Anvar rannte durch die Dunkelheit bergab und klammerte sich mit kältetauben Fingern an die rauhen Maschen des Netzes, das ihn umgab; Regen strömte ihm prickelnd über den ganzen Körper. Das Heulen des Sturmes wurde immer lauter in seinen Ohren – und verwandelte sich plötzlich in ein anderes Geräusch. Anvars Magen krampfte sich zu einem Knoten der Furcht zusammen, Furcht um den alten Wolf, als er hörte, wie sich ein Crescendo wilden Brüllens über das Klagen des Windes erhob. Die großen Katzen unter ihm waren in einen Kampf verstrickt.
Dann hörte der Magusch zu seinem Erstaunen eine krächzende alte Katzenstimme in seinen Gedanken, die vor Trotz und Haß laut kreischte. Er war nicht der einzige, der sie gehört hatte.
»Hreeza!« Shias Schrei hallte in Anvars Kopf wider. »Das ist Wahnsinn!« Und dann waren sie unten, inmitten eines Blutbades. Die Himmelsleute, geführt von Chiamh, hatten sie in der Nähe der Tunnelmündung am Rande des Kraters abgesetzt, einerseits, um einen möglichen Rückzug Meiriels in diese Richtung zu vereiteln, und andererseits, um ihnen Gelegenheit zu geben, vor der Unmenge kämpfender Katzen, die sich auf dem ganzen Boden des Kraters breitgemacht hatten, Deckung zu finden. Zu Anvars Empörung warfen ihre geflügelten Begleiter nur einen entsetzten Blick auf das Gemetzel um sie herum und schossen dann wie ein Schwarm erschrockener Vögel in die Luft. Der Magusch stieß einen wilden Fluch aus und verbannte die Angelegenheit dann aus seinen Gedanken. Mit dieser Sache konnte er sich später noch beschäftigen. Man mußte die verschiedenen Probleme nacheinander angehen – und es sah so aus, als hätte er im Augenblick wahrhaftig Schwierigkeiten genug.
Der Regen ließ langsam nach, so daß Anvar seine Nachtsichtigkeit wieder einsetzen konnte. Entgeistert nahm er nun die blutigen Kämpfe wahr, die um ihn herum stattfanden, und versuchte, einen Sinn darin zu finden – und, was noch wichtiger war, einen Blick auf Meiriel zu erhaschen. Chiamh jedoch war dem Magusch gegenüber im Vorteil. Das Windauge mit seiner Andersicht sah das Glühen von Lebensenergie statt der körperlichen Gestalt eines Menschen – und das Leichenfunkeln von Meiriels gräßlicher, kranker Aura war leicht zu entdecken.
Shia mit ihren Katzensinnen hatte ebenfalls keine Schwierigkeiten, ihre persönliche Feindin zu erspähen.
»Gristheena!« Ihr Jaulen schwoll zu einem schauerlichen Crescendo an, und schon stürzte sie sich in das Gewühl kämpfender Katzen, dicht gefolgt von Khanu. Mit kurzer Verspätung wurde Chiamh klar, daß der Weg der beiden sie in dieselbe Richtung führte wie ihn und Anvar – zu dem Felsvorsprung, auf den Meiriel entschlossen zuging, wobei sie sich ihren Weg durch die kämpfenden Katzen bahnte, als existierten diese überhaupt nicht. »Komm schon!« Das Windauge zupfte drängend an Anvars Ärmel. »Hier entlang!«
Chiamh, der seine Andersicht fest auf sein Opfer gerichtet hielt, ging voran, dicht gefolgt von Anvar, der ihn mit gezücktem Schwert vor den Angriffen der Katzen schützte. Schulter an Schulter erzwangen sich der Magusch und das Windauge ihren Weg, wobei sie der Bahn folgten, die Shia und ihr Kamerad mit Fangzähnen und Klauen in die Reihen der kämpfenden Katzen geschlagen hatten. Anvar erschauderte beim Anblick solch sinnloser Grausamkeit, wie sie jetzt in den Grenzen von Stahlklaues Krater zu finden war. In diesem Augenblick fiel es wahrhaftig schwer, sich daran zu erinnern, daß dies intelligente Geschöpfe waren und nicht nur wilde Tiere. Er konnte nur beten, daß sich Shias Landsleute auch weiterhin ganz auf ihre eigenen erbitterten Kämpfe konzentrierten und die beiden schwachen Menschen, die in ihr Reich eingedrungen waren, ignorierten.
Hreeza hatte den Felsvorsprung bereits erreicht. Ohne auf die einzelnen Kämpfe zu achten, die überall um sie herum tobten, hatte sie eine kleine Garde von Kameraden um sich versammelt, die sie für diese Aufgabe ausgewählt hatte, weil sie sich in etwas weniger bemitleidenswertem Zustand befanden als die übrigen Chueva. Nun kämpften sie sich mit Zähnen und Klauen auf möglichst direktem Wege zu der Stelle vor, an der sie ihre Todfeindin Gristheena vermuteten.
Schierer Blutdurst hatte sich Hreezas bemächtigt. Die vielen kleinen, geringfügigeren Wunden nahm sie überhaupt nicht wahr, ebensowenig wie das Brennen der langen Kratzer, die feindliche Klauen in ihre Flanken gerissen hatten. Der rote Nebel des Kampfes umwölkte ihren Geist und glühte in ihren Augen, und ihr heftig schlagendes altes Herz war zum Bersten voll von einem wilden Stolz, in den sich Zorn mischte und auch Trauer um jene ihrer armen, heldenhaften Anhänger, die in der Schlacht bereits gefallen waren und deren Todesschreie von den Felsen widerhallten, wie sie es für alle Zeiten in Hreezas Gedanken tun würden.
Wäre die alte Katze ein Mensch gewesen und hätte an solche Dinge geglaubt, so hätte sie zweifellos gesagt, daß die Götter in dieser Nacht mit ihr gewesen seien. Tatsächlich verdankte sie ihr glückliches Geschick ihrer Feindin. Die brutale, großspurige und mitleidlose Gristheena mochte zwar mächtig gewesen sein, aber sie wurde nicht geliebt. Schon jetzt und ohne daß Hreeza davon wußte, schwenkte der Kampf zu ihren Gunsten um. Viele der weniger bedeutsamen Katzen erkannten in den zurückkehrenden Chueva ihre früheren Kameraden und Höhlengefährten, die sie nun voller Freude begrüßten, statt ihrer Anführerin zur Hilfe zu eilen, der sie nur aus Angst gehorcht hatten. Als sich herausstellte, daß die allseits respektierte Hreeza das Erste Weibchen der Chueva war, wechselten die Canyon-Katzen mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Seiten. Hreeza traf kaum auf Widerstand, als sie sich von einem Felsen zum anderen zu dem gewaltigen Vorsprung vorkämpfte. Wären ihre Gedanken weniger stark auf ihr Opfer und mehr auf ihre Umgebung gerichtet gewesen, dann hätte sie bemerkt, daß viele Katzen respektvoll vor ihr zurücktraten, um sie durchzulassen.
