte bewegen können – aber die beiden großen Steine waren in einen Sockel losen Schotters eingebettet. Wenn sie diese Steine ausgrub, würde sie vielleicht einen der größeren Blöcke umkippen und sich befreien können …
Vor Angst schluchzend, machte Linnet sich verzweifelt über die lockeren Steine her, bis ihre Finger bluteten. Dann, als sie ein Gutteil Steine weggescharrt hatte, trafen ihre brennenden, abgeschürften Finger auf etwas Warmes, Weiches und Nachgiebiges. Etwas, das sich bewegte. Plötzlich drang das schwache Flüstern einer rauhen, alten Stimme in die Gedanken des Himmelsmädchens: »Hilf mir … Du kannst mich hören – hilf mir …«
Einer der Männer, die im Palast gefeiert hatten und der für einen Augenblick nach draußen getreten war, um den Nebel des Weins aus seinem Kopf zu verscheuchen, hörte, wie ein Schrei tiefster Angst die Nacht durchriß. Das schauerliche Geräusch kam aus der Nähe des Tempels. Grau vor Schreck flog er mit zittrigen Flügeln zurück in den Palast, um Alarm zu schlagen.
»Donner und Doria!« Aurian, die in einem kleinen Loch kniete, aus dem man den Schutt eilig herausgeschaufelt hatte, legte eine Hand auf Shias breiten Kopf. »Das also ist deine alte Freundin Hreeza, von der du dachtest, sie sei tot!« Dann legte sie ihre Hände auf den kalten, geschundenen und reglosen Leib vor ihr und schüttelte überrascht den Kopf. »Nun, sie hat wirklich unglaubliches Glück, noch am Leben zu sein – das ist alles, was ich im Moment sagen kann!«
»Das wird sich noch herausstellen.« Shia, die ihr zusammen mit Khanu ängstlich über die Schulter spähte, stieß angsterfüllt mit der Schnauze vorsichtig gegen Hreezas Körper. »Wird sie überleben? Was glaubst du?«
Aurian hörte die unterschwellige Furcht in der Stimme der großen Katze. Ihre Zuneigung war diesmal von anderer Art, überlegte sie. Shia hatte, auch wenn sie von tiefster, ehrlicher Sorge erfüllt gewesen war, von Aurian oder Anvar oder irgendeinem anderen Mitglied ihrer Gruppe niemals auf dieselbe Art und Weise gesprochen. Aber diesmal hatte das Unglück ein Mitglied ihres eigenen Volkes getroffen. Aurian wünschte, sie könnte ihrer Freundin eine tröstliche Antwort geben, aber sie brachte es nicht fertig, Shia zu belügen. Dazu ging ihre Freundschaft zu tief.
Aurian untersuchte Hreeza mit ihren Heilerinstinkten, aber die Reaktion der alten Katze war nicht besonders vielversprechend. Trotzdem versuchte sie, optimistisch zu bleiben. »Wenn diese sture alte Kämpferin so zäh am Leben festhält, dann hat sie, glaube ich, jede Chance, solange wir nur schnell genug handeln.« Die Magusch schüttelte überrascht und unwillig den Kopf. »Gebrochene Knochen und alles, was dazugehört!« murmelte sie. »Sie muß mehr als einen Tag lang bewußtlos gewesen sein, sonst hättest du sie gehört, Shia. Ich nehme an, das Kind muß sie gestört haben – hat sie auf irgendeine Art und Weise aus dem Schlummer gerissen. Irgendwo in den Tiefen ihres Wesens muß sie begriffen haben, daß das ihre einzige Rettungschance war – aber dieser eine letzte, verzweifelte Kampf, Hilfe zu holen, hätte ihr beinahe den Rest gegeben …«
Noch während sie sprach, rief Aurian ihre heilenden Kräfte zu Hilfe, die jetzt durch die Macht des Stabes gestärkt wurden, um die alte Katze vom Rand des Todes zurückzuholen. Mit flinken Fingern begann sie, zerbrechliche Knochen zusammenzusetzen und zerrissene Gewebeschichten zu flicken.
