17 Die Vision

Aurian erwachte steif und müde, und Wolf wimmerte in ihren Armen. Automatisch streichelte sie das Junge und öffnete gleichzeitig die Augen, um eine unvertraute Decke aus mit silbernen Adern durchschossenem Stein über sich zu sehen, die viel dunkler und rauher als jene innerhalb der Festung war. Ist das eine Höhle? überlegte sie benommen und noch halb im Schlaf. Wo, zum Teufel, bin ich? Von plötzlicher Angst gepackt, drehte sie sich um – und sah Anvar, der neben ihr lag und schlief. Die Schmutzflecken in seinem Gesicht betonten seine müde Blässe, und dunkle Ringe lagen um seine geschlossenen Augen. Sie wollte sich gerade beruhigt wieder umdrehen und zurück in die Wärme der Felle kriechen, in die sie eingehüllt war, als plötzlich die Erinnerung wieder wach wurde.

Bohan! Noch ein Freund, der in diesem sinnlosen Kampf ums Leben gekommen war. Sie hatte versprochen, ihm zu helfen, seine Stimme wiederzufinden, aber nie die Zeit dazu gehabt. Aus dem Wirrwarr der vergangenen Stunden, die ihrer Flucht aus der Festung gefolgt waren, formte sich eine Erinnerung: an einen warmen, flackernden Feuerschein in dieser Höhle, an ein heißes Getränk und an Shia, die ihr zutiefst bekümmert erzählt hatte, daß der Eunuch, als er stürzte, tatsächlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Shia. Meine Freundin«, hatte er gesagt.

Die Magusch schloß unglücklich die Augen. Shia war immer Bohans Freundin gewesen – und hatte sich als bessere Freundin erwiesen als Aurian, die ihn in den Tod geschickt hatte.

»Nein, das hast du nicht getan. Du hast versucht, ihn zu retten.« Aurian drehte sich um und sah das Xandim-Windauge mit überkreuzten Beinen neben dem Feuer sitzen, nicht weit entfernt von dem Felsbett, auf dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatte. Chiamh sah noch schlimmer aus als Anvar – wahrscheinlich genauso schlimm wie sie selbst, vermutete sie. Sein Gesicht war so ausgezehrt und müde, als wäre er über Nacht um Jahre gealtert.

Aurian ließ Wolf in seinem Nest aus Fellen neben Anvar liegen und glitt mit einem Seufzer aus der Wärme ihres Bettes. Sie mochte zwar müde sein und ihr Herz schwer, aber es gab einfach zu viel zu tun, um liegenzubleiben. Also ging sie hinüber ans Feuer und versuchte vergeblich, ihre zerknitterten Kleider glattzustreichen. Dann setzte sie sich neben das Windauge und nahm dankbar eine dampfende Tasse Kräutertee entgegen.

»Du hast recht mit Bohan, ich weiß«, sagte sie unglücklich. »Aber es fällt mir schwer, mir nicht die Schuld an seinem Tod zu geben.« Sie spürte, wie ungeweinte Tränen ihr die Kehle zuschnürten. »Wir hatten noch nicht mal die Möglichkeit, ihn zu begraben …«

Chiamh legte seine Hand auf die ihre. »Wenn du irgend jemanden für Bohans Tod verantwortlich machen willst, dann gib den Xandim, die uns angegriffen haben, die Schuld. Wenn sie mir doch nur vertraut hätten … Hätten sie nur noch ein klein wenig gewartet, wäre die Frage der Nachfolge problemlos gelöst worden.« Er seufzte. »Vielleicht trage ich die Schuld. Hätte ich früher versucht, ihnen den Respekt abzunötigen, der mir als ihrem Windauge zustand …« Er schüttelte den Kopf, und sie spürte, wie seine Hand sich enger um ihre Finger schloß. »Ganz abgesehen davon«, fuhr er fort, »hat Bohan sein Begräbnis bekommen. Ich habe Basileus darum gebeten …«

»Ich habe ein paar Felsbrocken hinunterstürzen lassen, um den Körper deines verstorbenen Freundes zu begraben. Keine Angst, Zauberin, niemand wird seinen Ruheplatz schänden.«

Aurian runzelte die Stirn. »Basileus? Wie ist es möglich, daß wir dich hier noch hören können?«

»Ihr befindet euch am Fuß von Chiamhs Turm – aber ihr seid immer noch auf dem Windschleier, oder?« Der Moldan kicherte. »Der ganze Berg ist mein Körper, und Chiamhs Kammer der Winde ist aus meinen Knochen gebaut.«

»Warum konntest du denn dann nicht Bohan helfen?« Aurian versuchte nicht, ihren Groll zu verbergen. Es hatte auf die Dauer keinen Sinn, ihre Gefühle vor dem Moldan geheimzuhalten. Sie konnten die Sache genausogut jetzt gleich austragen, denn später mußte sie sich noch um viele andere Dinge kümmern.

»Vielleicht hätte ich ihm geholfen, Zauberin, wenn meine Aufmerksamkeit nicht anderenorts gefesselt gewesen wäre«, antwortete Basileus scharf. »Aber du warst auch in Gefahr, genauso wie das Windauge und dein Seelengefährte. Auch meine Fähigkeiten haben ihre Grenzen.«

»Es tut mir leid. Ich bin sicher, du hättest Bohan geholfen, wenn es dir möglich gewesen wäre. Es ist nur so hart, einen Freund zu verlieren.«

»Glaubst du, ich wüßte das nicht?«

Aurian dachte an das Schicksal Ghabals, jenes Moldans, der unter der Akademie gefangen war. Sie dachte an die steife, gequält wirkende Gestalt des Stahlklauebergs und erinnerte sich an Anvars Bericht über den Tod des Moldan von Aerillia. Ja, sie wußte, das Basileus ebenfalls Freunde verloren hatte. Aber jetzt stand ihr Leben und das ihrer Freunde auf dem Spiel.

