16 Aus der Zeit genommen

Zanna schrie und ließ die Kerze fallen. Das Mädchen fiel auf die Knie, krümmte sich wie ein Hase unter dem Schatten des Habichts und konnte vor Entsetzen keinen klaren Gedanken mehr fassen. Eine endlos scheinende Zeit kauerte sie mit geschlossenen Augen auf dem Boden und wartete auf das Ende. Aber als eine Hand ihre Schulter berührte, zwang ein halbvergessener Überlebensinstinkt sie, zu kämpfen. Sie sprang mit einem lauten Schrei auf und drosch mit ihren Fäusten blind auf ihren Angreifer ein.

»Laß das, du Närrin. Ich bin es doch. Zanna!«

Erst jetzt erkannte Zanna die Stimme. »Vater?« kreischte sie.

»Es ist ja alles gut, Kleines. Ich bin hier.« Um sie herum lag immer noch alles in völliger Dunkelheit, aber sie spürte, wie seine Arme sie umschlossen. Sie lehnte sich an seine Schulter, zitterte unkontrolliert und versuchte, den Drang, hysterisch in Tränen auszubrechen, niederzukämpfen, während Vannor ihr mit seiner unverletzten Hand über den Rücken strich und sie tröstete, wie er es getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen und aus kindlichen Alpträumen aufgewacht war.

»Was ist passiert, Kleines?« fragte er sanft. »Was hat dich so verängstigt?«

Zanna klammerte sich an ihn, und all ihre Ängste waren plötzlich wieder da. »Vater, da war ein Mann im Alkoven. Ich habe ihn gesehen …«

»Pst, Kleines. Hier ist niemand außer uns. Wenn wirklich jemand dort gewesen wäre, meinst du nicht, wir hätten ihn gehört? Und wenn er uns Böses wollte, würden wir das mittlerweile wissen. Wahrscheinlich hast du eine Statue oder so etwas gesehen, das ist alles. Es überrascht mich nicht, daß es dich erschreckt hat. Ich an deiner Stelle würde immer noch laufen, was das Zeug hält.« Er kicherte, und Zanna spürte, wie die Angst langsam von ihr abfiel.

»Na, komm schon«, sagte Vannor. »Hast du die Zündhölzer in deiner Tasche? Du hast mir die Kerze aus der Hand geschlagen, aber sie müßte eigentlich noch irgendwo hier auf dem Boden liegen. Laß uns Licht machen, damit wir uns diesen ›Mann‹ nachher ansehen können.«

Dann ließ Vannor sie los und ging in die Hocke, um nach der verlorenen Kerze zu suchen, während Zanna in ihrer Tasche nach dem Kästchen mit den Zündhölzern tastete. Nach einigem Gefummel und ein oder zwei Flüchen von Vannor schafften sie es, den Docht zu entzünden, und Zanna blinzelte, während der Raum um sie herum sich langsam erhellte.

»Also, dann wollen wir uns diese Statue oder was immer es ist einmal ansehen.« Unbeholfen zog Vannor mit der linken Hand das Schwert, das er dem toten Wachposten im Maguschturm abgenommen hatte. (Er hatte beim Anblick der beiden Soldaten die Augenbrauen hochgezogen und Zanna einen langen, nachdenklichen Blick zugeworfen; aber bisher hatte er es sich – der Vorsehung sei Dank – versagt, ihr irgendwelche diesbezüglichen Fragen zu stellen.)

»Es tut mir leid, Kleines, aber du mußt die Kerze für mich halten«, sagte er zu ihr. Zanna nahm sie widerstrebend entgegen und hielt sie hoch, während sich Vannor dem dunklen Alkoven zuwandte. Obwohl sie ihm mit der Kerze folgen mußte, sorgte sie doch dafür, daß er immer zwischen ihr und dem war, was da in dieser Nische lauern mochte. Zwar hatte ihr Verstand die Erklärung ihres Vaters akzeptiert, doch die Erinnerung an ihr Entsetzen war noch frisch genug, um stärker als ihr Mut zu sein.

Unerwartet prallte sie gegen Vannor, als dieser jäh stehenblieb und sich nicht mehr von der Stelle rührte, als sei er zu Stein erstarrt. »Sieben verfluchte Dämonen!« schrie er. »Das ist unmöglich!«

Zanna richtete die Kerze, die sie gefährlich schräg gehalten hatte, wieder auf, als ihr Vater herumfuhr und sie mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen ansah. »Was ist da, Vater?« stieß sie hervor. »Du machst ein Gesicht, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Habe ich auch – oder jedenfalls fast, verdammt noch mal.« In seiner Aufregung schien Vannor vergessen zu haben, daß er mit seiner Tochter sprach. Er schob sein Schwert in die Scheide und rieb sich mit zitternder Hand die Augen. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf. »Was, zum Teufel, treibt dieser Bastard da?«

»Von wem sprichst du?« wollte Zanna wissen.

»Von dem Erzmagusch«, sagte Vannor wütend. Plötzlich wurde ihm Zannas Anwesenheit wieder bewußt, und er schien sich zusammenzureißen. »Tut mir leid, Kleines«, sagte er seufzend. »Es ist nur – na ja, es war ein ziemlicher Schock. Ich habe vergessen, daß du nicht wußtest …«

»Daß ich was nicht wußte?« Zanna schrie ihn beinahe an. »Vater, was ist hier los? Was hast du da drin gesehen?«

»Du solltest besser auch einen Blick hineinwerfen.« Dann nahm er sie bei der Hand und zog sie neben sich. »Hab keine Angst – der arme Kerl kann dir nichts tun …«

Der Rest seiner Worte ging in Zannas Entsetzensschrei unter. In der Nische stand eine hochgewachsene Gestalt, steif und leblos wie eine Statue, aber unverkennbar ein Mann.