So vollkommen verlor sie sich in der Vielschichtigkeit ihrer Aufgabe, daß ihr erst nach einer ganzen Weile bewußt wurde, daß Anvar neben ihr stand. Er hatte seine Hand auf den Stab gelegt und ließ beständig etwas von seiner Kraft in sie hineinströmen, so daß sie am Ende ihrer Arbeit nicht allzu erschöpft sein würde. Chiamh kniete neben dem Kopf der großen Katze und benutzte seine eigenen Zauberkräfte, um die lebenswichtige Luft in Hreezas Lungen hinein- und wieder herauszupumpen, während Aurian weiterarbeitete. Die geflügelten Arzte, Elster und Cygnus, hockten hinter der Magusch, sahen ihr verzückt vor Begeisterung über die Schulter und bestaunten die heilenden Kräfte der jungen Fremden.
Aurian beschäftigte sich zunächst nur mit den elementaren Schäden und verrichtete ihre Arbeit, so schnell sie nur konnte, um die Bedrohungen durch Kälte und Schock für ihre zerbrechliche alte Patientin möglichst gering zu halten. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf. »Sehr schön«, sagte sie energisch, »das sollte für den Augenblick genügen, aber wir müssen sie sofort irgendwohin bringen, wo es warm ist, und zwar ohne ihre übrigen Verletzungen zu verschlimmern oder das, was ich gerade in Ordnung gebracht habe, wieder zu beschädigen.« Aurian wandte sich an den Magusch an ihrer Seite. »Anvar – ich brauche deine Hilfe. Würdest du den Stab zusammen mit mir festhalten, so wie du es in der Wüste getan hast, und mir deine Kraft leihen? Ich möchte Hreeza für einige Minuten aus der Zeit herausnehmen und den alten Apportzauber meiner Mutter benutzen, um sie sicher in unser Quartier zu befördern.«
Anvars Augen weiteten sich. »Was – gleichzeitig? Ist das nicht ein wenig schwierig?«
Aurian schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es wird allerdings anstrengend sein – ich bin ein wenig aus der Übung, da ich meine Kräfte erst vor so kurzer Zeit wiedererlangt habe. Deshalb wäre ich dir für deine Hilfe wirklich dankbar.«
Anvar vollführte eine schwungvolle Verbeugung. »Für meine Lady – alles.«
»Jetzt macht schon!« knurrte Shia, und die beiden Magusch, die die Besorgnis der großen Katze spürten, wandten sich schnell wieder ihrer Patientin zu.
Der Zeitzauber war sehr einfach, und Aurian sandte ein kurzes Dankgebet zu dem Geist ihres alten Freundes Finbarr empor, der sie in dieser speziellen Form der Magie unterwiesen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sobald Hreeza der Sicherheit halber unbeweglich gemacht war, bereitete sich Aurian auf den Apportzauber vor. Sie umklammerte den Stab der Erde, spürte Anvars Hände warm und sicher neben den ihren und ging schließlich daran, sich für die Macht des Artefakts zu öffnen. Zutiefst konzentriert schlang sie das Gewebe der Macht um die alte Katze und hüllte Hreeza in ein Tuch aus Magie, das in dem unirdischen grünen Licht des Stabes schimmerte. Dann stellte sie sich den gewünschten Zielort vor – ihre beiden eigenen Zimmer im Turm –, nahm ihren ganzen Willen zusammen und preßte.
Mit einem Aufblitzen smaragdgrünen Leuchtens war Hreeza plötzlich verschwunden. Kühle Luft strömte mit einem Donnerschlag an die Stelle, an der vorher die Katze gelegen hatte, und die staunenden Himmelsleute prallten fluchend und mit Entsetzensschreien auf den Lippen zurück, während sie sich die Benommenheit aus ihren ungläubigen Augen rieben. Aurian sackte an Anvars Seite zusammen und fühlte sich trotz seiner Hilfe so ausgelaugt, als hätte sie Hreeza jeden einzelnen Zentimeter des Weges auf ihrem eigenen Rücken zum Turm getragen. Das war das Unangenehme bei einem Apportzauber, dachte die Magusch kläglich. Man konnte auf diese Weise Gegenstände schnell und leicht an einen anderen Ort bewegen, aber die Tragweite eines solchen Zaubers war sehr begrenzt, und er kostete genausoviel Energie wie gängigere Methoden.
