6 Der Sturm bricht los

Die kleine Schar von Xandim-Soldaten war nur noch wenige Tagesreisen von ihrem Bestimmungsort entfernt, und die Aufregung innerhalb der Gruppe wurde immer deutlicher spürbar, während sie sich langsam ihrem Heimatland näherte. Sie waren hoch hinauf in die große Gebirgskette geklettert und freuten sich schon auf den Tag, an dem sie über das Dach der Welt schauen und die vertraute Gestalt ihres heiligen Berges sehen würden: dem wie ein Versprechen in der Ferne aufblitzenden Windschleier.

An jenem Abend hätte die Stimmung am Lagerfeuer gar nicht besser sein können, und unter Plaudern und Gelächter wurde die Flasche von einer Hand zur anderen weitergereicht. Das Xandim-Mädchen stahl sich von den Kriegern weg, die sich in dem hellen Kreis des Feuerscheins zusammendrängten. Nach all den Monaten in beinahe vollkommener Einsamkeit fand Iscalda die Gegenwart so vieler Menschen mitunter immer noch erdrückend und wünschte sich, für eine Weile allein zu sein – im Einklang mit der gewaltigen Stille der Nacht. Auf leisen Sohlen schlich sie an den Wachposten vorbei und wagte sich ein Stückchen weiter vom Lager weg, bis das leise Summen von Stimmen und auch der letzte Widerschein des Feuers verschwunden waren und die Sterne wieder hell und leuchtend über ihr standen.

Iscalda löste das wellige, geflochtene Banner ihres Haares und ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten, damit der Wind, der von den schneebedeckten Gipfeln herunterwehte, ihre Arme mit seinen eisigen Fingern berühren und ihre nackten Glieder mit prickelnder Gänsehaut überziehen konnte. Sie schauderte wohlig und gab sich ganz dem herrlichen Gefühl hin, wieder in menschlichem Fleisch zu stecken. Für sie war dieser Marsch zurück durch die Berge in Richtung Heimat zu einer wunderbaren Entdeckungsreise geworden. Solange war sie in ihrer Pferdegestalt gefangen gewesen, daß sie beinahe solch einfache und gewöhnliche Eindrücke vergessen hatte, wie es der glatte Fluß von Leinen und die rauhe Berührung von Wolle auf der Haut waren; der Geschmack von heißem Essen in ihrem Mund und das kaum spürbare Gewicht eines Lederumhangs um ihre Schultern; die berauschende, allumfassende Wärme starker Arme, die sie umfingen, und die Freude des Lachens, das man mit einem Freund teilt. Bilder, Geräusche, Düfte, Gefühle – all das waren erregend neue Erfahrungen für sie, und es war, als koste sie das alles zum ersten Mal in ihrem Leben. In diesen wenigen vergangenen Tagen hatte Iscalda sich wieder wie ein Kind gefühlt, das voller gespannter Erwartung dem Morgen der Welt entgegenrannte.

»Ist dir nicht kalt?«

Iscalda zuckte bei dem Klang der leisen Stimme hinter ihr zusammen. Als sie herumfuhr, fand sie sich Auge in Auge mit Yazour. Er war der letzte gewesen, von dem sie erwartet hätte, daß er sie in ihrer eigenen Sprache ansprechen würde. Während der Reise hatte ihre Hauptbeschäftigung darin bestanden, alte Freundschaften mit ihren eigenen Leuten zu erneuern, und sie hatte ganz vergessen, daß Chiamh, das Windauge, den Sprachzauber auf den Fremden ausgedehnt hatte, so daß dieser sich verständlich machen konnte. Mit einem überraschten Aufschrei wich sie hastig einen Schritt zurück und zog sich den Umhang wieder um die Schultern.

Der junge Krieger neigte entschuldigend den Kopf. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Nein?« fragte Iscalda spitz. »Du schleichst dich auf leisen Sohlen an wie ein Schwarzer Geist aus den Bergen und sprichst mich plötzlich aus der Dunkelheit heraus an. Was hast du denn erwartet?«

Yazour lachte. »Jetzt hast du mich ertappt. Ich wollte bloß sagen, daß ich nicht mit dieser Absicht hierhergekommen bin. Um ehrlich zu sein, bin ich vom Feuer weggegangen, um einem viel profaneren und drängenderen Bedürfnis nachzugeben, aber bei meiner Rückkehr sah ich dich hier stehen, so ganz allein in der Dunkelheit.« Er zögerte. »Muß ich zugeben, daß es Neugier war, die mich getrieben hat, dich anzusprechen? Seit deiner Rettung hatten wir keine Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu reden, und …«