»Es ist ja alles gut, Mädchen.« Der feste Griff von Vannors Hand war ein großer Trost, obwohl die Angst, die aus seiner Stimme klang, seine Zuversicht Lügen strafte.

»Wer ist – wer ist das?« flüsterte Zanna. Jetzt sah sie auch, was sie beim ersten Mal, als sie von panischem Schrecken beherrscht wurde, übersehen hatte: daß der seltsame Mann von einem schwachen, silberblauen Schimmer umgeben war, der nur ein Zauber sein konnte. Wie winzige Lichtzungen krochen Fäden aus hellerem Blau in einem wilden Netzwerk kreuz und quer über seinen Körper und durch seine lange, mit silbernen Strähnen durchzogene braune Mähne. Zanna betrachtete das in gräßlichem Entsetzen verzerrte Gesicht und glaubte, in den feingemeißelten Knochen und dem Leuchten der glasigen, blaugrauen Augen eine Ähnlichkeit mit den Magusch zu erkennen.

»Das ist Finbarr. Der arme Finbarr. Du hast ihn natürlich nie kennengelernt, oder? Aurian und ich haben immer Witze darüber gemacht, daß man ihn nie aus seinen Archiven wegbekommen könnte.« Die Stimme ihres Vaters klang, als sei er den Tränen nah, aber als Zanna einen verstohlenen Blick auf seine Augen warf, sah sie, daß diese immer noch trocken waren. »Er hat uns das Leben gerettet, als die Todesgeister angriffen, und uns die Zeit verschafft, die wir brauchten, um fliehen zu können. Aber …« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Aurian sagte, er sei getötet worden – sie hat gespürt, wie er starb. Warum sollte Miathan Magie auf die Bewahrung seines Leichnams vergeuden? Das Ganze würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn Aurian sich irgendwie geirrt hätte und Finbarr doch nicht tot wäre …« Dann wandte er sich abrupt zu Zanna um. »Nun, welche Erklärung auch dahinterstecken mag, wir können nichts unternehmen. Aber die Lady Aurian sollte so schnell wie möglich davon erfahren.«

»Möchtest du, daß ich noch einmal versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen?« Zanna tastete nach dem kostbaren Kristall in ihrer Tasche.

»Nicht jetzt, Kleines. Wir haben hier schon genug Zeit verloren. Ich glaube, wir sollten diese Tunnel besser hinter uns bringen, bevor mich meine Kräfte endgültig verlassen.« Er stöhnte. »Ach, was gäbe ich jetzt für ein warmes Bett, ein loderndes Feuer und eine Flasche guten Wein …«

Zanna nahm seinen Arm. »Das sollst du alles bekommen, sobald wir hier raus sind, das verspreche ich dir.«

»Falls wir hier überhaupt jemals rauskommen«, murmelte Vannor grimmig.

Diese Worte ließen Zanna frösteln, und unter ihre schreckliche Angst mischte sich plötzlich heißer Zorn darüber, daß er sie so erschrecken konnte. Andererseits wurde sie dadurch nur in ihrer Entschlossenheit bestätigt. Verdammt – sie hatte ihren Vater gerettet, obwohl alles dagegengesprochen hatte, und sie waren schon so weit gekommen! Zanna biß die Zähne zusammen. Ich werde hier rausfinden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue, dachte sie zornig.

Traurig nahmen sie ein letztes Mal schweigend Abschied von Finbarr. Obwohl Zanna ihn nicht gekannt hatte und nicht wußte, ob der Archivar jenseits der Schranken des Zaubers lebte oder tot war, brach es ihr doch fast das Herz, ihn hier zurücklassen zu müssen. Irgendwie erschien es ihr falsch, den Magusch abermals der einsamen Dunkelheit zu überlassen.

Einige Stunden später konnte Zanna für nichts und niemanden mehr Mitleid erübrigen als für sich selbst und ihren Vater. Ausgehungert, mit schmerzenden Füßen und erschöpft wie sie war, hatte sie langsam das Gefühl, ihr ganzes Leben auf der Wanderschaft durch diese kalten, feuchten, endlosen Katakomben verbracht zu haben; hatte das Gefühl, dazu verdammt zu sein, bis zu ihrem Tode dort zu bleiben. Was ihren Vater betraf, so war dieser schon vor langer Zeit an der Grenze seiner Kraft angelangt und hielt sich nur noch mit schierer Sturheit aufrecht. Das gequälte Schnarren von Vannors unregelmäßigem Atem war schon seit einer ganzen Weile eine Folter für seine Tochter, genauso wie das zögernde, schlurfende Geräusch seiner unsicheren Schritte.

Vannor trieb sich mit übermenschlicher Selbstbeherrschung immer weiter, obwohl seine verletzte Hand ihn jetzt in ein kreischendes Meer des Schmerzes gestürzt hatte und es immer schwerer wurde, gegen die Benommenheit anzukämpfen, die sich durch Blutverlust und Angst seiner bemächtigt hatte. Zanna war so tapfer gewesen, aber er spürte, daß ihre Zuversicht langsam schwand, und wußte, daß nicht nur Müdigkeit und Hunger daran schuld waren. An ihrer angespannten Miene und dem betont fröhlichen Blick, der die kaum erkennbare Sorgenfalte zwischen ihren Brauen Lügen strafen sollte, konnte er sehen, daß die Angst um ihn ihr den Mut raubte. Armes Kind – das war nicht recht. Sie hatte so viel für ihn erduldet – hatte mehr Mut und Verstand bewiesen als er selbst von einem Sohn hätte erwarten können. Aus den Leichen, die er vor seinem Gefängnis im Maguschturm gesehen hatte, schloß er, daß sie für ihn sogar getötet hatte – und das, obwohl sie kaum mehr war als ein Kind und noch dazu eines, das bis vor kurzem immer behütet und verwöhnt worden war. Er mußte weiter, und sei es nur, um ihr die Tapferkeit und Treue zu vergelten.

