Chiamhs Mund war wie ausgedörrt, als er sich den beiden riesigen Stehenden Steinen näherte, die in der Sprache der Xandim als die Pforten zum Tal des Todes bekannt waren. Hinter ihnen, auf dem schmalen Rasenstück vor dem Eingang des Tals, konnte er die farbenprächtigen Zelte der Xandim sehen, die die Männer auf dem grünen Rasen zu beiden Seiten des Tores aufgestellt hatten, so daß der größte Teil des Plateaus für die morgige Herausforderung freigeblieben war. Das rote Licht der untergehenden Sonne funkelte wie Feuer und Blut auf einem grimmigen, dornigen Dickicht aus Speerspitzen und gezückten Schwertern.
Obwohl Chiamh noch ein ganzes Stück entfernt war, hatte man ihn bereits gesehen. Ein ärgerliches Murmeln erhob sich über der feindselig gesinnten Menge. Dieses häßliche Geräusch, das wie das zornige Dröhnen eines zerstörten Hornissennestes klang, hallte innerhalb der schmalen, häßlichen Felswänden wider und stieg ihm wie eine überwältigende Flutwelle des Grolls und des Hasses entgegen. Chiamh hielt in dem scheinbaren Schutz der letzten Baumgruppen inne und kämpfte gegen den Widerwillen an, sich dieser Mauer pulsierenden, blutrünstigen Hasses weiter zu nähern. Plötzlich war er unendlich dankbar dafür, daß er die beiden Magusch sowie Aurians Freundin bei sich hatte, die ehrfurchtgebietende große Katze – deren männlicher Begleiter mit den beiden Himmelsleuten im Tal geblieben war, um Wolf und seine Pflegeeltern zu bewachen. Und natürlich waren da noch seine anderen Kameraden, seien es nun Fremdländer oder Xandim. Er brauchte ihre Hilfe, wie er noch nie zuvor Hilfe gebraucht hatte – er bezweifelte, daß selbst seine legendäre Großmutter allein mit einer solchen Krise fertiggeworden wäre –, und Chiamh hatte sich bereits völlig verausgabt, als er die Anstrengungen und die alptraumhaften Ängste der Vision durchlitt, die er für Aurian unternommen hatte.
Wäre es nicht die Zeit der Herausforderung gewesen, hätte die Magusch ihm überhaupt nicht erlaubt, mitzukommen. Jetzt, da sie herausgefunden hatte, welche Risiken mit einer solchen Vision verbunden waren, war sie außerdem noch wütend auf ihn – obwohl sie merkwürdigerweise noch wütender auf sich selbst war; sie fand, sie hätte ein solches Wagnis überhaupt nicht erst von ihm verlangen dürfen, obwohl er ihr absichtlich die möglichen Gefahren vorenthalten hatte.
Die beiden Magusch hatten Chiamh mit ihren magischen Kräften nicht in seine Vision folgen können, so daß sie gezwungen waren, sich auf das zu verlassen, was er ihnen erzählte. Auf diese Weise war das Windauge in der Lage gewesen, das entsetzliche letzte Bild vor ihnen zu verbergen. Er wünschte nur, er könnte es auch vor seinen eigenen Gedanken verborgen halten.
Jetzt, während er dem Ort der Herausforderung entgegenschritt, wurde ihm das Ausmaß seiner Entdeckung erst richtig bewußt, und das Windauge sah sich in einem quälenden Dilemma gefangen, auf brutale Weise hin und her gerissen zwischen zwei Treueeiden. Er konnte nicht länger Unwissenheit vortäuschen – das Schicksal der Xandim lag in seinen Händen. Wie leicht wäre es, seinen neuen Freunden den Rücken zu kehren und sie an die wütenden Massen zu verraten. Er brauchte lediglich Schiannath auf dieselbe Weise zu verzaubern wie Phalihas, und damit würde sich die Wahrscheinlichkeit gewaltig erhöhen, daß das Flammenschwert niemals gefunden wurde und sein Volk in Frieden weiterleben konnte. Die Magusch und ihre fremdländischen Gefährten würden mit Sicherheit ums Leben kommen, aber war ein solches Opfer wirklich zuviel verlangt, wenn doch auf der anderen Seite das Leben eines ganzen Volkes auf dem Spiel stand?
Und hast du die Bösen Mächte so schnell wieder vergessen? fragte er sich. Ohne Aurian und das Schwert werden sie mit Sicherheit triumphieren, und was wird dann aus den Xandim werden? Aber die Bösen Mächte waren ihm fremd und außerdem weit weg, und hatte er nicht gerade erst mit seiner Andersicht die offene und unmittelbare Bedrohung des Schwertes geschaut?
»Chiamh? Ist alles in Ordnung mit dir?« Das Windauge schrak schuldbewußt aus seiner Tagträumerei hoch. »Ich wußte, daß du dich noch ein Weilchen hättest ausruhen müssen«, sagte Aurian stirnrunzelnd, während sie ihn am Ellbogen faßte, um ihn zu stützen. »Du siehst schrecklich aus. Ich wünschte, du würdest mir wenigstens erlauben, dir einen Teil der Energie wiederzugeben, die du bei der Vision verloren hast. Du bist im Augenblick nicht in der Verfassung, zu tun, was nötig ist, und das weißt du auch.« In ihren Augen spiegelten sich Angst und Sorge wider, aber dann versuchte sie, ihm mit ihrer gewohnten Selbstsicherheit Mut zu machen. »Wir wollen dich nicht verlieren. Ich bin mit dir über die Berge geflogen und mit dem Wind über das Plateau geritten – ich würde auch in Zukunft nur ungern auf diese beiden Dinge verzichten müssen!« Sie lächelte ihn an – lächelte ihr typisches schiefes, ausdrucksvolles Lächeln, in dem die ganze Liebe eines Freundes für einen Freund lag, ein Lächeln, das ganz allein ihm gehörte.
Chiamh konnte ihrem Blick nicht standhalten. Du willst sie verraten? verhöhnten ihn seine Gedanken. Du willst sie tot im Gras liegen sehen? Wie viele echte Freunde hast du denn in deinem Leben gehabt? Außer diese Handvoll Leute, die jetzt bei dir sind? Er sah an der Magusch vorbei zu Anvar hinüber, der sich gleichermaßen zu sorgen schien, und zu Sangra, die ihm über seine schlimmsten Ängste hinweggeholfen hatte, als sie in dem Unwetter den Berg hinuntergekommen waren. Er sah Parric an, für den er bereits mehrfach sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte – und Schiannath und Iscalda, die er schon einmal verraten hatte, auf Befehl seines Rudelfürsten. Er konnte es unmöglich noch einmal tun.
Das Windauge straffte die Schultern und ergriff Aurians Hand. »Ich komme schon zurecht«, beruhigte er sie mit einiger Anstrengung. »Dies ist für uns alle eine unendlich schwere Zeit. Ich werde mich heute abend ausruhen, das verspreche ich – obwohl ich das eigentlich nicht tun sollte, während wir Wache halten.«
»Zum Teufel mit der Wache«, knurrte Aurian. »Ich werde nicht zulassen, daß Phalihas und seine Männer sehen, daß du schläfst, aber schlafen wirst du, mein Freund. Dafür werde ich sorgen. Du hast dir deinen Schlaf verdient, und du brauchst ihn.«
»Solange du nicht schnarchst«, drohte ihm Parric grinsend.