»Wie geht es nun weiter?« fragte sie das Windauge.

Chiamh zuckte mit den Schultern. »Es ist jetzt eine Stunde nach Mittag, vielleicht auch zwei«, erwiderte er. »Die Xandim haben neben den stehenden Steinen am Eingang des Tals ihr Lager aufgeschlagen. Khanu beobachtet sie. Wie ich vermutet habe, fürchten sie sich davor, weiterzugehen. Sie warten auf die Dämmerung des morgigen Tages und die Herausforderung eines neuen Rudelfürsten.«

Aurian seufzte. »Dann sollten wir besser mit Schiannath reden.« Sie schnitt eine klägliche Grimasse. »Wir waren so beschäftigt mit unseren Plänen, daß wir ihn nie danach gefragt haben, ob er das überhaupt machen will.« Und was ist, fragte eine leise, streitlustige Stimme in ihrem Hinterkopf, wenn er nicht will?

»Herrin«, sagte Chiamh zögernd. »Was ist mit der Vision?«

»Mit der was?« Aurian runzelte die Stirn.

»Du erinnerst dich – es war am Tag, nachdem dein Kind geraubt wurde. Wir sind hierhergekommen und haben geredet, und ich habe dir versprochen …«

»Ach, natürlich.« Die Ereignisse der vergangenen zwei Tage hatten Aurian dieses Gespräch ganz vergessen lassen. Chiamh hatte versprochen, mit den Winden zu reisen, um festzustellen, ob er das Flammenschwert irgendwo finden konnte …

»Die Vision muß vollzogen werden, bevor die Herausforderung stattfindet, falls wir es überhaupt wagen wollen«, erklärte ihr das Windauge drängend. »Wer weiß, was heute abend oder morgen früh mit uns geschehen mag? Wenn Phalihas den Sieg davonträgt, kann ich mein Leben in Minuten messen.«

»Wenn Phalihas dir etwas antun will, muß er es zuerst mit Anvar und mir aufnehmen«, schwor Aurian. »Trotzdem, ich glaube, du hast recht. Wir sollten die Sache so bald wie möglich hinter uns bringen. Es ist von größter Bedeutung, daß ich das Schwert finde. Wir haben schon viel zuviel Zeit im Süden verloren, und nur die Götter wissen, was Miathan in Nexis anstellt.« Mit einiger Mühe gelang es ihr, diesen Gedanken zu verdrängen. Sie konnte sich nicht um alles gleichzeitig kümmern. Also wandte sie sich wieder lächelnd an das Windauge. »Ich danke dir, Chiamh – für alles. Ich weiß nicht, wie wir es in den vergangenen Tagen ohne dich geschafft hätten.« Er war nicht der einzige, bei dem sie sich bedanken mußte, überlegte Aurian. Wie stand es mit den beiden letzten treuen Geflügelten, die sie und ihre Kameraden vor dem sicheren Tod bewahrt hatten? Sie fragte Basileus, wo die beiden steckten, und fand heraus, daß sie in einer Nische in den zerklüfteten Wänden der großen Felsspitze hockten und fest schliefen.

Der Gedanke an die Geflügelten jagte ihr in bezug auf ihre übrigen Gefährten einen plötzlichen Schrecken ein, aber ein schneller Blick durch die Höhle zeigte, daß sie alle unverletzt waren. Alle, bis auf Bohan, hatten in Chiamhs Turm Zuflucht gefunden. Shia schlief am Fußende des Bettes, das sich Aurian mit Anvar teilte. Wolfs Stiefeltern lagen ganz in der Nähe und hatten sich so ineinander verschlungen, daß man den einen nicht vom anderen unterscheiden konnte. Schiannath schlief in einem Nest wollener Decken auf dem Fußboden, während Yazour und Iscalda Chiamhs Nahrungsmittelvorräte durchstöberten und ein karges Mahl für sich und ihre Freunde bereiteten. Sangra lag unter einem Haufen Pelze auf dem anderen Felsenbett, aber der Platz neben ihr war leer … Aurian runzelte die Stirn. Wo war Parric?

»Parric ist draußen«, stellte Chiamh fest. Dann runzelte er die Stirn. »Aus irgendeinem Grund ist er unglücklich und verärgert über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Darüber daß du nicht aufbrechen wolltest, bevor Anvar in Sicherheit war.«

»Aber natürlich wollte ich das nicht!« rief Aurian überrascht.

Sie fand den Kavalleriehauptmann nicht weit entfernt von der großen Steinspitze, an der Stelle, an der ein Wasserfall aus den Bergen herunterdonnerte und über einen Nebenfluß in den Strom floß, der sich das Tal hinunterwälzte. Als Aurian näher kam, sah der kleingewachsene Mann sie ausdruckslos an.

»Was ist los?« Aurian setzte sich neben ihn.

Der Kavalleriehauptmann runzelte finster die Stirn. »Forral war mein Freund.« Er sah sie jetzt voll an. »Hast du denn gar keinen Respekt für sein Andenken, daß du so schnell Ersatz für ihn gefunden hast?« murmelte er grollend. »Konntest du nicht mal eine anständige Trauerzeit einhalten?«

»Und auf was sollte ich warten?« Aurian sah ihn wütend an. »So wie die Dinge liegen, weiß ich ja nicht mal, ob mir eine ordentliche Trauerzeit bleibt! Begreifst du denn nicht, was ich durchgemacht habe, als Forral starb? Weißt du nicht, wie sehr ich getrauert habe? Forral selbst hat mich vor langer Zeit gewarnt, daß ich, die Magusch, ihn überleben würde – obwohl keiner von uns erwartet hat, daß das Ende so bald erfolgen würde. Er hat mir gesagt, ich solle mir jemand anderen suchen und glücklich sein.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich habe mich zuerst gegen Anvars Liebe gesträubt«, fügte sie leise hinzu. »Aber am Ende mußte ich mir eingestehen, daß ich ihn auch liebe.«