Gristheena stand auf der Spitze des Felsens inmitten ihres erlesenen Zirkels tyrannischer Favoriten. Die stämmigen Katzen bildeten eine undurchdringliche, fauchende Mauer, die der alten Hreeza den Weg versperrte. Einen einzigen wahnsinnigen Augenblick lang hätte der Blutdurst Hreeza fast dazu verleitet, sich einfach auf sie zu stürzen und sich mit Zähnen und Klauen den Weg zu ihrer Feindin freizukämpfen. Aber sie war klug und listig und hatte nicht umsonst schon viele Gefahren überstanden. Gerade noch rechtzeitig gewann kalte Vernunft die Oberhand. Hreeza blieb stehen und erhob ihre brüchige alte Stimme zu einem mißtönenden, schauerlichen Geheul der Herausforderung: »Komm raus, Feigling – und kämpfe!«
Von ihrem Thron auf der steinernen Anhöhe blickte das Erste Weibchen hinunter auf ihre Herausforderin – und lachte. »Mit dir kämpfen, du zahnloser, splitterkralliger, trübäugiger alter Knochensack?« höhnte sie. »Warum sollte ich meine Klauen an deinem flohverseuchten Fell besudeln? Meine Anhänger: Befreit mich von diesem Chueva-Abschaum!«
»Warte!« Hreezas Fauchen klang leise und furchteinflößend, und es ließ sämtliche Katzen wie angewurzelt verharren. »Du solltest besser mit mir kämpfen, du aufgeschwollener Fleischsack!« zischte sie. »Denn wenn du das nicht tust, wird jede Katze im Clan wissen, daß Gristheena kein Feuer mehr im Bauch hat. Daß unser großes Erstes Weibchen sich nicht mal mehr gegen eine tatterige, halb verhungerte alte Chueva wehren kann – weil sie Angst hat!« Nun war es an Hreeza zu lachen, und ihr Spott ließ alle Katzen, die ihr zuhörten, schaudern. »Wirklich ein schönes Erstes Weibchen! Wenn das bekannt wird, werden selbst die kleinsten, noch halb blinden Kätzchen Schlange stehen, um dich herauszufordern!«
Gristheenas Ohren lagen jetzt flach an ihrem Schädel. Ihr Schwanz zuckte vor und zurück, und Schaum stand vor ihrem Kiefer, als sie mit einem grauenvollen Fauchen die Fangzähne bleckte. Ohne ein Wort der Warnung setzte sie zum Sprung an.
»Hier entlang!« schrie Chiamh. Hätte das Windauge seiner Stimme nicht durch Gedankenrede zusätzliche Kraft verliehen, hätte Anvar ihn über dem Getöse der kreischenden, fauchenden Katzen wohl nicht gehört. Voller Erleichterung stellte der Magusch fest, daß es Chiamh mit seiner Andersicht gelungen war, Wolfs Entführerin zu verfolgen, denn Shia und Khanu, die besser dazu geeignet waren, durch das Gedränge der Katzenleiber hindurchzuschlüpfen, waren schon spurlos verschwunden, und Anvar selbst hatte Meiriel in der allgemeinen Verwirrung aus den Augen verloren.
»Da drüben!« Das Windauge hob die Hand, und Anvar konnte einen flüchtigen Blick auf Meiriel erhaschen, deren Kleidung aus einem zerfetzten Flickwerk von Lumpen und abgewetzten Fellen bestand. Das Bündel in ihrem Arm mußte Wolf sein. Mit spinnengleichem Gang erklomm die Magusch den Felsvorsprung auf der anderen Seite.
»Weiter!« Anvar zupfte an Chiamhs Ärmel und packte mit der freien Hand den Griff seines Schwertes noch fester. Die Angst um Wolf hätte ihn sogar, wenn auch nur mit Widerwillen, einige von Shias Landsleuten töten lassen, doch soweit kam es glücklicherweise nicht. Die Katzen schienen vor den beiden Männern geradezu dahinzuschmelzen und stoben in alle Richtungen davon. Anvar und Chiamh kamen ungehindert am Fuß der kleinen Böschung an, und während der Magusch behende von einem Felsbrocken zum anderen sprang, blieb dem Windauge nichts anderes übrig, als sich unbeholfen seinen Weg durch die zerklüfteten Steine zu tasten.
Gristheena setzte mühelos über die Köpfe ihrer Anhängerinnen hinweg, um mit ihrem ganzen beträchtlichen Gewicht auf der alten Katze zu landen – und festzustellen, daß Hreeza nicht mehr an ihrem Platz war. Gristheenas Klauen schlossen sich knirschend über hartem Stein. Ihre Kiefer schnappten ins Leere – das einzige, was sie packten, war ihre eigene Zunge. Blut mischte sich mit dem Schaum auf ihrer Schnauze, und sie heulte auf vor Demütigung und Zorn – und heulte noch einmal, als ein Paar eiserner Kiefer die zarten Knochen ihres Schwanzes zerschmetterte. Schreiend wirbelte Gristheena herum. Ihr Schlachtruf wurde übertönt von dem unerträglichen Gelächter der zuschauenden Katzen. Hreeza fand noch Zeit zu einem letzten qualvollen Ruck an Gristheenas Schwanzwurzel, bevor sie leichtfüßig zur Seite sprang.
Der Kampf bewegte sich vor und zurück über den Felsvorsprung, während die beiden Katzen mit durch die Luft wirbelnden Gliedern bald diese, bald jene Position einnahmen und immer wieder versuchten, einander mit ihren großen geschwungenen Klauen möglichst schwere Verletzungen zuzufügen. Wieder und wieder versuchte das Erste Weibchen, möglichst dicht an Hreeza heranzukommen, denn ihr größeres Körpergewicht und ihre beträchtlichen Kräfte würden ihr im Nahkampf deutliche Vorteile gegenüber der alten Katze verschaffen. Aber stets entwischte Hreeza ihr, wobei es ihr gelegentlich gelang, ihrer Feindin einen empfindlichen Schlag auf die Nase oder in die Seiten zu versetzen. Langsam wurde die betagte Katze jedoch müde, ihre Bewegungen wurden unbeholfener, ihr Herz hämmerte, und ihr Atem ging in heiseren Stößen.
Von neuer Hoffnung erfüllt, preschte Gristheena plötzlich vor. Die starken Muskeln ihrer Hinterläufe schleuderten sie mit einem ans Unmögliche grenzenden Sprung nach vorn – und diesmal gab es kein Entrinnen für die alte Katze. Die Wucht von Gristheenas Aufprall schleuderte sie zu Boden. Hreeza spürte, wie eine Rippe brach, fühlte einen rotglühenden Schmerz in ihrer Seite, der ihr das Atmen beinahe abschnitt. Gristheenas gewaltige Pfoten kegelten sie quer über den Felsvorsprung, schlugen wieder und wieder mit erstaunlicher Kraft zu, und die großen Klauen rissen lange Kratzer in Hreezas Fleisch.