»Was?« Chiamh hob in gespieltem Entsetzen die Augenbrauen. »Ich möchte ein und für allemal klarstellen, daß das mächtige Windauge der Xandim niemals schnarcht!« Obwohl er sich nicht von seiner furchtbaren Last hatte befreien können, war ihm jetzt doch unendlich viel leichter ums Herz, nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte. Er erwiderte Parrics kameradschaftliches Schulterklopfen und wandte sich widerstrebend von seinen warmherzigen Freunden ab, um sich der Feindseligkeit seines Volkes zu stellen. »Wir können nicht länger warten«, erklärte er seinen Gefährten. »Die Sonne ist schon fast untergegangen, und wir haben nur noch wenig Zeit, um zu tun, was wir tun müssen.«
Man hatte den Eindruck, als sei zwischen den Stehenden Steinen am Eingang des Tales eine unsichtbare Linie von einem riesigen finsteren Monolithen zum anderen gezogen. Jenseits dieser undurchdringlichen Schranke aus Furcht und Aberglauben standen die Ältesten. Hinter ihnen konnte man die einzelnen Häuptlinge der nomadischen Xandimstämme sehen und die Führer der kleinen Familiengemeinschaften – Fischer, Salzsieder und Strandsammler, die einen Teil des Jahres an der Küste verbrachten und bei regelmäßigen Zusammenkünften ihre Waren gegen die der Inlandstämme eintauschten. Bei ihnen war auch Phalihas, der immer noch in seiner Pferdegestalt, der Gestalt eines großen, schwarzen Hengstes, gefangen war. Bei Chiamhs Anblick erstarrte der frühere Rudelfürst vor Wut, legte seine Ohren flach an seinen Schädel und scharrte ruhelos mit einem riesigen Huf auf dem Boden, wobei er in seinem Zorn den Rasen in Fetzen riß.
Ysalla, die Führerin der Ältesten, trat vor: eine große, hagere Frau, die so zerbrechlich wirkte wie eine uralte Kiefer. Obwohl ihr einst rostrotes Haar jetzt mit ungezählten grauen Strähnen durchsetzt und ihr wettergegerbtes Gesicht vom Alter gezeichnet war, war ihr Auftreten noch immer herrisch und arrogant, als sie das Windauge ansprach. »Nun, Abtrünniger? Wieder steht uns das Dunkel des Mondes bevor. Welche Botschaft hast du für uns in dieser Nacht der Herausforderung? Wird der feige, fremdländische Wurm, den du an die Macht gebracht hast, diesmal sein Wort halten? Und was ist mit deinem eigenen Versprechen? Wirst du Phalihas befreien? Denn wir sind zu dem Schluß gekommen, daß nach unserem uralten Gesetz seine Herausforderung durch den Fremden unrecht war und er, wenn er das wünscht, wieder antreten darf.«
Chiamh hielt ihrem kalten Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand, obwohl er innerlich zitterte. »Ich werde zu meinem Eid stehen und Phalihas die Freiheit wiedergeben.« Er schwieg einen Moment, bis das Murmeln und die wütenden Rufe der versammelten Xandim wieder verstummt waren. »Und ich bringe euch einen anderen, der ebenfalls kämpfen will. Obwohl der gegenwärtige Rudelfürst zu seinem Wort steht und nicht wieder kämpfen wird, hat er nach unseren Gesetzen das Recht, einen anderen zu bestimmen, der an seiner Stelle …«
»Einen anderen Xandim!« fuhr Ysalla auf.
»Es ist ein anderer Xandim.« Die leidenschaftslose Ruhe, die sich in Chiamhs Gesichtszügen spiegelte, blieb bestehen, als er auf Schiannath an seiner Seite zeigte, obwohl die wütenden Schreie, die überall um ihn herum laut wurden, ihn beinahe aus der Fassung gebracht hätten.
»Verräter!«
»Unrecht!«
»Das ist verboten!«
»Jetzt will er uns einen Gesetzlosen aufhalsen!«
»Schiannath hat schon einmal versagt!«
»Er darf nicht wieder kämpfen!«
Chiamh hob die Hand, und ein gewaltiger, kreischender Windstoß wehte all ihre Proteste fort. In dem benommenen, grollenden Schweigen, das nun folgte, richtete das Windauge abermals das Wort an sein Volk.
»Darf ich euch daran erinnern, daß Phalihas ebenfalls eine Herausforderung verloren hat – aber ihr beruft euch trotzdem auf die Gesetze, um ihn wieder antreten zu lassen. Der Rudelfürst Parric ist bereit, sein Amt aufzugeben, aber ein Rudelfürst hat nach unserem Gesetz bei seinem Rücktritt das Recht, einen anderen Herausforderer zu benennen – er darf jeden Herausforderer wählen, solange dieser nur ein Xandim ist –, der seinen Platz einnimmt. Ihr könnt nicht leugnen, daß es sich so verhält.«
Sekundenlang zögerte Ysalla. Offensichtlich suchte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, Chiamhs Worte abzustreiten, allerdings ohne Erfolg. Schließlich konnte sie Chiamhs Blick nicht länger standhalten. »Du hast recht«, gab sie durch zusammengebissene Zähne zu, und es hatte den Anschein, als hätte sie jedes einzelne Worte mit Gewalt aus den Tiefen ihrer Seele herauszwingen müssen.
»Wenn du Phalihas seine Freiheit wiedergibst, dann darf Schiannath ihn herausfordern, und wir, die Xandim, werden den Ausgang des Kampfes akzeptieren. Aber hör mich an, Windauge …« In ihren Augen glomm die ganze Leidenschaft ihrer Verachtung. »Wenn Phalihas obsiegen sollte, dann wird die Dämmerung des morgigen Tages die letzte sein, die ihr je gesehen habt, du und deine verfluchten fremdländischen Kumpane. Beim Lichte der Göttin, ich schwöre es.«
»Bevor du einen so übereilten Eid ablegst, solltest du sicher sein, daß du ihn auch einhalten kannst«, erwiderte das Windauge gelassen. »Ich zumindest kann die Versprechen halten, die ich gebe.« Mit diesen Worten hob er die Hände, griff nach der Luft, die um Phalihas herum schimmerte, und zog. Die Pferdegestalt verschwamm und wandelte sich, und plötzlich stand an ihrer Stelle die große, kräftige Gestalt des ehemaligen Rudelführers.
Phalihas stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf Chiamh. Er wehrte sich aus Leibeskräften gegen die Xandim, die ihn zurückhielten, und stieß einen Schwall übelster Schimpfworte aus, die wie das Fauchen eines wütenden Tieres klangen. Das Windauge stand ungerührt da, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Blick von dem Mann abzuwenden, der ihn ermorden wollte.
Ysalla bereitete dem Ganzen ein Ende. »Hör auf damit, du Narr!« brüllte sie. »Willst du vielleicht alles zerstören? Wenn du in das Tal des Todes gehst – oder am Vorabend der Herausforderung Blut vergießt –, ziehst du einen schrecklichen Fluch auf dich und darfst morgen nicht kämpfen!«
Phalihas fügte sich sofort in sein Schicksal, obwohl in seinen Augen ungestillter Groll funkelte. »Zähle die Stunden, Chiamh!« rief er dem Windauge zu. »Dir bleiben nicht mehr viele.«
Chiamh zuckte mit den Schultern, eine wohlerwogene Geste, die dafür sorgen sollte, daß sich Phalihas’ blinde Wut während der Nacht nicht abkühlte. »Einem von uns beiden bleiben gewiß nicht mehr viele Stunden, das steht fest.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.