Sie sah dem Kavalleriehauptmann in die Augen. »Parric, wir sind schon seit langer Zeit Freunde, aber wenn du das nicht verkraften kannst, ist es nicht mein Problem. Ich habe mich mit Forrals Tod abgefunden, und wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann tut es mir leid, aber es ist nicht dein Leben. Es hat nichts mit dir zu tun oder mit irgend jemand anderem, sondern nur mit mir und Anvar.«

»Und wenn dir Aurian wirklich am Herzen läge, würdest du dich darüber freuen, daß sie ein neues Glück gefunden hat.« Aurian fuhr erschrocken herum und sah noch aus den Augenwinkeln, wie Parric auf die Füße sprang. Anvar stand hinter ihnen. »So weit wir wissen«, fuhr er leise an Parric gerichtet fort, »bist du Aurians ältester noch lebender Freund. Was du auch von mir halten magst, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Freundschaft zu beweisen.«

»Du hältst dich da raus!« fauchte Parric. »Das geht dich nichts an.«

»Da irrst du dich«, erwiderte Anvar ruhig, ohne seinen Blick von dem älteren Mann abzuwenden. »Aurians Glück geht mich sehr wohl etwas an – und je schneller du dich daran gewöhnst, um so besser wird es für uns alle sein.«

Einen Moment lang war die Spannung zwischen den beiden Männern beinahe körperlich spürbar, dann explodierte Parric. »Solches Gerede brauche ich mir von einem früheren Maguschknecht nicht gefallen zu lassen.« Er stieß Anvar mit dem Ellbogen grob zur Seite. »Geh mir aus dem Weg!«

Anvar hielt Parric am Arm fest, und in seinen Augen blitzten Feuer und Eis auf. »Nein – aber du mußt es dir von einem Mann gefallen lassen, in dessen Adern Maguschblut fließt und der außerdem Aurians Seelengefährte ist.«

Parric riß sich mit einem unzusammenhängenden, zornigen Fluch los, und seine Hand fuhr an den Griff seines Schwertes.

»Hört auf mit diesem Wahnsinn, alle beide!« Aurian sprang zwischen sie. Dann bedachte sie den wutschnaubenden Kavalleriehauptmann mit einem kalten Blick. »Du solltest dich schämen, Parric«, sagte sie leise, aber sehr deutlich. »Was würde Forral denken? Das hier würde ihn mehr betrüben als alles, was geschehen ist, seit Miathan das Böse über uns gebracht hat.«

Sie streckte ihm die Hände entgegen, und ihr grimmiger Gesichtsausdruck wurde weicher. »Abgesehen von Forral seid ihr, du und Maja, die ersten sterblichen Freunde, die ich je gehabt habe. Als Krieger weißt du, wie es ist, einen geliebten Menschen im Kampf zu verlieren; aber du weißt auch, daß das Leben weitergeht, weitergehen muß.« Sie holte tief Luft. »Wenn ich dir überhaupt etwas bedeute, solltest du Anvar dankbar sein, statt ihm Vorwürfe zu machen, denn ohne ihn wäre ich heute nicht hier. Er hat mir nicht nur ungezählte Male das Leben gerettet, sondern er war es auch, der mir nach Forrals Tod den Willen gegeben hat, überhaupt weiterzuleben.« Sie wandte sich mit einem schiefen Grinsen ihrem Seelengefährten zu. »Er war in dieser Hinsicht übrigens scheußlich stur – von der allerersten Nacht an, in der wir flußabwärts flohen und er mir einfach nicht erlauben wollte, uns im Wehr zu ertränken.«

Parrics Hand, die auf dem Schwertgriff gelegen hatte, fiel herunter. »Du wolltest dich ertränken?« Er sah Aurian vorwurfsvoll an. »Stimmt das?«

Anvar zuckte mit den Schultern. »Sie war jedenfalls verdammt nah dran«, gab er zu. »Und ehrlich gesagt, es war nicht das letzte Mal.« Er lächelte seine Seelengefährtin um Verzeihung heischend an, aber sie nickte ihm aufmunternd zu.

»Meistens wußte ich gar nicht richtig, was ich tat, wenn ich mich zu so übereilten Dingen hinreißen ließ«, sagte sie, »aber Anvar hat immer auf mich aufgepaßt. Er kannte mich besser als ich selbst.«

Parric sah die beiden Magusch lange an; sein Gesicht war ausdruckslos, aber Aurian stellte mit Erleichterung fest, daß die häßliche Zornesröte von seinen Zügen verschwunden war. Dann rieb er sich mit der Hand übers Gesicht, zuckte die Achseln und seufzte, bevor er Aurians ausgestreckte Hand ergriff. »Es tut mir leid, Mädchen. Ich wußte nicht, daß es so schlimm für dich war. Kannst du einem dummen, alten Kerl noch einmal verzeihen?«

»O Parric!« Aurian zog ihren Freund an sich. »Du tust dir unrecht. Ich würde nicht sagen, daß du alt bist«, fügte sie mit einem hinterhältigen Lächeln hinzu.

Das brüllende Gelächter des Kavalleriehauptmanns löste auch noch den letzten Rest der Spannung, die sie alle in ihrem Bann gehalten hatte. »Eine Sache jedenfalls hat sich also nicht geändert«, schnaubte er. »Deine böse Zunge ist genauso scharf wie je zuvor.«

»Ich glaube nicht, daß ich mich sehr verändert habe«, protestierte Aurian. »Das habe ich doch nicht, oder?«

Parric schüttelte den Kopf. »Nein, jedenfalls nicht im Herzen – obwohl es lange genug gedauert hat, bis das in meinen dicken Schädel hineingegangen ist. Du bist einfach erwachsen geworden, das ist alles. Und deine Kraft hat in einem solchen Maße zugenommen, daß es mich wahrscheinlich erschreckt hat, obwohl ich mir das bisher nicht eingestehen konnte. Es war viel einfacher, statt dessen Anvar die Schuld zu geben. Ich hätte nie gedacht, daß er dir nach Forrals Tod die Kraft zum Weiterleben gegeben haben könnte. Wegen all der Dinge, die in letzter Zeit geschehen sind, hattest du nie die Zeit, mir die ganze Geschichte zu erzählen.«