Die Kerze in Zannas Hand war zu einem weichen, flackernden Stumpen heruntergebrannt, der ihr jetzt mit seinem heißen Wachs die Finger versengte. Vannor sah, wie sie zusammenzuckte und die hart gewordenen Wachströpfchen abzog, aber sie biß sich auf die Lippen und sagte kein Wort. Bis dahin hatten ihn ihre erfolglosen Bemühungen um eine gemäßigte Ausdrucksweise halb belustigt und halb schockiert, aber jetzt bereitete es ihm noch größere Sorgen, daß sie zu müde war, um auch nur die Energie zum Fluchen aufzubringen.

»Nur einen Augenblick, Vater.« Sie setzte ihren Korb ab, der mittlerweile unheilvoll leicht geworden war, und suchte hastig in dem schwächer werdenden Schein des Kerzenstummels nach einer neuen Kerze. Dann drehte sie sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um.

»Wir haben nur noch eine einzige übrig.«

Plötzlich hatte Vannor die schreckliche Vision von sich und seiner Tochter, wie sie einsam durch die Dunkelheit irrten, bis diese verfluchten Tunnel schließlich ihr Grab wurden. Zanna hatte eindeutig denselben Gedanken. Ihre Stimme brach, und sie schluchzte: »O ihr Götter, wir werden nie hier herausfinden.«

»Komm, Zanna – gib mir die Kerze.« Hastig nahm Vannor den Stummel aus ihren ruhelosen Fingern, bevor er vollends verlöschen konnte. »So, Kleines, jetzt hol die neue Kerze aus dem Korb – ich schaffe das nicht mit einer Hand.« Bisher hatte Zanna eine Zähigkeit an den Tag gelegt, die Vannor ungeheuer erstaunt hatte. Er wußte, daß es ihr helfen würde, ihre wachsende Panik in den Griff zu bekommen, wenn sie etwas zu tun hatte. Und er hatte sich nicht geirrt. Bis es Vannor gelungen war, den neuen Docht zu entzünden, hatte sie sich wieder gefaßt und ihre Tränen hinuntergeschluckt, obwohl sie noch immer vor Angst zitterte.

Vannor befestigte die Kerze auf einem schmalen Vorsprung in der rauh behauenen Wand des Korridors und legte seine Arme um Zanna. »Du darfst nicht den Mut verlieren, Kleines. Sieh nur, wie ungleichmäßig diese Tunnel sind. Wir sind jetzt stundenlang nach unten gegangen – wir müssen uns mittlerweile im ältesten Teil der Katakomben befinden. Komm jetzt; laß es uns noch einmal versuchen. Wir sind bestimmt bald am Ziel.«

Seufzend und unbeholfen erhob sich Zanna, aber ihre müden Beine versagten ihr fast den Dienst, und sie stolperte, wobei sie gegen einen Mauervorsprung in der Tunnelwand taumelte, der sie vor einem Sturz bewahrte. Dort blieb sie stehen, um wieder Atem zu schöpfen. Plötzlich drang aus einem schmalen Riß im Schatten des Vorsprungs ein Schwall kalter, übelriechender Luft.

»Vater?« Zannas Stimme zitterte vor Aufregung. »Vater – komm her und sieh dir das an!« Nach stundenlangem Suchen hatten sie endlich die schmale Spalte in der Mauer der Katakomben gefunden, die in die Abwasserkanäle hinunterführte.

Diese Entdeckung gab ihnen neuen Mut. Sie ließen den mittlerweile nutzlos gewordenen Korb zurück und nahmen nur die Kerze, die Schachtel mit den Zündhölzern und die Flasche mit ihrem immer geringer werdenden Wasservorrat mit. Die Felsspalte war so schmal, daß Zanna sich nur seitlich hindurchquetschen konnte, und nach allem, was ihr Vater erzählt hatte, war der Kanal dahinter noch schmaler. Obwohl sie dagegen protestierte, bestand Vannor darauf, daß sie als erste ging, und mit einem flauen Gefühl der Angst wußte sie, daß er befürchtete, steckenzubleiben und ihr auf diese Weise den Weg nach draußen zu versperren.

»Sieh mal, Mädchen, du mußt vernünftig sein«, sagte er, als sie versuchte, ihn von seinem Entschluß abzubringen. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, kannst du wenigstens Hilfe holen.«

Zanna konnte ihn daraufhin nur unglücklich und sprachlos ansehen. Falls er ihr nicht zu folgen vermochte, wie sollte sie da den Weg durch die Abwasserkanäle finden? Und wen kannte sie schon in der Stadt, der ihrem Vater helfen konnte oder wollte, selbst wenn sie, Zanna, in der Lage wäre, ihn wiederzufinden? Vannor ließ jedoch keine Einwände gelten. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich durch die schmale Öffnung zu zwängen und, soweit es ging, den Atem anzuhalten, um sich gegen den Gestank zu wappnen, der von den Kanälen unter ihr aufstieg.

Der Weg durch das Abwasserrohr wurde zu einem Alptraum, wie Zanna ihn sich nicht schlimmer hätte ausmalen können. Das Rohr war so eng, daß der namenlose Schleim, der seine Innenseite überzog, ein Segen war, da er ihr half, sich hindurchzuzwängen. Um die Dinge noch zu verschlimmern, war es im Innern des Rohrs pechschwarz. Eine Kerze wäre in der feuchten, zugigen Luft sofort erloschen. Als das schmale Rohr plötzlich eine Biegung vollführte, hätte Zanna am liebsten ihren Kopf auf die schmerzenden Arme gelegt und vor Verzweiflung geweint. Aber sie biß die Zähne zusammen und rief sich in Erinnerung, daß der Kavalleriehauptmann Parric diesen Weg regelmäßig benutzt hatte, als sich ihr Vater zusammen mit den anderen Rebellen hier unten versteckt hatte. Nun, wenn Parric es schaffen konnte, konnte sie es auch. Sie holte einmal tief Luft und verbog ihr gequältes Rückgrat, bis sie glaubte, es würde brechen, und dann zwängte sie sich hindurch …