Chiamh, das Windauge der Xandim, lehnte erschlafft an einem Haufen brüchiger Mauersteine. Seine Augen mit dem silbernen Glanz waren ausdruckslos und leer, und Aurian wurde klar, daß er sein besonderes Talent, den Wind zu reiten, benutzte, um zu überprüfen, ob die alte Katze ihren Bestimmungsort erreicht hatte. Noch während Aurian ihn beobachtete, schüttelte er sich plötzlich, setzte sich aufrecht hin, und das reflektierende Funkeln in seinen Augen ließ nach, bis diese schließlich wieder ihren gewohnten Bernsteinton hatten. »Sie ist sicher angekommen«, informierte er die Magusch mit ehrfürchtiger Stimme. »Beim Lichte der Göttin, Lady – welch ein Zauber! Kannst du dich selbst auch auf diese Art und Weise bewegen?«
Aurian lächelte und schüttelte den Kopf. »Kannst du dich an deinen eigenen Stiefeln hochziehen?« entgegnete sie und wandte sich dann wieder an Anvar. »Komm jetzt – laß uns von hier verschwinden und Hreeza endgültig gesund machen.« Plötzlich fiel ihr etwas anderes wieder ein, und sie sah sich stirnrunzelnd um. »Ach übrigens, was ist aus dem kleinen Mädchen geworden, das sie gefunden hat? Bei all der Aufregung haben wir ganz vergessen, uns bei ihr zu bedanken …«
»Ich würde das für den Augenblick sein lassen, wenn ich du wäre.« Anvar zeigte mit der Hand über seine Schulter, und Aurian, die nach dem erschöpfenden Apportzauber erst langsam wieder zu Verstand kam, bemerkte, daß ein Stückchen weiter weg im Schatten der Dunkelheit ein gewisser Aufruhr herrschte. Eine schimpfende Stimme und eine Folge klatschender Ohrfeigen, die ein anschwellendes Wimmern nach sich zogen, sagten der Magusch, daß die Erleichterung der Mutter des geflügelten Kindes in ein Stadium des Zornes übergegangen war. Aurian zuckte mitleidig zusammen. »Armes Ding«, murmelte sie.
»Warte, bis du erst an der Reihe bist«, warf Shia hinterhältig ein. »All diese Freuden der Mutterschaft stehen dir ja noch bevor.«
Aurian hob ihren Blick gen Himmel. »Mögen die Götter mir beistehen«, murmelte sie.
Als Aurian auf Cygnus zuging und nach ihren geflügelten Trägern rief, die sie zu ihrem Turm zurückbringen sollten, wandte sich der junge Arztpriester hastig von ihr ab, denn er wollte der Magusch auf keinen Fall sein Gesicht zeigen. Er befürchtete, sie könne seine geheimsten Gedanken erraten. Inmitten eines Sturms aus Bitterkeit und Neid hatte er ihre Heilkräfte in Aktion gesehen und in seinem Herzen gewußt, daß es falsch von ihm war, eine so wunderbare Gabe mit Widerwillen zu betrachten, aber er konnte nicht anders. Warum waren die Götter nur so ungerecht, überlegte der weißgeflügelte Arzt, während seine Gedanken zu den Entbehrungen des furchtbaren, unnatürlichen Winters zurückkehrten und zu seiner eigenen Unfähigkeit, seinem leidenden Volk zu helfen. Warum sollten diese flügellosen Ungeheuer über solche Kräfte verfügen, während seine eigene Rasse, die früher einmal ebenfalls zu den Magusch gezählt hatte, unfähig und hilflos danebenstehen mußte?