»Vielleicht sollte ich dir besser alles erzählen«, warf Anvar grinsend ein. »Einige ihrer Eskapaden würden dir die Haare zu Berge stehen lassen.«

»Was soll das denn heißen!« explodierte der Kavalleriehauptmann. »Ihr verdammten Magusch. Du bist ja genauso schlimm wie sie!« Dann hielt er Anvar die Hand hin. »Es tut mir leid, Junge. Alles, was ich über dich gesagt habe. So wie die anderen sich benommen haben, vor allem diese verrückte Hexe Meiriel, hat es mir wahrscheinlich einfach nicht gefallen, schon wieder mit einem Magusch zu tun zu haben. Aber du hast dich nicht von mir einschüchtern lassen, und das hat mich beeindruckt. Ich habe dich früher nie richtig kennengelernt, aber Forral meinte immer, du wärst ein guter Kerl. Ich hätte seinem Urteil vertrauen sollen – seinem und Aurians.«

»Ja, das hättest du«, sagte Aurian. »Aber wir haben in den letzten Monaten alle viel durchgemacht, Parric. Ich bin sicher, wir können dir einen Fehler durchgehen lassen«, fügte sie mit arroganter Herablassung hinzu.

»Mir durchgehen lassen? Also wirklich, du …«, stotterte Parric entrüstet und sah, wie sie grinsend zur Kenntnis nahm, daß sie ihn wieder einmal gefoppt hatte wie damals in lange vergangenen Tagen in der Garnison von Nexis.

Aurian hob eine Augenbraue. »Reingefallen, Parric. Du schuldest mir ein Bier«, krähte sie.

»Nicht schon wieder«, stöhnte Parric. »Ich fürchte, ich muß dir dein Bier schuldig bleiben, bis wir nach Nexis zurückkehren – falls wir bis dahin nicht schon lange quitt sind«, drohte er und stimmte dann in das Gelächter der beiden Magusch ein.

Chiamh, der die drei gemeinsam zu seinem Turm zurückkehren sah, war erleichtert darüber, daß sie ihre Meinungsverschiedenheiten – worin auch immer diese bestanden haben mochten – endlich beigelegt hatten. Manchmal fand er die merkwürdige Verhaltensweise dieser Fremdländer einfach unglaublich, aber er hatte sie alle in der kurzen Zeit in sein Herz geschlossen.

»Hallo, Chiamh!« rief Parric. »Hast du noch etwas von diesem scheußlichen Met da, den du immer braust? Ich finde, die Gelegenheit schreit geradezu nach ein oder zwei Bechern davon.«

Aurian legte ihm eine Hand auf den Arm, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. »Nicht jetzt«, sagte sie warnend. »Wir haben keine Zeit zum Trinken – wir stecken immer noch in beträchtlichen Schwierigkeiten. Anvar und ich haben noch etwas mit Chiamh zu erledigen, und dann müßt ihr beide, du und er, hinunter zu den Toren des Tales gehen und den Xandim-Ältesten eure Entscheidung mitteilen.«

»Das ist leider wahr«, pflichtete Chiamh ihr bei. »Und es kommt noch schlimmer – ich muß Phalihas erlauben, seine Menschengestalt wieder anzunehmen, damit er sich der üblichen Nachtwache unterziehen kann. Das Risiko, daß man uns überfällt, ist zu dieser Zeit am größten.« Er schauderte. »Sobald Phalihas wieder seine menschliche Gestalt angenommen hat, haben die Xandim keinen Grund mehr, mich zu verschonen. Windauge oder nicht, ich kann von Glück sagen, wenn ich mit dem Leben davonkomme.«

»Dir wird nichts passieren«, sagte Anvar entschlossen. »Aurian und ich werden dich beschützen.«

»Ja, das werden wir«, stimmte Aurian zu. »Aber zuerst müssen wir Schiannaths Zustimmung einholen. Angenommen, er möchte nicht Rudelfürst werden?«

»Ich glaube, in dieser Hinsicht habt ihr nichts zu befürchten«, sagte Chiamh zuversichtlich. »Dennoch wird es langsam Zeit, daß wir ihn fragen.«


»Ich soll was?« Schiannath starrte die vier Leute, die vor ihm standen, ungläubig an – Aurian, Anvar, Chiamh und Parric – und stellte fest, daß ihm vor lauter Fassungslosigkeit der Mund offenstand. Hastig schloß er ihn wieder, aber in seinen Gedanken herrschte immer noch Aufruhr. »Ihr wollt mir wirklich noch einmal die Chance geben, Rudelfürst zu werden?« wiederholte er, unfähig die unglaublichen Möglichkeiten einer solchen Gelegenheit so schnell zu erfassen. »Ihr könnt das wirklich tun, und die Xandim werden es akzeptieren?«

»Wenn du die Herausforderung als gewählter Stellvertreter des augenblicklichen Rudelfürsten stellst, geschieht das völlig im Einklang mit den Gesetzen«, versicherte ihm Chiamh. »Sie müssen es akzeptieren, auch wenn es ihnen nicht gefällt.«

»Es braucht ihnen auch nicht zu gefallen, verdammt noch mal!« brauste Aurian auf. »Ich will nur wissen, ob Schiannath mit dieser Entscheidung einverstanden ist. Ich möchte ihn nicht unter Druck setzen.« Mit diesen Worten wandte sie sich noch einmal an den Xandimkrieger. »Schiannath – bist du wirklich sicher, daß du das willst? Hast du die Risiken bedacht, die mit einer Herausforderung verbunden sind? Chiamh sagt, letztes Mal hättest du …«