Plötzlich rutschte sie, schneller und immer schneller, und schoß schließlich aus der Öffnung des Rohres heraus, wobei sie sich Ellbogen und Schienbeine aufschürfte. Einen Augenblick lang lag sie atemlos da, bevor sie in ein Schluchzen der Erleichterung ausbrach, das genauso schnell endete, wie es begonnen hatte, als sie sich an ihren Vater erinnerte. Jetzt, nachdem sie diesen schrecklichen Weg zurückgelegt hatte, wurde ihr erst richtig klar, wie furchtbar es für ihren Vater werden würde. Nur die Tatsache, daß der stämmige Vannor während seiner Gefangenschaft bei den Magusch viel Gewicht verloren hatte, ließ sie hoffen, daß er zumindest eine Chance hatte, sich ebenfalls durch das Rohr zu quetschen. Aber er hatte nur eine gesunde Hand, um sich vorwärtszuziehen. Er würde es niemals schaffen … Es war unmöglich. Mit vor Angst hämmerndem Herzen und nach einer kurzen Zeit fieberhaften Suchens in der Dunkelheit fand Zanna endlich die Öffnung des Rohrs wieder. Sie legte ihr Ohr daran und horchte. Gefolgt von hohlen Echos, drang der Klang gedämpften Ächzens und Fluchens zu ihr heraus. Eine Weile hörte Zanna in unglücklichem Schweigen zu, da sie begriff, welche Schwierigkeiten ihr Vater hatte, und ihn nicht ablenken wollte. Schließlich konnte sie es jedoch nicht länger ertragen. Er müßte längst da sein! Irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Als das Fluchen plötzlich ein Ende nahm, konnte sie nicht länger an sich halten. »Vater?« fragte sie zögernd, und die wachsende Panik ließ ihre Stimme zittern. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Das ist es natürlich nicht, verdammt!« Dann schien sich Vannor wieder unter Kontrolle zu haben. »Tut mir leid, Mädchen. Ich habe hier ein kleines Problem, an der Stelle, wo das Rohr eine Biegung macht …«

Obwohl er versuchte, optimistisch zu klingen, konnte Zanna die gequälte Anstrengung in seiner Stimme hören. Trotzdem fand sie seine Antwort nicht völlig entmutigend. Solange er die Energie hatte, zu fluchen, war noch nicht alles verloren. »Hör zu, Vater«, sagte sie. »Du bist jetzt an der schlimmsten Stelle. Danach ist es ganz leicht. Wenn du dich nur um diese Ecke schlängeln kannst …«

»Wenn Wünsche Diamanten wären«, fuhr Vannor sie an, »wärst du die reichste Erbin in Nexis. Ich finde auf diesem verfluchten Schleim irgendwie keinen Halt.«

Nicht einmal alle Diamanten von Nexis – um genau zu sein: überhaupt nichts auf der ganzen Welt – hätten Zanna bewegen können, in das Abflußrohr zurückzuklettern. Nichts außer ihrer Liebe zu ihrem Vater. »Halt durch, Vater. Ich komme.« Ohne zu zögern zwängte sich Zanna wieder in das Rohr hinein.

»Untersteh dich, Mädchen! Verdammt, sei nicht so verflucht dumm! Du mußt hier raus. Bring dich in Sicherheit.«

Zanna ließ ihn schimpfen. Allerdings blieb ihr auch nicht genug Luft für eine Antwort. Diesen letzten steilen Teil des Rohrs hinaufzuklettern, war viel schwieriger, als ihn hinunterzurutschen. Wieder und wieder verlor sie, erschöpft wie sie war, ihren Halt und rutschte zurück. Wieder und wieder raffte sie sich auf, fluchte herzhaft und begann die Kletterpartie von neuem. Und schließlich wurde das Wunder wahr. Ihre tastenden Finger berührten das kalte, feuchte Fleisch einer ausgestreckten Hand, die schwach in ihren Fingern zitterte.

Vannors Protest hatte schon vor langem ein Ende gefunden. Zanna hatte die ganze Zeit darum gebetet, daß es ihm gut ging, hatte aber nicht genug Luft übrig, um zu reden. »Wenn ich das Signal gebe«, stieß sie hervor, »versuch, dich um die Ecke zu zwängen.«

»Was …? Was zum …«

»Jetzt!« rief Zanna. Sie hielt den Unterarm ihres Vaters mit beiden Händen umklammert und gab jetzt mit Bedacht den Halt preis, den ihre Beine und Füße in dem Rohr gefunden hatten, so daß sie mit ihrem ganzen Gewicht am Arm ihres Vaters hing. Sie hörte einen erschrockenen Aufschrei von Vannor, und plötzlich glitt sie schneller und immer schneller durch das Rohr, viel schneller als beim ersten Mal. Wie ein Korken aus der Flasche schoß sie aus dem Rohr, und einen Augenblick später landete ihr Vater, wild um sich schlagend, auf ihr. Vannor stieß einen Schrei aus, der Tote hätte aufwecken können, und sein Gewicht raubte Zanna noch den letzten Rest von Atem. Obwohl es noch immer dunkel war, explodierten kleine Lichtpunkte vor Zannas Augen, und sie wurde für einen Moment ohnmächtig.

»Sieben verfluchte Dämonen, Mädchen – mach das ja nie wieder! Du hättest dir den Hals brechen können!« waren die ersten Worte, die Zannas innere Dunkelheit durchdrangen. Vannor wiegte sie in den Armen.

»Aber ich habe ihn mir nicht gebrochen, oder?« gab sie keck zurück, da ihr sehnlichster Wunsch im Augenblick darin bestand, die entsetzliche Angst zu vertreiben, die sie aus der Stimme ihres Vaters herausgehört hatte.