»Und?« In Iscaldas Stimme schwang eine unüberhörbare Schärfe mit. Sie wußte jetzt schon, wohin das führen würde. Als er ihr keine Antwort gab, sprach sie für ihn weiter. »Und dir ist eingefallen, was ich war, als du mich kennenlerntest. Und jetzt wolltest du wissen, ob ich mir als Frau die Instinkte eines niederen Tieres bewahrt habe – wie es ist, wenn man jedem dahergelaufenen Mann aufs Wort gehorchen muß …«

»Nein!« Yazours heftiger Protest brachte sie zum Verstummen. »Du mißverstehst mich völlig. Ich habe mich nur gefragt, wie es möglich ist, daß das prachtvollste Pferd, das ich je gesehen habe, wie durch Magie in die allerschönste Frau verwandelt werden konnte. Ich wünschte, ich würde die Natur deiner Rasse verstehen – und doch, wenn eure Krieger sich am Lagerfeuer miteinander unterhalten, hält mich immer irgend etwas – vielleicht die Angst, jemandem zu nahe zu treten – davon ab, diese Frage zu stellen. Vor allem deshalb, weil mein Volk und das deine ja seit so langer Zeit verfeindet sind. Und doch hatte ich das Gefühl, daß du mir wegen der langen Tage, die wir gemeinsam in der Höhle gefangen waren, eine gewisse Freundschaft entgegenbringst. Ich weiß, daß deine Gedanken damals nicht einfach nur die eines bloßen Tieres gewesen sein können. In der Nacht, in der du mich zum Turm gebracht hast, hast du meine Not verstanden, und als ich dich heute abend sah, dachte ich, daß du mich vielleicht – besser als jeder andere – verstehen würdest und bereit wärest, eine mögliche Kränkung durch einen Außenseiter und ehemaligen Feind zu vergeben.«

Iscalda fühlte sich von seinen Worten geschmeichelt und war nicht wenig überrascht. »In gewissem Sinne war es sehr klug von dir, daß du nicht die Krieger gefragt hast«, überlegte sie. »Früher einmal hätten deine Fragen – ja, schon deine bloße Anwesenheit in unserem Land deine augenblickliche Hinrichtung bedeutet. Und doch habe ich nicht das Gefühl, daß du mein Feind bist, Yazour. Wenn das, was ich von Chiamh gehört habe, der Wahrheit entspricht, daß nämlich dein Volk schon bald in einen Krieg eintreten wird, dann wird das Geheimnis unserer doppelseitigen Natur, das die Xandim so lange Zeit so eifersüchtig gehütet haben, in jedem Falle bald heraus sein.« Sie lächelte ihn an. »Also, stell deine Fragen, Yazour, und ich werde mich bemühen, deine Neugier zu befriedigen.«

Der junge Krieger breitete hilflos die Hände aus. »Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll«, gestand er. »Ich – nun ja, da ist eine Sache, die mich besonders verwirrt …«

Iscalda lachte. »Du willst wissen, was mit den Kleidern passiert?« Selbst in dem schwachen Licht konnte sie sehen, daß er errötete. Um sie beide vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren, fuhr sie schnell fort. »Die verschiedenen Kleidungsstücke scheinen einfach auch nur ein Teil von uns zu sein und verändern sich, wie wir es tun – in Pferdehaar vielleicht –, wer weiß? Du könntest das Windauge danach fragen. Leder, Wolle, Flachs, Zügelriemen, geschnitztes Horn oder Knochen – alles, was einst lebendig war, verändert sich mit uns. Waffen, Schnallen, persönliche Besitztümer aus Metall oder poliertem Stein – solche Dinge verändern sich dagegen nicht. Wenn wir solche Gegenstände mitnehmen wollen, muß ein anderer sie für uns tragen, einer, der sich seine menschliche Gestalt bewahrt hat. Das erscheint manchmal unbequem, aber die Kleider sind jedenfalls immer da, wenn wir uns zurück in unsere Menschengestalt verwandeln, und das ist ja das wichtigste.«

Yazour lächelte. »In Anbetracht des barbarischen Klimas, das in diesen Bergen herrscht, kann ich nicht umhin, dir da voll und ganz zuzustimmen.«

Iscalda hatte schon bemerkt, daß der junge Mann stets mehr Kleider zu brauchen schien als ihre eigenen Leute, und doch hatte man ständig den Eindruck, daß er zitterte. Chiamh hatte ihr erzählt, daß die Sonne dort, wo Yazour herkam, viel heißer brannte, aber das lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie sollte jedoch keine Gelegenheit mehr bekommen, ihn danach zu fragen, denn schon hatte er selbst wieder das Wort ergriffen. »Wie ist dein Volk zu dem geworden, was es jetzt ist? Welche Geschichte habt ihr?«

Nun war es an Iscalda, mit den Schultern zu zucken. »Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Niemand weiß, woher wir kamen oder wie wir wurden, was wir sind – nicht einmal das Windauge. Es scheint, als hätten wir immer hier gelebt und wären immer das gewesen, was wir sind.«

»Und doch wußtet ihr, daß ihr anders wart als andere Rassen«, meinte Yazour nachdenklich.