Aurian, die das ganze Spektakel beobachtet hatte, platzte fast vor Stolz.
Die Sonne senkte sich tief hinter die zerklüfteten Gipfel des Stahlklauebergs und hüllte die riesigen, bedrohlich wirkenden Monolithen in einen blutroten Schimmer, als sich die beiden Lager der Herausforderer in der Nähe der Steine für die beklommene Nachtwache vorbereiteten. Es blieb ihnen nur noch wenig Zeit zum Reden, bevor die Dunkelheit allen Schweigen gebieten würde, und Parric nutzte die Gelegenheit, allein mit dem Windauge zu sprechen, während Aurian und Anvar ein Feuer entzündeten und die anderen damit beschäftigt waren, ein notdürftiges Lager zu errichten und die Wachen einzuteilen, so daß immer zwei von ihnen Schiannath bewachen und der andere das Feuer im Augen behalten und dafür sorgen konnte, daß der Herausforderer auf keinen Fall einschlief. Chiamh versuchte, einen widerstrebenden, nervösen Schiannath dazu zu überreden, die letzte Mahlzeit zu sich zu nehmen, die er vor seiner Herausforderung erhalten würde, aber als er die Hand des Kavalleriehauptmanns auf seiner Schulter spürte, drehte er sich schnell um.
Parric führte ihn in den Schatten hinter dem großen Stein. »Hör zu«, begann er unbeholfen, »ich bin nur ein Soldat und kein Freund großer Worte, aber wenn ich mich noch nicht bei dir bedankt habe für all das, was du für uns getan hast, dann will ich das jetzt nachholen. Und, na ja, ich wollte dir auch dafür danken, was du letzte Nacht getan hast. Wenn ich mich geirrt habe, gebe ich das auch zu – und du hast mich davor bewahrt, einen der größten Fehler meines Lebens zu begehen, als ich versuchte, Aurian ohne Anvar aus der Festung wegzubekommen. Ich bedaure, was ich da zu tun versucht habe – und ich stehe in deiner Schuld, weil du Aurian nie erzählt hast, was für ein verdammter Narr ich war. Das Mädchen hätte mir nie verziehen – das weiß ich jetzt. Du hast mich davor bewahrt, die ganze Sache furchtbar zu verpfuschen, und wahrscheinlich hast du Anvar damit auch noch das Leben gerettet. Ich bin dir wirklich dankbar.«
In diesem Augenblick erlosch der letzte Sonnenstrahl, und der einsame Ruf eines Horns erklang über dem Plateau, das Signal dafür, daß die Stunden der schweigenden Wache begonnen hatten. Chiamh konnte nicht mehr antworten, aber sein Lächeln und sein kräftiger Händedruck reichten, um Parric sowohl seine Freundschaft als auch sein Verständnis auszudrücken, bevor sie gemeinsam zum Feuer zurückkehrten.
Obwohl sie, wie vereinbart, alle abwechselnd Wache hielten, bekam keiner von Schiannaths Kameraden in dieser Nacht viel Schlaf – bis auf den verdrossenen Chiamh, der hinterher darauf beharrte, daß Aurian ihn verzaubert haben müsse. Die Gedanken von Sangra und Yazour waren einander erstaunlich ähnlich, obwohl sie rein äußerlich so verschieden waren. Alle beide sehnten sie sich nach Zuhause. Sangra dachte wehmütig an die überfüllten, schlammbespritzten Straßen von Nexis, an die Tavernen, das Training und die rauhe, aber herzliche Kameradschaft in der Garnison. Yazour zitterte in seinem dicken Umgang und spürte nichts von der flirrenden Hitze des Feuers; er dachte sehnsüchtig an das rhythmische Zirpen der Frösche am Fluß, das die Nächte dort weniger still und einsam machte; an den Klang seiner Muttersprache; an die endlosen, glitzernden Horizonte der Wüste.
Parric hatte auch einiges, über das er nachdenken mußte, da Aurians Enthüllungen ihm ihre Beziehung zu Anvar jetzt in einem anderen Licht erscheinen ließen. Er hatte jedoch nicht viel übrig für diese Art Betrachtungen, und seine Gedanken wanderten schon bald zurück zu dem Thema, das im Augenblick wichtiger war: Schiannath. Der Kavalleriehauptmann verspürte großes Mitleid mit dem jungen Xandimkrieger, der bleich und offensichtlich von Unbehagen erfüllt auf der anderen Seite des Feuers saß; er mußte während dieser langen Nachtstunden einen Nervenkrieg mit Phalihas austragen – einem arglistigen und erfahrenen Gegner, wie Parric am eigenen Leib erfahren hatte. Da er das gleiche schauerliche Ritual hatte über sich ergehen lassen müssen, beneidete er den jungen Burschen nicht im mindesten und konnte nicht umhin, einen Anflug von Sorge zu verspüren. Er wußte nichts von Schiannath, außer daß er schon einmal gegen den früheren Rudelfürst verloren hatte, und das ließ beileibe nichts Gutes ahnen. Der Kavalleriehauptmann hoffte nur, daß sich der junge Xandim der Prüfung, die ihm bevorstand, gewachsen zeigen würde.
Aurian, die wie stets Forrals Rat befolgte, während einer Nachtwache niemals ins Feuer zu starren, saß angespannt und vor Müdigkeit ein wenig zitternd da und spähte in die Dunkelheit jenseits der riesigen Stehenden Steine. Wie sollte sie in dieser Situation auch Schlaf finden? Nach dem, was Chiamh ihr von seiner Vision berichtet hatte, überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf: Wie war es möglich, daß dieses dreimal verfluchte Schwert im Tal ihrer Mutter aufgetaucht war? Ausgerechnet da? Es erschien ihr wie eine Ironie des Schicksals. Und das war beileibe nicht das einzige, worüber sie nachzudenken hatte. Der morgige Tag war nicht nur für Schiannath und die Xandim von ungeheurer Wichtigkeit, sondern auch für den Verlauf ihrer eigenen Zukunft. Je nachdem, wie der Kampf ausging, mußte Aurian entweder Pläne für ihre Rückkehr in den Norden schmieden, wo sie das Schwert suchen und endlich den Kampf gegen Miathan aufnehmen würde – oder sie mußte um ihr Leben kämpfen und würde wahrscheinlich noch mehr Menschen, die sie liebte, in der Schlacht verlieren.
Sie spürte, wie Anvar, der neben ihr saß, nach ihrer Hand griff, eine Reaktion auf den Schmerz, der sie bei dieser unerwarteten Erinnerung an Bohan überfallen hatte. »Ich grübele nicht darüber nach, wirklicht nicht«, versicherte sie ihm mit Hilfe der Gedankenrede, die ihr jetzt, da sich das Band der Liebe immer enger um sie legte, von Mal zu Mal leichter fiel. »Ich weiß, daß das keinen Sinn hätte. Außerdem ist Trauer ein Luxus, den wir uns im Augenblick nicht leisten können.«
»Das stimmt.« Sie hörte Anvars Antwort in ihren Gedanken und war zutiefst dankbar dafür, daß sie in dieser Nacht, in der sie Schweigen bewahren mußten, ohne Worte miteinander reden konnten. »Aber das tut unserer Liebe zu Bohan keinen Abbruch«, fügte ihr Seelengefährte hinzu, »und eines Tages werden wir, wenn alles gutgeht, eine Möglichkeit finden, ihm ein ehrenvolles Begräbnis zu geben.«
»Das ist ein schöner Gedanke – und ausgesprochen passend.« In dem Nachhall ihrer Worte spürte Aurian Shias unausgesprochene Billigung, und jetzt sah sie auch, daß die goldenen Augen der großen Katze im Schein des Feuers wie Juwelen funkelten. Shia hielt in dieser Nacht ebenfalls Wache, obwohl sie sich eher um die beiden Magusch sorgte als um den Xandimkrieger. Die Magusch legte eine Hand auf den massigen, glatten Kopf der Katze und lehnte den Kopf an Anvars Schulter; sie genoß die Nähe ihrer beiden liebsten Gefährten. »Könnt ihr auch nicht schlafen?«
»Absolut nicht. Aber ihr beide solltet schlafen. Ich halte Wache«, erwiderte Shia entschlossen.