»Nein«, murmelte Vannor. »Aber wenn du mich das nächste Mal so erschreckst, du kleines Biest, dann werde ich ihn dir brechen.« Dann lachte er und schloß sie noch fester in die Arme. »Geht es dir gut, Kleines? Bei allen Göttern, Dulsina hatte wirklich recht, als sie meinte, du kämst eindeutig auf mich raus. Deine Methoden sind zwar ein bißchen extrem, aber du hast mir eben das Leben gerettet, das steht fest! Ich dachte, ich würde für alle Zeit in diesem Rohr feststecken.«

Nach einer Weile hatten sie sich beide wieder gefaßt, und es gelang ihnen sogar, die Kerze wiederzufinden. Im Licht ihrer Flamme erkannten Vannor und seine Tochter einander kaum, so verschmutzt waren sie nach ihrem Rutsch durch das schleimige Innere des Rohrs. Außerdem beleuchtete die arg mitgenommene Kerze die verrosteten Überreste der Inspektionsleiter, mit der sie es als nächstes würden aufnehmen müssen. Sie sahen einander an, seufzten und standen entschlossen vom Boden auf, um ihren Weg fortzusetzen.

Obwohl Vannor nur eine Hand zum Klettern frei hatte und sie einige gefährliche Augenblicke durchlebten, erwies sich die Leiter als weit weniger schwierig als das Rohr. Schon bald zwängten sich Tochter und Vater ein weiteres Abflußrohr hinauf – barmherzigerweise war es diesmal nur ein kurzes – und fanden sich endlich in den Abwasserkanälen wieder. Schon der vertraute Anblick seines alten Reviers schien Vannors Lebensgeister wieder zu wecken, obwohl er, wie seine Tochter, vor Müdigkeit kaum noch laufen konnte. Er stand auf dem schmalen, schlüpfrigen Vorsprung, von dem aus man einen guten Blick über den übelriechenden Kanal hatte, holte tief Luft – Zanna staunte darüber, daß er das konnte, so widerlich stank es hier – und betrachtete den feuchten, schmutzigen und von Ratten heimgesuchten Tunnel mit der stolzen Miene, mit der ein Landbesitzer sein Territorium betrachten mochte. Zum ersten Mal während ihrer ganzen Flucht sah er wirklich wohlgelaunt aus. »Endlich«, sagte er erleichtert. »Wir sind zu Hause. Jetzt kommt alles in Ordnung.«

Zanna war froh darüber, daß wenigstens einer von ihnen noch eine gewisse Zuversicht hatte.


»Was, bei allen Dämonen, meinst du damit, er ist weg?« brüllte der Erzmagusch. »Wie konnte das geschehen?« Er ließ seine Fäuste auf den Tisch krachen, und in den Juwelen, die seine Augen ersetzten, flackerte feuerrotes Licht auf. Selbst die Luft in dem Raum schien zu brennen und unter der Last seines Zorns zu beben. Der Hauptmann der Akademiewache, ein Hüne von einem Mann und ein erfahrener Kämpfer, erbleichte und zitterte, und das unglückliche, kleine Narbengesicht, das Vannors Kammer am Vorabend bewacht hatte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem blutrünstigen Meuchelmörder. In sich zusammengekrümmt vor Angst, versuchte der Mann erfolglos, sich hinter der Gestalt der leidenschaftslosen Wettermagusch zu verstecken.

Eliseth schien die einzige zu sein, die Miathans Zorn ungerührt ließ – wahrscheinlich, so dachte der Hauptmann mürrisch, würde das intrigante Miststück alle Schuld ihm in die Schuhe schieben.

»Nun, mich brauchst du nicht anzusehen«, sagte sie kühl. »Ich habe Vannor gestern nacht wie immer wohlbewacht zurückgelassen – obwohl er, als ich mit ihm fertig war, nicht mehr in der Lage gewesen sein kann, seine Flucht in die Wege zu leiten. Und weit gekommen wäre er schon gar nicht. Diese ganze Sache riecht nach einer Verschwörung.« Sie warf dem Hauptmann der Wache aus schmal gewordenen Augen einen giftigen Blick zu.

»Ich habe ihn wie gewöhnlich bewachen lassen, Herr«, fügte der Hauptmann hastig hinzu, nachdem er beschlossen hatte, Eliseths Beispiel zu folgen. »Sowohl das obere Tor als auch das untere waren besetzt, und auch die Straße, die hier heraufführt, wurde bewacht. Es ist mir schleierhaft, wie irgend jemand an meinen Männern vorbeikommen konnte.« Er drehte sich um und warf dem verängstigten, narbengesichtigen Wachposten einen zornigen Blick zu. »Er war da. Warum fragen wir ihn nicht, wie diese beiden nichtsnutzigen Einfaltspinsel es geschafft haben, in einen Hinterhalt zu geraten.«

»Laß es uns herausfinden.« Miathans Stimme war in Seide gehüllter Stahl. Er richtete den finsteren Blick seiner gefühllosen Spinnenaugen auf den unglückseligen Wachmann.

Der Hauptmann, der nur allzu froh darüber war, gehen zu dürfen, eilte die Turmtreppe hinunter. Er war jedoch nicht schnell genug, um die lauten Schreie entsetzlicher Qual nicht mehr zu hören, die aus dem oberen Raum schrillten. Er preßte sich die Hände auf die Ohren, um das grauenerregende Heulen zu dämpfen, verzichtete auch noch auf den Rest seiner Würde und floh.

»Es war meine Magd?« Ausnahmsweise einmal war Eliseth der Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, anzusehen.