Über die Dunkelheit hinweg sah Cygnus nun Anvar an, der in ein Netz kletterte, um sich zum Turm bringen zu lassen. Als der Magusch eine Falte seines Umhangs, die ihm im Weg war, beiseite schob, erhaschte der Himmelsmann eine Blick auf die schauerlich glitzernde Harfe der Winde, die Anvar sich fest auf den Rücken geschnallt hatte. Der Arzt biß die Zähne zusammen; er schäumte vor Groll. Warum sollte dieser Fremde, dieser Eindringling, das kostbarste Erbe der Geflügelten besitzen? Welches Recht hatte er, es zu behalten, da es doch in Wirklichkeit seinen Schöpfern gehörte? Vielleicht – eine winzige Hoffnung – würde das kostbare Artefakt in der Lage sein, den Himmelsleuten die Zauberkraft zurückzugeben, die man ihnen einst gestohlen hatte … »Und wenn ich die Harfe besäße«, murmelte Cygnus bei sich, »würde ich vielleicht endlich doch noch ein wahrer Heiler werden …«
Eliizar stand in der offenen Tür des Turms von Incondor. Er war blind für die Schönheit der reichen Frühlingslandschaft, die sich wie ein farbenprächtiger Teppich vor ihm ausbreitete, und taub für das Lied der zurückkehrenden Vogelwelt und die fröhlichen Rufe und Plaudereien der Krieger, die an ihm vorbeizogen, während sie munter im Turm ein und aus gingen und sich darauf vorbereiteten, zu ihren verschiedenen Zielorten aufzubrechen. Es wollte dem einäugigen Schwertmeister scheinen, als sei er der einzige, der nichts zu tun hatte an diesem zweiten Tag des wunderbaren Frühlings – mit der möglichen Ausnahme von Parric, dem Anführer der Xandim-Horde, der seinem Verhalten nach eine gewaltige Sorgenlast zu tragen schien. Eines stand jedenfalls fest, Eliizar und Parric waren die einzigen, die nicht frohen Mutes waren.
Der Schwertmeister seufzte; er fühlte sich niedergedrückt und unsagbar einsam. Nereni war vor einiger Zeit zu einem nahe gelegenen Bach aufgebrochen, einen gewaltigen Stapel schmutziger Wäsche unterm Arm und ein fröhliches Lied auf den Lippen. Bohan saß an einem windgeschützten und von Sonnenlicht gewärmten Platz an der Mauer des Turms, zusammen mit den beiden großen Wölfen, die Aurian zu Pflegeeltern für ihren Sohn auserkoren hatte, während sie nicht bei ihm sein konnte. Jetzt lagen die beiden gewaltigen Tiere neben dem Eunuchen und sahen für alle Welt so aus wie zottige graue Jagdhunde. Auf Bohans Schoß, eingehüllt in eine Decke, lag das winzige Junge, das Kind der Magusch. Eliizar schauderte; der Anblicke des verfluchten Geschöpfes verursachte ihm Übelkeit. Wie konnte Aurian das nur ertragen? fragte er sich. Wie konnte sie ein so abscheuliches Wesen nur lieben? Wie konnte sie in dieser ganzen entsetzlichen Angelegenheit so ruhig bleiben?
Wenn doch nur Yazour endlich aus Aerillia zurückkehren würde! Abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten, denen sich Eliizars kleine Gruppe hatte stellen müssen, weil ihre Übersetzer sich alle irgendwo im Land der Himmelsleute herumtrieben, sehnte sich der einäugige Krieger verzweifelt nach jemandem, mit dem er reden konnte, jemandem, der ihn verstehen würde. Die ganze Nacht über hatte er wach gelegen, hatte mit dem Dilemma gerungen, das ihn quälte. Und in den trostlosen, einsamen Nachtstunden war er endlich zu einem Entschluß gelangt – dem einzigen Entschluß, wie er grimmig befunden hatte, der einen Sinn ergab. Das Problem war nur, daß Aurian nicht besonders glücklich darüber sein würde – und Nereni erst recht nicht. Trotzdem mußte er die Sache in Angriff nehmen – und es würde ihm nichts nutzen, es vor sich herzuschieben. Also straffte der ehemalige Schwertmeister der Khazalim-Arena die Schultern und begab sich auf die Suche nach seiner Frau.