»Kommt nicht in Frage«, antwortete Anvar in Gedanken. »Nicht in einem Augenblick, in dem so viel auf dem Spiel steht. Glaubst du, Schiannath kann schlafen?«
»Er sollte es verdammt noch mal versuchen«, erwiderte Aurian hitzig, »sonst stecken wir morgen alle in Schwierigkeiten.« Sie streckte ihre langen Glieder und seufzte. »Dieses endlose Warten ist das Allerschlimmste.«
»Soll ich für dich dasselbe tun, was du für Chiamh getan hast?« fragte Anvar sie mit einem schelmischen Blick auf das schlummernde Windauge.
»Untersteh dich! Er wird mich umbringen, wenn er aufwacht und es herausfindet, aber es war wirklich zu seinem Besten. Der arme Mann – nach dem, was er heute für uns getan hat, war er völlig erschöpft. Er brauchte den Schlaf dringend.«
»Und er hat ihn sich auch verdient. Es hat mich wirklich beeindruckt, wie er mit den Xandim-Ältesten umgesprungen ist.« Das Kichern in seinen Gedanken verstummte plötzlich, und Aurian spürte sein Zögern. »Aber Aurian … hattest du nicht auch den Eindruck, daß er uns nach der Vision etwas vorenthalten hat?«
»Das hast du auch bemerkt?« Aurian runzelte die Stirn. »Ich hatte gehofft, ich hätte mir das nur eingebildet. Aber ich vertraue ihm«, fügte sie fest hinzu. »Anvar, ich bin davon überzeugt, daß uns Chiamh niemals hintergehen würde. Siehst du das anders?«
»Nein.« Sie spürte, daß Anvar den Kopf schüttelte. »Aber was verbirgt er dann vor uns?«
»Ich weiß nicht – aber ich hatte den Eindruck, daß es ihn furchtbar erschreckt hat.« Aurian dachte schweigend über die verschiedenen Möglichkeiten nach. »Ich glaube«, fuhr sie langsam fort, »daß er uns gewarnt hätte, wenn wir in Gefahr wären. Also kann die Gefahr nur ihm selbst drohen – und das macht mir mehr angst, als ich dir sagen kann.« Sie erschauerte. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn Chiamh etwas zustoßen würde. Ich habe ihn sehr ins Herz geschlossen.«
»Willst du damit sagen, daß ich einen Rivalen habe?« protestierte Anvar in gespielter Entrüstung.
»So sehr habe ich ihn nun auch wieder nicht ins Herz geschlossen, du Dummkopf!« antwortete Aurian auf seinen Versuch, sie ein wenig aufzuheitern. Er hatte recht – das war der falsche Zeitpunkt für düstere, nebulöse Spekulationen. »Du hast keine Rivalen«, versicherte sie ihm, »und wenn nicht diese ganzen Leute um uns herum wären, würde ich es dir beweisen.«
Schiannath konnte sich leider nicht mit in Gedanken geführten Gesprächen trösten. Er war gezwungen, schweigend Wache zu halten – und hatte eine unangenehme Nacht, während Phalihas, der nur zwei Speerlängen von ihm entfernt saß, ihn mit einem gnadenlosen Haß ansah. Schiannath zitterte innerlich und spürte zum ersten Mal, wie leiser Zweifel in ihm aufstieg. Schließlich löste er seinen Blick von dem finsteren Gesicht des früheren Rudelfürsten und wußte, von einem flauen Gefühl der Scham erfüllt, daß er damit seine erste Niederlage erlitten hatte. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? dachte er verzweifelt. Wenn ich morgen sterbe, was wird dann aus meiner armen Schwester?
Als er wieder aufblickte, sah er, daß Phalihas jetzt nicht mehr ihn, sondern Iscalda haßerfüllt anstarrte; in seiner höhnischen Miene mischten sich Begierde und Berechnung mit so offensichtlicher Arroganz, daß Schiannath zornig mit den Zähnen knirschte. Der frühere Rudelfürst machte ganz klar, daß zumindest er keinerlei Zweifel am Ausgang dieser Herausforderung hatte.
Die Selbstzweifel, die Schiannath noch vor kurzem gequält hatten, gingen in einem Aufflackern schillernder Wut unter, die sich in eisige Entschlossenheit verwandelte. Niemals! schwor er sich. Niemals wieder wird Phalihas meine Schwester in seine Gewalt bekommen, denn ich werde ihn besiegen. Ich muß. Er biß die Zähne zusammen und suchte abermals den Blick seines Gegners – und diesmal gab ihm seine verzweifelte Entschlossenheit solche Kraft, daß nun Phalihas derjenige war, der nachgeben und den Blick senken mußte. Danach löste Schiannath nicht ein einziges Mal seinen bohrenden Blick von dem ehemaligen Rudelfürsten, nicht ein einziges Mal während der ganzen, endlos langen Nachtstunden.
Iscalda saß, steif vor Angst, neben ihrem Bruder und hielt seine kalte Hand fest in der ihren. Sie bemerkte das Intermezzo zwischen den beiden Herausforderern nicht, denn sie sah sie nicht an; sie versuchte, sich den Gedanken, die sie quälten, zu widersetzen. Wenn Schiannath morgen starb, würde sie nicht nur den Bruder verlieren, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben, sondern sie würde auch an Phalihas Seite einem Schicksal entgegensehen, an das sie nicht zu denken wagte. Mit ihrer freien Hand tastete sie nach ihrem Dolch, der in seiner Scheide steckte, und schwor sich, daß sie Schiannath, falls dieser starb, in die Arme der Göttin folgen würde.
Mit einem einzigen, warnenden Ton ertönte der laute Klang eines Horns über dem Plateau. Aurian war in jenem ungewissen Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen ganz in ihre Gedanken versunken gewesen, so daß sie gar nicht bemerkt hatte, daß der Himmel langsam heller wurde. Der Ruf des Horns riß sie ruckartig in einen zitternden Leib zurück, dessen Glieder völlig steif geworden waren. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich davon abhalten, einen herzhaften Fluch auszustoßen.
»Du darfst jetzt sprechen – in den Augenblicken zwischen Hornruf und Sonnenaufgang ist das Schweigegebot aufgehoben.« Das war die Stimme von Chiamh. Er kämpfte sich aus der Decke heraus, die sie über ihn gebreitet hatte, und sah sie wütend an. »War das deine Rache für den Abend, an dem ich dir ein Schlafmittel in den Wein gegeben habe?«
»Du brauchtest Ruhe«, erwiderte Aurian ohne jede Reue und war gleichzeitig dankbar dafür, daß er keine Gelegenheit mehr hatte, ihr eine Antwort zu geben.