»Ich glaube schon.« Iscalda nickte. »Das ist auch der Grund, warum wir die Fähigkeit, unsere Gestalt zu ändern, immer geheimgehalten haben. Verzeih mir, Yazour, aber dein eigenes Volk, die Khazalim, waren immer berüchtigt dafür, daß sie andere Rassen versklavten – und stell dir nur vor, welch nützliche Sklaven wir Xandim abgeben würden, wenn die Wahrheit bekannt würde!«

»Niemand wird euch versklaven!« Die Nachdrücklichkeit von Yazours Antwort überraschte Iscalda. »Das Geheimnis der Xandim wird bei mir immer sicher aufgehoben sein«, versicherte er ihr. »Selbst wenn es anders wäre, im Land der Khazalim gelte ich als Verbannter, und es ist mir bei Todesstrafe verboten zurückzukehren. Ich schulde dem Khisu keine wie auch immer geartete Gehorsamspflicht.«

Iscalda spürte, wie sich ihr Herz aus Mitleid mit dem jungen Krieger zusammenkrampfte. Auch sie war eine Verbannte gewesen, und sie kannte die Bitterkeit und das Gefühl des Verlustes, das er verspüren mußte. Sie biß sich auf die Lippen. »Du weißt doch«, sagte sie leise, »daß man dir, jetzt da du unser Geheimnis kennst, niemals erlauben würde, in deine Heimat zurückzukehren – selbst wenn du es wolltest.«

Yazour nickte ernst. »Das habe ich mir schon gedacht. Aber es spielt ohnehin keine Rolle. Mein Weg führt jetzt nach Norden. Wo Aurian und Anvar hingehen, da werde auch ich hingehen – und wenn ich den bevorstehenden Krieg überlebe, dann …« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, dann werden wir weitersehen. Aber eines kann ich dir versprechen. In das Land meiner Geburt werde ich niemals zurückkehren.«

»Niemals?« Iscalda seufzte. Der junge Krieger tat ihr von Herzen leid. »Das scheint mir doch ein allzu grausames Schicksal zu sein …«

»Iscalda! Was treibst du da hinten, wo kein Mensch dich sehen kann?« Iscalda erkannte die vertraute Silhouette Schiannaths, der als ein dunkler Schatten vor dem Widerschein der Feuer auf sie zu ging. »Zumindest hattest du genug Verstand, nicht allein wegzugehen«, fügte er hinzu – aber als er sich näherte und ihren Begleiter erkannte, hörte Iscalda, wie sich eine Andeutung von Zweifel in seine Stimme schlich. Sie fühlte sich zu einer schnellen Verteidigung des Mannes an ihrer Seite genötigt.

»Behandele mich nicht wie ein Kind, Schiannath.« Die Worte klangen schärfer, als Iscalda beabsichtigt hatte, und sie versuchte hastig, einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. »Ich weiß, daß sich niemand allein und ohne Wache vom Lager entfernen sollte, lieber Bruder – aber nach der langen Zeit unserer Einsamkeit sind mir so viele Leute manchmal einfach zuwider. Ich habe mich davongeschlichen, um allein mit der Nacht zu sein, aber Yazour hat mich entdeckt und genau dasselbe gedacht wie du. Als er mich hier fand, ist er freundlicherweise hiergeblieben, um mir Gesellschaft zu leisten.«

»Ja, wirklich«, unterstützte Yazour sie. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Schiannath, habe ich mich auch über die Gelegenheit gefreut, deine Schwester endlich auch in ihrer Menschengestalt kennenzulernen.«

Schiannath schob sich zwischen die beiden und legte jedem von ihnen einen Arm um die Schultern. Sein Atem hatte den honigsüßen Duft von Met, und als er sein Gewicht auf sie stützte, begriff Iscalda, daß er dem Wein, den die Xandim-Träger bei sich trugen, heftig zugesprochen haben mußte; Flaschen, die übrigens angeblich für Notfälle mitgenommen wurden. »Du mißverstehst mich, Schwester«, sagte er zu ihr, aber seine Worte klangen schon leicht verschwommen. »Yazour, du bist, soweit es mich betrifft, kein Feind. Du magst zwar ein Fremdländer sein –, aber hat nicht die Göttin selbst mir den Befehl gegeben, mich mit dir anzufreunden?«

»Was?« Das war das erste Mal, daß Iscalda diese Geschichte hörte. Sie hatte eine vage Pferdeerinnerung daran, im Paß einer großen Katze begegnet zu sein – die Erinnerung an Entsetzen, an Blut und Zorn – und an den halb vergrabenen, instinktiven Drang, ihren geliebten Bruder um jeden Preis vor dem Angreifer zu schützen. Und sie erinnerte sich auch an Yazour – ein stilles dunkles Bündel, dessen Blut und Leben langsam in den eiskalten Schnee rannen.