»Nach dem, was ich aus den Gedanken des Wachpostens herausgepreßt habe«, der Erzmagusch blickte verächtlich auf den verzerrten Leib auf dem Fußboden, »scheint es da keinen Zweifel zu geben.«

»Aber sie war nur eine Küchenmagd – kaum mehr als ein Kind, und sie hatte gewiß nicht genug Verstand, um …«

»Sie hatte Verstand genug, um die Flucht des meistgesuchten Mannes in Nexis zu planen und in die Tat umzusetzen – dank deiner Hilfe!« fauchte Miathan. Trotz der unangenehmen Situation genoß er die Fassungslosigkeit der sonst so eiskalten Magusch.

»Und wer, bitteschön, hat ihr aufgetragen, sich um Vannor zu kümmern?« erwiderte Eliseth höhnisch. »Ich jedenfalls nicht. Das war deine Idee, Miathan. Du hast dem kleinen Miststück den Weg geebnet.«

Die ohnehin nicht allzu große Freude, die der Erzmagusch an dieser Situation empfunden hatte, löste sich jäh auf. Eine Vision von seinen Händen, die sich um Eliseths Kehle legten, blitzte kurz in seinen Gedanken auf, dann riß er sich zusammen. »Das reicht!« befahl er barsch. »Ich gestehe, sie hat uns beide übertölpelt. Aber die Frage bleibt – wer ist sie? Einer von Vannors Rebellen? Hat er noch andere Spione in der Akademie?« Es war ein unerfreulicher Gedanke, daß die Magusch vielleicht nicht länger unverletzlich waren. Er erinnerte sich an den Verräter Elewin und ballte die Fäuste.

»Ich werde das bald herausfinden«, versprach Eliseth grimmig, »selbst wenn ich dafür den Geist jedes einzelnen Dieners im Haus in Stücke reißen müßte. Irgend jemand muß ihr geholfen haben, Miathan. Wie konnte so eine halbe Portion von einem Mädchen sowohl Janok als auch einen voll ausgebildeten Krieger umbringen, der dreimal so groß war wie sie?«

»Das ist nicht das einzige Rätsel, das wir lösen müssen.« Der Erzmagusch runzelte die Stirn. »Wie hat sie Vannor aus der Akademie geschafft, ohne gesehen zu werden? Und wo sind sie jetzt? Wenn du Vannor wirklich so schwer verletzt hättest, wie du behauptest, hätte er nicht weit kommen können.« Er sah sie mit wütendem Stirnrunzeln an.

»Glaubst du, sie verstecken sich immer noch irgendwo in der Akademie?« fragte Eliseth.

»Das scheint mir die plausibelste Erklärung zu sein. Und wenn sie noch hier sind, dann werden nicht mal die Götter selbst ihnen helfen können. Wir werden das unterste zu oberst kehren – niemand kommt rein oder raus, egal aus welchem Grund –, und wir werden jede Kammer der Akademie durchsuchen.«

»Und was ist, wenn sie nicht hier sind?« wollte die Wettermagusch wissen. »Wir können unmöglich die ganze Stadt durchsuchen, dafür haben wir nicht genug Leute. Und wir können auch keine Belohnung für die Ergreifung Vannors aussetzen, weil wir damit den Sterblichen gegenüber zugeben würden, daß er noch lebt.«

»Nein – aber wir können eine Belohnung für das Mädchen aussetzen.«

Miathans Augen funkelten. »Wir behaupten, sie hätte den Magusch etwas Wertvolles gestohlen – was ja auch der Wahrheit entspricht«, fügte er trocken hinzu. »Die Tatsache, daß ich gestern diese Vorräte freigegeben habe, hat sich mit Sicherheit zu unserem Vorteil ausgewirkt – zumindest gibt es jetzt wieder ein paar Leute in Nexis, die mir aus ganzem Herzen dankbar sind. Wir werden jedem, der uns zu dem Mädchen führen kann, eine große Belohnung versprechen, eine Belohnung, die aus Gold und Brot besteht. Entweder wird Vannor bei ihr sein oder …« Abgrundtiefe Grausamkeit lag in seinem Lächeln. »Oder wir erhalten von ihr die Information darüber, wo er sich aufhält. Ich bin entschlossen, mir Vannor zurückzuholen, ganz egal, was es kostet. Und dann werde ich dafür sorgen, daß es sowohl ihm als auch diesem verflixten Mädchen leid tut, daß sie je geboren wurden.«


Benziorn lief durch die Straßen von Nexis und verlor sich unter den anderen frühen Passanten; im stillen gratulierte er sich dazu, daß er seinen Wächtern wieder einmal ein Schnippchen geschlagen hatte. Obwohl sich Yanis, der junge Anführer der Nachtfahrer, unter seiner Obhut langsam wieder erholte, wurde es immer schwieriger, Tarnal und Hebba zu überlisten, die eine völlig unvernünftige Einstellung zu dem Gedanken hatten, daß ein Mann eben ab und zu einen kleinen Drink brauchte. Benziorn zuckte mit den Achseln. Na ja, das war nicht weiter schlimm. Obwohl er die Annehmlichkeiten von Hebbas Haus zu schätzen wußte. Nach den Entbehrungen, die sein Leben in der letzten Zeit gekennzeichnet hatten, war er schon für den Luxus eines richtigen Daches und eines Kamins dankbar, ganz zu schweigen von Hebbas Fähigkeiten als Köchin – wenn sie etwas hatte, das sie kochen konnte. Er hatte jedoch beileibe nicht die Absicht, sich von ihr Vorschriften anzuhören, was seine Trinkgewohnheiten betraf. Hatte man denn in Nexis heutzutage überhaupt keinen Respekt mehr vor einem Arzt?

Glücklicherweise – denn Hebba duldete in ihrem Haus nicht mal den Anblick einer Flasche – hatte Benziorn immer noch sein Versteck in der alten Walkmühle, wo er ein paar Flaschen mit scharfem Schnaps aufbewahrte: Ein Mann, der als Wächter im Lagerhaus eines Weinhändlers angestellt war, hatte ihn in Naturalien dafür bezahlt, daß er ihn von den unvermeidlichen Ergebnissen seiner langen Nächte mit den Hafenhuren kurierte. Sosehr sie sich auch bemühten, Hebba und Tarnal waren bisher nicht in der Lage gewesen, die Quelle seines geheimen Schnapsvorrates zu entdecken.