Jetzt scharten sich alle um Schiannath, der mit den Füßen aufstampfte und mit den Armen ruderte, um seine kalten Glieder geschmeidig zu machen. Der Xandimkrieger sah im Zwielicht der Morgendämmerung totenbleich aus, aber in seinem hageren Gesicht stand felsenfeste Entschlossenheit. Chiamh reichte ihm die Wasserflasche, und er nahm einen hastigen Schluck, bevor er sich mit dem Rest Gesicht und Kopf besprengte. Für mehr hatte er keine Zeit: Schon erschien über den östlichen Hängen ein schwacher, goldener Schein – und er mußte seine Position einnehmen, bevor die ersten Sonnenstrahlen das Plateau trafen, sonst war die Herausforderung ungültig.
Iscalda umarmte ihren geliebten Bruder schnell noch einmal. »Möge die Göttin mit dir sein«, flüsterte sie und riß sich von ihm los, bevor ihre brüchige Maske des Mutes zerfallen konnte.
»Und mit dir, meine Schwester.« Schiannath schluckte und trat einen Schritt vor, blieb dann jedoch noch einmal stehen, um der Magusch eine Hand auf den Arm zu legen. In seinen Augen stand eine verzweifelte Bitte. »Wenn – wenn mir etwas geschehen sollte«, flüsterte er hastig, »dann bitte ich dich – beschütze sie vor Phalihas.«
»Das werde ich tun, das verspreche ich«, beruhigte ihn Aurian. Dann war er fort.
Tiefes Schweigen hatte sich in jenem Augenblick vor Sonnenaufgang über die Welt gesenkt, als die beiden Gegner auf das Plateau hinaustraten. Dann standen plötzlich dort, wo zwei Männer mit der Anspannung, die jedem Kampf vorausgeht, einander in die Augen sahen …
Aurian keuchte. Zwei gewaltige Hengste, einer mitternachtsschwarz, der andere mit grau geschecktem Fell, standen einander auf dem Rasen gegenüber; Schwänze und Mähnen flatterten im Wind, während die großen, prächtig geschwungenen Hälse sich reckten und die feingemeißelten Köpfe sich stolz hoben. Die Muskeln in Brust und Schenkeln verrieten ungeheure Kraft, und tödliche Hufe zerrissen den Rasen.
Der dritte Hornruf war die triumphierende Verkündigung des Sonnenaufgangs. Als das Licht am Horizont aufflackerte, verwandelte sich der graue Rasen in strahlendes Grün – bis auf die Stelle, an der sich der lange Schatten von Phalihas weit ausstreckte, um seinen Gegner in ein gewaltiges Tuch aus Dunkelheit zu hüllen. Schiannath stieß den gellenden Schrei der Herausforderung aus, bäumte sich auf und hob sich hoch in das Sonnenlicht und über den schwarzen Fleck, den der Schatten seines Feindes auf den Boden warf. Der glitzernde Tau schäumte wie Feuerfunken unter den hämmernden Hufen, während die beiden Hengste aufeinander zustürmten.
Als die beiden gewaltigen Pferde einander entgegenrasten, verlor Schiannath auch noch den letzten Rest menschlichen Bewußtseins, an dessen Stelle jetzt die weißglühende Rage reinen, animalischen Zornes trat. Er donnerte auf Phalihas zu, in der Absicht, dem anderen kurz vor dem Zusammenprall auszuweichen und ihn von der Seite anzugreifen – aber Phalihas hatte die gleiche Idee gehabt. Beide Tiere schnellten in dieselbe Richtung – doch Phalihas war älter und reagierte schneller auf die neue Entwicklung. Er wirbelte auf seinen mächtigen Hinterbeinen herum, stürzte sich zähnefletschend auf den grauen Hengst und rammte Schiannath den Kopf in den Bauch, bevor er ihn mit einem gewaltigen Stoß zu Boden warf.
Schiannath rollte sich jedoch mit unerwarteter Behendigkeit herum und stand sogleich wieder aufrecht da, wenn auch ein wenig zitternd. Phalihas Hufe donnerten nun über die Stelle hinweg, an der sein Gegner gelegen hatte, verfehlten ihr Ziel jedoch. Schiannaths Kopf fuhr herum: Der schwarze Hengst schrie vor Wut und Schmerz auf, als dort, wo die Zähne des anderen sein Fleisch aufgerissen hatten, ein Strahl weißglühenden Feuers seine Flanke durchbohrte. Phalihas wirbelte herum, und der Schock brachte ihn mit einem Ruck wieder zu Bewußtsein; der ehemalige Rudelfürst hatte nicht erwartet, daß Schiannath das erste Blut für sich in Anspruch nehmen würde.
Schiannath stürzte sich nun wieder auf ihn, bäumte sich auf und geriet mit seinen scharfen Hufen Phalihas Schädel gefährlich nahe. Phalihas wich den tödlichen Hammerschlägen aus und ging auf die Kehle seine Feindes los, verfehlte jedoch sein Ziel. Einer von Schiannaths Hufen traf ihn schmerzhaft an der Schulter, während sich seine Zähne in die muskulöse Brust seines Gegners bohrten und ein Stück Fleisch herausrissen. Jetzt war es an Schiannath, aufzuschreien und heftig blutend zurückzutaumeln. In seinen Augen glomm neuer Respekt für seinen Gegner auf und gleich darauf das stählerne Funkeln einer grimmigen Entschlossenheit, seinen Feind auf jeden Fall zu besiegen.
Wieder und wieder griffen die Hengste einander an, bissen, traten und schlugen um sich. Blut befleckte den zertrampelten Rasen, und Schreie des Schmerzes und des Zorns zerrissen die Luft, während zuerst der eine und dann der andere die Deckung seines Gegners durchbrach. Die beiden waren einander ebenbürtig: Phalihas ein wenig schwerer; Schiannath eine Spur größer. Zum Ausgleich für die Gerissenheit und Erfahrung des älteren Hengstes hatte das jüngere Tier größere Ausdauer. Beide waren mittlerweile verletzt und bluteten; beide waren schweißgebadet und taumelten vor Erschöpfung; aber keiner wollte zurückweichen, und keiner wollte dem anderen das Feld überlassen.
Für Aurian und ihre Freunde, die sich bei den riesigen Steinen ängstlich zusammenscharten, bedeutete der Kampf eine schier unerträgliche Qual. Iscalda hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Sie konnte es kaum ertragen, mitanzusehen, wie ihr Bruder vor ihren Augen in Stücke gerissen wurde; und doch mußte sie hinsehen, obwohl wieder und wieder Tränen ihr die Sicht raubten. In ihren Gedanken war sie da draußen bei Schiannath auf dem blutbefleckten Schlachtfeld – sie spürte den Schmerz jeder Wunde, die Phalihas ihm zufügte, und ihr Herz blutete genauso wie sein zerfetztes Fleisch. Als sich der Kampf der beiden Hengste schließlich etwas weiter entfernt von dem Ort abspielte, an dem sie stand, bemühte sie sich mit aller Kraft, ihnen zu folgen, und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Wenn das Zuschauen schon eine Folter gewesen war, so war es noch unendlich viel schlimmer, nicht mehr zu wissen, was da vor sich ging. Sie spürte, wie eine Hand ihren Unterarm ergriff und sie stützte, und sie war dankbar für die Freundschaft, die in dieser Geste zum Ausdruck kam, konnte ihren Blick jedoch keine Sekunde lang von dem Kampf abwenden, um festzustellen, wer ihr da zu helfen versuchte.