Ihr Bruder machte sich nun daran zu erklären, wie die Göttin Iriana persönlich ihm in Gestalt eines der großen Schwarzen Geister im Paß jenseits des Turmes von Incondor den Befehl gegeben hatte, den verwundeten Krieger unter seine Fittiche zu nehmen. Iscalda lauschte ungläubig, während er seine Geschichte erzählte – bis sie aus den Augenwinkeln sah, daß Yazours Lippen vor unterdrückter Belustigung zuckten. Eine Göttin, wahrhaftig! Der junge Krieger wußte oder argwöhnte in dieser Angelegenheit mehr, als er preisgab, und Iscalda war fest entschlossen, dieser Sache auf den Grund zu sehen – aber nicht jetzt.

»Du siehst also«, sagte Schiannath nun, »daß ich dich Yazour durchaus anvertrauen würde. Zuerst habe ich seine Freundschaft gesucht, weil es mir befohlen war, aber später hat er meinen ehrlichen Respekt gewonnen. Was die übrigen Xandim betrifft, liegt die Sache allerdings anders.«

Mit diesen Worten gewann Schiannath nun wieder die volle Aufmerksamkeit seiner Schwester. »Was haben die denn damit zu tun?« wollte sie wissen.

»Sie sehen in mir nur einen weiteren Fremdländer – und stehen mir entsprechend mißtrauisch gegenüber«, warf Yazour ein, und die Feindseligkeit in seiner Stimme war deutlich zu hören. Aber er hatte recht, das wußte Iscalda.

»Genau, Yazour«, fügte Schiannath hinzu. »Die Leute hier haben keine Ahnung, aus welchen Gründen du bei uns bist – und warum sollten sie ausgerechnet auf meine Schwester und mich hören, die wir gerade erst wieder bei den Xandim Aufnahme gefunden haben – und das unter ungewöhnlichsten Umständen.«

Iscalda sah ihren Bruder mit schmal gewordenen Augen an. Er war keineswegs so betrunken, wie sie angenommen hatte. Obwohl sie kaum Licht hatten, drehte er sich nun zu ihr um und sah ihr tief in die Augen. »Es gibt jedoch noch eine Komplikation, Iscalda – und zwar eine, an die du nicht gedacht hast.«

»Und was soll das sein?« Zum ersten Mal regte sich echte Besorgnis in dem Xandim-Mädchen.

Schiannath seufzte. »Dein Verlöbnis mit Phalihas.«

»Unsinn!« erwiderte Iscalda schroff. Ihr Zorn richtete sich jedoch keinesfalls gegen ihren geliebten Bruder. Er entsprang einer plötzlichen, schwindelerregenden Furcht. »Der Rudelfürst ist besiegt«, protestierte sie. »Schiannath, du weißt, daß ich in das Verlöbnis nur eingewilligt habe, weil ich hoffte, auf diese Weise genügend Einfluß zu haben, um dich zu schützen – was uns, wie man ja sieht, am Ende nicht viel genutzt hat. Aber Phalihas ist besiegt worden. Seine Herrschaft und seine Macht haben ein Ende gefunden. Das Windauge würde ihm niemals gestatten …«

»Das Windauge kann ihn nicht aufhalten«, sagte Schiannath mit belegter Stimme. »Ich habe mich gerade mit Chiamh unterhalten. Und nun habe ich schlimme Neuigkeiten für dich. Iscalda, du bist nach den Gesetzen der Xandim mit Phalihas verlobt worden. Während deiner Verbannung war die Verlobung ungültig, aber jetzt, da dein Stamm dich wieder aufgenommen hat, hat dein Verlöbnis neue Gültigkeit bekommen. Sollte das Windauge Phalihas je gestatten, in seine menschliche Gestalt zurückzukehren – und du solltest besser als jede andere wissen, daß Chiamh ihm das eigentlich nicht verweigern kann –, dann wirst du unserem früheren Rudelfürst gehören, wie du es vorher getan hast.«


»Wird er denn überhaupt nicht mehr hier auftauchen?« murmelte Basileus gereizt. Der Moldan, dessen Körper in dem riesigen Berggipfel gefangen war, hielt ruhelos Wache; er erwartete die Rückkehr von Chiamh, dem Windauge der Xandim. Zum ersten Mal seit all den Ewigkeiten seiner Existenz fiel es dem gewaltigen Erd-Elementarwesen schwer, sich in Geduld zu fassen, denn die Dinge, die sich draußen ereigneten, waren die wichtigsten seit vielen Jahrhunderten.

