11 Mörder in der Nacht

Seine Beute war in dieser Nacht noch spärlicher gewesen als gewöhnlich. Grince hatte, getrieben von seinem Hunger und den noch drängenderen Nöten seines kleinen weißen Kameraden sein gewohntes sicheres Jagdrevier innerhalb der großen Arkade verlassen. Obwohl die Straßen kalt und gefährlich waren, bestand doch immer die Chance, daß ein kluger Junge wie er das eine oder andere finden würde, um Leib und Seele für einen weiteren Tag beisammenzuhalten – vor allem, da dieser Junge in seinem neu entdeckten Gewerbe der Dieberei beständig besser wurde.

Es fiel ihm jedoch immer schwer, sein Heim zu verlassen – und sei es auch nur für einige wenige kurze Stunden. Grinces gemütliche Höhle in dem Labyrinth der verlassenen Lagerräume in der Arkade zeigte deutliche Beweise seiner wachsenden Fähigkeiten. Er hatte eine kleine Kammer am Ende eines staubigen Flurs entdeckt, deren Tür er hinter einer gewaltigen Sammlung von Kisten, Planken, geborstenen Holzbalken und anderem Müll vor neugierigen Blicken verborgen hatte. Auf dem Boden seines wackligen Müllhaufens hatte er sich seinen eigenen Eingang gebaut: zwei Kisten, deren Böden er herausgebrochen hatte und die nun so hintereinander lagen, daß sie einen schmalen Tunnel durch den Abfallhaufen bildeten. Abgesehen von diesem Zugang in die Arkade hatte der Raum ein hohes Gitterfenster, das nun mit alten, an dem Holzrahmen befestigten Säcken verhangen war, die die Zugluft fernhielten. Durch dieses Fenster nun stand dem kleinen Dieb der Weg zur anderen Seite offen, zu der kleinen Gasse, in der das Lagerhaus stand.

Sein Versteck war ein wahres Elsternnest, voll von den merkwürdigsten Kleinigkeiten, die Grince gestohlen oder gefunden hatte. In einem Kasten lagen seine Werkzeuge – ein zerbeulter Humpen, ein geflickter, löchriger Kochtopf und zwei angeschlagene Schalen (die jetzt von dem Hündchen benutzt wurden); das alles stammte von einem Müllhaufen hinter der Taverne. Daneben gab es noch einen vorsichtig glattgebogenen Löffel mit entsprechend welliger Silhouette, ein Eßmesser mit abgebrochenem Griff und vier hölzerne Schneidbretter, auf die Grince ganz besonders stolz war, da sie früher die Böden eben jener Kisten gewesen waren, die nun seinen Eingangstunnel bildeten. Der Haferbreitopf, der erste Diebstahl, der am Beginn seiner Karriere gestanden hatte, enthielt jetzt einen Vorrat frischen Wassers, den er unter größten Mühen von der Pumpe in der Arkade herbeigeschafft hatte, zusammen mit einem fest verschlossenen Krug, der ursprünglich und leider nur allzu kurze Zeit einen süßen, klebrigen Honig enthalten hatte.

Das Bett des kleinen Diebs beanspruchte eine ganze Ecke des Raums für sich allein. Er hatte eine alte Tür auf den Boden gelegt, um sich vor der Kälte des steinernen Fußbodens zu schützen, und noch eine dicke Schicht Stroh auf die hölzernen Paneele gestreut. Auf das Ganze hatte er dann einen wahren Regenbogen an Lumpen und Stoffetzen gehäuft: jeden Lumpen, den er finden konnte, und jedes Stück Stoff, das er ahnungslosen Schneidern in der Arkade entwenden konnte. Und an jedem Tag, nachdem sie dem nächtlichen Geschäft des Überlebens nachgegangen waren, kuschelten sich der müde Junge und sein Hund wie Ratten, die im Untergrund verschwanden, in die behagliche Wärme ihres Lumpenhügels.

Grince hatte zwei dicke Decken aus cremefarbener, ungebleichter Wolle von einer Wäscheleine im Norden der Stadt gestohlen, sehr zum Unwillen und zur Verwirrung der Hausfrau, die sie in der Zuversicht dort hingehängt hatte, daß die Wände ihres Hinterhofs zu hoch für unerwünschte Eindringlinge waren. Diese Decken breitete er nun über sein Nest, damit sie mit ihrem Gewicht und ihrer Wärme dem ansonsten ziemlich wackligen Gebilde Halt gaben, und obenauf thronte sein kostbarstes Beutestück – ein schweres Schafsfell, das eines Nachts aus einer Gerberei in der Nähe des Marktplatzes spurlos verschwunden war.

Seit seiner Erbeutung des Schafsfells und der Decken hatte Grince die dünneren Stoffe, die er von den großen Stoffballen der Näherinnen in der Arkade stibitzt hatte, an den Wänden seiner Höhle befestigt, wo sie dem Raum mit ihren Farben ein hübscheres Aussehen gaben und außerdem gegen Zugluft schützten. Er hatte keinen Platz, an dem er hätte Feuer machen können, was außerdem auch zu riskant gewesen wäre, aber er besaß eine bunte Sammlung von Lampen – teils blankpolierte Schätze aus irgendwelchen Haushalten, teils verbeulte alte Dinger mit rissigen und rußverschmierten Zylindern. Zusammen mit Kerzen aus Bienenwachs und Talg standen sie in der Mitte des Zimmers und spendeten ihm Licht.

Um seine Notdurft zu verrichten, hatte Grince einen arg mitgenommenen Eimer in einer Ecke des Raumes stehen. Ein Holzstück, das von einem Stein beschwert wurde, diente als notdürftiger Deckel. Ein mit Stroh und Sägespänen gefüllter Kasten stand ganz in der Nähe und diente den Zwecken des Hundes. Jeden Abend mußte der Junge zwei höchst unangenehme und gefährliche Märsche nach draußen unternehmen, um diese beiden Gefäße in ein Kanalisationsrohr in der Nähe zu kippen.

Daneben hatte sich Grince eine Vielzahl höchst nützlicher Dinge zusammengestohlen, wie zum Beispiel ein altes Schwert, dessen Klinge zwei Handbreit unter dem Griff abgebrochen war und das sich als höchst nützlich erwies, wenn er gelegentlich ein Fenster aufstemmen mußte. Außerdem besaß er eine ganze Anzahl alter Kleider, die er von irgendwelchen Wäscheleinen abgenommen hatte, sowie Handschuhe, Schals und Taschentücher, die sicher irgendwann für irgend etwas nützlich sein würden. Schließlich fanden sich in einem kleinen Kästchen Nadeln verschiedener Größe, Wollknäuel, alte Holzstöckchen und eine Ansammlung rostiger Nägel, die wohl ebenfalls eines Tages Verwendung finden würden. Auch eine Zunderbüchse fehlte nicht und ein Fläschchen mit Lampenlicht, das Grince nachfüllte, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte. Dann gab es da noch verschiedene Kämme, Ringe und andere Kleinigkeiten, deren Wert sich unmöglich schätzen ließ – ebensowenig wie es eine Möglichkeit gab, sie zu verkaufen. Grince behielt sie nur deshalb, weil ihr Funkeln ihn aufheiterte und sie ihm das Gefühl gaben, ein richtiger, kühner und wagemutiger Dieb zu sein. Er verwahrte sie auf einem Regal neben seinem Bett, zusammen mit seinem größten Schatz – einem langen, scharfen Dolch mit juwelenbesetztem Griff, ein Glücksfund, den er – noch immer wurde ihm beim bloßen Gedanken daran furchtbar übel – einer Wasserleiche entwendet hatte, die der Fluß ans Ufer gespült hatte.