Es mußte bald aufhören – es mußte! Schiannath konnte einem Vorstoß von Phalihas beinahe ausweichen, aber doch nicht ganz. Die Zähne des anderen bohrten sich in sein Ohr, und ein heißer Schmerz durchschoß Schiannaths Schädel. Er riß sich mit einem lauten Aufschrei los, Blut strömte über seinen Kopf in seine Augen, und er taumelte; seine Reaktionen waren jetzt langsamer geworden, und seine Gedanken vom Schmerz träge und benommen. Seine Flanken hoben und senkten sich vor Anstrengung, blutiger Schaum tropfte aus seinem geöffneten Maul. Als er seinen Feind aus den Augenwinkeln wahrnahm, wirbelte Schiannath steif herum und schlug aus, wobei seine Hinterhufe die Rippen des anderen mit einem so gewaltigen Krachen trafen, daß es das Geräusch brechender Knochen übertönte. Phalihas wankte und stürzte beinahe, und sein Atem klang wie ein qualvolles Pfeifen, aber Schiannath geriet nun ebenfalls ins Taumeln, aus dem Gleichgewicht gebracht von der Wucht seines Trittes. Ein bohrender Schmerz fuhr durch sein linkes Vorderbein. Nachdem er sein ganzes Gewicht auf das andere Bein verlagert hatte, erholte er sich ein wenig, denn der Huf des verletzten Gliedes konnte kaum den Boden berühren.
Der Kampf kam für einen Augenblick zum Erliegen, während die beiden Hengste mit herabhängenden Köpfen dastanden und jeder von ihnen verzweifelt versuchte, die Kraft zu finden, um seinem Gegner den Todesstoß zu versetzen. Keiner der umstehenden Xandim durfte sich einmischen – diese Schlacht mußten die beiden Xandim bis zum bitteren Ende ausfechten, um die Frage der Nachfolge ein für allemal zu klären. Der letzte der Herausforderer, der noch aufrecht stand, würde Rudelfürst werden, der andere sterben.
Schiannath wußte, daß er am Ende seiner Kräfte war. Durch die schwere Verletzung an seinem Vorderbein hatte er seine Beweglichkeit verloren, und schlimmer noch, er konnte nicht mehr nach Phalihas treten. Die Wunde hatte ihn einer der wichtigsten Waffen beraubt – jetzt konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bevor sein Gegner ihn bezwang. Schiannath drohte in einem Meer finsterer Verzweiflung zu ertrinken. Er hatte sein Bestes gegeben, aber er hatte verloren …
Dann nahm Schiannath mit seinem scharfen Pferdegehör das Geräusch von gedämpftem Weinen wahr, das plötzlich den grauen Nebel von Blutverlust und Müdigkeit durchdrang, der sein Gehirn jetzt einhüllte. Iscalda! Er mußte wieder an seine Schwester denken und an die Lady Aurian und ihre Kameraden, die ihn aus seiner schrecklichen Verbannung gerettet hatten. Ihr Leben hing von seinem Erfolg ab. Und Iscalda – er kämpfte diesen Kampf doch nicht für sich, sondern für sie. Welches Recht hatte er, so leicht aufzugeben? Ein Gedanke erfüllte ihn jäh mit neuer Entschlossenheit: Wenn er schon in so jämmerlichem Zustand war, dann mußte sein älterer Gegner noch schlimmer dran sein. Dieser Hoffnungsfunke, so schwach er auch sein mochte, gab ihm neuen Schwung, und er spürte, wie eine letzte Reserve von Kraft in seine müden Glieder schoß. Also schüttelte er den Kopf, um wieder klar sehen zu können, und warf nach einer schier endlos langen Zeit zum ersten Mal wieder einen Blick auf seinen Feind. Phalihas zitterte am ganzen Leib, schnaufte und erstickte fast an der Anstrengung, die es ihn kostete, Luft in seine Lungen zu ziehen. Das Blut strömte ihm aus Maul und Nüstern, und seine Augen waren trübe und glasig. In einem plötzlichen Anflug von Hoffnung versteifte sich Schiannath. Durch den Schmerz seiner eigenen Verletzungen hatte er diesen letzten Tritt, mit dem er Phalihas’ Rippen getroffen hatte, völlig vergessen. Hatte er damit vielleicht größeren Schaden angerichtet, als er es für möglich gehalten hätte? Das konnte er nur auf eine einzige Art und Weise herausfinden – aber dafür mußte er seine Deckung preisgeben. Falls Phalihas seine Schwäche nur vortäuschte und Schiannaths Hinken bemerkte …
Schiannath biß die Zähne zusammen, um sowohl seiner Angst als auch des Schmerzes Herr zu werden, und tat einen zögernden, schwerfälligen Schritt nach vorn, dann noch einen … Der Kopf seines Feindes schnellte augenblicklich in die Höhe; frisches Feuer entflammte in den Tiefen seiner trüben Augen. Schiannath blieb mit hämmerndem Herzen stehen. Phalihas nahm seine ganze Entschlossenheit zusammen und griff an. Genau darauf hatte Schiannath gewartet. Als der schwarze Hengst auf ihn zutaumelte, wich er unbeholfen einen Schritt zur Seite und bäumte sich dann mit einem schrillen Triumphschrei auf, der sich in ersticktes Entsetzen verwandelte, als Phalihas Kopf herumfuhr und riesige, eisenscharfe Zähne sich um Schiannaths Kehle schlossen. Schiannath spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben und das Gewicht des anderen ihn zu Boden zu drücken schien. In letzter Minute holte er zu einem letzten, verzweifelten Tritt aus. Sein unversehrter Huf krachte gegen Phalihas’ Schädel, und dann stürzten sie beide gemeinsam in die Dunkelheit.
Iscalda schrie laut auf, als sie die beiden Hengste fallen sah, schüttelte die starken Hände ab, die versuchten, sie zurückzuhalten, und rannte los. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, daß die anderen ihr folgten, und sie hörte laute Schreie der Aufregung oder der Sorge; aber die Angst um ihren Bruder schien ihr Flügel zu verleihen. Mit großer Mühe gelang es ihr, ein Schluchzen zu unterdrücken, damit ihr genug Atem blieb, um ihr Ziel zu erreichen – und die ganze Zeit über hielt sie den Blick durch einen Nebel aus Tränen auf jene beiden dunklen Gestalten geheftet, die so gefährlich still auf dem blutdurchtränkten Boden lagen. Die letzten Kampfhandlungen hatten die beiden Hengste ein gutes Stück vom Plateau weggeführt. Iscalda, der der Schweiß jetzt bis in die Augen lief, rannte weiter und versuchte, die Schmerzen in ihrer Seite und ihre Atemnot zu ignorieren. Schiannath! Obwohl sie nicht mal genug Atem hatte, um zu sprechen, entrang sich dieser Schrei der Qual ihres Herzens. Würde sie ihn denn nie erreichen? Es war wie der Versuch, durch Wasser zu laufen; wie der Alptraum, den sie als Kind oft gehabt hatte, der Alptraum, in dem sie, von Entsetzen erfüllt, versuchte, ihren Verfolgern zu entkommen, aber trotz all ihrer Anstrengung nicht von der Stelle kam. Einer der dunklen Klumpen vor ihr regte sich. Sie stolperte, sah noch einmal hin. Hatte sie sich diese winzige Bewegung nicht nur eingebildet? Die niedrig am Himmel stehende Sonne schien ihr in die Augen und verhinderte, Einzelheiten zu erkennen. Nein! Sie hatte sich nicht geirrt! Einer der Hengste versuchte schwach – und wie es aussah vergeblich –, sich zu erheben. Mit einem Stöhnen verdoppelte Iscalda ihre Geschwindigkeit. Einer von ihnen lebte noch – aber welcher? Welcher?