Von einer Wolke duftenden Holzrauchs und dem Laut fernen Singens angelockt, fand Eliizar sie schon bald an der Stelle, an der der Fluß aus dem Dickicht unterhalb des Turms hervortrat. Ein großer alter Kessel, der an einem Haken über dem Herd des Turmes hing, war so lange geschrubbt worden, bis er frei von Rost und Staub war und mit sanftem Funkeln über einem knisternden Feuer hin und her schaukelte. Decken und verschiedene Kleidungsstücke hingen zum Trocknen in den Büschen. Nereni selbst kniete auf einem zusammengefalteten Umhang am Rande des Wassers und schlug, leise und vergnügt vor sich hin singend, einen Leinenrock gegen die Felsen am Ufer des Flüßchens.
Eliizar blieb für einen Augenblick zögernd am Waldrand stehen, wo er vor den Blicken seiner Frau sicher war, da sich zwischen ihnen eine graue Flickendecke und ein Vorhang aus frischen grünen Blättern befand. Es war lange her, daß er Nereni zum letzten Mal so glücklich gesehen hatte – und jetzt mußte ausgerechnet er ihre neu gefundene Zufriedenheit zerstören. Als er widerwillig zwischen den Büschen hervortrat, um sie anzusprechen, sprang sie schnell auf die Füße, den tropfenden Rock noch immer in Händen, und als sie ihn erkannte, strahlte ihr Gesicht noch mehr als zuvor. »Eliizar! Ich habe mich schon gefragt, wo du wohl stecken könntest! Ich …« Als ihre Stimme ins Stocken geriet, wußte der Schwertmeister, daß sein Gesichtsausdruck ihn verraten hatte.
»Aber Eliizar, was ist denn nur los mit dir?« Nun war der Ausdruck der Freude in Nerenis Miene einem Stirnrunzeln gewichen. »Wie ist es möglich, daß du an einem so wundervollen Tag so düster dreinschaust?«
»Ich muß mit dir sprechen.« Eliizar hoffte, ja betete, daß sie ihm vergeben würde, was er nun sagen mußte. »Nereni, die Leute unseres Volkes brechen morgen auf«, stieß er ohne weitere Umschweife hervor. »Sie kehren in den Wald am Rand der Wüste zurück, um Häuser zu bauen und um sich ein neues Leben zu schaffen, fern von grausamen Königen und magischen Schlachten, und ich – ich bin der festen Überzeugung, daß wir mit ihnen gehen sollten.«
»Was?« Nerenis Gesichtsausdruck wurde von Sekunde zu Sekunde wilder. »Aurian verlassen? Anvar verlassen? Aber gewiß nicht, Eliizar! Wie, im Namen des Schnitters, kannst du so etwas Schreckliches überhaupt in Erwägung ziehen?« Als wolle sie ihre Worte noch betonen, schleuderte sie den Rock, den sie gewaschen hatte, von sich. Er landete mit einem vernehmlichen Klatschen im Wasser des Flüßchens und trieb mit der Strömung fort, während sich die kleine Frau auf ihren Ehemann stürzte, ihre vom Wasser runzlig gewordenen Finger zu Fäusten geballt.
Eliizar wich hastig einen Schritt zurück. Noch nie hatte er seine sanfte Gefährtin so wütend erlebt. »Meine Liebste – hör mir nur für einen Augenblick zu …«, bat er.