Hreeza schlug in blinder Verzweiflung um sich – traf –, witterte feindliches Blut. Gristheenas Zähne bohrten sich in Hreezas Ohr und rissen es in Fetzen. Hreeza unterdrückte einen Schmerzensschrei und versuchte, sich loszureißen, aber ihren müden Muskeln fehlte die Kraft. Noch ein Augenblick, dann würde alles vorüber sein. Gristheena hatte die alte Katze flach gegen den Felsen gepreßt und versuchte nun, sie auf den Rücken zu drehen, so daß sie völlig wehrlos sein würde, wenn die riesigen Klauen ihr die Eingeweide aus dem Leib schnitten und die tödlichen weißen Fangzähne sich in ihre Kehle bohrten, um ihr Blut zu trinken.
Meiriel stand direkt am Abgrund des gewaltigen schwarzen Felsens, und als sie zu Anvar herumwirbelte, sah dieser, daß ihre Züge von Angst und Entsetzen verzerrt waren. Im nächsten Augenblick hätte es ihn selbst um ein Haar von den Füßen gerissen, denn über ihm tobte ein wilder Kampf, ein Wirbelwind aus Fell und Fleisch. Oben auf der Anhöhe, auf der der Thron stand, trugen zwei große Katzen einen Kampf auf Leben und Tod aus. Anvar gewann sein Gleichgewicht wieder und sprang auf Meiriel zu, die ihm jedoch auswich und sich wie Quecksilber aus der Reichweite seiner Klinge flüchtete. Als er das Schwert zu einem neuerlichen Schlag hob, stürzte die Magusch davon, dicht an den Abgrund. »Hör auf!« rief sie. Anvar erstarrte vor Entsetzen, als sie das zappelnde, wimmernde Junge hoch über ihrem Kopf schwang. »Noch einen Schritt weiter«, zischte Meiriel, »und ich werfe ihn in die Tiefe.«
Eisige Furcht kroch Anvars Rückgrat entlang. Wolfs Leben stand nun auf Messers Schneide. Was sollte er jetzt tun? Und, wo zum Kuckuck, steckte Chiamh?
»Geh weg, Anvar.« Die Stimme der Magusch war sanft und drohend. »Tritt zurück, du niedrig geborener, sterblicher Abschaum – oder ich werde dafür sorgen, daß es dir für alle Zeiten leid tut, daß du gewagt hast, dich in die Angelegenheiten der Magusch einzumischen!«
Es dauerte einen Augenblick, bis Anvar die volle Bedeutung ihrer Worte aufgegangen war – dann hielt er den Atem an. Meiriel wußte es nicht! Sie glaubte immer noch, es lediglich mit Aurians sterblichem Diener zu tun zu haben! Sie hatte keine Ahnung, daß auch er Maguschblut besaß – und die damit verbundenen Kräfte! Anvar lächelte innerlich, nahm dann seine ganze Kraft zusammen, während er sich gleichzeitig das Gehirn nach einem Zauber zermarterte – genau dem richtigen Zauber –, mit dem er Meiriel überwältigen und Wolf aus ihrer Gewalt befreien konnte. Vielleicht, wenn er sie beide aus der Zeit herausnähme …
Hinter der Magusch ertönte plötzlich das zornige Heulen einer großen Katze, gefolgt von dem schweren Aufprall eines zu Boden fallenden Körpers. Anvar sprang unwillkürlich beiseite – und in diesem winzigen, unachtsamen Augenblick war Meiriel plötzlich verschwunden. Anvar sah sich wild um und stieß einen heftigen Fluch aus, aber es hatte alles keinen Sinn. Die Magusch war nicht mehr da.
Hreeza, deren Krallen sich in einen kleinen Riß in den Felsen gebohrt hatten, kauerte sich hin, ließ sich jedoch trotz ihrer vor Anstrengung zitternden Glieder nicht in die Enge treiben; ein kalter Knoten des Unwillens hielt ihr Herz umfangen. Der Tod hatte für sie seine Schrecken verloren – dies war das zweite Mal in ebensovielen Monaten, daß sie ihm so nahe gekommen war. Aber die Tatsache, daß sie versagt hatte, machte ihr das Herz schwer.
Gristheenas Herz dagegen schwoll an vor Triumph. Schon konnte sie auf ihren Lippen den Sieg schmecken. Um sich eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen, grub sie ihre scharfen, grausam geschwungenen Krallen tief in den schwarzen Stein des Felsvorsprungs und versuchte mit aller Kraft, die alte Katze herumzudrehen. Das Erste Weibchen stieß ein tiefes, kehliges Fauchen aus. Es war kaum zu glauben, daß dieser sehnige alte Knochensack noch die Stärke aufbrachte, sich einem so gewaltigen Angriff zu widersetzen! Aber es war nur noch eine Frage der Zeit …
Da traf etwas Riesiges und Schweres Gristheena von der Seite. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Sie mußte Hreeza loslassen und stürzte heftig zu Boden, als das Gewicht einer anderen Katze sie nun selbst gegen den kalten schwarzen Stein preßte. Halb betäubt schüttelte Gristheena den Kopf, öffnete die Augen – und blinzelte vor Zorn und Erstaunen. Über ihr ragte die Gestalt der ältesten und erbittertsten all ihrer Feindinnen auf.
»Ich hätte dich doch töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!« fauchte Gristheena.
»Aber du hast es nicht getan.« Shias Stimme war kalt und unerbittlich wie ein Gletscher. »Du hast versagt, Gristheena – und nun hast du abermals versagt. Deine Herrschaft ist vorbei.«
Das letzte, was Gristheena sah, war das brennende Gold in Shias Augen, als diese das erste Leuchten des Sonnenaufgangs zurückwarfen. Dann schlossen sich Shias kräftige Kiefer um Gristheenas Kehle, und es wurde dunkel um sie.
Meiriel lachte leise und triumphierend auf. Es war ihr gelungen, ungesehen über die andere Seite des Hügels davonzuschlüpfen. Während des langen, ermüdenden Wartens darauf, daß Aurian mit Parric zurückkehrte, hatte sich die Magusch die Zeit damit vertrieben, einen Illusionszauber zu vervollkommnen, der die Luft um sie herum so verzerrte, daß sie praktisch unsichtbar wurde. Und es hatte funktioniert – besser, als sie es sich jemals hätte träumen lassen.
Das Glühen der Zufriedenheit über ihren Erfolg half Meiriel, den Schock zu überwinden, der sie bei ihrer Rückkehr auf den Stahlklauegipfel erwartet hatte. Gristheena und ihre Untertanen waren angegriffen worden. Die Magusch runzelte die Stirn. Wie war das möglich? Konnte diese plötzliche Attacke auf Gristheena in irgendeiner Weise mit ihren eigenen Feinden zusammenhängen? Ein Frösteln kroch Meiriels Rückgrat entlang. Die ganze Zeit über hatte sie in Aurian lediglich ihre impulsive, unerfahrene Schülerin aus alten Tagen an der Akademie gesehen. Nun sah es aus, als hätte sie die Macht der jungen Magusch unterschätzt.