»Bitte, Herrin, beurteilt mich nicht nach dem letzten Mal.« Schiannaths Gesicht zeigte felsenfeste Entschlossenheit. »Ich habe in der Zwischenzeit viel gelitten, und ich habe viel hinzugelernt. Diesmal wird es anders sein. Das letzte Mal habe ich aus Haß gekämpft, aber diesmal werde ich aus Liebe kämpfen.«

Seine Worte weckten in der Magusch die Erinnerung an etwas, das Forral vor langer Zeit einmal zu ihr gesagt hatte, als er sie in den Kampfkünsten unterwies: »Wenn die anderen Faktoren ungefähr gleich sind, wird ein Krieger, der für eine gute Sache kämpft, für eine Sache, an die er glaubt, immer über einen Krieger siegen, dessen Motive zerstörerischer Natur sind. Seine Leidenschaft wird ihm die Schärfe des Blicks geben, die er braucht, um den Kampf für sich zu entscheiden.«

Aurian nickte ihm verständnisvoll zu. »Ja, du hast recht, Schiannath. Nun denn – es ist entschieden.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich wünsche dir alles erdenkliche Glück, mein Freund.«


»Schiannath – nein! Wie konntest du dir nur so einen Wahnsinn einreden lassen?« Iscaldas Augen blitzten wütend auf, und Schiannath schrak vor dem Schmerz, der sich auf ihrer Miene widerspiegelte, zurück.

»Meine liebste Iscalda – hör mir doch wenigstens zu …« Er versuchte, sie zu besänftigen, und legte ihr einen Arm um die Schultern, aber sie riß sich mit einem Fluch von ihm los.

»Wie konntest du dir das antun – und mir? Hast du denn gar nichts gelernt aus all den Dingen, die beim letzten Mal passiert sind? Phalihas wird dich nicht noch mal ins Exil schicken, du Narr. Diesmal wird er dich töten.«

»Das wird er nicht.« Schiannath rang um Gelassenheit. »Diesmal wird es anders sein; er wird nicht gewinnen.«

»Wie kannst du das wissen«, fauchte Iscalda ihn an. »Du setzt dein Leben aufs Spiel …«

»Ja – aber für ein großes Ziel.«

»Was für ein großes Ziel?« brauste Iscalda auf. »Für Macht? Für Ruhm?« Sie spuckte verächtlich auf den Boden. »Das ist wirklich typisch Mann, einfach zu …«

»Würdest du bitte still sein und mir zuhören?« Schiannath packte seine Schwester bei den Schultern, und sein Griff war hart genug, um ihren Wortschwall zum Erliegen zu bringen. »Jetzt hör mir endlich zu«, wiederholte er und atmete tief durch. »Ich gestehe, daß ich meine erste Herausforderung aus Gründen ausgesprochen habe, die du mit Recht verachtest. Ich war jung, rebellisch und töricht – und ich weiß, daß ich von Glück sagen kann, mit dem Leben davongekommen zu sein. Viel mehr zählt für mich die Tatsache, daß ich beinahe dein Leben verwirkt hätte und daß du wegen mir leiden mußtest. Nein, Parric hat mir, obwohl ich es nie erwartet hätte, noch eine Chance gegeben, gegen Phalihas zu kämpfen – aber Macht und Ruhm sind das letzte, um das es mir dabei geht.«

Er hielt inne und sah ihr tief in die Augen. »Das letzte Mal habe ich für mich selbst gekämpft, Iscalda. Diesmal kämpfe ich für dich. Wenn Phalihas nicht aufgehalten wird – und für immer aufgehalten wird –, hat er alles Recht, darauf zu bestehen, daß du dein Ehegelöbnis einhältst.«

Iscalda stöhnte und wurde blaß. »Ja«, sagte Schiannath mit einem Nicken. »Und er wird dich um meinetwillen leiden lassen. Ich kann und werde nicht zulassen, daß das passiert. Also muß ich gegen ihn kämpfen, ein letztes Mal noch – um deine Sicherheit und um deine Zukunft.«

Tränen strömten aus Iscaldas Augen, aber der sture Zug um ihren Mund war immer noch deutlich zu sehen. »Das ist mir egal«, flüsterte sie. »Ich würde lieber jede nur erdenkliche Demütigung von Phalihas erdulden, als zusehen zu müssen, wie er dich tötet.«

Schiannath legte die Arme um sie. »Mit ein wenig Glück«, beruhigte er sie, »wird Phalihas weder das eine noch das andere tun. Dafür werde ich schon sorgen.«


»Müssen wir da rauf?« stöhnte Aurian. »Könntest du deine Vision nicht im Tal vollziehen?« Sie stand am Fuß des Klippenpfades (wenn man diesem schmalen, trügerischen Stückchen Felsen mit der Bezeichnung Pfad nicht schon zuviel Ehre antat), der bis ganz nach oben in die Felsenspitze und zu Chiamhs Kammer der Winde führte.

Das Windauge schüttelte den Kopf. »Hier unten im Tal habe ich nicht genug Wind – und außerdem kann man für eine Vision gar nicht hoch genug sein. Ich sehe viel weiter und viel klarer da oben, wo die Luft soviel reiner ist und größere Bewegungsfreiheit hat.«

Aurian schaute die Felswand hinauf und erschauerte. Unwillkürlich stieg in ihr das schreckliche Bild von Bohans tödlichem Sturz auf. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen, und sie fing an zu zittern. In panischer Angst klammerte sie sich an Anvars Hand. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich schaffe es nicht da hinauf.«

»Es kann doch unmöglich die Höhe sein, die dir Sorgen macht«, versuchte Anvar sie zu ermutigen. »Also wirklich, die Felswand in Taibeth war viel höher als die hier, und der Turm des Drachenfelsens in Dhiammara auch. Die hast du beide problemlos bewältigt.« Er legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. »Ist es die Art und Weise, wie Bohan gestorben ist, die dich so aufregt?«

Die Magusch nickte widerwillig, dankbar dafür, jetzt ihren Seelengefährten ansehen zu dürfen statt der drohenden Felswand – und noch dankbarer dafür, daß er so genau wußte, was in ihr vorging. »Du hast recht – es geht um den Aufstieg selbst«, sagte sie. »Wir haben noch nie einen so schwierigen Berg erklommen – und dann ist da natürlich die Erinnerung an das, was Bohan gestern nacht zugestoßen ist …« Plötzlich hielt sie inne, keuchte und zog Anvar mit einem erleichterten Lachen an sich. »Natürlich!« rief sie. »Ich danke dir, Anvar – du hast gerade die Lösung für mich gefunden. Wir brauchen nicht zu klettern.« Sie ließ ihre Hand in die Tasche ihres Gewandes gleiten und holte die schmale Pfeife aus geschnitzten Knochen hervor, mit der man die Himmelsleute herbeirufen konnte.