In einem Sack, der an einem Haken von der Decke baumelte, bewahrte Grince seine Nahrungsvorräte auf – sofern er welche besaß. Das war die einzige Möglichkeit, sie vor den diebischen Ratten zu schützen, die sich nicht draußen halten ließen, wie sehr er es auch versuchte. Heute abend jedoch war der Sack trotz allen Bemühungen schlaff und leer geblieben, und sein Hündchen Krieger begann vor Hunger zu wimmern.

Grince seufzte und warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf seinen sicheren, warmen Schlupfwinkel. Immer wieder war er überrascht von seinem eigenen Einfallsreichtum. Es war ein weit besseres Heim als die schmutzige Hütte, die er mit Tilda geteilt hatte – und es gehörte ihm allein. Hier gab es niemanden, der ihn beschimpfen oder schlagen konnte, keinen von diesen widerlichen Trunkenbolden, die als Kunden seiner Mutter ein und aus gingen. Wenn er sich einsam fühlte, hatte er immer noch Krieger – den besten Freund, den ein Junge sich nur wünschen konnte. Obwohl er eine Art vorsichtiges Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten erworben hatte, war die Stadt noch immer voller Gefahren, und es widerstrebte ihm, diesen sicheren Ort zu verlassen. Was war, wenn in seiner Abwesenheit Krieger etwas Schreckliches zustieß? Was, wenn irgend jemand seinen Schlupfwinkel finden und ihn, Grince, aussperren würde? Was wäre, wenn …

»Oh, sei doch nicht so furchtbar blöd«, schimpfte Grince mit sich selbst. Schließlich hatte er keine andere Wahl. Es hieß entweder stehlen oder verhungern – und wenn es ihm auch nichts ausmachte, selbst hungrig zu Bett zu gehen, kam das für Krieger einfach nicht in Frage. Der Hund wuchs nun sehr schnell und brauchte so viel zu fressen, wie er nur bekommen konnte. Grince nahm das weiße Hündchen in den Arm, streichelte und liebkoste es und setzte es dann wieder in sein besonderes Körbchen, das er zusammen mit einigen anderen Dingen einem ahnungslosen Händler in der Arkade entwendet hatte. Das Körbchen hatte einen Deckel, der sich gut schließen ließ, und einen Griff, der es Grince ermöglichte, es ebenso wie den Sack mit den Nahrungsvorräten an den Haken in der Decke zu hängen. Und wenn es erst so weit war, daß Krieger zu groß geworden war für das Körbchen, würde er ebenfalls stark genug sein, um sich gegen die riesigen, blutrünstigen Ratten zur Wehr zu setzen, aber in der Zwischenzeit ging sein ängstlicher Herr lieber kein Risiko ein.

Nun schob Grince entschlossen seinen Dolch und das zerbrochene Schwert in den Gürtel und zog seinen »Straßenmantel« an – ein Kleidungsstück, auf das er überaus stolz war, da er es selbst gefertigt hatte, eine Angelegenheit, die ihn größte Überlegung gekostet hatte. Einer der Stammkunden seiner Mutter, ein langbeiniger Seemann, den seine Unfähigkeit zurück an Land gezwungen hatte, hatte ihm als kleinem Jungen beigebracht, Nadel und Faden zu benutzen – mit der von Herzen kommenden Zustimmung der nachlässigen Tilda. Obwohl Grince solchen Unfug als Altweiberkram abgetan hatte, hatte der alte Tarn, der Seemann, ihm all solche Überlegungen schnell – und mit Gewalt – ausgetrieben. Jetzt, in den kalten Nächten dieses nördlichen Frühlings, war der Junge dankbar für alles, was er bei ihm gelernt hatte.

Grince hatte sein seltsames Kleidungsstück aus Leder- und Pelzfetzen, aus Samt, Brokat und anderen warmen Stoffen gefertigt, die er irgendwo in den Lagerräumen in der Arkade gefunden hatte. Sein Flickwerk aus Stoffen verschiedenster Dicke und Farbschattierungen half ihm, aufs beste mit den Schatten zu verschmelzen. Das Gewand war kurz genug, um seine Füße zum Laufen frei zu lassen, und weit genug, um es sofort abzustreifen – falls eine unerwünschte Hand nach ihm greifen sollte. Im Gegensatz zu einem normalen Umhang waren Schlitze in den Seiten, durch die er seine Arme stecken konnte, um eine zum Abkühlen nach draußen gestellte Pastete an sich zu reißen oder die Kordeln einer Geldbörse durchzuschneiden – und das Innere des Mantels war mit einer Vielzahl von Taschen besetzt, die es ihm ermöglichten, seine Beutestücke nach Hause zu tragen.

Der alte Tarn hatte den Jungen auch mit einem Fundus an ungeheuerlichen Geschichten ausgestattet. Besonders gut in Erinnerung geblieben war Grince die Erzählung von einem magischen Umhang, der seinen Besitzer unsichtbar machte, und er stellte sich gerne vor, daß sein Umhang ähnliche Kräfte besaß, obwohl er klug genug war, ihn nie auf die Probe zu stellen. Dennoch war es sein spezieller Diebesmantel, und er gab ihm das Zutrauen, das er für seine Arbeit brauchte. Während das Kleidungsstück bei Tag zu auffällig gewesen wäre, verließ er nachts niemals sein Versteck, ohne vorher seinen Mantel anzuziehen.

Solchermaßen für die vor ihm liegende Nacht gerüstet, stapelte der Junge einige Holzkisten übereinander, die ihm als Treppe dienten, über die er das hohe Fenster seiner Behausung verlassen konnte. Nachdem er sich durch die Gitterstäbe vor dem Fenster gezwängt hatte, ließ er sich auf die Gasse unter ihm fallen und verschwand in dem Labyrinth düsterer Straßen.

Grince glitt durch die Schatten wie dunkles Wasser, das hügelabwärts auf den Fluß und auf den Hafen zuströmte. Es war kalt draußen, aber in seinem Umhang brauchte er nicht zu frieren. Die anderen Bewohner der Nacht waren viel zu konzentriert auf ihre eigenen Geschäfte, um ihn überhaupt zu bemerken – einen kleinen Jungen, der offensichtlich keine Bedrohung für sie darstellte, und der nichts besaß, was sie begehrten.

Wie das Schicksal es wollte, brauchte der Junge nicht weit zu gehen, nicht mal bis zum Fluß hinunter. Seine größte Fähigkeit lag im Einbruch, und die hoch aufragenden, zerfallenden Häuser in dem alten Viertel hatten ihn immer am leichtesten mit Beute ausgestattet – falls sie etwas Eßbares in ihren düsteren Tiefen bargen. Heute abend hatte er Glück. Bei seinem dritten Versuch erwischte er einen Kerzenstummel, ein halbes Dutzend Haferkuchen und eine kleine, abgestandene Fleischpastete unbestimmten Alters. Während er seine Beute in eine tiefe Tasche auf der Innenseite des Mantel gleiten ließ, dankte Grince kurz den Göttern und schlängelte sich dann durch das Gitterfenster des Hauses zurück auf die Straße, wo er sich sogleich auf den Heimweg begab.

Es war jetzt schon spät, und die Leute, die sich auf den Straßen herumtrieben, wurden immer verzweifelter. Grince versuchte, auf dem Rückweg möglichst unsichtbar zu bleiben und schlug einen weiten Bogen um die halb verhungerten Gestalten, denen er begegnete. Als Tilda noch lebte, hatte er gerüchteweise von Banden gehört, die sich in der Verkleidung von Bettlern auf den Straßen herumtrieben, um auf diese Weise ihren Opfern möglichst nahe zu kommen.