Mit großer Willensanstrengung gelang es Meiriel, eine Woge der Panik zu unterdrücken und ihre Gedanken zu sammeln. Solange sie Aurians Kind in ihrer Gewalt hatte, würde seine Mutter ihr kaum Schaden zufügen. Meiriel preßte das abscheuliche kleine Ungeheuer, das Aurian zur Welt gebracht hatte, fester an ihren Leib, obwohl ihr allein die Berührung des verfluchten Geschöpfes Übelkeit verursachte. Das Wolfsjunge stieß ein protestierendes Wimmern aus. Seine Versuche, sich zur Wehr zu setzen, wurden langsam schwächer – aber das spielte keine Rolle. Sie brauchte es ohnehin nur so lange am Leben zu halten, bis sie sicher sein konnte, daß Aurian tot war – oder sie sonst irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, die andere Magusch ein für allemal außer Gefecht zu setzen.
Der Himmel hatte seine Nachtfinsternis abgeworfen und hüllte sich nun in ein reiches, tiefes Blau, das von der Morgendämmerung jenseits der gezackten Gipfel des Stahlklauegipfels heraufbeschworen wurde. Der kalte Wind, dem es endlich gelungen war, die Regenwolken vom Himmel zu vertreiben, schlängelte sich in kaum noch wahrnehmbaren Höhen über den dunklen Fels des Canyons. Die Katzen waren mittlerweile samt und sonders verschwunden, denn sie alle wurden unwiderstehlich von dem Kampf der Königin angezogen, der sich weiter hinten abspielte. Meiriel streckte zaghaft ihren Geist aus, um Gristheenas Gedanken aufzufangen, prallte jedoch lediglich von einer undurchdringlichen schwarzen Wand ab. Furcht senkte sich in ihr Herz. Gristheena tot? Unmöglich! Aber wenn ihre Verbündete tatsächlich nicht mehr lebte, sollte sie besser sehen, von hier zu verschwinden – und zwar schnell. Mit beschleunigtem Schritt huschte Meiriel dem dunklen Maul des Tunnels entgegen, der aus dem Krater herausführte.
Der ungleichmäßige Tunnel war schmal und so niedrig, daß sie sich bücken mußte, während sie immer weiter lief, und die Dunkelheit stellte selbst ihre Maguschsichtigkeit auf eine harte Probe. Obwohl sie wußte, daß dies eine reine Illusion war, gaben ihr die dunklen, massigen Steinwände zu beiden Seiten das Gefühl, endlich ein gewisses Maß an Sicherheit erreicht zu haben, und sie ließ von ihrem Illusionszauber ab, der im Augenblick nur unnötig Energie kostete. Als ein Zirkel fahlen Tageslichts vor ihr erschien, trat sie ihm beinahe widerwillig entgegen, aber sie konnte schließlich nicht für alle Zeiten in dem dunklen Tunnel ausharren. Nachdem sie vorsichtig aus dem Tunnel heraus- und auf einen breiten Felsvorsprung getreten war, vernahm sie das dumpfe Donnern von Schwingen am Himmel über sich. Ein wirbelnder Windstoß blies ihr eine Staubwolke ins Gesicht und hätte sie beinahe umgeworfen. Meiriel rang nach Luft, wischte sich die feinen Staubkörnchen aus ihren tränenden Augen – und keuchte abermals, diesmal vor Entsetzen über den Anblick Aurians.
Kalte Furcht durchzuckte Meiriels Körper. Die Zeit schien sich unendlich in die Länge zu ziehen und zu verlangsamen, während sie in das unerbittliche Gesicht ihrer Gegnerin sah und ihre Gedanken gleichzeitig in ungläubigem Protest aufschrien. Tief in ihrem Herzen hatte sie der mysteriösen Stimme, die sie auf dem Windschleier vernommen hatte, keinen Glauben geschenkt. Sie erinnerte sich daran, daß sie ihr Messer in Aurians Herz gebohrt hatte, erinnerte sich an das Gefühl, mit dem die Messerspitze Fleisch durchtrennte und über eine Rippe scharrte. Und sie erinnerte sich an das dunkle Blut, das aus einer tödlichen Wunde über ihre Hand gequollen war. Aurian mußte tot sein!
Mit einem ungeduldigen Tritt befreite sich Aurian aus den verhedderten Maschen zu ihren Füßen. Ein wütendes Zischen, und ihr Schwert glitt aus seiner Scheide – eben jene Klinge, die Meiriel aus alten Zeiten noch so gut im Gedächtnis war. In der anderen Hand hielt die Magusch einen Stab, auf dem ein grünes, zwischen Schlangenkiefern steckendes Juwel thronte. Der Stab summte vor Macht und verknotete die Luft um sich herum, während er das fahle Morgenlicht mit einem Schwall smaragdgrünen Leuchtens durchtränkte. Bei diesem Anblick bohrte sich tiefes Entsetzen in Meiriels Herz. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, während sie zitternd und mehr oder weniger unbewußt einen magischen Schild um sich herum errichtete. Sie bezweifelte, daß er der Macht des Stabes lange würde standhalten können, aber vielleicht würde er ihr die Zeit verschaffen, die sie brauchte.
»Du siehst blaß aus, Meiriel. Hast du einen Geist gesehen?« Aurians Stimme war wie ein Peitschenschlag. In ihren Augen brannte das silbrige Feuer eisigen Zorns. »Gib mir mein Kind zurück.«
Die Verzweiflung gab Meiriel ein gewisses Maß an Mut. Sie preßte Wolf noch fester an die Brust, um eine Hand an seine Kehle zu legen. »Zwing mich doch, ihn dir zurückzugeben«, höhnte sie. »Schlag mich, und dein Balg folgt mir in den Tod. Wenn du auch nur den leisesten Versuch unternehmen solltest, in Gedanken nach deinen Freunden zu rufen, werde ich ihn ermorden.«
Aurian zitterte vor Anstrengung. Noch immer war sie geschwächt und entkräftet von der tödlichen Wunde, die sie empfangen hatte, und dem Verlust der Energie, die ihre Heilung sie gekostet hatte. Noch nie war es so wichtig gewesen, daß sie einen klaren Kopf behielt, obwohl der Anblick ihres Kindes in den Klauen Meiriels ihr beinahe das Herz zerriß. Innerlich verfluchte die Magusch die Himmelsleute, die zu feige gewesen waren, sich auf das Gebiet ihrer alten Katzenfeinde zu wagen und bei dem Angriff auf eine Magusch ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das Widerstreben der Geflügelten hatte Aurian kostbare Augenblicke gekostet, während sie sich allein aus ihrem Netz befreien mußte. Hätte sie Meiriel angreifen können, solange ihre Feindin noch durch den Staub in ihren Augen geblendet war, wäre mittlerweile alles vorbei und Wolf in Sicherheit gewesen.