Dann hörte sie es – den Siegesschrei eines Hengstes, der hart und schrill über das Plateau hallte. Diese Stimme hätte Iscalda überall erkannt. Schiannath! Die Erleichterung raubte ihr auch noch den letzten Rest ihrer Kraft, ihre Beine versagten ihr den Dienst, sie sank auf den kühlen Rasen und weinte Tränen der Dankbarkeit.
Trotzdem war Iscalda immer noch eine der ersten, die den Sieger erreichten. Gerade in dem Augenblick, als sie sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, kam Aurian auf Chiamh herbeigeritten, dicht gefolgt von Shia. Das Windauge hatte große Geistesgegenwärtigkeit bewiesen, indem es sich einen Augenblick lang Zeit gelassen hatte, um seine Pferdegestalt anzunehmen.
»Komm, Iscalda! Schnell!« Die Magusch hielt ihr die Hand hin und zog das erschöpfte Mädchen hinter sich auf den Pferderücken. Dann ging der Ritt mit solcher Geschwindigkeit weiter, daß sie nur wenige Sekunden später an Schiannaths Seite waren. Der Hengst hatte zu große Schmerzen, um sie zu erkennen. Er schlug mit den Beinen um sich, kennte sich ein paar Zentimeter vom Boden hochheben, stürzte zurück und sank in einen Teich aus aufgewühltem Schlamm und Blut. Seine dunkelgrauen Flanken waren unter der dicken Schicht aus Blut und Erde kaum noch zu erkennen, und seine Augen, von denen man nur noch das Weiß sah, verrieten Schmerz und Angst.
Mit einem erschrockenen Fluch schwang sich Aurian von Chiamhs Rücken herunter und rannte, dicht gefolgt von Iscalda, zu dem Hengst hinüber. »Beeil dich!« rief die Magusch. »Er ist so verängstigt, daß er nicht mehr weiß, was er tut. Wir müssen versuchen, ihn auf die Beine zu bringen, bevor diese Idioten hier antanzen.«
Obwohl sich Shia klug außerhalb von Schiannaths Sichtweite hielt, ließ dieser niemanden an sich heran. Wenn es trotzdem jemand versuchte, schnappte er wild mit den Zähnen und versuchte, mit seinem offensichtlich verletzten Vorderbein auszutreten. »Schiannath, ich bin es – Iscalda!« rief seine Schwester, aber ihre Worte gingen in dem Klang seiner wütenden Schreie unter. Wenn sie ihn doch nur soweit bringen konnte, sie anzusehen … Schnell wandte sie sich zu der Magusch um. »Aurian, wenn du ihn ablenkst, versuche ich, an seinen Kopf heranzukommen.«
Aurian nickte. »Sei vorsichtig«, sagte sie kurz und lief auf den Hengst zu, wobei sie wild mit den Armen ruderte und schrie wie eine Todesfee. Schiannath legte die Ohren an und drehte sich zu ihr um. Daraufhin schoß Iscalda schnell wie der Blitz zu ihm hinüber und hielt sein Maul fest, bevor die gefährlichen Zähne Aurian etwas anhaben konnten. Und schon rückten auch die Xandim immer näher. Schiannath bäumte sich auf und versuchte, Iscalda abzuschütteln. Aber sie hielt ihn grimmig fest und ließ sich nicht abwehren. Dann legte sie ihren Mund ganz dicht an sein Ohr und rief: »Schiannath! Schiannath! Ich bin es, Iscalda! Es ist alles gut – du bist in Sicherheit, du bist bei uns. Komm wieder zu uns zurück, bitte. Du hast gewonnen, du bist in Sicherheit …«
Als ihre besänftigende Litanei den zu Tode erschreckten Hengst langsam erreichte, hörte er auf, sich gegen sie zu wehren. Auf Aurians Zeichen hin eilten nun auch seine Freunde herbei, die ihr halfen, das erschöpfte Tier wieder auf die Beine zu stellen, während Chiamh und Yazour mit Hilfe einer fauchenden Shia die Menge zurückhielten. Bald stand Schiannath zwar noch immer vor Schwäche zitternd und mit gesenktem Kopf da, aber langsam kehrte das Verstehen in seine Augen zurück.
In der Zwischenzeit hatte Aurian Schiannath mit ihren Heilerinnensinnen untersucht. Als sie fertig war, richtete sie hastig das Wort an ihn. »Schiannath, hör mir zu. Du wirst wieder gesund, und ich helfe dir – aber versuch noch nicht, dich zurückzuverwandeln. Du bist zu erschöpft, verstehst du? Ich möchte dich zuerst heilen; dann kannst du dich, wenn du willst, wieder verwandeln.«
Chiamh richtete in der Zwischenzeit das Wort an die Menge. »O Xandim, ich gebe euch euren neuen Rudelfürsten: Schiannath, den Sieger der Herausforderung. Möge die Göttin fügen, daß er weise und zu eurem Wohl über euch herrscht – und möge ihr Fluch auf jeden fallen, der seine Herrschaft in Zweifel zieht, die er sich nach dem Gesetz der Xandim redlich erobert hat.«
Es gab nicht viel Beifall. Aus den Mienen der Xandim, von denen einige enttäuscht, andere wütend waren, schloß Aurian, daß sie alle fest damit gerechnet hatten, daß Schiannath verlieren würde. Sie hätte ihnen am liebsten ins Gesicht gespuckt. Ysalla trat stellvertretend für die Ältesten vor, und ihr Gesicht war starr wie Stein. »Und was will er, unser neuer Rudelfürst?« Der wilde Hohn in ihrer Stimme war wie ein Peitschenschlag.
In Aurians Gedanken klang Chiamhs ängstliche Stimme: »Kannst du ihm helfen? Schiannath muß sehr bald das Wort an sein Volk richten, sonst werden die Leute das als schlechtes Omen betrachten.«
»Ich kann es, aber es wird eine Weile dauern«, erwiderte die Magusch auf dieselbe schweigende Art und Weise.
»Ich bezweifle, daß wir eine Weile haben«, flehte das Windauge sie an. Schon jetzt erhob sich ein unruhiges Gemurmel über der Menge.
Aurian spürte die ungeheure Kraft des feindseligen Zorns und traf einen Entschluß. »Na gut, Anvar, du mußt einen Schild errichten und unsere eigenen Leute so gut wie möglich beschützen. Diese blutrünstige Meute setzt jede Menge Energie frei – ich werde mir etwas davon borgen.«
»Aurian – das kannst du nicht. Der Maguschkodex …«
»Ach, zum Teufel mit dem Maguschkodex, nur dies eine Mal. Es ist für eine gute Sache. Ich habe das schon einmal getan, bei dem Aufstand in Nexis, und dann noch einmal in der Arena der Khazalim – den Leuten wird nicht das geringste passieren.« Noch während sie Anvar beruhigte, bereitete sie sich vor. Unauffällig griff sie nach dem Stab der Erde, der wie immer in ihrem Gürtel steckte. Dann legte sie die andere Hand auf Schiannaths gesenkten Kopf, griff mit ihrem Willen nach der Aura glimmenden Zorns, die von der Menge ausging, und riß sie an sich, um einen Kanal zu formen, durch den sie die gestohlene Energie über ihre Hand an den grauen Hengst weitergeben konnte. Wie sie Anvar versprochen hatte, nahm sie nur sehr wenig, und die Menschenmenge hatte mehr als genug davon. Der Energieaustausch hatte außerdem noch einen weiteren, unerwarteten Vorteil. Als Aurian einen Teil der Kraft für sich abzweigte, bemerkte sie, wie sich die Xandim veränderten. Sie wirkten jetzt entspannter: weniger unsicher, weniger unglücklich und ganz eindeutig viel weniger feindselig. Einen kurzen Augenblick lang fragte sie sich, ob der glückliche Ausgang des Aufstands in Nexis wirklich nur dem plötzlichen Regen zu verdanken gewesen war; dann schob sie den Gedanken jedoch beiseite, um sich wieder den Problemen des Augenblicks zuzuwenden.