Trotz der nicht unerheblichen Gefahren hatten diese späten Stunden jedoch auch ihre Vorteile, denn nun öffneten sich nach und nach die Türen der Tavernen, und ihre Kundschaft ergoß sich auf die Straßen. Mit etwas Glück würde Grince auf seinem Heimweg einer ganzen Anzahl von Trunkenbolden begegnen – und ein betrunkener, unvorsichtiger Mann, der nichts anderes im Sinn hatte als nach Hause zu kommen, war für einen jungen Taschendieb, der gerade erst sein Gewerbe erlernte, eine viel leichtere Beute als ein wachsamer und nüchterner Mann. Unglücklicherweise schien sich das Blatt für Grince an diesem Abend jedoch gewendet zu haben: Er hatte Pech. Die verarmten Stadtbewohner waren mittlerweile so verzweifelt, daß es sie des Nachts in Scharen auf die Straßen trieb – in der Hoffnung, ihren etwas glücklicheren Mitmenschen, die überhaupt noch etwas – irgend etwas – besaßen, die letzte Habe aus der Tasche zu stehlen. Außerdem waren die Leute jetzt vorsichtiger und neigten dazu, sich zu ihrem eigenen Schutz mit anderen zusammenzutun – und wann immer sich eine vielversprechende Möglichkeit bot, war die Konkurrenz durch gut bewaffnete Schufte größer, als einem kleinen Jungen lieb sein konnte. Mehrfach erspähte Grince ein mögliches Opfer, nur um auf der Stelle ausgebootet zu werden – für gewöhnlich von bewaffneten Räubern, die es nicht bei einem bloßen Diebstahl bewenden ließen, sondern Mord im Sinn hatten.

Mit einigermaßen gemischten Gefühlen beschloß Grince, die Sache für diese Nacht aufzugeben. Schließlich war seine Sicherheit wichtiger als ein paar Kupferpfennige in einer Lederbörse. Er hatte eine Verantwortung zu tragen. Der Gedanke an das, was seinem Hund zustoßen konnte, wenn er, sein Beschützer, auf der Straße getötet wurde, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die bloße Vorstellung, wie der arme Krieger, eingesperrt in sein Körbchen, langsam zu Tode hungerte, reichte, um den Jungen zu größter Vorsicht zu mahnen. Deswegen hatte ihm das weiße Hündchen auch, obwohl er sich dieser Tatsache nicht bewußt war, schon mehrfach das Leben gerettet.

Grince freute sich bereits auf das Wiedersehen mit seinen kleinen Kameraden. Krieger hatte sich, genau wie sein Herr, in seinem kurzen Leben früh daran gewöhnt, alle möglichen Dinge zu essen. Die Fleischpastete würde ein wahrer Schmaus für ihn sein, und danach konnten sie beide sich zusammen in das warme, gemütliche Bett kuscheln, ohne sich vor den Gewalttätigkeiten auf der Straße fürchten zu müssen. Dieser glückliche Gedanke gab Grinces Schritten neuen Schwung, während er seinem Heim entgegenlief. Da ihm alle Abkürzungen bestens vertraut waren, brauchte er nur wenig Zeit, um durch das Gewirr von Gassen zur großen Arkade zurückzufinden. Dort verlangsamte Grince den Schritt und wurde vorsichtiger, denn er wußte, daß ihm nun der gefährlichste Teil seiner Reise bevorstand. Er mußte genau aufpassen, daß niemand sah, wie er sich der Arkade näherte oder später durch das Fenster schlüpfte – sonst war das Geheimnis seines Verstecks im Nu heraus.

Jetzt stand ihm noch eine letzte, breitere Straße bevor, die er überqueren mußte, dann konnte er in dem schmalen Durchgang verschwinden, der direkt zu seinem Heim führte. Hier mußte er besonders vorsichtig sein – der Durchgang war für gewöhnlich ein bevorzugter Schlupfwinkel von Bettlern. Plötzlich hörte er hinter sich das Geräusch von Schritten, die sich ihm leise, aber energisch von der anderen Straßenseite näherten. Wie ein Kaninchen, das den Jäger wittert, blieb Grince wie angewurzelt stehen und preßte sich flach an die kalte, feuchte Wand. In der Ferne erspähte er eine hochgewachsene Gestalt, die in einem weiten mitternachtsschwarzen Kapuzenmantel verborgen war – und doch hatte diese Gestalt etwas an sich, das den kleinen Jungen schaudern ließ und ihn weiter in den Schatten hineintrieb, damit der Blick dieser finsteren, furchterregenden Erscheinung nur ja nicht in seine Richtung fiel und ihn durchbohrte.

Oh, werd endlich erwachsen, Grince, befahl er sich mit vernichtender Abscheu, während die Gestalt immer näher kam. Es ist nur irgendein verdammter Gimpel, der dumm genug ist, zu dieser nächtlichen Stunden allein durch die Gegend zu laufen. Willst du dir so eine Chance entgehen lassen? Man konnte bei so einem großen, weiten Umhang natürlich niemals sicher sein, daß man auf Anhieb die Taschen erwischen würde, aber vielleicht konnte er ja die Gestalt anbetteln … Vielleicht hätte er es gekonnt, aber Grince sollte das niemals herausfinden, denn er konnte sich absolut nicht dazu überwinden, sich dem unheimlichen Fremden zu nähern. Sein Herz hämmerte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn, der sich in der kühlen Nachtluft sofort wie Eis anfühlte. Ihm war, als wären seine Füße auf dem Erdboden festgenagelt.

Eingehüllt in die schweren Falten seines Flickenmantels und mit vor Entsetzen zusammengekrampftem Magen, zog sich Grince weiter zurück in den Schutz seiner Gasse und sah zu, wie die hoch aufragende Gestalt an ihm vorüberging. Sobald sie an seinem Versteck vorbei war, wurde er ganz schlaff und zittrig vor Erleichterung. Dennoch wagte er nicht, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, bevor die Schattengestalt völlig verschwunden war. Grince schloß die Augen und lauschte den leiser werdenden Schritten, während er von ganzem Herzen betete, daß bald alles vorüber sein möge.

Dann blieb die unheimliche Gestalt plötzlich stehen, und der Junge spürte, wie eine eisige Kälte ihn durchfuhr. Drehte die Gestalt sich um? Wußte sie, daß er dort war? Obwohl Grince sich fürchtete hinzusehen, war die Angst vor dem, was passieren konnte, wenn das Schattending sich unbemerkt an ihn heranpirschte, weit schlimmer. Nach einem kurzen Kampf mit den letzten Resten seines Mutes öffnete er die Augen und warf einen schnellen Blick um die Ecke.

»Eine milde Gabe, große Dame? Hast du ’nen Kupferpfennig für ’ne arme, alte, blinde Frau?«

Grince fuhr beim Klang der quäkenden Stimme zusammen. Zu seinem Entsetzen sah er eine Bettlerin, die sich gebeugt und mit schleppendem Gang auf die düstere Gestalt zubewegte. Das arglose alte Weib hatte behauptet, blind zu sein – aber woher hatte es gewußt, daß die in einen gewaltigen Umhang gehüllte Gestalt eine Frau war? Die Alte schlurfte mit ausgestrecktem Arm noch ein paar Schritte vor, und Grince, erstaunt darüber, daß das blinde Weib so leicht Erfolg gehabt hatte, dachte: Verdammt – wovor hatte ich bloß Angst? Ich habe meine Chance verpaßt. Und dann war da nur noch Schrecken. Die unheimliche Fremde streckte ihre Hand aus, es blitzte kurz weiß auf, als sie das alte Weib berührte – und die blinde alte Bettlerin war nur noch ein schlaffer, dunkler Haufen Lumpen auf den Pflastersteinen. Grince hörte ein leises Lachen, so kalt und freudlos wie eine Morgendämmerung im Winter, und schon war die Unheimliche weitergegangen, um eine Ecke gebogen und seinen Blicken entschwunden.