Die Welt veränderte ihr Gesicht: Der Lauf der Geschichte strömte unaufhaltsam einer neuen Ära entgegen. Die uralten Artefakte der Macht erwachten, und drei der vier Großen Waffen waren wieder auf die Welt losgelassen worden. Wieder einmal befanden sich die Maguschgeborenen im Krieg, und das Schicksal der Zukunft hing an einem seidenen Faden, während alle mit angehaltenem Atem auf die Entdeckung des letzten der Artefakte warteten – des Flammenschwerts, die größte aller Waffen, die das weitsichtige und mächtige Volk der Drachen vor langer Zeit entworfen hatte: ihr Vermächtnis der Hoffnung, ihr Vermächtnis an die Zukunft. In wessen Hände, so fragte sich der Moldan, würde das Schicksal das Schwert schließlich fallen lassen? Die Antwort konnte die Hoffnung auf Freiheit für Basileus und alle anderen Elementarwesen bedeuten, die seine Brüder waren – oder aber den Anfang von Sklaverei und Zerstörung und den Beginn eines neuen Zeitalters der Dunkelheit.

Diese Magusch! Basileus spürte den Zorn bis tief in das Innerste seines Wesens. Vor langen, langen Ewigkeiten hatten die damaligen Zauberer ihn und alle seiner Art in diesen unbeweglichen Gehäusen aus Stein gefangengesetzt, um sie daran zu hindern, ihre gewaltigen, geheimnisvollen und unvorhersagbaren Kräfte der Alten Magie zu benutzen, um das Schicksal der Welt zu beeinflussen. Jede zukünftige Hoffnung auf Freiheit für die Moldan und die anderen Elementarrassen wie zum Beispiel die Phaerie war unauslöschlich mit den Artefakten der Macht verknüpft – oder, um genauer zu sein, mit den Absichten derer, die sie in ihren Besitz bringen würden.

Hoch oben auf den Hängen des Windschleierbergs rieben sich Felsbrocken aneinander, und mit einem Zittern seiner Berghänge verschaffte der Moldan seiner Erregung Luft. So viel stand auf dem Spiel, und doch konnte er so wenig tun, um den Ausgang des bevorstehenden Konflikts zu beeinflussen! Es war wirklich kein Wunder, überlegte Basileus säuerlich, daß er keine Ruhe finden konnte.


Der Moldan war nicht der einzige Beobachter auf dem Windschleier. Hätte Basileus sich weniger auf seine eigenen Gefühle konzentriert und mehr auf das, was sich auf seiner Außenhaut abspielte, hätte er vielleicht die Gestalt bemerkt, die sich auf seinem Gipfel herumtrieb. Nacht um Nacht, während der Mond jedes einzelne seiner Stadien durchlief, lag die Wahnsinnige auf der Lauer und beobachtete aus ihrem Versteck zwischen den Felsen die Xandim-Festung. Sie wußte, daß sie zurückkehren würden: diejenigen, die sie suchte – und von diesem Aussichtspunkt aus würde sie ihr Kommen frühzeitig bemerken.

Mit wilden Augen, halb verrückt vor Hunger und bis auf die Knochen durchgefroren, hielt Meiriel ihre lange, einsame Wache, verborgen in einem Loch in den frostgespaltenen Felsen außerhalb der Sichtweite neugieriger Xandim-Augen. Als Nahrung hatte sie kaum mehr als ihren Haß und die Rachsucht, von der sie nun schon so lange gezehrt hatte. Bald, sehr bald, würde das Warten ein Ende haben. Sie hatte Freunde gefunden – neue und mächtige Freunde, die ihr helfen würden, ihre Rache in die Tat umzusetzen. Diejenige, die den Tod ihres geliebten Seelengefährten Finbarr verschuldet hatte, würde schon bald hier sein – und mit ihr das verfluchte Ungeheuer, die halb sterbliche Scheußlichkeit, die sie im Leib getragen hatte. Aurian kam immer näher, und bei ihrer Ankunft … Meiriel ließ ihre Zunge über die scharfen Spitzen ihrer abgebrochenen Zähne gleiten. »Ich werde ihr das Herz aus dem Leib reißen und ihr Blut trinken«, flüsterte sie.