Von irgendwo hoch über ihnen ertönte ein schriller Antwortruf, gefolgt von dem dröhnenden Donnern von Schwingen. Die beiden Geflügelten flogen von ihrem luftigen Ruheplatz hoch oben irgendwo zwischen den Felsspalten des Gipfels nach unten und landeten wie ein Wirbelsturm zu Aurians Füßen.

Die beiden waren ein Paar, wie Aurian während ihres Abenteuers in der vergangenen Nacht herausgefunden hatte, als sie sie und ihre Gefährten aus dem belagerten Turm der Festung herausgeholt hatten. Ibis, der Mann, war für einen Geflügelten ziemlich groß und schlaksig, hatte weißes, an den Rändern schwarz abgesetztes Gefieder und war von ernster, bedachtsamer Natur. Falke, seine Gefährtin, war klein und gewandt, mit strahlenden Augen und braun geschecktem Gefieder. Obwohl sie häufiger lächelte als ihr Gefährte und mehr Sinn für Spiel und Spaß hatte, konnte die wilde Leidenschaft ihres Gebarens doch ein wenig erschreckend sein. Als die beiden Himmelsleute landeten, begannen sie gleichzeitig zu sprechen.

»Ihr könnt doch unmöglich schon wieder in Schwierigkeiten sein«, sagte Ibis mit besorgtem Stirnrunzeln.

»Ihr braucht Hilfe?« fragte Falke.

»Es ist zwar nicht direkt eine Notsituation, aber ich wäre euch für eure Hilfe überaus dankbar«, erklärte ihnen die Magusch. Sie zeigte auf die Felsenspitze. »Könnt ihr mich dort hinaufbringen?«

Sie konnten und taten es, indem sie Aurian, wie schon am Vorabend, bei den Armen faßten und sie zu Chiamhs Kammer der Winde flogen, wo sie sie so sanft wie eine Feder auf die flache, breite, windgepeitschte Plattform aus Stein setzten. Das Windauge folgte mit der Leichtigkeit langer Übung seinem normalen Weg und hatte schon einen Teil der Felswand hinter sich, so daß er sich bald zu ihr gesellen würde. Während die Geflügelten nun Anvar holten, der sich ebenfalls für diese einfachere Methode entschieden hatte, sorgte Aurian dafür, daß sie sich möglichst in der Mitte der Plattform hielt, weit entfernt von dem gefährlichen Abgrund. Neugierig sah sie sich um.

Das erste, was sie bemerkte, war der Wind, der hier oben zwischen Himmel und Erde viel stärker war. Er heulte und pfiff auf seinem Weg von Norden wie ein aufgewühlter Fluß, blies Aurian das Haar aus dem Gesicht und schmerzte ihr mit seiner Kälte in den Ohren, während er um ihren zitternden Körper herumwehte und den flatternden Umhang von ihren Schultern zerrte. Sie hatte das Gefühl, von einem lebendigen Wesen angegriffen zu werden und spürte seine gnadenlose, unerbittliche Gewalt. Wer war Chiamh, daß er eine solch elementare Wildheit zu beherrschen vermochte? dachte sie schaudernd.

Um sich ein wenig abzulenken, zwang sie sich, ihre Umgebung genauer zu betrachten. Das Gebäude sah nach typischer Moldanmanier aus, als wäre es natürlich gewachsen und nicht von Menschenhand erbaut worden. Der kreisförmige Boden war flach und glatt und von geradezu atemberaubendem Glanz. Vier gewaltige Säulen trugen das Dach. Der Blick war ungeheuerlich, im Süden nur versperrt durch die Felsen und den oberen Gipfel des Windschleiers. Im Westen und Osten bildeten lange, bewaldete Hänge die Arme von Chiamhs Tal, und dahinter lagen die schneebedeckten Häupter anderer Berge. Aurian blickte nach Westen und wandte sich schaudernd von dem zerstörten Gipfel der Stahlklaue ab, bevor sie nach Norden blickte, hinunter in das Tal und das dahinterliegende Plateau. Dieser Ausblick war sogar noch beunruhigender. Bunte Pünktchen übersäten die Wiese hinter dem Eingang zum Tal: Dort hatten sich die Xandim versammelt. Aurian war plötzlich von einer gestaltlosen Angst um Schiannath und Chiamh erfüllt, die am nächsten Tag mit diesen Leuten – ihrem eigenen Volk! – einen erbitterten Kampf austragen würden. Sie war so in ihre Sorgen vertieft, daß sie das Flügelschlagen hinter sich nicht hörte, bis sie die tröstliche Berührung von Anvars Hand spürte. Mit einer kläglichen Grimasse drehte sie sich zu ihm um. »Ich weiß«, sagte sie seufzend. »Wir werden schon irgendwie damit fertig.«

»Natürlich werden wir das. Und zwar nicht nur wir beiden, sondern auch alle anderen. Jetzt, da wir Parric wieder auf unserer Seite haben …« Anvars Grinsen konnte nicht über seine Erleichterung hinwegtäuschen. Aurian sah einen Anflug von Schmerz in seinen Augen. »Er war der letzte, von dem ich erwartet hätte …«

»Ich hätte eigentlich schon lange merken müssen, daß ihn irgend etwas bekümmert«, erwiderte die Magusch. »Er und Forral haben sich immer so nah gestanden – er brauchte einfach Zeit, um zu akzeptieren, daß sich so vieles verändert hat. Aber jetzt kommt alles wieder in Ordnung.«

Ihr Gespräch wurde von Chiamhs Ankunft unterbrochen, der nach dem anstrengenden Marsch schwer atmete. Er zögerte, als er die beiden Magusch sah, und fühlte sich wie ein unbeholfener Eindringling. Sie schienen so tief in ihr Gespräch versunken zu sein, daß es ihm widerstrebte, sie zu unterbrechen.