Mehrere Minuten krochen dahin, während derer sich die zusammengesunkene Gestalt der Bettlerin auf der Straße nicht von der Stelle rührte. Und noch viel länger dauerte es, bis der zu Tode erschrockene Junge es wagte, sein Versteck zu verlassen. Kälte und Hunger drängten ihn schließlich zum Weitergehen – und natürlich der Gedanke an sein armes Hündchen, das immer noch frierend und hungrig in seinem Korb eingeschlossen war. Um seine eigene Gasse zu erreichen, mußte Grince die Straße überqueren und fast bis zur unteren Ecke gehen – und damit seinem Dafürhalten nach dem alten Weib viel zu nahe kommen. Aber wenn er die ersehnte Sicherheit seines Schlupfwinkels erreichen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig. Ich werde einfach rennen, dachte er. Ich renne direkt an ihr vorbei und sehe nicht hin, denn wenn ich es tue …

Als es schließlich soweit war, mußte er natürlich doch hinschauen. Obwohl er lief, so schnell er nur konnte, schien es Grince, als würden seine Augen magisch von dem Körper auf der Straße angezogen. Viele Nächte danach sollte er noch Grund haben, seine Neugier zu verfluchen. Seine Schritte gerieten ins Stocken, und der Atem gefror ihm in der Kehle bei dem Anblick, der sich ihm nun bot. Der Körper war auf groteske Weise verdreht, das Gesicht ihm halb zugewandt, und die milchigen, blicklosen Augen schauten im Tod zu ihm auf. Im Licht der Lampe konnte er die blutlose Blässe der eingefallenen, faltigen Haut sehen – und den Ausdruck unendlichen Grauens, der sich in den letzten Augenblicken eines verlöschenden Lebens in die Gesichtszüge eingeprägt hatte. Auf der Stirn der alten Frau prangte wie ein Brandmal der Abdruck einer Hand, der noch immer in flammendem Silber zu brennen schien.

Plötzlich hatte sich Grince wieder in der Gewalt. Mit einem Entsetzensschrei floh er zurück in die Sicherheit seiner Höhle in der Arkade und taumelte schließlich durch das Fenster, ohne auch nur einen Gedanken an den Abgrund zu verschwenden, der auf der anderen Seite lag. In seinem kleinen Zimmer angekommen, riß er auf der Stelle Kriegers Körbchen herunter und tauchte in die scheinbare Sicherheit seines Bettes ein, wo er sich zitternd zusammenkauerte. Dann preßte er seinen Hund trostsuchend an die Brust und biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Wie gut, daß er Krieger hatte, dachte er. Wenn der Hund nicht wäre, für den er sorgen mußte, würde er wahrscheinlich niemals mehr den Mut aufbringen, sich wieder hinaus auf die Straße zu wagen.


Obwohl es auf den nächtlichen Straßen von Nexis wie üblich von Bettlern, Huren, Dieben und anderem menschlichen Abfall nur so wimmelte, konnte Eliseth unbesorgt selbst durch die dunkelsten Hintergassen wandern. Auch wenn sie unter den wehenden Falten ihres Kapuzenmantels verborgen war, war dennoch eine gewisse Aura um sie herum, der Hauch von etwas, das sowohl Macht als auch Gefahr bedeutete. Nur einer hatte es gewagt, sich ihr zu nähern, und dieser eine war blind gewesen. Beinahe verachtungsvoll hatte Eliseth die schon schwächer werdende Flamme des Lebens der alten Bettlerin mit einer einzigen Berührung zum Verlöschen gebracht, wobei sie sich die Energie der Alten einverleibt hatte, um sie ihren eigenen Kräften hinzuzufügen. Zu ihrer Überraschung schenkte ihr selbst eine so schwächliche und abgenutzte Existenz einen prickelnden Energiestoß, der wie Wein durch ihre Venen geronnen war und sich so gut angefühlt hatte – so überaus gut –, daß sie endlich verstand, warum Miathan so süchtig geworden war nach seinen Menschenopfern. Nun ja, dachte sie. Wir leben, um dazuzulernen. Ich muß dieser Sache doch einmal nachgehen – aber nicht heute nacht. Heute nacht hatte die Wettermagusch etwas anderes zu erledigen, und ihre schnellen Schritte hatten sie nun fast bis an ihr Ziel gebracht: den Ort, den sie mit Hilfe ihres Kristalls gefunden hatte, das Heim desjenigen, den sie zu finden begehrte.


Die Bäckerei war von innen frisch gestrichen und von außen weiß getüncht worden, und Böden und Fenster waren blitzsauber. Auch das zerfallende Mauerwerk des einsturzgefährdeten Daches war wieder bestens in Schuß. Bern hatte hart gearbeitet, um all die Schäden zu beheben, die noch auf das Konto der Vernachlässigung durch seinen Vater gingen – mit einer Ausnahme. Das Geschäft war nach wie vor ein Fehlschlag, und dafür gab es einen sehr einfachen Grund: Weder Geld noch gute Worte konnten einem heute in Nexis auch nur ein einziges Krümelchen Mehl verschaffen.

Bern saß, wie er es sich in diesen langen, schlaflosen Nächten angewöhnt hatte, unten in der Bäckerei, eine Flasche neben sich und die Füße auf einen bequemen Sims auf dem warmen alten Backsteinofen gelegt. Es war mehr ein Ritual, daß Bern immer noch ein Feuer in den großen Öfen entzündete, so wie es in jenen Zeiten gewesen war, als Torl gerade erst gestorben und das Geschäft endlich sein gewesen war. Die Flammen wärmten das Haus, trugen aber wenig dazu bei, das kalte, unangenehme Gefühl des Versagens zu mildern, das im Herzen des Bäckers glomm. Er hatte die Rebellen verraten und seinen Vater ermordet, um dieses Geschäft an sich zu reißen – und was hatte ihm das eingebracht? Seine Vorräte an Mehl und Hefe waren während des dunklen, endlosen Winters irgendwann ausgegangen, und das Mädchen, das er heiraten wollte, ein dunkelhaariges Frauenzimmer mit blitzenden Augen, die Tochter eines verwitweten Schneiders, der ganz in der Nähe lebte, dieses Mädchen hatte ihn verlassen, als seine finsteren Launen und seine bösartigen Wutanfälle ihr zuviel geworden waren. Bern fluchte laut vor sich hin. Es war alles so verdammt ungerecht! Unmittelbar nachdem es ihm gelungen war, seinen so lange gehegten Ehrgeiz zu befriedigen, war der funkelnde Traum in seinen Händen zu Asche verbrannt.

Mitten in seinen finsteren Gedanken mußte Bern wohl eingenickt sein, denn das Zuschlagen der Tür riß ihn mit einem Ruck aus dem Schlaf. Der Fluch, der augenblicklich in ihm aufgewallt war, erstarb ihm jedoch auf den Lippen, als er die Augen öffnete und eine große, schwarz verhüllte Gestalt über sich erblickte, deren Gesicht von den Schatten einer Kapuze verborgen wurde. Seine Hand, die instinktiv hervorgeschossen war, um nach einem langen eisernen Schürhaken zu greifen – der nächsten verfügbaren Waffe –, erstarrte mitten in der Luft zu Eis. Ohne ein Wort des Grußes ließ die Gestalt weiße, wohlgeformte Hände sehen und zog sich die Kapuze vom Kopf.

»Du!« stieß Bern hervor – und fiel vor der Wettermagusch, eine Flut von Entschuldigungen murmelnd, auf die Knie.