Parric hatte mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, während seine eng zusammengeschweißte Schar von Xandim-Kriegern durch den beharrlichen Nieselregen stapfte, immer weiter über den letzten Gebirgskamm des Windschleiers, der sie jetzt noch von ihrer Festung trennte. »Was, in aller Welt, ist nur los mit mir?« fragte sich der kleine Kavalleriehauptmann. Er sollte eigentlich glücklich und voller Stolz sein über das, was er erreicht hatte! Hatte er nicht genau das getan, weshalb er sich aufgemacht hatte? Seine Reise zu den weiten feindseligen Südlichen Königreichen war ein ans Unmögliche grenzendes Glücksspiel gewesen, und doch war es ihm trotz allem gelungen, Aurian zu finden … »Und was noch wichtiger ist, ich werde sie wieder nach Hause bringen, damit wir zusammen den Kampf gegen den Erzmagusch aufnehmen können«, murmelte er.

Beim Klang der Stimme des Kavalleriehauptmanns legte der mächtige schwarze Hengst, den er ritt, die Ohren an und wandte seinen Kopf um, um seinen Bezwinger und Feind aus weißrandigen Augen böse anzusehen. Tiefer Groll brannte hinter diesem Blick: Haß – nicht ganz ungerechtfertigt, wie Parric zugeben mußte – auf denjenigen, der diesen einst so stolzen König zu der Demütigung von Gefangenschaft und Knechtschaft verurteilt hatte. Der Kavalleriehauptmann durfte keinen Augenblick lang vergessen, daß sein Reittier Phalihas war, einer der doppelgestaltigen Xandim, der früher nicht nur einen menschlichen Körper besessen hatte, sondern obendrein Rudelführer gewesen war, der Anführer der Xandim. Aber das war gewesen, bevor Parric ihn herausgefordert und besiegt und Chiamh ihn in seiner Pferdegestalt gefangengesetzt hatte.

Phalihas, der spürte, daß sein Reiter nicht bei der Sache war, versuchte, Parric mit einer Reihe heftiger Bocksprünge abzuwerfen. Fluchend setzte der Kavalleriehauptmann sich daraufhin im Sattel zurecht und drängte das Tier rasch zu einer schnelleren Gangart. Während das Pferd damit beschäftigt war, sich einen sicheren Weg durch das trügerische Gelände zu bahnen, würde ihm kaum noch Zeit bleiben, Schwierigkeiten zu machen.

Schwierigkeiten. Genau darauf lief es immer wieder hinaus. »Warum muß nur alles so verdammt kompliziert sein?« haderte Parric. Zu Hause, in seiner alten Stellung als Kavalleriehauptmann der Garnison von Nexis, war Parric allem gewachsen gewesen. Was auch von einem Soldaten verlangt werden konnte, es gab kaum einen, der besser damit fertig wurde als er – aber seit jenem Tag, an dem Forral, sein Freund und Kommandant, von dem korrupten Erzmagusch ermordet worden war, waren die Grundfesten von Parrics Welt ins Wanken geraten. Selbst Aurian, zu deren Rettung er nach Süden geeilt war, schien sich verändert zu haben …

Der Kavalleriehauptmann schüttelte unwillig den Kopf und hielt sich dann vor Augen, daß er ungerecht war. Du Narr, sagte er sich. Natürlich hat sie sich verändert. Nach allem, was das arme Mädchen durchgemacht hat … An dieser Stelle ließ seine Phantasie ihn jedoch im Stich. Verrat, Kampf und Tod konnte Parric verstehen, aber wenn es um Magie ging, war er völlig hilflos. Nach all dieser Zeit brachte er es noch immer nur mit Mühe fertig, über das Schicksal von Aurians Erstgeborenem nachzudenken – Forrals Sohn. Nachdem der Erzmagusch das Kind dazu verflucht hatte, die Gestalt des ersten Tieres anzunehmen, das seiner Mutter nach seiner Geburt vor Augen kam, hatte es sich in ein Wolfsjunges verwandelt.

Eine Woge des Zorns wallte in ihm auf, und Parric biß die Zähne zusammen. Bekäme er Miathan doch nur ein einziges Mal vor sein Schwert, um ihm die Grausamkeit heimzuzahlen, die er einem hilflosen Kind angetan hatte – vor allem, da der Junge alles war, was von Forral übriggeblieben war. In den geheimsten Winkeln seines Herzens hatte der Kavalleriehauptmann den Plan gehegt, sich um Aurian zu kümmern. Es hätte ihm ein Vergnügen und nicht eine Pflicht bedeutet, den Sohn seines Freundes und Kommandanten großzuziehen. Obwohl er nie zu hoffen gewagt hätte, Forrals Platz als Vater bei dem Jungen einzunehmen, war er doch fest entschlossen gewesen, sein Bestes zu geben. Der Junge wäre an die Stelle des Sohnes getreten, den er, Parric, nie (zumindest nicht wissentlich) gezeugt hatte. Aber wie, im Namen aller Götter, konnte ein Mann einem Wolfsjungen ein Vater sein? Außerdem hatte ein einziger Blick auf Aurian genügt, um dem Kavalleriehauptmann seine unrealistischen Vorstellungen auszutreiben.