Verschiedene Möglichkeiten überschlugen sich in Aurians Gedanken und wurden eine nach der anderen verworfen. Selbst die Möglichkeit, sowohl ihre Feindin als auch Wolf aus der Zeit herauszunehmen, bis sie Hilfe holen konnte, kam nicht in Frage. Bei dem Schild, den Meiriel um sich herum errichtet hatte, würde ihr immer noch genug Zeit bleiben, das Kind zu töten, bevor der Zauber seine Wirkung zeigte. Das einzige, was die Magusch tun konnte, war Zeit schinden – und hoffen, daß ihre Kameraden auf die Idee kamen, den Tunnel zu durchsuchen, bevor es zu spät war.
Aurian betrachtete die Wahnsinnige mit dem verwüsteten Gesicht, dem verfilzten Haar und den wilden Augen und erinnerte sich voller Traurigkeit an die ordentliche, energische, tüchtige Heilerin, die ihr einst das Leben gerettet und ihr Dinge beigebracht hatte, die sich wieder und wieder als Segen erwiesen. »Warum nur, Meiriel, warum?« flehte sie. »Wo liegt der Sinn in alledem? Siehst du denn nicht, daß Miathan dein Feind sein sollte und nicht ich? Ich kann einfach nicht glauben, daß du – ausgerechnet du! – einem unschuldigen Kind etwas antun würdest …«
»Einem Kind?« kreischte Meiriel. »Das da ist ein Ungeheuer!«
Aurian biß die Zähne zusammen und zügelte ihren Zorn, da sie es nicht wagen konnte, die Wahnsinnige weiter zu reizen. »Wolf ist ein normales Kind, Meiriel – nur daß Miathan ihn verflucht hat. Wenn du deine Fähigkeiten mit den meinen vereinen würdest, könntest du mir helfen, den Fluch …«
Meiriels Gesicht verzerrte sich vor Haß. »Dir helfen?« höhnte sie. »Wenn du nicht gewesen wärst, dein stinkender sterblicher Liebhaber und dieses Halbblutmonster unter deinem Herzen, würde mein Finbarr immer noch leben.«
Das war es also! »Dann stecken wir jetzt also in einer Sackgasse«, sagte sie gepreßt. »Ich kann dich nicht angreifen, solange du Wolf in den Armen hältst, aber solltest du ihn töten, verlierst du dein einziges Faustpfand – und in diesem Falle wäre der Tod die erfreulichste aller Alternativen, die das Schicksal für dich bereithält.«
»Das könnte wohl sein – wenn du mich hier festhalten könntest«, gab Meiriel zurück. Aurian sah, wie sich die Stirn der Magusch vor Konzentration zusammenzog. Sie vollführte eine scharfe Bewegung mit ihrer freien Hand, und die Luft um sie herum begann zu schimmern, während sie selbst blasser wurde … Aber Aurian, der die Kraft des Stabes zu Gebote stand, durchschaute die Illusion, ihre Gedanken überschlugen sich, und sie faßte einen Plan. Während Meiriel ihren Unsichtbarkeitszauber wob, konnte ihre Feindin unmöglich gleichzeitig einen magischen Schild aufrechterhalten. Sie fluchte, sah sich wild um und täuschte Bestürzung vor. Und als Meiriel in dem festen Vertrauen, unsichtbar zu sein, davonschleichen wollte, schlug Aurian zu, wobei sie den Erdenstab fallenließ, um mit beiden Händen ihre Klinge führen zu können. Coronach schwang mit einem funkelnden, tödlichen Bogen durch die Luft und bohrte sich in Meiriels Hals. Ohne einen Laut brach die Wahnsinnige zusammen – aber noch während ihr Geist entfloh, verfing sich ein letztes geflüstertes, verklingendes Wort in Aurians Gedanken …
»Finbarr …«
Dann schrie Aurian auf und stürzte, selbst bis ins Innerste getroffen von Meiriels Todeskampf, auf die Knie. Ohne Zeit zu verlieren, kroch sie jedoch sogleich halb blind vor Schmerz und mit dröhnendem Schädel auf Händen und Knien über Steine, die schlüpfrig geworden waren von warmem Blut. Mit ungeheurer Kraftanstrengung rollte sie Meiriels schlaffen Körper herum. Der Kopf, halb abgetrennt vom Rumpf, fiel zur Seite, aber die Magusch hatte keine Augen für den gräßlichen Anblick. Der Schmerz, den die Todesqualen ihrer Gegnerin in ihr auslösten, verebbte langsam; nun konnte sie auch wieder klar sehen. Wolf lag unter einer Falte von Meiriels Umhang und stieß ein jämmerliches, verängstigtes Wimmern aus. Aurian zerrte an dem schweren, durchnäßten Stoff, zog ihn beiseite und riß ihr blutüberströmtes, weinendes Kind in die Arme.
Eine schnelle Überprüfung mit ihren Heilerinnensinnen bestätigte schon bald, daß Wolf bis auf Kälte und Hunger und ein oder zwei Schrammen nur geringen körperlichen Schaden genommen hatte, aber auch wenn die geistige Verbindung zwischen ihnen seit seiner Geburt schwächer geworden war, konnte Aurian seine Angst und seine Qual spüren. Da er ihre Erbe teilte, schien es wahrscheinlich, daß das Kind ebenfalls die Todeskrämpfen seiner Entführerin miterlebt hatte. Aurian versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, damit sie Wolf beruhigen und trösten konnte. Zu schwach vor Erleichterung, um auch nur aufzustehen, kniete sie nach wie vor in Meiriels Blut, wiegte ihren Sohn sanft in den Armen und dankte den Göttern, daß er in Sicherheit war.
In diesem Augenblick stürmte Anvar, dicht gefolgt von Chiamh, aus dem Tunnel heraus. Nach einer verzweifelten, fruchtlosen Suche nach Meiriel hatten ihre Todeskrämpfe ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen – und mit ihrer Hilfe war es ihm dann auch endlich geglückt, sie zu finden. Als er Aurian mit Wolf in den Armen sah, wie sie über dem Körper der Magusch kauerte, hätte sein Herzschlag um ein Haar ausgesetzt. Er rannte zu ihr hinüber; in seinen Gedanken überschlugen sich widerstreitende Gefühle von Ärger, Zorn und Erleichterung, und als er neben ihr auf die Knie sank, konnte er kaum schnell genug sprechen, so viele Fragen wollte er auf einmal stellen.