Aurian hatte sein Keuchen jedoch gehört und drehte sich sofort zu ihm um. »Das geschieht dir recht – du hättest den einfachen Weg hier herauf wählen sollen, genau wie wir«, zog sie ihn mit einem schelmischen Grinsen auf.

»Nein danke«, erwiderte Chiamh schaudernd. »Wenn die Göttin gewollt hätte, daß ich fliege, dann hätte sie mir eigene Flügel gegeben.«

»Und wenn sie gewollt hätte, daß ich klettere, hätte sie mir Füße gegeben, wie eine Fliege sie hat«, entgegnete die Magusch schnell.

»Ja, aber Fliegen haben zusätzlich noch Flügel«, fügte Anvar hinzu, der seinen eigenen Anteil an ihrem Geplänkel beanspruchte. »Also, was will uns das sagen?«

»Vielleicht sollten wir das Klettern und Fliegen für den Augenblick besser vergessen und uns darauf konzentrieren, die Winde zusammenzurufen.« Es fiel Chiamh schwer, dem gutgelaunten Gespräch seiner Kameraden, das eine solche Erleichterung war nach den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Nacht, ein Ende zu bereiten, aber er wollte die Vision so bald wie möglich hinter sich bringen. Wie immer würde ihn die Anstrengung einer solchen Prozedur viel Kraft kosten, und in den nächsten Stunden standen ihm noch viele weitere harte Prüfungen bevor.

Aurian nickte ernst. »Was sollen wir tun?«

»Ziemlich wenig«, erklärte ihr Chiamh. »Ich habe keine Ahnung, ob eure Kräfte Zugang haben zu dieser Art von Magie. Wenn wir Glück haben, könnt ihr die Vision vielleicht mit mir teilen, aber wenn nicht, dann haltet euch einfach zurück, hört zu – und seid meine Zeugen.« Er lächelte die beiden Magusch ein wenig kläglich an. »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich euch für eure Anwesenheit und eure Hilfe viel dankbarer, als ich euch sagen kann. Eine solche Vision war für mich bisher immer eine einsame und erschreckende Erfahrung.«

»So wie das Reisen auf dem Wind es früher war«, sagte Aurian sanft, und Chiamh erinnerte sich an den Abend im Turm von Incondor, als sie mit ihm zusammen auf dem Wind nach Aerillia geflogen war. Da er zum ersten Mal in seinem Leben eine solche Reise nicht allein unternahm, hatte er plötzlich eine überschäumende, nie gekannte Freude an seinen magischen Kräften empfunden. Sein Leben hatte sich in jener Nacht verändert, und er war der Magusch dankbar dafür, daß sie ihn zu diesem wichtigen Zeitpunkt daran erinnerte. Sein Blick traf den ihren, und sie sahen einander verständnisvoll an.

»Vielleicht wird es diesmal auch so sein«, sagte er zu ihr. »Aber das werden wir ja bald wissen.«

Chiamh schloß die Augen und konzentrierte sich mit all seiner Kraft auf das Herbeirufen der uralten, geheimnisvollen Kräfte des Windauges – und keuchte, als hätte er einen atemlosen Sprung in einen eisigen Strom gewagt. Die alles verzehrende Kälte seiner Andersicht schlang sich um seinen Leib, und er sah nur noch schimmerndes Silber vor sich, während sich seine Augen verwandelten. Als sein Blick wieder klar war, riß er sich zusammen und spähte in die Anderwelt hinein, die sich ihm nun enthüllte.

Im Sonnenlicht unterschieden sich die Bilder seiner Andersicht ein wenig von jenen, die er sah, wenn seine Umgebung in Dunkelheit gehüllt war. Die unruhigen Ströme des Windes zeigten sich nicht in ihrer gewohnten silbernen Helligkeit, sondern hatten das Funkeln und den Schimmer von Mondsteinen, feurigen Opalen und flüssigem Gold angenommen. Der Stein, aus dem die nahen Berge und seine Kammer der Winde bestanden, hatte ein kristallines amethystfarbenes Glitzern angenommen, und die lebendige Aura der beiden Magusch an seiner Seite erstrahlte in dem blendenden Schein zweier flirrender Regenbogen. Chiamh knirschte mit den Zähnen und riß seine Aufmerksamkeit von der gefährlichen Verlockung solcher Schönheit los. Mit langen, tiefen Atemzügen brachte er sich wieder unter Kontrolle, dann streckte er die Hände aus, die ihren eigenen, verwirrenden Schimmer hatten. Er mußte die Augen gegen das Licht zusammenkneifen, das aus seinem Innern strömte, bevor er die beiden flatternden Windfäden ergreifen konnte, die sich ihm entgegenstreckten; dann formulierte er in Gedanken die Frage, die er hatte stellen wollen.

Das Windauge arbeitete mit den Strängen lebendiger Luft, beherrschte und formte sie, zog sie auseinander zu einer breiten, leuchtenden Scheibe, die wie ein opalisierendes Netz zwischen seinen Fingern flatterte. Als er tief hineinspähte und seinen eigenen Willen der Macht der Vision unterstellte, spürte er, wie er immer tiefer und tiefer in den Mahlstrom aus Licht gezogen wurde, bis er alle Bewußtheit seiner selbst weit hinter sich gelassen hatte und sein Geist auf der Suche nach Antworten davonwirbelte.