Parric seufzte. Es war seine eigene Schuld, gestand er sich unglücklich ein. Er hatte in Aurian immer ein unschuldiges junges Mädchen gesehen, wenn sie mit Forral zusammen war. Der Schwertkämpfer war stets so voller Zuversicht und Kraft gewesen, daß alle um ihn herum im Vergleich zu ihm irgendwie zusammenschrumpften. Aber die stahläugige, von grimmiger Entschlossenheit beseelte Aurian, die Parric im Turm von Incondor vorgefunden hatte, hatte den Kavalleriehauptmann in Erstaunen versetzt und bis ins Innerste hinein erschüttert. Sie war reifer geworden, soviel stand fest, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Was Parric jedoch nicht vorhergesehen hatte, war diese Aura von Macht, die sie umgab, die sie einhüllte wie ein Mantel, der aus einer unheimlichen Kraft gewoben war. Auch mit der Härte in ihren Augen hatte er nicht gerechnet, mit der bitteren Erfahrung, die sich in ihr Gesicht gemeißelt hatte, oder mit der praktischen Nüchternheit, die sie dazu veranlaßte, ihren neugeborenen Sohn in der Obhut Fremder zu lassen, während sie selbst zu anderen, drängenderen Taten aufbrach. Irgendwie erschien es ihm nicht richtig – obwohl er zugeben mußte, daß ihr Verhalten schierer Notwendigkeit entsprungen war.

Parric verfluchte sich dafür, daß er sich solch ungerechten Gedanken hingegeben hatte. Hatte er nicht schon oft starrsinnigen, weiblichen Kriegern wie Sangra und Maya gedient und für sie gekämpft? War Aurian nicht eine bessere Schwertkämpferin als sie alle zusammen – und daneben noch eine Magusch? Woher kam also dieser vollkommen unvernünftige Beschützerinstinkt, der im Zusammenhang mit Aurian immer wieder in ihm aufwallte? Es war beinahe so, als würde er von Forrals Schatten verfolgt. Aber das war einfach lächerlich, versuchte Parric sich einzureden, während er sich bemühte, auch die letzten Zweifel abzuschütteln. Schon bald würde er wieder zurück in der Xandim-Festung sein und sich um dringendere Fragen kümmern müssen. Außerdem würde er dort auch Aurian wiedersehen – und wenn sie erst einmal wieder mehr Zeit miteinander verbracht hatten, würden sie doch gewiß ihre alte Unbefangenheit im Umgang miteinander wiederfinden, oder?


Aurian und Anvar erreichten die Xandim-Festung mitsamt ihrer Eskorte Geflügelter und landeten feucht und durchgefroren in einem Nebel feinen Frühlingsregens, der von Sekunde zu Sekunde heftiger wurde.

»Uuh!« Aurian befreite sich vorsichtig aus dem Maschengewirr des Tragenetzes und versuchte, sich mit ihrer freien Hand den durchnäßten Umhang fester um die Schultern zu ziehen. Das Unternehmen wurde jedoch dadurch erschwert, daß Wolf in ihrem anderen Arm lag, selig schlafend und geborgen in der Wärme ihres Leibes. Über den beiden Magusch kreisten noch weitere Himmelsleute, die darauf warteten, ebenfalls landen zu können; sie trugen die wölfischen Pflegeeltern des Jungen. Die beiden boten ein jämmerliches Bild mit ihren nassen, stacheligen Pelzen, die ihnen am Leib klebten, und Aurian konnte spüren, daß beide unendlich erleichtert sein würden, wieder gute, feste Erde unter den Füßen zu haben. Das Ausmaß ihrer Geduld und ihrer Treue ihr und ihrem Kind gegenüber erfüllte Aurian mit Staunen und Demut.