»Bist du in Ordnung? Geht es Wolf gut? Bist du verrückt, hier rauszukommen und zu kämpfen, so kurz, nachdem sie dich beinahe umgebracht hätte?«
Zum ersten Mal löste Aurian den Blick von ihrem Kind, und ein zorniges Funkeln blitzte in ihren Augen. Sie sah erst Anvar an und dann das Windauge. »Ich mußte kommen. Seht doch selbst, wie sehr ihr beide diese Sache verpfuscht habt«, brauste sie auf. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck weicher, und sie legte Anvar eine Hand auf den Arm. »Es tut mir leid. Das wollte ich nicht – obwohl du mehr verdient hättest als harte Worte, nachdem du versucht hast, mir einen Schlaftrunk in den Wein zu mischen. Ihr Narren – dachtet ihr denn wirklich, ich würde auf so etwas reinfallen?«
Anvar blickte zu Chiamh hinüber und sah, daß sich sein Verdruß in den Zügen des Windauges widerspiegelte. Dann brach er zu seiner eigenen Überraschung in lautes Gelächter aus. Es war reine Erleichterung, das wußte er – und außerdem eine Reaktion auf die Qualen der vergangenen Stunden: Wolfs Entführung, Aurian, die beinahe zu Tode gekommen wäre, der blutige Kampf der Katzen und die körperlichen und geistigen Schmerzen, die Meiriels Tod auch ihm zugefügt hatte. Aurian fing seinen Blick auf, und plötzlich stimmte sie in sein Lachen ein. Obwohl ihr Gelächter für eine Weile gefährlich außer Kontrolle geriet, spürte Anvar, wie die Ängste und Sorgen der Nacht langsam von ihm abfielen, als ließe der Druck in seinem Innern endlich nach.
Schließlich verwandelte sich Aurians Lachanfall in etwas, das verdächtig nach einem Schluchzen klang, und sie umarmte Anvar unbeholfen, mit Wolf zwischen ihnen. Anvar erwiderte ihre Umarmung mit Rücksicht auf das Junge so vorsichtig wie nur möglich, bevor sie sich widerstrebend voneinander lösten und unsicher vom Boden aufstanden. Dann sahen sie zu dem verblüfften Windauge hinüber. Aurian klopfte ihm auf die Schulter. »Ich danke dir, Chiamh, mein Freund. Ich danke dir für alles, was du heute nacht getan hast – aber nächstes Mal versuch nicht, mir eine von deinen seltsamen Xandim-Drogen in den Wein zu mischen.«
Chiamh lächelte sie ein wenig töricht an. »Das scheint auch wenig Sinn zu haben – aber, Lady, du mußt dich jetzt ausruhen, sonst setzt du noch deine Genesung aufs Spiel.«
»Du hast recht – ich bin so müde, daß ich mich kaum auf den Beinen halten kann.« Aurian seufzte und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Dann zog sie eine Grimasse; ihr Ärmel hatte einen Blutfleck auf ihren Wangen hinterlassen. »Außerdem müssen wir Wolf nach Hause schaffen – und wo stecken eigentlich Shia und Khanu?«
Anvar sah, wie sie besorgt die Stirn runzelte. »Unten im Canyon – ich weiß nicht, was ihnen zugestoßen ist. Chiamh und ich haben sie bei unserer Suche nach Meiriel aus den Augen verloren …« Seine Worte verklangen. Aurian hörte ihm nicht zu. Ihr Blick wurde leer, während sie sich anschickte, nach den Katzen zu rufen – dann riß sie plötzlich die Augen auf. »Shia sagt, Hreeza sei hier – und sie sei verletzt.«
»Hreeza?« Anvar schnappte nach Luft. »Wie, zum Kuckuck, ist die denn hierhergekommen?«
Aurian zuckte mit den Schultern. »Laß es uns rausfinden. Nein – warte.« Plötzlich drückte sie Anvar Wolf in die Arme und drehte sich wieder zu Meiriels Leiche um. Anvar konnte die Spannung in ihrem Kiefer sehen, als sie sich über den schauerlichen Kopf beugte und die ins Leere starrenden Augen schloß. Einen winzigen Moment blieb Aurian so stehen, ihre Hand strich das verfilzte Haar der Magusch glatt, und Anvar war verblüfft, als er plötzlich Tränen in ihren Augen glitzern sah. »Es tut mir leid, Meiriel«, wisperte sie.
»Was?« Anvar konnte nicht an sich halten. »Warum sollte es dir leid tun? Sie hatte die Absicht, Wolf zu ermorden, und es fehlte wahrhaftig nicht viel, und sie hätte dich getötet.«
Aurian schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise. »Das war nicht Meiriel. Ich betrauere das Dahinscheiden der Heilerin, die ich einst gekannt habe, der Frau, die einst eine Freundin war, die mir das Leben gerettet hat, als ich ein kleines Mädchen war – und die mich in den kostbaren Künsten des Heilens unterwiesen hat.« Dann wurde ihr Gesichtsausdruck hart. »Was die Wahnsinnige betrifft, die versucht hat, meinen Sohn zu töten – die hat bekommen, was sie verdient hat.«
Dann sprang sie entschlossen auf, wischte sich die blutigen Hände an ihrem Umhang ab und hob sie hoch über ihren Kopf. Auf ihren Befehl hin entsprang ihren Fingern ein zischender Flammenstrahl, der Meiriels blutüberströmten Körper auf der Stelle verzehrte.
»Jetzt können wir gehen.« Aurian wandte sich von dem Scheiterhaufen ab und streckte die Hände aus, um den Erdenstab aus der Blutlache herauszuholen, in der er noch immer lag. Anvar, der mitbekam, daß das Artefakt mit dem Lebensblut einer Magusch besudelt worden war, spürte, wie ein Schaudern des Unbehagens über seinen Rücken kroch – und seine Gedanken gingen in die gleiche Richtung wie die seiner Seelengefährtin.
»Verdammt!« murmelte Aurian. »Durchtränkt mit Blut – das bedeutet nichts Gutes.« Vorsichtig streckte sie die Hand nach dem Stab aus, ergriff ihn – und schrie laut auf, wobei sie ihn um ein Haar überrascht wieder fallen gelassen hätte. Als ihre Finger das Artefakt berührt und hochgehoben hatten, war es für einen winzigen Moment mit einem blendenden smaragdfarbenen Glühen aufgeflammt – und als der Glanz nachließ, war von dem Blut keine Spur mehr zu sehen.
»Unglaublich!« flüsterte Anvar.
Aurian hielt den Stab mit spitzen Fingern fest, als könnten die Zwillingsschlangen sie beißen. »Ja«, murmelte sie, »aber warum?«
Chiamh trat einen Schritt nach vorn, um mit seinen kurzsichtigen Augen den Stab zu begutachten, obwohl er es sorgfältig vermied, ihn zu berühren. Dann heftete er seinen Blick auf die Magusch. »Herrin – warum hast du es vorgezogen, die Wahnsinnige mit deinem Schwert zu töten statt mit diesem machtvollen Werkzeug der Magie?«
»Ich …« Aurian runzelte die Stirn. »Nun, zum einen hatte ich große Angst, daß ich Wolf Schaden zufügen könnte. Aber hauptsächlich habe ich es deshalb nicht getan, weil es einfach nicht richtig gewesen wäre.« Sie geriet kurz ins Stocken. »Der Stab ist eine der Vier Großen Waffen, die geschaffen wurden, um der Zerstörung entgegenzuwirken. Wenn ich ihn benutzt hätte, um jemanden zu verletzen, dann …« Sie schauderte. »Etwas Furchtbares wäre geschehen. Oh, es hätte funktioniert, da bin ich mir sicher, aber es hätte irgendeine Reaktion ausgelöst, eine Art Gegenschlag … Ich habe mich daran erinnert, was der Leviathan über eine Waffe sagte, die zwei Seiten hat …« Außerstande, es besser zu erklären, zuckte sie mit den Schultern.