Eliseth lachte. »Wahrhaftig, Sterblicher, ich bin es. Hast du nicht damit gerechnet, daß du mich wiedersehen würdest nach jener Nacht, in der du zur Akademie gelaufen kamst, um deinen Vater zu verraten?«

Bern, der tatsächlich niemals auf einen solchen Gedanken gekommen war, verharrte unterwürfig in erschrockenem Schweigen.

Die Magusch lachte noch einmal laut auf und trat über seine der Länge nach ausgestreckte Gestalt hinweg, um sich auf den besten Stuhl neben dem Feuer zu setzen. »Sind die Zeiten so hart für dich, Bäcker, daß du deinen Gästen nicht mal eine Erfrischung anbieten kannst?« fragte sie ihn scharf.

»Herrin – ich bitte um Vergebung.« Bern sprang mit zittrigen Gliedern auf und beeilte sich, einen Kristallkrug zu holen, der einst zur Aussteuer seiner Mutter gehört hatte, sowie eine Flasche des guten Weins, der in diesen Tagen nur allzu selten geworden war und den er sich für eine besondere Feier aufbewahrt hatte – oder einen Notfall wie diesen. Nachdem er die Karaffe und die Gläser auf das niedrige Tischchen vor seine furchteinflößende Besucherin gestellt hatte, schenkte er ihr mit zitternden Händen ein.

Eliseth schob sich ihren schweren Umhang von den Schultern und hielt ihre schlanken weißen Hände über die tanzenden Flammen. Bern, der wieder nach seinem eigenen Becher gegriffen hatte, in dem sich noch immer das scharfe, minderwertige Zeug befand, mit dem er in letzter Zeit seinen Kummer ertränkt hatte, setzte sich auf den anderen Stuhl und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, ihn nicht weiter von der kaltäugigen Magusch wegzuschieben. Während der ganzen Zeit überschlugen sich seine Gedanken. Was konnte sie von ihm wollen? Welche Möglichkeiten hatte er, sie zu beschwichtigen?

Eliseth, die ihn durch ihre dichten Wimpern hindurch beobachtete, ließ den Bäcker eine Weile zappeln, bevor sie ihn von seiner Spannung erlöste. Schließlich, als sie den Eindruck hatte, daß seine Neugier und Angst ihren Höhepunkt erreicht hatten, begann sie zu sprechen:

»Sterblicher, du hast den Magusch einmal einen großen Dienst erwiesen, indem du uns das Versteck der Rebellen verraten hast, die unsere Stadt verseuchten. Eine solche Loyalität verdient größtes Lob – und nun habe ich das Gefühl, mich abermals auf dich verlassen zu können.« Mit schnellen, wohlgewählten Worten erklärte sie ihm, wie er die Rebellen noch einmal verraten könnte. Sie sah, wie seine Augen sich zuerst vor Überraschung weiteten – und dann, erfüllt von einer berechnenden Gier, wieder schmaler wurden.

Eliseth lächelte. Sie hatte seine Natur richtig eingeschätzt. Als sie ihren Vorschlag vorgebracht hatte, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, nahm einen Schluck von dem abscheulichen Wein und überlegte, was dieser niedrige Abschaum von einem Sterblichen wohl als Gegenleistung von ihr zu erbitten wagen würde.

Berns Ansinnen war eine vollkommene Überraschung. »Was?« stieß sie hervor. »Korn? Bist du sicher?«

Der Bäcker nickte mit ernstem Gesicht. »Herrin – es gibt kein Mehl mehr in Nexis. Ich bin ruiniert – ich kann mein Geschäft nicht betreiben. Denkt nur, was es für mich bedeuten würde, wenn ich der einzige Bäcker in der Stadt wäre, der arbeiten kann. Und ich habe Gerüchte gehört«, fügte er hinterhältig hinzu, »daß die Magusch da oben in der Akademie noch alle möglichen Vorräte horten …«

Eliseth vermerkte in Gedanken die Notwendigkeit, der Quelle solcher Gerüchte auf die Spur zu kommen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Bern richtete. Es fiel ihr schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie ihm schließlich antwortete. »Natürlich kannst du die Vorräte haben, die du benötigst«, sagte sie gnädig. »Aber unter einer Bedingung – du mußt noch in dieser Nacht aufbrechen.«

Bern sah sie wie vom Donner gerührt an. »Aber ja, natürlich Herrin, nur …« Er schluckte schwer. »Wie soll ich denn jetzt noch Vorkehrungen treffen, um mein Korn abzuholen«, stammelte er.

Eliseth staunte über die Kühnheit des Mannes, obwohl er immerhin davor zurückgeschreckt war, offen auszusprechen, daß sie vielleicht ihr Wort nicht halten könnte. »Das kann auf der Stelle erledigt werden«, erwiderte sie schroff. »Gibt es einen sicheren Platz, an dem du das Korn lagern kannst, solange du nicht da bist?«

Bern nickte und zeigte ihr den Weg zu seinem Vorratsraum im Keller. Die Magusch sah sich zufrieden um. »So – jetzt sei still«, befahl sie. Dann streckte sie ihre Gedanken nach dem Ort aus, an dem die Vorräte in der Akademie lagerten, und benutzte ihre Kraft für einen Apportzauber. Es gab einen hellen Lichtblitz und ein Tosen verlagerter Luftmassen – und der Keller war vom Fußboden bis zur Decke voll von Säcken mit wunderbarem goldenem Korn.

»Oh – Herrin!« Der Gesichtsausdruck des Bäckers sagte Eliseth alles, was sie wissen mußte.

»Jetzt werde ich alles für dich tun«, platzte es aus ihm heraus. »Alles, wirklich alles …«

»Du weißt schon, was ich von dir will.« Die Magusch hatte langsam genug von dem Sterblichen. Sie wollte, daß er endlich verschwand und noch vor Morgengrauen Nexis den Rücken kehrte. Nachdem sie ihn aus dem Keller hinausgeführt hatte, ließ sie die Tür hinter sich fest ins Schloß fallen, legte eine Hand auf das Holz und sah zu, wie der Wachzauber zu schimmern begann – wie ein Lichtschein über einer Wasseroberfläche. »So«, sagte sie zu dem Bäcker. »Jetzt paß auf. Um deine kostbaren Vorräte zu schützen, habe ich die Tür und das Gitter mit einem Zauber belegt, der jeden töten wird, der sie berührt.«

Die habgierigen Augen des Bäckers wurden rund vor Entsetzen. »Aber Herrin …«, stammelte er.

»Sobald du deine Mission erfolgreich zu Ende geführt hast«, fuhr Eliseth ungerührt fort, als hätte er überhaupt nichts gesagt, »wirst du mir in der Akademie Bericht erstatten, und der Zauber wird entfernt. Das ist alles. Jetzt triff deine Vorbereitungen, Sterblicher, und sieh zu, daß du auf der Stelle aufbrichst – sonst könnte ich mich vielleicht noch versucht fühlen, meine Großzügigkeit zu bedauern.«

Mehr mußte sie nicht sagen. Eliseth wußte, daß Bern jetzt voll und ganz ihr gehörte. Als sie die Bäckerei verließ, konnte sie sich das Lächeln nicht länger verkneifen, denn sie mußte daran denken, wie frustriert der Bäcker sein würde, wenn er nach Vollendung seiner gefährlichen Aufgabe nach Hause kam und feststellte, daß Miathan am selben Tag, an dem Bern aufgebrochen war, Vorräte verteilt hatte – und zwar ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Außerdem freute sie sich diebisch darüber, daß sie auch Miathan ein Schnippchen geschlagen hatte. Ein hämisches Grinsen kroch über Eliseths Züge, als sie sich den maßlosen Zorn des Erzmagusch ausmalte, mit dem er am nächsten Morgen feststellen würde, daß der größte Teil seiner Kornvorräte auf mysteriöse Weise verschwunden war.


