22 Flucht durch den Fluß

Seit Benziorn ihm die Hand amputiert hatte, waren die Tage für Vannor ein endloses Labyrinth aus Angst und Schmerz gewesen. Das Schlimmste war, daß er die Hand immer noch spüren konnte, als hätte er sie überhaupt nicht verloren, und das, obwohl er den bandagierten, häßlichen Stumpen, der auf den Decken lag, deutlich sehen konnte. Wenn er die Augen schloß oder fortschaute, konnte er spüren, wie sich seine Finger zur Faust ballten und wieder öffneten. Und für etwas, das gar nicht da war, tat die Hand höllisch weh – trotz des Gebräus, das Benziorn ihm immer wieder zu trinken gab und das eigentlich die Schmerzen dämpfen sollte.

Obwohl er genau wußte, daß die körperliche Verletzung mit der Zeit heilen würde, schien Vannors Geist durch den Verlust seiner Hand endgültig gebrochen zu sein. Seine Tage als Führer der Rebellen gehörten der Vergangenheit an. Welchen Nutzen hatte er jetzt noch, verkrüppelt und verstümmelt wie er war? Wie sollte er weiter gegen die Magusch kämpfen, wenn er noch nicht mal ein Schwert führen konnte?

Warum ich? war die Litanei, die wieder und wieder durch seinen Kopf hallte. Warum mußte das ausgerechnet mir passieren? Warum konnte es nicht einem Strauchdieb oder einem dieser räuberischen, menschlichen Wracks vom Hafen zustoßen – oder diesen verfluchten Magusch selbst?

Vannor ertrug niemanden in seiner Nähe – nicht mal seine geliebte Zanna, obwohl diese darauf bestand, an seinem Bett zu sitzen. Der Schmerz in ihren Augen, wenn er wieder einmal seine Wut an ihr ausließ, brach ihm fast das Herz, und doch konnte er nicht dagegen an. Er wollte niemanden bei sich haben und schon gar nicht seine geliebte Tochter – niemand sollte ihn so sehen. Er hatte keine Zukunft mehr; ihn erwartete nur noch Dunkelheit. Die einzige Linderung fand er im Schlaf, aber trotz der Mittelchen, die Benziorn ihm verabreichte, stellte sich der Schlummer stets nur langsam ein. Wenn Vannor ehrlich zu sich selbst war, mußte er zugeben, daß er am liebsten gestorben wäre – aber die tief in ihm verwurzelte Sturheit, die sosehr Teil seines Wesens war, wollte ihm nicht gestatten, diese letzte Zuflucht ernsthaft zu suchen.

Also lag er da, und es war wieder mal ein Tag wie alle anderen; er ertrank in den Tiefen des Selbstmitleids; lag wach und quälte sich mit den Schmerzen in seiner Hand und dem noch größeren Schmerz in seinen Gedanken und fragte sich, ob es jemals einen Ausweg aus dieser Folter geben würde. Der Kaufmann hatte schon eine ganze Zeit das leise Gemurmel aus der Küche gehört, die direkt unter seinem Zimmer lag, aber plötzlich wurden die Stimmen lauter und zornig, so daß sie schließlich in sein Bewußtsein drangen und er sogar verstehen konnte, was gesagt wurde.

»Die Stadt verlassen?« rief Zanna. »Das kann doch nicht dein Ernst sein! Mein Vater ist in einem Zustand, in dem er eine solche Reise unmöglich wagen könnte!«

Benziorn seufzte geduldig. »Ich bin sein Arzt, Mädchen, glaubst du, ich wüßte das nicht? Es ist das letzte, was ich freiwillig täte, aber wir sind hier nicht mehr sicher. Willst du, daß die Magusch deinen Vater wieder in ihre Gewalt bekommen?«