Chiamh erschauderte. »Herrin, du bist sehr weise – und der Göttin sei Dank dafür.«
Voller Sorge wurde Anvar plötzlich bewußt, wie bleich Aurian war. Obwohl sie versuchte, es zu verbergen, konnte er sehen, daß sie vor Erschöpfung zitterte. Während er Wolf vorsichtig in die Beuge seines linken Armes bettete, legte er ihr den rechten um die Schultern. »Komm jetzt – laß uns Shia suchen, und dann kehren wir in die Festung zurück.«
Aurian nickte. »Ich könnte einen ganzen Monat lang schlafen – aber soviel Zeit haben wir nicht.« Sie duckte sich unter seinem Arm weg und hob Coronach vom Boden auf, wischte die blutbefleckte Klinge an ihrem Umhang ab und steckte sie wieder in die Scheide. Dann schob sie sich den Stab in ihren Gürtel und streckte die Arme nach ihrem Sohn aus.
Die Steine in der Nähe des schwarzen Felsvorsprungs waren blutüberströmt. Das Blut heftete auf Aurians Stiefeln und bedeckte ihre Hände, die sie benutzen mußte, um das letzte Wegstück die steile Anhöhe hinauf zu bewältigen. Mit einem Schaudern wischte sie sich ihre klebrigen Finger an dem Saum ihres nun schon so häufig mißbrauchten Umhangs ab und sehnte sich nach einem Becher guten, starken Ales, um den metallischen Geschmack, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte, endlich loszuwerden.
Aurian blickte zurück und sah Chiamh, der gemeinsam mit Wolf am Fuß des Hügels wartete, während Anvar hinter der Magusch her kletterte. Auch er war blaß und wirkte angespannt. Glücklicherweise hatte es bei den Katzen weniger Opfer gegeben, als Aurian nach Anvars kurzem Bericht über die Schlacht vermutet hatte, aber einige der Verletzungen, die sie auf ihrem Weg durch den Canyon gesehen hatte, waren schrecklich gewesen. Nachdem sie von Shia erfahren hatte, daß Hreezas Leben nicht in Gefahr war, hatte Aurian ihre Hilfe angeboten, wo sie nur konnte, obwohl ihre Bemühungen nur von vergleichsweise geringem Erfolg gekrönt waren, und das trotz der Kraft, die sie sich von dem erschöpften Anvar geliehen und mit ihrer eigenen sowie der Macht des Stabes vereint hatte.
Khanu, dessen dichtes Fell an einigen Stellen aufgerissen war und der an einem Ohr eine heftig blutende Schnittwunde davongetragen hatte, war den Magusch quer durch den Canyon entgegengekommen, um sie zu Shia und in Sicherheit zu bringen. Als sie auf dem Gipfel ankamen, führte er sie stolz durch die dichten Reihen von Katzen, die dort warteten. Es war ein atemberaubender Anblick. Eine von diesen großen Katzen allein war schon ehrfurchtgebietend in ihrer Größe und Kraft, aber so viele von ihnen nebeneinander zu sehen … Erstaunt ließ Aurian ihre Blicke über die Tiere gleiten: anmutige, muskulöse Weibchen und grobknochige Männchen, prächtig anzuschauen mit ihren struppigen Halskrausen; ergraute Veteranen, langbeinige Jungtiere und flaumige, goldgesprenkelte schwarze Katzenbabys, deren Pfoten und Ohren noch viel zu groß für sie waren. Aurian mußte schmunzeln. Hundert goldene Augen blitzten und flackerten im frühen Sonnenlicht wie ein Drachenschatz, während die großen Katzen, allesamt von schweigender Neugier erfüllt, sie vorübergehen ließen. Aurian erhaschte einen Blick auf die gewaltigen geschwungenen Klauen und die glitzernden Fangzähne und war plötzlich sehr froh, daß sie Shia als Fürsprecherin hatte. Sie war ein Eindringling, ein verhaßtes menschliches Wesen, und wäre sie allein gewesen, hätte sie nicht lange genug gelebt, um auch nur einen weiteren Atemzug zu tun. Überrascht erinnerte sie sich plötzlich an ihre erste Begegnung mit Shia in der Khazalim-Arena. Das Band zwischen ihnen war inzwischen so stark, daß es unmöglich schien zu glauben, ihre geliebte Gefährtin hätte sie damals beinahe getötet.
Shia stand an der Spitze des Felsvorsprungs und wachte über Hreeza. Die alte Katze, die zwar arg gebeutelt war und aus vielen Wunden blutete, hob mit sturem Stolz den Kopf, um zuzusehen, wie die Magusch ihre Freundin in die Arme schloß. »Dank den Göttern, daß du in Sicherheit bist«, sagte sie zu der Katze. »Wie hast du all diese Kämpfe nur unversehrt überstehen können?«
»Die meisten von ihnen waren sehr froh, mich zu sehen«, erwiderte Shia selbstgefällig. »Obwohl eine dabei war, die sich nicht gefreut hat.« Aurian folgte ihrem Blick zu dem Leib einer riesigen Katze, die in der Nähe lag. Der muskulöse, durchtrainierte Körper war im Tod erschlafft. Shia ihrerseits sah ihre Leute an. »Gristheena ist besiegt!« Das Donnern ihrer Gedankenstimme schwoll zu einem tosenden Brüllen an, das selbst die Steine unter ihnen erbeben ließ. »Wer wird euch jetzt führen?«
»Shia! Shia!« Allein die Lautstärke ihrer Antwort war genug, um Aurian beinahe umzuwerfen. Sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um sich nicht erschrocken die Ohren zuzuhalten.
»Nein!« Shias Erwiderung brachte das Gebrüll der Katzen zum Verstummen.
Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, bis eine alte hohläugige Chueva aus den hintersten Reihen der versammelten Katzen ihre Stimme erhob: »Wenn du uns nicht führen wirst, wer wird es dann tun?« Gedämpftes Murmeln war zu hören, in dem die Freunde der Sprecherin sie offensichtlich zum Schweigen zu bringen versuchten. Dann erhob sich die alte harsche Stimme abermals: »Nun, irgend jemand muß es doch sagen! Sei keine Närrin, junge Shia. Du mußt uns rühren. Willst du vielleicht, daß wir so etwas noch einmal erleben?« Ihre knochige Pfote zeigte auf die vielen Verwundeten, die auf dem Boden des Kraters lagen. »Unser Volk hat schrecklich gelitten unter diesem letzten grausamen Winter. Darunter und unter der Ungerechtigkeit von Gristheenas Herrschaft. Unsere Zahl hat sich traurig verringert. Gerade jetzt ist ein starkes Erstes Weibchen von ungeheurer Wichtigkeit, sonst wird unser Stamm sterben. Willst du uns weiter schwächen, indem du die besten von uns einer Herausforderung nach der anderen aussetzt, bis wir endlich eine neue Führerin haben?«
Obwohl die streitsüchtige alte Katzendame mit ihrer freien Rede alle Regeln gebrochen hatte, erhob sich nun ein zustimmendes Murmeln.