Die qualvollen Stunden der Dunkelheit krochen mit unendlicher Langsamkeit dahin, während Zanna in ihrem Versteck saß. Jetzt, da sie einen Plan hatte, wurde sie von einer beunruhigenden Mischung aus Aufregung und Beklommenheit beherrscht und konnte es kaum erwarten, den Lagerraum zu verlassen und zur Tat zu schreiten. Unglücklicherweise war das letzte, was sie im Augenblick brauchen konnte, eine Begegnung mit Janok. Zanna wußte, daß sie ihre Ungeduld, so gut sie nur konnte, im Zaum halten und warten mußte, bis alle – vor allem der brutale Küchenmeister – fest schliefen.

Sich in der Dunkelheit aus dem Lagerraum herauszutasten, war ein Alptraum, aber selbst wenn Zanna daran gedacht hätte, sich eine Kerze mitzunehmen, hätte sie es nicht wagen können, sie zu entzünden. Nun war sie gezwungen, sich auf Händen und Knien aus ihrem engen kleinen Versteck hinauszuschlängeln, während sie blind nach den aufgestapelten Fässern, Kisten und Säcken tastete, die den Raum in ein wahres Labyrinth verwandelten. Es schien eine ganze Ewigkeit zu dauern. Sie war stocksteif, und noch immer schmerzte ihr Körper von Janoks Schlägen. Nach dem langen, regungslosen Warten bedeutete jede einzelne Bewegung eine reine Folter für ihre Muskeln, aber das war im Augenblick die geringste ihrer Sorgen. Zanna hatte das Gefühl, sich völlig verirrt zu haben, und der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen. Er war doch nur so klein, wie war es da möglich, daß sie noch immer nicht auf irgendeine Wand gestoßen war?

Plötzlich setzte Zannas Herzschlag aus, als sie spürte, wie ein Stapel ins Wanken geriet und fiel. Hastig versuchte sie noch, das Unglück zu verhindern, aber ohne Erfolg. Dann bekam sie plötzlich keine Luft mehr, als mehrere unförmige, vollbeladene Säcke auf sie hinunterstürzten. Kartoffeln, wenn man von dem sauberen, scharfen, erdigen Geruch ausgehen durfte. Einen Augenblick erstarrten Entsetzens lang lag sie einfach nur da und wartete auf das laute Krachen, das jedoch ausblieb. Schließlich wagte sie es, unter den schweren Säcken, die über ihr lagen, hervorzukriechen. Dank sei den Göttern, dachte sie, als sie sich ihre Prellungen rieb, daß nicht einer der irdenen Krüge umgestürzt war! Nach weiteren langen Sekunden des Tastens und Suchens scharrten ihre Knöchel über eine kühle rauhe Oberfläche. Endlich hatte sie die Wand erreicht. Sie versuchte, die Richtung zu erraten, in der die Tür lag, und hatte Glück. Oh, was für ein Segen es war, endlich wieder aufstehen und sich ungehindert bewegen zu können! Langsam ging sie durch den dunklen Korridor, wobei sie eine Hand über die Wand gleiten ließ, um sich zu orientieren.

Die Küche erschien ihr, obwohl auch sie in tiefe Schatten gehüllt war, gefährlich hell zu sein nach dem pechschwarzen Korridor. Dunkle, geduckte Silhouetten vor dem schummrigen, verräucherten Licht der mit Asche belegten Feuerstellen zeigten ihr, wo sich die schlafenden Küchendiener befanden, und Zanna mußte wieder einmal über das Ausmaß von Janoks Grausamkeit nachdenken, die dazu führte, daß er seinen wenigen Helfern nicht gestatten wollte, in die leeren Schlafräume des Hauspersonals überzusiedeln. Vor den Magusch duckt er sich und kriecht im Staub, dachte sie böse, aber uns behandelt er schlechter als Tiere, weil wir auf diese Weise schwach und ängstlich bleiben und nach seiner Pfeife tanzen. Und weil er das Gefühl von Macht genießt … Zanna schauderte und versuchte, nicht mehr an Janok zu denken, denn allein der Gedanke an diesen Mann verursachte ihr Übelkeit und ängstigte sie bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele hinein.

Die Tür, die direkt von der Küche in die große Halle führte, lag auf der anderen Seite des Raumes. Es kostete Zanna mehr Mut, als sie zu haben geglaubt hatte, sich durch die ganze Küche zu bewegen. Nur der Gedanke an ihren Vater, der eingesperrt war und schrecklich litt, konnte sie dazu bringen, den schlimmen ersten Schritt zu tun und danach dann weiterzugehen. Geführt von dem schwachen Feuerschein, glitt sie von Schatten zu Schatten zur Tür hinüber, wobei sie einen großen Bogen um die schlafenden Diener schlug. Ihre Schritte waren beinahe lautlos, doch mußte irgend jemand sicher das Hämmern ihres Herzens hören!

Als sie an den Spülen vorbeiging, fiel ihr Blick auf etwas, das in dem gedämpften Licht rötlich funkelte, als wäre ein Stück Kohle aus dem Feuer unter das tiefe Steinbecken gerollt. Was, in aller Welt …? Zannas Herz vollführte einen Satz. Eine Waffe? Ein Messer? Das war doch nicht möglich, oder? Mit einer einzigen flinken Bewegung bückte sie sich und schnitt sich die Finger an der rasiermesserscharfen Klinge eines Scherenmessers. Hastig packte sie den glatten Knochengriff, den sie mit den blutverschmierten Fingern kaum festzuhalten vermochte. Mit beträchtlich gehobener Stimmung und von neuer Zuversicht erfüllt, gelangte das junge Mädchen schließlich zur Tür und trat dankbar in die kühle, modrige Düsternis der verlassenen großen Halle.

Zanna schoß davon und ging an der holzvertäfelten Wand unter der vorspringenden Spielmannsempore in die Hocke. Dort blieb sie einige Minuten lang sitzen, bis sich ihr Herzschlag verlangsamt, ihr Atem sich beruhigt und ihr Zittern sich gelegt hatte. Obwohl ein wenig Licht durch die hohen Fenster sickerte, erschien ihr der riesige leere Raum nach dem Halblicht in der Küche furchtbar dunkel. Während sie darauf wartete, daß sich ihre Augen den veränderten Lichtverhältnissen anpaßten, glitten Zannas Finger wieder und wieder über ihre Waffe. Sie mußte wohl vom Tisch gefallen und dann mit einem versehentlichen Tritt unter die Spüle befördert worden sein, wo sie in der Dunkelheit übersehen worden war, bis der schwache Feuerschein sie für ihre Augen sichtbar gemacht hatte. Janok mußte heute wirklich viel zu tun gehabt haben, wenn ihm nicht aufgefallen war, daß das Messer fehlte. Für gewöhnlich wußte er immer genau, wo sich jedes einzelne Messer befand.

Der Gedanke an den brutalen Küchenmeister reichte, um Zanna auf der Stelle weiterzutreiben. Sie schob sich an der Wand hoch, drehte sich nach rechts und ging auf die Ecke zu, in der eine elegante offene Wendeltreppe, die sich um eine geschnitzte Säule schlängelte, nach oben auf die Spielmannsgalerie führte. Es gab leider keine Möglichkeit, diese Stufen geräuschlos zu nehmen – und die große Halle war eigens dazu geschaffen worden, jeden Laut bis in die hinterste Ecke zu tragen. Zanna erstarrte voller Entsetzen, als das hohle Schlurfen ihrer Schritte zu zischenden Echos anschwoll, die überall in dem riesigen Raum widerhallten. Sie mußte sich mit eisernem Griff unter Kontrolle bringen und sich in Erinnerung rufen, daß sie allein in der Halle war, bevor sie den Mut fand, ihren Weg fortzusetzen.