Anvar, der sich plötzlich des unruhigen Gemurmels seiner geflügelten Eskorte bewußt wurde, versuchte, durch die tanzenden Regenschleier hindurchzuspähen. »Wo, zum Teufel, sind denn nur die anderen?« brummte er gereizt. »Selbst wenn sie keine Wachen aufgestellt haben, hätten sie doch irgend jemanden hier draußen postieren müssen. Nach dem, was unsere geflügelten Späher berichtet haben, hätten Parric und seine Leute mittlerweile längst hier sein müssen.«

»Diese nutzlosen Menschen«, knurrte Shia, während sie sich einen Sprühregen winziger Tröpfchen aus dem Fell schüttelte. »Anvar – würdest du uns bitte helfen?« Die Katze klang ernsthaft verstimmt. Sie und Khanu waren schnellstmöglich auf dem Boden abgesetzt worden – was, wie Anvar vermutete, auf eine nicht unbeträchtliche Nervosität von seiten ihrer geflügelten Träger zurückzuführen war. Die Himmelsleute hatten das Netz in einem absoluten Wirrwarr auf den Boden fallen lassen und sich daraufhin schnell in Sicherheit gebracht, so daß Shia und Khanu, die ja keine Hände hatten, mit denen sie die verhedderten Maschen ihrer Netze hätten aufknoten können, zunächst einmal gefangen waren. Anvar wischte sich den Regen aus den Augen und ging daran, seine Freunde zu befreien.

»Ich habe gerade mit Chiamh gesprochen«, beruhigte Aurian ihre Kameraden. »Er hat geschlafen – wie alle anderen auch. Sie haben uns nicht so früh erwartet. Chiamh meint, der letzte Teil ihrer Reise über den Windschleier sei furchtbar gewesen – als sie die Festung erreichten, seien sie alle zu Tode erschöpft gewesen. Er weckt sie jedoch alle auf und schickt uns eine Eskorte entgegen.«

»Wurde auch langsam Zeit«, murmelte Shia. »Diese faulen Zweibeiner …« Plötzlich fuhr ihr Kopf ruckartig in die Höhe. »Was war das?«

»Was?« Anvar runzelte die Stirn. Das Aufknoten des verfilzten Netzes hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert.

»Ich dachte, ich hätte etwas ge …«

Keiner von ihnen war auf das gefaßt, was als nächstes geschah. Eine schwarze Gestalt schoß unvermittelt aus der Dunkelheit auf Aurian zu. Behindert durch das Kind in ihren Armen, hatte die Magusch weder die Zeit noch die Möglichkeit zu reagieren. Und Anvar sah, noch während er auf die Füße sprang, wie seine Seelengefährtin zusammenbrach. Das Junge stieß ein erschrockenes Quietschen aus; dann war die Gestalt fort.

»Folgt ihm!« befahl Anvar den Himmelsleuten schroff, die immer noch wie gelähmt vor Schreck in der Nähe herumstanden. Zwei von ihnen machten sich nun an die Verfolgung. Shia und Khanu brachen aus dem verhedderten Netz aus und sprangen hinter ihnen her, dicht gefolgt von den beiden Wölfen, die zu spät gelandet waren, um der Magusch helfen zu können.

»Aurian!« Anvar beugte sich über die schlaffe Gestalt der Magusch, die reglos mit dem Gesicht nach unten auf dem wasserdurchtränkten Erdboden lag. Er ließ seine Arme unter sie gleiten und drehte sie vorsichtig um, war jedoch in der Finsternis nicht in der Lage, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Ihre Haut fühlte sich grausam kalt an. Irgendwo im Hintergrund hörte er das Geräusch rennender Füße. Dann war er plötzlich von Xandim umringt, denen der Regen es unmöglich machte, ihre Fackeln zu entzünden, und die nun auch noch das wenige Licht verschluckten, das es Anvar mit seiner Nachtsichtigkeit ermöglicht hätte, ein wenig zu sehen. Verzweifelt nahm er all seinen Zorn und all seine Angst zusammen und verwandelte sie in ein kurzes, helles Aufflackern von Magusch-Licht, das die Xandim mit einem erschrockenen Aufschrei zurückweichen ließ.

»Was, in Chathaks Namen, geht hier vor? Aus dem Weg mit euch, ihr Narren! Laßt mich durch!« Zu seiner Erleichterung erkannte Anvar die Stimme des Kavalleriehauptmanns. »Aurian ist angegriffen worden!« rief der Magusch. »Schnell, Parric – hilf mir, sie hineinzuschaffen.« Er hörte den Kavalleriehauptmann fluchen, und dann war der kleine Mann auch schon an seiner Seite. »Ist sie schlimm verletzt, Anvar?«

»Ich glaube ja.« Er hob Aurian von dem regendurchweichten Boden auf und folgte Parric, der ihnen in Windeseile einen Weg durch die Menge bahnte, mit schnellen Schritten zur Festung. Wie schwer Aurian verletzt war, daran wagte Anvar gar nicht zu denken, aber in jenem kurzen Aufflackern von Magusch-Licht hatte er gesehen, daß ihr Gewand von dunklem Blut durchnäßt war. Blut, das aus der Wunde rund um ein gezacktes Messer quoll, das tief in ihrer Brust steckte.

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