»Seid still!« unterbrach Shia die anderen Katzen. »Taheera hat weise gesprochen, oder etwa nicht? Aber sie ist alt. Zu alt, fand Gristheena, um unserem Stamm weiterhin von Nutzen zu sein. Zu alt für eine Herausforderung. Nur den Stärksten war es gestattet, bei unserem Stamm zu bleiben. Nur die Stärksten konnten regieren. Aber seht doch, wohin uns unsere Anbetung von Jugend, Kraft und Stärke geführt hat.« Nun war es an ihr, die anderen an all die Katzen zu erinnern, die sich unten im Krater in Schmerzen wanden.
»Mein Volk, es ist Zeit für eine Veränderung. Wir müssen uns unsere Fähigkeiten bewahren, soviel steht fest: Wir müssen zum besten unseres Stammes unsere Jäger und Krieger ausbilden, ermutigen und unterstützen. Aber Weisheit soll uns führen!« Shia hielt inne, und ihre goldenen Augen glitten über die versammelten Katzen. »Nach dem Recht der Herausforderung gebührt der Rang des Ersten Weibchens mir, aber ich kann nicht hierbleiben, um euch zu führen. Die Bande der Freundschaft halten mich fest, und mein Weg führt in eine andere Richtung, denn nicht nur hier auf dem Stahlklaueberg wird die Sicherheit unseres Volkes bedroht. Mit eurem Einverständnis werde ich für die Zeit meiner Abwesenheit eine andere Regentin ernennen. Ich werde die Sicherheit unseres Stammes der kühnen Katze überantworten, die es gegen alle Hoffnung gewagt hat, Gristheena herauszufordern; der weisen Katze, die eure verbannten Freunde und Höhlengefährten heimgeführt und vor dem Hungertod in den Bergen bewahrt hat. O Katzen, habt ihr aus all dem Leiden und Sterben gelernt? Wollt ihr das Gesetz von Klauen und Zähnen und Angst verwerfen und euer Vertrauen in die Weisheit setzen? Wollt ihr Hreeza als eure Führerin akzeptieren?«
»Was?« rief Hreeza. »Mich?«
Aurian spürte den warmen Ton in Shias Gedanken, der Belustigung verriet. »Natürlich, alte Freundin«, sagte die große Katze. »Wer wäre besser geeignet als du?«
Die Katzen sahen einander wie vom Donner gerührt an. Shias Rückkehr hatte sie in Aufruhr gestürzt. Zuerst waren sie von einer wilden Freude erfüllt gewesen und dann entsetzt darüber, daß sie ausgerechnet Menschen mit ihrer Freundschaft auszeichnete. Aurians Hilfe bei den Verwundeten hatte jedoch eine ganze Menge dazu beigetragen, ihnen klarzumachen, daß nicht alle Zweibeiner böse waren, und jetzt, da Shia sie von ihrem unmittelbar bevorstehenden Aufbruch informiert hatte, waren sie entsetzt über ihre Entscheidung, sie so bald wieder zu verlassen. Aber obwohl die bitteren Lektionen der vergangenen Nacht ihre Spuren hinterlassen und sie bewogen hatten, Shias mitreißenden Worten zu lauschen, war eine Zustimmung zu diesem Vorschlag doch etwas ganz anderes. Der Verzicht auf den Ritus der Herausforderung ging gegen jeden Glauben des Stammes.
Es entstand ein langes Schweigen. Dann erhob sich aus den letzten Reihen der Versammelten eine vereinzelte Stimme. »Nun, ich meine, wir sollten Hreeza als unsere Führerin akzeptieren.« Es war natürlich wieder die unbezähmbare Taheera. »Was haben wir schon zu verlieren?« fuhr die alte Katze fort. »Wir haben es nun schon so lange auf andere Art versucht – und seht, wohin uns das geführt hat. Wir alten Katzen haben viele Jahreszeiten auf dem Buckel. Wir haben unsere Zeit gehabt, haben gejagt, haben Junge zur Welt gebracht; wir haben Krankheit und Not erlebt und überlebt; haben Kriege und Rebellion innerhalb und außerhalb des Stamms gesehen. Wir erinnern uns; wir sind weise. Sollten wir, nur weil wir zu alt sind, um zu kämpfen und zu jagen und Junge zu tragen, beiseite geschoben werden? Warum macht sich der Stamm unser Wissen nicht zunutze? Soll Hreeza ihr Glück versuchen, meine ich – und wir alten Chueva werden ihr helfen. Gebt ihr eine Chance. Wenn sie versagt, können wir immer noch auf die alten Methoden zurückgreifen.«
Als die alten Chueva ihre Stimmen erhoben, um Taheera beizupflichten, erhob sich auch ein Sturm der Zustimmung. Die jüngeren Katzen unterhielten sich flüsternd miteinander, unentschlossen und vielleicht voller Widerwillen, in Zukunft auf ihre Autorität zu verzichten. »Schöne Worte«, sagte eine von ihnen, »aber was ist, wenn wir uns verteidigen müssen? Wie soll eine alte Katze uns in die Schlacht führen?«
Shia warf nun das ganze Gewicht ihrer Worte in die Debatte: »Hreeza muß unter den jungen, kräftigen Katzen eine Kriegerin auswählen, die diese Aufgabe übernimmt. Außerdem sollte sie unter den Fähigsten von euch nach einer Jagdführerin Ausschau halten. Gebt ihr ein Jahr und seht, was passiert«, sagte sie eindringlich. »Unter Hreezas Herrschaft wird der Stamm, da bin ich mir ganz sicher, bestens gedeihen.«
»Das möchte ich ihr auch geraten haben«, murmelte eine vereinzelte Stimme von irgendwo in der Menge, aber davon abgesehen erhoben sich keine weiteren Einwände. »Hreeza! Hreeza soll uns führen!« brüllte Taheera, und als die anderen Katzen in ihren Ruf einstimmten, bebten erneut die Berge. »Hreeza! Hreeza!«
Hreeza wandte sich mit flammenden Augen an Shia. »Jetzt sieh, was du angerichtet hast, du junge Närrin«, brauste sie auf.
Aber Aurian konnte sehen, daß sie insgeheim zutiefst erfreut war. »Hier, laß mich einen Blick auf deine Verletzungen werfen«, sagte sie zu der alten Katze. »Weiß der Himmel, du wirst in nächster Zeit alle Hände voll zu tun haben, und es ist bestimmt vernünftiger, wenn du deine Herrschaft bei bester Gesundheit antrittst.«
Anvar zog die geschnitzte Knochenflöte aus der Tasche, die man den Magusch gegeben hatte, damit sie die Himmelsleute aus der Luft herbeirufen konnten. »Und sobald du Hreeza geheilt hast, müssen wir zurück nach Hause«, fügte er entschlossen hinzu.
Aurian blickte hinauf zu den hoch aufragenden Bergen eines fremden Landes und seufzte. »Nichts lieber als das – wenn wir nur ein Zuhause hätten.«