Dummerweise hatte Tarnal die Gewohnheit entwickelt, ihm heimlich zu folgen, in der Hoffnung, sein Versteck zu finden. Benziorn kicherte leise vor sich hin. Der Junge mußte noch eine Menge lernen. Hebba war an diesem Morgen zur Akademie gegangen, um sich in einer endlosen Schlange von Menschen anzustellen, die auf ihren Anteil der Vorräte warteten, die der Erzmagusch aus nur ihm selbst bekannten Gründen freigegeben hatte. Der junge Schmuggler hatte sie wohl oder übel begleiten müssen, um sie auf dem Heimweg zu beschützen, damit niemand ihr die kostbaren Nahrungsmittel stehlen konnte. Yanis hatte geschlafen, und Benziorn hatte diese wunderbare Gelegenheit zur Flucht sofort ergriffen.

Als die Sonne in ihrem Zenit stand, war Benziorn schon reichlich angeheitert, und dabei lag der Rest des Tages noch vor ihm. Angesichts der vielen hungrigen Leute in Nexis würde die Verteilung der Nahrungsmittel wahrscheinlich eine ganze Weile dauern. Die Frühjahrssonne sickerte durch die hohen, schmutzigen Fenster der alten Mühle, erwärmte die Luft und machte mit ihrem grellen Schein die Flammen des kleinen Feuers, daß er zu seiner Bequemlichkeit entzündet hatte, fast unsichtbar. Wie er so dasaß auf seinem zusammengefalteten Umhang, den Rücken bequem gegen einen der großen Färbetröge gelehnt und eine Flasche in der Hand, war Benziorn irgendwie danach zumute zu singen – und warum eigentlich nicht? Es war eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal der Bürde seiner Verantwortung entkommen war; heute war daher fast so etwas wie ein Feiertag für ihn …

Plötzlich wachte er zitternd auf und sah, daß die Abenddämmerung bereits ihre Schattenfinger durch die Ruinen des alten Gebäudes streckte. Benziorn stöhnte und rieb sich die Augen. Sein Kopf hämmerte, und sein Mund fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit Schlamm aus dem Flußbett gefüllt. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, daß er gesungen hatte – daran, daß er eingeschlafen war, hatte er keine Erinnerung mehr. Und nun fragte er sich benommen, was ihn so plötzlich aus dem Schlaf gerissen haben mochte. Dann hörte er es wieder – ein unangenehmes, knirschendes Klirren von Metall auf Stein, laut genug, um seinen hämmernden Schädel schier zum Platzen zu bringen.

Was, um alles in der Welt …? Leise fluchend erhob sich Benziorn vom Boden und löschte mit hastigen Tritten die letzten glimmenden Aschenreste seines Feuers. Dann schien er mit der Dunkelheit zu verschmelzen, tastete nach einer bestimmten Stelle im Mauerwerk und hievte sich hinauf, um sich flach auf den breiten Rand des riesigen Färbetrogs zu legen – von hier aus konnte er den größten Teil der alten Mühle überblicken. Und dann ertönte es wieder, dieses knirschende Geräusch – und der gedämpfte Klang einer fluchenden Männerstimme, gefolgt von dem Krachen eines schweren Gegenstands, der zu Boden gegangen war. Das Geräusch kam Benziorn irgendwie bekannt vor. Ein wenig verspätet begriff der Arzt plötzlich, was es zu bedeuten hatte. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der Jarvas Festung angegriffen worden war und die Nachtfahrer durch das Gitter im Fußboden der Walkmühle erschienen waren.

Konnte es jemand sein, der Yanis suchte? Benziorn zog sich ein klein wenig nach vorn und reckte den Hals, damit er um eine der tragenden Säulen herumschauen konnte. Einen Augenblick später erspähte er zwei stolpernde Gestalten, zwei Silhouetten gegen das blasser werdende Licht im Eingang. Sie taumelten und schienen sich kaum auf den Beinen halten zu können, als wären sie ebenfalls betrunken, und sie stützten einander, kurz bevor sie mitten im Raum in sich zusammensanken.

Benziorn wartete steif vor Anspannung und Furcht auf ein neuerliches Zeichen von Leben, aber die Eindringlinge regten sich nicht. Als das durch den Eingang fallende Licht verblaßte, fragte er sich, ob er es riskieren konnte, durch die Dunkelheit ins Freie zu schlüpfen. Es war möglich, daß Yanis ihn brauchte, und mittlerweile würde Tarnal ganz bestimmt nach ihm suchen. So leise wie ein Geist ließ er sich von dem Färbetrog hinuntergleiten – zumindest hatte er sich das so vorgestellt. In Wirklichkeit litt der Arzt immer noch unter den Nachwirkungen der Unmenge Schnaps, die er in sich hineingeschüttet hatte. Er rutschte ab, stürzte und landete mit einem Ächzen auf einer seiner leeren Flaschen, die wegrollte und mit einem Klirren, das in der staubigen Stille der leerstehenden Mühle ohrenbetäubend klang, an der Wand zersplitterte. Mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen erstarrte Benziorn zu Eis. Er hörte das leise Scharren eines Menschen, der sich auf der anderen Seite des Färbetrogs bewegte.

»Vater? Hast du das gehört?«

»Pst!«

Als nächstes hörte man den zischenden Laut eines Schwertes, das vorsichtig aus der Scheide gezogen wurde, aber Benziorn hatte die erste Stimme bereits als die eines jungen Mädchens erkannt, und im Verein mit dem Alkohol, der immer noch in seinem Blut war, gab ihm das neuen Mut. Die bloße Tatsache, daß diese Leute Angst zu haben schienen und sich ebenfalls versteckten, konnte nur darauf hindeuten, daß sie keine ernsthafte Gefahr darstellten.