Als die Überführung der Energie vollendet war, spürte Aurian, daß Schiannath aufhörte zu zittern. Sein Kopf hob sich unter ihrer ausgestreckten Hand. Obwohl sie noch nicht dazu gekommen war, ihn zu heilen, hatte er die Ohren wieder aufgestellt, und seine Augen leuchteten, als er die um ihn stehenden Xandim betrachtete; dann stieß er ein vernehmliches Schnauben aus.
»Es ist alles gut«, sagte Aurian leise zu ihm. »Jetzt hast du die Energie und kannst dich verwandeln. Nur zu, Rudelfürst – wir sind alle so stolz auf dich.«
Aurian trat ein kleines Stück zurück, um ihm für seine Verwandlung Platz zu verschaffen. Der große, graue Hengst senkte den Kopf, und seine dunklen Augen trübten sich, während er sich mit aller Macht konzentrierte – dann schienen seine Umrisse zu erbeben und in sich zusammenzufallen, bis an der Stelle des Pferdes plötzlich Schiannath stand, der Krieger. Sein linker Arm hing schlaff an seinem Körper herunter. Er war bleich, zerschunden und voller blauer Flecken, seine Kleider waren in Fetzen gerissen, und überall an seinem Körper sickerte Blut aus zahllosen Wunden – aber seine Haltung verriet eine königliche Würde und Macht, die ihn unzweifelhaft als Rudelfürsten auswies. Nun hob er mit müdem Stolz den Kopf, holte tief Atem, um seinem Volk entgegenzutreten, und fragte sich einen von Panik erfüllten Augenblick lang, was er sagen sollte. Dann fiel sein Blick auf Iscalda und seine neuen Freunde, und er wußte, was er zu tun hatte.
»Letztes Jahr hat auf diesem Plateau ein sehr wilder, rebellischer und törichter junger Mann eine Herausforderung verloren und wurde deswegen als Gesetzloser in die Berge verbannt. Ihr alle kanntet den Burschen – und ihr alle erinnert euch leider auch an seine Irrtümer und Eskapaden.« Er schnitt eine leicht gequälte Grimasse, und ein zaghaftes Kichern lief durch die Reihen der Xandim.
Schiannath fing einen Blick von Iscalda auf. »Dieser Mann ist tot.« Bei diesen Worten erstarb das Gelächter augenblicklich. Plötzlich hörten alle gespannt zu, während Schiannath mit leiser, aber deutlicher Stimme fortfuhr: »Der Schiannath, den ihr gekannt habt, ist in diesen Bergen gestorben, so sicher, als wäre er in eine Felsspalte gestürzt oder den Schwarzen Geistern zum Opfer gefallen.« Er verbeugte sich entschuldigend vor Shia, die ein wildes Knurren ausstieß, und hörte ein verblüfftes Aufkeuchen von der Menge.
Schiannath machte das Beste aus ihrer Ehrfurcht. »Heute habe ich Phalihas bezwungen, aber ich bin nicht mehr der irregeleitete, unzuverlässige junge Mann, den sein Stamm verstoßen hat. Euer neuer Rudelfürst hat harte Lektionen gelernt, Lektionen in den Fächern Geduld, Mut, Ehre, Liebe und Verantwortung für andere. Ich bitte nur um die Chance, mich beweisen zu dürfen – wie das ganze Volk der Xandim sich in diesen schwierigen, gefährlichen Zeiten wird beweisen müssen. Unter meiner Herrschaft brauchen wir unsere Nachbarn, die Schwarzen Geister und die Himmelsleute, nicht länger zu fürchten. Es wird Friede herrschen zwischen uns, so daß unsere Völker gedeihen und miteinander gegen das Böse kämpfen können – denn das Böse kommt. Viel zu lange haben wir uns von der Welt ferngehalten und unser Geheimnis gehütet –, aber jetzt streckt die Welt die Hand nach uns aus und wird uns besiegen, wenn wir nicht kämpfen. Im Norden erhebt sich ein großer Sturm – eine unendlich bösartige Macht, vor der meine fremdländischen Kameraden einst geflohen sind. Selbst in diesem Augenblick versucht das Böse schon, nach uns zu greifen, und wären da nicht die Warnungen unseres tapferen und treuen Windauges gewesen, würden wir unserem Schicksal völlig unvorbereitet entgegengehen. Aber um unserer selbst willen müssen wir vorbereitet sein. Es darf keinen Zwist mehr unter uns geben. Am Vorabend eines neuen Zeitalters habt ihr einen neuen Rudelfürsten bekommen – einen Mann, dessen Charakter in den Feuern von Schmerz und Not neu geschmiedet wurde. Früher habe ich nur von meinem Stamm genommen. Jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mich selbst zu schenken und meinem Volk zu dienen. O Xandim – werdet ihr mich als euren Rudelfürsten annehmen?«
Es herrschte ein Augenblick atemloser Stille, und dann brach tosender Jubel aus. Die Xandim stampften mit den Füßen und ließen die Schwerter gegen die Schilde klirren. Wieder und wieder riefen sie seinen Namen und scharten sich schließlich um ihn. Iscalda lief zu ihrem Bruder hinüber, und ihr Gesicht leuchtete wie die Sonne vor Erleichterung und Stolz.
»Also, da bleibt einem doch die Spucke weg«, murmelte Parric zu der Magusch. »Ich wünschte, ich hätte auch so eine Rede gehalten.«
»Hättest du auch bestimmt getan, wenn sie dir vorher nur genug Met zu trinken gegeben hätten«, erwiderte Aurian kichernd. Dann wurde sie plötzlich wieder ernst und drehte sich zu Anvar um. »Nun, war das nicht erstaunlich? Ich bin richtig stolz auf Schiannath.«
Ihr Seelengefährte nickte. »Er ist ein toller Bursche – und es ist ein toller Tag gewesen! Es sieht ganz so aus, als stünde unseren Plänen jetzt nichts mehr im Weg.«
»Du hast recht.« Aber noch während sie diese Worte sprach, spürte Aurian plötzlich das unangenehme Prickeln einer schlimmen Vorahnung. Als sie sich umsah, bemerkte sie, daß sich einer ihrer Gefährten von dem fröhlichen Tumult fernhielt. Chiamh stand ein ganzes Stück abseits und sah zu, wie die Xandim ihren neuen Rudelfürsten feierten; sein Gesicht war grau und von tiefster Verzweiflung verzerrt. Bei diesem Anblick schauderte es Aurian. »Jedenfalls hoffe ich es«, fügte sie so leise hinzu, daß niemand es hörte.