Glücklicherweise war die Galerie selbst mit Teppichboden ausgestattet, um den Musikanten eine gewisse Bequemlichkeit zu bieten. Nun gab Zanna endlich ihrem wilden Drang, loszurennen, nach. Während sie das Messer sorgfältig auf Armeslänge von sich weg hielt, jagte sie den langen Korridor hinunter, durch flackernde Teiche aus Dunkelheit und aus Licht, je nachdem, ob sie gerade an einem Fenster vorbeikam oder nicht. Am unteren Ende wandte sie sich nach links und fand die mit einem Vorhang verhangene Tür, die zu dem kurzen Flur führte, der sie dann schließlich zu einer anderen, einfacheren Tür bringen würde, durch die man in das Quartier der Hausdiener gelangte.

Zanna wußte gar nicht, was für ein großes Glück sie hatte. Zu Elewins Zeiten waren beide Türen immer fest verschlossen gewesen, wenn die Halle nicht benutzt wurde, damit die Diener nicht in Versuchung gerieten, diese heiligen Räume als Abkürzung zu benutzen, wenn sie von ihren Quartieren in die Küche wollten. Inzwischen hatten die Magusch jedoch nur noch so wenige Diener, daß solche Traditionen ins Wanken gerieten. Die zweite Tür öffnete sich für Zanna, wie sie es voller Selbstverständlichkeit erwartet hatte, und endlich konnte sie einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Jetzt konnte sie nichts mehr aufhalten! Sie hörte nicht, wie sich die Küchentür, die in die große Halle führte, öffnete und leise wieder schloß.

Auf einem Regal in bequemer Höhe neben der Tür fand Zanna eine Zunderbüchse und einen Kerzenstock. Sie legte ihr Messer auf das Regal, entzündete nach mehreren zittrigen Versuchen die Kerze – und verfluchte sich dann für ihre Dummheit. Was wäre, wenn irgend jemand – vielleicht sogar der Erzmagusch, wie sie mit entsetztem Schaudern dachte – zufällig draußen über den Hof ging und den Lichtschein sah? Angesichts dieser Möglichkeit schirmte sie die Flamme mit ihrer gewölbten Hand ab und beeilte sich, die Vorhänge an den drei Fenstern zuzuziehen, die sich in regelmäßigen Abständen auf dem Weg zu den Schlafräumen befanden. Als das getan war, fühlte sich Zanna deutlich sicherer. Sie hob ihre Kerze in Augenhöhe, ging vorüber an der einsamen Reihe ordentlicher, unbenutzter Betten und durchquerte den Raum. In der Nähe der Tür befand sich, wie sie es in Erinnerung hatte, das Brett mit den funkelnden Kristallen, die im Licht ihrer winzigen Kerzenflamme wie kaltes Feuer glitzerten. Erleichtert ließ sie ihre Kerze an den Edelsteinen entlangwandern, bis sie schließlich ein leises Glimmen von Grün entdeckte.

Endlich! Vannors Tochter setzte die Kerze auf das Regal und streckte die Hand aus, um nach dem Kristall zu greifen – als hinter ihr mit lautem Krachen die Tür aufflog.

»Hab’ ich dich, du kleines Miststück!« Rauhe Hände wirbelten sie herum und packten mit peinigender Gewalt ihre Arme, so daß Zanna vor Schmerz aufschrie. Es war sinnlos, gegen die gewaltige Stärke ihres Gegners anzukämpfen. Das Kerzenlicht spiegelte sich in Janoks Augen wider und gab ihm das Aussehen eines grausamen wilden Tieres. Zanna konnte vor Entsetzen keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt war alles vorbei! Er hatte sie erwischt – hier an diesem menschenleeren Ort, an dem es keine Zeugen gab und niemanden, der ihre Schreie hören würde.

Janok kicherte und kostete ihre Furcht genüßlich aus. Seine Hände krampften sich um das zarte Fleisch ihrer Arme, bis sie leise wimmerte. »Nun?« fragte er. »Und warum schleichen wir in der Dunkelheit durch die Schlafsäle der Dienerschaft, möcht’ ich gern wissen? Hast du möglicherweise nach einem Liebhaber gesucht? Ich schätze, du hast nie einen gehabt, unattraktives kleines Ding, das du bist; aber du kommst ein Jahr zu spät, mein Mädchen. All die hübschen, kräftigen jungen Männer sind weggegangen oder tot, und hier gibt es niemanden mehr, der dich in sein Bett nehmen könnte. Das heißt, niemanden außer mir.«

Was würde ihn mehr erzürnen? Wenn sie antwortete oder wenn sie schwieg? Aber Zanna blieb kaum Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Janoks Hände schossen vor – trafen sie –, verletzten sie. Zanna spürte, wie ihr ein warmes Rinnsal von Blut das Kinn hinunterlief. Dann preßte der Küchenmeister sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die Wand. Janoks behaarte Arme umfingen sie, und sein nach Schweiß riechender Körper berührte ihr Fleisch. Sie konnte die Feuchtigkeit fühlen, die warm und klebrig durch den dünnen Stoff ihrer Bluse sickerte, und kämpfte mit Gewalt die Übelkeit nieder, die in ihr aufwallte. Sein widerlich riechender Atem und der Gestank seines ungewaschenen Körpers ließen sie würgen.

Janok zerrte hart und erregt an ihren Gliedern. Zanna gelang es, eine Hand frei zu bekommen, und sie stach ihm mit steifen Fingern in die Augen, aber er fing ihr Handgelenk in einem gnadenlosen Griff auf und hielt ihre Hand hilflos über ihrem Kopf gefangen. Während er sie mit einem Arm und seinem Knie bewegungsunfähig machte, riß er an ihren Kleidern, bis es ihm gelang, ihre Bluse zu zerfetzen. Zanna spürte, wie kalte Luft über ihre Brüste strich, und wandte dann entsetzt den Kopf ab, als seine groben Finger ihr Fleisch kneteten. Dann glitt die Hand weiter nach unten, hob ihre Röcke hoch und tastete über ihren Unterleib. Sie wußte, was ihr jetzt bevorstand: Hatte sie nicht unzählige Male mit angesehen, wie es hilflosen, kreischenden, weinenden Küchenmägden ergangen war?

Das war einfach zuviel. Zanna krümmte sich und versuchte verzweifelt zu entkommen. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken; ihr ganzes Wesen war beseelt von einem einzigen Wunsch. Gegen seine Größe und Kraft waren ihre Bemühungen vollkommen fruchtlos, aber sie erzürnten ihn trotzdem. Wütend ließ er ihren Kopf gegen die Wand krachen, und aus den Augenwinkeln sah sie die Kristalle auf dem Regal ins Wanken geraten. Ihr feuriges Glitzern im flackernden Kerzenlicht paßte sehr gut zu dem schwindelerregenden, helldunklen Schmerz, der durch ihren Schädel schoß. Aurian, dachte sie verzweifelt – aber die Magusch war viel zu weit weg, um ihr helfen zu können. Jetzt hing alles ganz allein von ihr, Zanna, ab – und was konnte sie gegen einen Mann ausrichten, der so viel größer und stärker war als sie selbst?

Wieder schlug Janok sie – zuerst mit der flachen Hand ins Gesicht und dann, als dieser Schlag sie noch immer nicht ausreichend eingeschüchtert zu haben schien, folgten zwei oder drei tiefere Schläge mit seiner Faust. Das raubte ihr endgültig die Kraft zu kämpfen. Zanna sackte, nach Luft ringend, an der Wand zusammen. Janoks starke Hände waren alles, was sie davon abhielt, sich vor Schmerzen zusammenzukrümmen. Einen Augenblick lang glaubte sie, das Bewußtsein zu verlieren.