»Wer ist da?« rief er. »Wer ihr auch seid, ihr braucht euch nicht zu fürchten. Ich will euch nichts Bö …« Seine Worte gingen in ein ersticktes Kreischen über, als der scharfe Stahl einer Schwertklinge eine eisige Linie auf seine Kehle zeichnete.

»Eine Bewegung, und du bist tot. Wenn du um Hilfe rufst, wird das erste Wort, das dir über die Lippen kommt, gleichzeitig dein letztes sein, ist das klar?«

»Ja«, flüsterte der Arzt zitternd. Er verspürte den verzweifelten Drang, sich umzusehen, um das Gesicht seines Angreifers betrachten zu können, obwohl er wußte, daß es in der wachsenden Dunkelheit unmöglich sein würde, den Mann zu erkennen, und daß eine solche Torheit außerdem seinen sicheren Tod nach sich ziehen würde. Er war von solch panischem Schrecken erfüllt, daß er befürchtete, seine Knie würden jeden Moment unter ihm nachgeben – aber wenn sie das taten, würde das Schwert seine Kehle durchbohren. Ein Rinnsal klebrigen Schweißes rann sein Rückgrat hinunter. Benziorn hielt sich stocksteif und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, nach vorn zu schauen und sich auf den Beinen zu halten.

»Wer bist du?« fragte die schroffe Stimme.

»B-Benziorn. Ein Arzt … Na ja, ein ehemaliger Arzt.«

»Was?«

»Ich will euch nichts Böses – ich bin nicht euer Feind. Also, wenn du willst, verschwinde ich jetzt und sehe mich nicht um. Es ist mir egal, wer du bist – ich kann niemandem Schaden zufügen, und ich stehe auf niemandes Seite. Bitte, lieber Herr …« Noch während seines unwürdigen Gestammels spürte Benziorn, wie zorniger Stolz in ihm aufloderte. Wie konntest du nur so tief sinken? fragte eine leise Stimme ganz hinten in seinem Kopf, aber er wußte, wenn sein Leben auf dem Spiel stand, würde er sich jederzeit erniedrigen, wenn es nötig war. Seit dem Tod seiner Frau und seiner Kinder hatte er sich oft geschworen, daß es ihm gleichgültig sei, ob er lebte oder starb, aber jetzt, da die Zeit gekommen war, zu seinem Eid zu stehen, stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß es ihm alles andere als egal war. Das Leben, das so lange Zeit eine Last für ihn gewesen war, war binnen einer Sekunde und angesichts eines Schwertes zu einem sehr kostbaren Geschenk geworden.

»Benziorn?« wiederholte die Stimme nachdenklich. »Bei den Göttern, diese Namen kenne ich doch. Einen Augenblick – bist du nicht der Mann, der sich um meine Frau gekümmert hat, als sie ihr Kind bekam und die Magusch-Heilerin nicht kommen wollte?«

Panische Angst schnürte dem Arzt die Kehle zu. Der Besitzer des Schwertes konnte nur ein einziger Mann sein – der einzige Sterbliche in der Stadt, der vielleicht darauf hätte hoffen dürfen, die Dienste von Meiriel für sich in Anspruch zu nehmen. Die verzweifelte Idee, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen – ja, sogar zu lügen –, schoß ihm durch den Kopf und starb, bevor sie noch recht geboren war – genau so wie Vannors Frau gestorben war. »Wenigstens konnte ich das Kind retten«, flüsterte er. »Ich hätte auch die Mutter gerettet, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte …«

»Du verdammter Mistkerl.« Das Schwert zitterte an seiner ungeschützten Kehle, und ein dünnes Rinnsal warmen Blutes rann in den Kragen von Benziorn.

»Vater!« Das war wieder die Stimme des jungen Mädchens, drängend diesmal und flehend. »Vater, tu es nicht. Dulsina hat mir erzählt, der Arzt habe sein Bestes gegeben. Es war nicht seine Schuld, daß die Lady Meiriel nicht kommen wollte. Was du auch tust, es wird uns Mutter nicht zurückbringen. Wie kannst du ihn nach allem, was wir gerade erlebt haben, für die Taten der Magusch verantwortlich machen? Niemand trägt die Schuld daran, daß Mutter Antors Geburt nicht überlebt hat, niemand außer der Lady Meiriel, aber jetzt, da sie tot ist …«

»Sie ist tot?«

Benziorn spürte, wie das Schwert sich von seiner Kehle löste. Mit einem leisen Wimmern ließ er sich an der Wand des Färbetrogs zu Boden sinken, zu erschöpft, um an Flucht auch nur zu denken.

»Ich hatte keine Zeit, es dir zu erzählen«, fuhr das junge Mädchen fort. »Aber in der Akademie wußten sie es …«

Vannor stöhnte. »Aber Parric war bei ihr – und Elewin«, stieß er gequält hervor. »Was ist aus ihnen geworden? Sind auch sie tot?«

In diesem Augenblick sprangen die Schatten bis hoch in die Dachsparren der Mühle, als das safrangelbe Licht einer Fackel in der Tür aufflammte. Der Arzt sah jetzt zum ersten Mal die Gesichter seiner Angreifer und fragte sich, wie er jemals hatte Angst vor ihnen haben können. Eine vertraute Stimme rief: »Benziorn? Benziorn, du betrunkener Idiot! Bist du hier?«

»Tarnal!« rief das junge Mädchen. »Dank sei den Göttern, daß du es bist!« Zu Benziorns belustigter Überraschung flog sie dem Nachtfahrer in die Arme – und ein schneller, verstohlener Blick in Tarnals Gesicht zeigte ihm, daß der junge Schmuggler nichts dagegen einzuwenden hatte.

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