»Zuhören? Warum soll ich meine Ohren mit solch verräterischem, undankbarem Geschwätz beschmutzen!« schrie Nereni. »Aurian ist unsere Freundin, Eliizar! Wie kannst du auch nur im Traum daran denken, sie im Stich zu lassen? Wer wird sich um sie kümmern, wenn ich es nicht tue? Diese Magusch mögen ja Zauberkräfte besitzen, aber wenn es um praktische Dinge geht …? Keiner von den beiden kann auch nur einen Topf Wasser kochen, ohne es anbrennen zu lassen …«
Eliizar seufzte. Er hatte gewußt, daß diese Sache schwierig werden würde. »Sie haben andere Fähigkeiten, die sie dafür mehr als entschädigen«, beharrte er, »und andere Kameraden, die ihnen auf ihrer Reise nach Norden helfen können. Und das weit besser, als wir es vermögen. Laß mich ausreden, Nereni – bitte. Es wäre falsch von uns, wenn wir uns in diese unnatürliche Zauberei-Geschichte verstricken ließen, und das ist unsere letzte Chance zu gehen – bevor wir hoffnungslos in ihren Kampf gegen diese anderen Magusch-Leute verwickelt sind.«
Eliizar redete nun sehr schnell und gab seiner Frau keine Gelegenheit, ihn zu unterbrechen. »Wir können die Berge unmöglich allein überqueren«, fuhr er fort. »Wir müssen entweder jetzt aufbrechen, zusammen mit unserem eigenen Volk – Leuten von unserer Art, Nereni –, oder wir begeben uns auf einen Weg, von dem es kein Zurück mehr gibt. Und was wird die Zukunft für uns bereithalten, als Fremde in einem fremden Land – einem Land, das beherrscht wird von schwärzester Zauberei?«
Plötzlich war da eine neue, erschreckende und unvertraute Kälte in Nerenis Augen. »Du hast Angst«, sagte sie leise.
Beschämt und unfähig, ihrem Blick standzuhalten, ließ der Schwertmeister sein Gesicht in seine Hände sinken. »Ja«, flüsterte er. »Im Angesicht dieser Zauberei habe ich Angst – Angst, wie ich sie nie zuvor gekannt habe.«
»Und jetzt verlangst du also von mir, zwischen dir und Aurian zu wählen, Aurian, die unsere Freundin geworden ist und uns verziehen hat, daß wir sie in der Arena einem solchen Martyrium ausgesetzt haben, Aurian, die uns aus der Gewalt des Tyrannen Xiang befreit hat …«
»Nereni, Hör auf! Das ist mehr, als ich ertragen kann!« Ihre Worte hatten Eliizars Herz durchbohrt wie ein Speer aus Eis, und ihm war kalt vor Entsetzen. Nereni glaubte, er wolle, daß sie sich zwischen ihm und Aurian entschied? Dieser Gedanke war ihm nie in den Sinn gekommen – das war nicht die Art der Khazalim. Es war die Aufgabe des Mannes, über Kommen und Gehen zu entscheiden – und die Aufgabe einer Frau, zu gehen oder zu bleiben, wie der Mann befahl. Zum ersten Mal auf ihrer langen Wanderschaft wurde Eliizar bewußt, wie sehr sich die Dinge zwischen ihm und Nereni verändert hatten. Und doch …
Eliizar sah seine einst so furchtsame, friedfertige und zurückhaltende kleine Frau an und bemerkte den neu gefundenen Mut und den Kampfgeist in ihren Augen. Plötzlich begriff er, daß ihre Tapferkeit und ihr gesunder Menschenverstand im Verlaufe ihrer Reise immer deutlicher zutage getreten waren – ein Umstand, den die anderen sehr zu schätzen gewußt hatten. Warum war er so lange Zeit so blind gewesen? Wahrhaftig, Nereni war mit vielen der Schrecknisse und Überraschungen auf ihren Abenteuern weit besser fertig geworden als er selbst, Eliizar, der Schwertmeister und kampferprobte Krieger!
Während sich diese Gedanken in Eliizars Kopf überschlugen, spürte er Nerenis unnachgiebigen Blick auf seinem Gesicht, während sie auf eine Antwort wartete. Die Tapferkeit seiner Frau hatte ihn gedemütigt und auf seinem eigenen Gebiet geschlagen – und das war kein angenehmes Gefühl. Der Schwertmeister spürte, wie sein Gesicht heiß vor Wut wurde. »Nein, Frau«, knurrte er. »Ich bitte dich nicht, dich zu entscheiden. Ich habe beschlossen, daß wir mit unseren Leuten in den Wald zurückkehren, und ich befehle dir, mit mir zu kommen.« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon, zurück den Hügel hinauf, wo er sich auf die Suche nach Jharav machte, dem alten Offizier, der jetzt die kleine Truppe von Khazalim-Soldaten befehligte. Eliizar blickte nicht zurück – und das war sein Pech. Der Ausdruck von maßloser Wut auf Nerenis Gesicht hätte ihn vielleicht bewogen, die Sache noch einmal zu bedenken.