»So!« Plötzlich schloß sich Janoks Hand in eisernem Griff um ihren Arm, und er zerrte sie zu dem erstbesten Bett hinüber. Ein seltsamer, unzusammenhängender und benommener Gedanke schoß durch Zannas unschuldigen Sinn: Warum war er nach all dieser Brutalität plötzlich so fürsorglich? Er hätte sie doch ebensogut auf den Boden werfen und dort nehmen können. Bevor sie jedoch weiter über diese seltsame Entwicklung nachdenken konnte, warf Janok sie mit dem Gesicht nach unten aufs Bett, wo er sie mit einer Hand festhielt, während er sich mit der anderen die Kleider vom Leib riß.

Dieser kurze Augenblick der Ablenkung war alles, worauf Zanna gewartet hatte.

Sie war mittlerweile weit jenseits aller Vernunft; reiner Instinkt trieb sie an – und das war um so überraschender für Janok, da er geglaubt hatte, ihr jeglichen Widerstand ausgetrieben zu haben. Nun aber entwand sie sich der Hand, die sie auf die Matratze preßte, schaffte es, sich halb herumzudrehen, und biß in den Arm, der sie mit aller Kraft festzuhalten versuchte.

Damit hatte sich das Blatt gewendet. Janok heulte fluchend auf und drosch mit seiner freien Hand auf sie ein, so daß sie ein Meer von Sternen vor den Augen explodieren sah. Zanna ließ jedoch nicht locker. Drahtige, schwarze Haare kitzelten ihre Kehle, und der salzige, metallische Geschmack von Blut ließ sie würgen, aber sie verbiß sich immer tiefer und tiefer in Janoks Fleisch. Es verstrich überraschend wenig Zeit, bis Janok seinen Griff lockerte und sie ihm entschlüpfen konnte.

Halb taumelnd, stolperte Zanna über die Fetzen ihres Rocks hinweg quer durch den Raum; die gierigen, peinigenden Hände des Küchenmeisters griffen hinter ihr ins Leere. Sie hatte nur einen Gedanken, als sie auf die Tür zuschoß – auf die Tür und auf das kleine Regal daneben. In dem kurzen Augenblick des Zögerns, den sie brauchte, um sich an der glatten, schlüpfrigen Kante hochzuziehen, hatte Janok sie wieder eingeholt –, und Zannas suchende Finger hatten die Zunderbüchse heruntergeworfen und das Messer gefunden, das sie nur wenige Minuten zuvor dort hingelegt hatte.

Das Mädchen konnte Janoks Überraschung spüren – fast schien es eine Enttäuschung für ihn zu sein –, als sie aufhörte, gegen ihn zu kämpfen. »Aha«, murmelte er und preßte ihren Körper von hinten abermals gegen die Wand. »Ich wußte doch, daß du es wolltest. Natürlich. Das wollt ihr doch immer.«

»Ja«, murmelte sie. »Aber ich würde gerne dein Gesicht sehen …«

»Natürlich.«

Zanna spürte seine harten Hände auf ihrem Körper, als er sie umdrehte. Sie fühlte, wie er sich an sie preßte, während ihre Finger sich um das Messer schlossen, das sie halb verborgen in den zerfetzten Überresten ihres Rockes hielt. Dann bohrte sich die Klinge bis zum Heft in seinen Bauch, und Janok krümmte sich laut schreiend zusammen, während ihm das Blut über die Hände spritzte. In diesem Augenblick empfand Zanna nichts für ihn als einen brennenden, alles verzehrenden Haß. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Parric ihr vor langer Zeit erzählt hatte. Entschlossen legte sie ihre Finger noch einmal um den klebrigen Griff und rammte das Messer mit aller Kraft nach unten, um die Klinge in Janoks Eingeweide zu stoßen. Er fiel zu Boden, schrie und preßte sich die Arme vor den Leib, rollte sich zuckend über den Fußboden und lag schließlich in einer immer größer werdenden Lache seines eigenen Bluts da.

Er brauchte sehr lange, um zu sterben. Zanna, starr vor Schreck, spürte, wie plötzliche Panik ihre betäubten Sinne durchdrang. Was war, wenn irgend jemand ihn hörte? Sie mußte hier weg – und zwar schnell. Es blieb keine Zeit mehr, nach dem richtigen Kristall zu suchen – sie ließ sich einfach auf alle viere nieder, sammelte die zerstreuten Edelsteine ein und ließ sie in ein Stück Stoff gleiten, das sie von ihrem ohnehin ruinierten Rock abgerissen hatte. Sobald sie alle Kristalle beieinander hatte, floh sie durch die Tür am anderen Ende des Raumes.

Ohne auch nur einen einzigen weiteren Gedanken an vorsichtigeres Vorgehen zu verschwenden, stürmte Zanna die hölzerne Treppe hinunter und gelangte in das Refektorium im unteren Stockwerk. Dort jedoch hielt sie zunächst einmal inne, während ein Schaudern sie durchlief und sie sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte wie ein gehetztes Tier. Vor ihren Augen drehte sich alles, und ihre Knie hatten sich in Pudding verwandelt. Sie blickte hinunter auf das stinkende, klebrige Blut, das ihre Hände und ihren Leib beschmierte, krümmte sich jäh zusammen und übergab sich. Als ihr Magen schließlich leer war, richtete sie sich mit zitternden Gliedern auf und wischte sich automatisch den Mund mit den blutigen Händen ab – ein Fehler, der sie von neuem würgen ließ. Mit gewaltigen, schluchzenden Atemstößen zwang Zanna sich zur Ruhe. Sie hatte einen Mann getötet: Nun, im Augenblick blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Ihr Vater brauchte sie, und sie mußte sich beeilen.

Alle Geräusche aus dem Raum über ihr waren jetzt verstummt. Ganz langsam begann Zanna zu begreifen: Wenn wirklich irgend jemand Janoks Schreie gehört hätte, müßte dieser Jemand schon lange hier sein. Die Tatsache, daß die Dienerquartiere sowohl von der Küche als auch von den Wachposten auf der anderen Seite des Hofs sehr weit entfernt waren, hatte sie gerettet. Eine Woge der Erleichterung schlug über ihr zusammen. Sie ließ sich an einer mondlichtbeschienenen Stelle vor dem Fenster auf die Knie sinken und wünschte, sie hätte soviel Vernunft gehabt, an die Kerze zu denken. Nun, da würde es wohl beim Wünschen bleiben müssen. Sie würde jedenfalls ganz bestimmt nicht wieder dort hinaufgehen, vorbei an Janoks Leiche, um sie zu holen – für nichts auf der Welt.

Die Kristalle, die sie jetzt aus ihrem notdürftigen Beutel kullern ließ, klapperten über die hölzernen Dielenbretter. Das schwache, kalte Licht ließ sie rätselhaft funkeln, doch nur zwei bargen das Glitzern hellen Feuers in ihren Herzen: der dunkelrote und der blausilberne Edelstein. Aber irgendwo mußte noch ein weiterer sein, einer, in dem ein schwacher grüner Funke schlummerte. Zanna hielt die Kristalle einen nach dem anderen ins Mondlicht und spähte in ihre mit Juwelen besetzten Tiefen, bis sie den gefunden hatte, nach dem sie suchte. Wie eine Statue kniete sie im Licht des Mondes, wölbte die Hände über den Kristall und konzentrierte sich mit einem Gebet an alle Götter, die sie kannte, auf das Bild der Lady Aurian.

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