Chiamh kam mit einem Ruck wieder zu sich und spürte den Unterschied sofort. Es funktionierte! Sein Herz vollführte einen Freudensprung. Der Luftspiegel hatte sich zwischen seinen Händen in ein lebendiges Wesen verwandelt. Er, Chiamh, hatte sich aufgegeben – und als Gegenleistung überantwortete ihm der Wind jetzt seine Kräfte des Wissens. Das Windauge schaute tief in den Spiegel hinein und sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie sich in seinen feurigen Tiefen Bilder zu formen begannen.

Zwei große Hengste, einer schwarz, einer wolkengrau, kämpften im Morgengrauen auf einem windgepeitschten Plateau. Einer taumelte – stürzte –, große Hufe wirbelten über den Boden, und ein Strudel dunkelroten Blutes schoß in die Höhe und versperrte ihm die Sicht. Chiamh hielt den Atem an. Welcher der Hengste war gestürzt? Welcher?

Aber als das Blut fort war, hatte sich die Vision gewandelt. Der Spiegel verdüsterte sich zu einer Schwärze, die so tief war, daß das Windauge zunächst glaubte, seine Vision verloren zu haben – dann zerriß ein greller Lichtblitz den Himmel, und er sah den brutalen Ansturm regengepeitschter Wellen mit kochenden, weißen Gischtkämmen, Wellen, die sich gegen die zerklüfteten Felsen einer Landzunge warfen … Im nächsten Augenblick durchdrang seine Andersicht den schwarzen Kessel der Wellen und traf monströse Gestalten, die unterhalb des Wassers schwammen; wartend … Dann war alles wieder dunkel, bis ein neuerlicher Lichtblitz Aurian zeigte, wie sie über den Rand der Felsen zu schweben schien. Sie sprang mit dem sauberen Schwung eines jungen Lachses mitten in die kochenden, tobenden Wellen hinein …

Chiamh stöhnte vor Entsetzen. Unwillkürlich schloß er die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er eine so atemberaubende Schönheit vor sich, daß das Entsetzen der vorangegangenen Vision sofort vergessen war. Es war ein Einhorn: eine unirdische Kreatur, durchscheinend und ätherisch, geformt aus allen erdenklichen Arten von Licht. Das Einhorn wandte ihm seinen schön geformten Kopf zu, um ihn anzusehen, und warf eine Mähne zurück, die wie ein Sonnenaufgang auf einem Wirbel morgendlichen Nebels war. Dann scharrte es mit seinen silbernen Hufen auf dem Boden, und Sonnenstrahlen sprühten auf, bevor es in die Dunkelheit eintauchte. Chiamhs einziger Anhaltspunkt war das aus Mondlicht gesponnene Funkeln, das das Fell des Einhorns verströmte, und das Sternenlicht, das wie ein glitzernder Kometenschwanz von seinem gewundenen Horn ausging …

Chiamh folgte dem Einhorn und fand sich plötzlich im Sonnenlicht wieder, das dickflüssig wie Met in dem Kelch eines dicht bewaldeten, grünen Tales lag. Das Bild schimmerte, als betrachte er es durch hitzeflirrende Luft, und es lag unter einem Netz, das aus der stärksten Magie gewoben war, die er je gesehen hatte. Trotz der unirdischen Schönheit dieser Vision verspürte das Windauge einen Stich qualvoller Angst wie ein Schwert, das ihm in die Eingeweide gerammt wurde, und er brauchte seine ganze Kraft, um nicht vor Entsetzen zu fliehen. Er blickte von oben hinunter, aus der Perspektive eines Adlers, und sah das Einhorn an einer schmalen Holzbrücke stehen, die zu einer Insel inmitten eines stillen Sees führte. Auf der Insel ruhte ein Juwel – ein gewaltiger, blutroter Edelstein –, und in seinem Innern konnte man die schattenhafte Silhouette eines Schwertes erkennen. Die scharfe Klinge, die in das pulsierende Licht des blutroten Herzens des Kristalls eingebettet lag, sah aus, als wäre sie von Blut getränkt. Sie summte in ihrem eigenen Rhythmus, ganz hingegeben an das Wissen um ihre schlafende Macht, und sang Lieder von Sieg und Opfer, die Gestalt annahmen und wie glutrote Lichtfunken in den Himmel schossen. Wie blutige Finger streckten sie sich nach dem Windauge aus, packten es und rissen es mit sich fort, und in ihrer grausamen Umklammerung sah Chiamh das Schicksal, das er gefürchtet hatte: das Ende der Xandim.

Mit einem Entsetzensschrei, der sich aus den Tiefen seiner Seele löste, floh Chiamh, ohne zu wissen, wo er hinging noch wie er dort hinkam; er wollte nur weg von dem Schwert und dem zweischneidigen Schicksal, das es bereithielt. Die Dunkelheit verschlang ihn, und er ließ sich in seiner verzweifelten Sehnsucht nach einem Versteck, nach Beistand und Hilfe dankbar hineinfallen …

»Chiamh – Chiamh! Wach auf, verdammt noch mal! Komm zurück zu uns. Bitte …«

Jemand schlug ihm ins Gesicht, dann bohrten sich Finger schmerzhaft in seine Schultern, schüttelten ihn … Das Windauge spürte den starken Zug eines Geistes, nein – zweier Geister –, die an seinem Bewußtsein zerrten; sie hielten ihn fest, stützten und trösteten ihn und zogen ihn langsam, aber sicher in das wohltuende, normale Licht des Tages zurück. Einen Augenblick lang bekämpfte er sie in blinder, gedankenloser Panik, dann kehrte die Erinnerung zurück, und er erkannte die vertraute, geistige Berührung der beiden Magusch. Dankbar und vertrauensvoll überließ er sich seinen Freunden und gestattete ihnen, ihn nach Hause zu bringen.

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