»Du hinterlistiger Mistkerl!« brauste Zanna auf. »Das ist nicht fair. Du weißt, daß ich darauf keine Antwort habe. Aber sieh doch«, bat sie, »es sind kaum drei Wochen vergangen, seit du amputiert hast. Er braucht immer noch Ruhe und Zeit … Wie soll er mit nur einer Hand durch die Abwasserkanäle laufen?«

»Also, ich finde, die Kleine hat recht«, ertönte jetzt Hebbas streitsüchtige Stimme. »Der arme Herr liegt immer noch krank im Bett. Wie kannst du auch nur daran denken, ihn in diese schmutzigen, stinkenden Kanäle runterzuschicken?«

Vannor mußte lächeln – das erste Mal seit Tagen. Die anderen hatten der Köchin wohl gesagt, daß sie um ihrer eigenen Sicherheit willen mitkommen müsse, und nichts auf der Welt würde diese furchtsame, schreckhafte Frau dazu bringen, freiwillig den Marsch durch die Abwasserkanäle auf sich zu nehmen.

»Du wirst ihm helfen«, mischte sich jetzt Yanis in das Gespräch ein. »Keine Angst, Hebba, er wird es schon schaffen. Wir alle werden es schaffen. Auch wenn mein eigener Arm gerade erst angefangen hat zu heilen …«

»Also, wie könntest du da jemand anderem helfen, du Narr?« rief Zanna erregt.

»Es wird alles wieder gut, Zanna, du wirst schon sehen.« Das war Tarnals Stimme. Vannor konnte den ernsthaften und schweigsamen jungen Mann direkt vor sich sehen, wie er Zanna tröstend eine Hand auf den Arm legte. »Ich werde ihm helfen«, sagte er leise. »Wenn wir unterwegs irgendwelche Schwierigkeiten haben, können wir beide, du und ich, Vannor helfen, und Benziorn steht Yanis zur Seite. Aber Benziorn hat recht. Wir dürfen das Risiko, noch länger in Nexis zu bleiben, nicht auf uns nehmen. Du und dein Vater, ihr seid Flüchtlinge, und mit jedem Tag, der vergeht, zieht sich Miathans Netz enger zusammen. Schon jetzt reicht den Soldaten der geringste Grund, um Häuser zu durchsuchen, und wir wissen, daß auf deinen Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist. Hebbas Nachbarn müssen mittlerweile gemerkt haben, daß sie nicht mehr allein lebt. Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis sich die ersten Gerüchte herumsprechen und die Leute anfangen, zwei und zwei zusammenzuzählen?«

»Aber was ist mit einer Infektion?« wandte Zanna flehend ein. »In den Kanälen …«

»Zanna, laß uns aufhören, um den heißen Brei herumzureden.« Benziorns Stimme war ganz weich vor Mitgefühl. »Gib es zu – es ist nicht Vannors Körper, um den du dich sorgst, es ist sein Geist. Obwohl wir ihm in jeder nur erdenklichen Weise helfen, wird er bis zu einem gewissen Maß mitmachen müssen, und im Augenblick ist er so in Selbstmitleid versunken …«

Seine Worte wurden von einer schallenden Ohrfeige unterbrochen. »Wie kannst du wagen, so etwas zu behaupten!« schrie Zanna ihn an. »Mein Vater ist der tapferste Mann, den ich kenne. Niemand sonst hätte diesen Marsch durch die Katakomben und die Kanäle bewältigt, wie er es getan hat, verwundet und zu Tode erschöpft. Er kommt schon wieder auf die Beine – er braucht nur etwas Zeit …«

Ihre Stimme verlor sich, und man hörte nur noch leises Schluchzen. Eine Tür fiel mit lautem Knall ins Schloß, und Füße trampelten die Treppe hinauf. Anschließend vernahm Vannor den Klang herzzerreißenden Weinens aus dem Nebenzimmer.

Plötzlich fühlte sich der Kaufmann zutiefst beschämt. Während der ganzen letzten Zeit hatte er nur an sich gedacht und niemals einen Gedanken daran verschwendet, welch schreckliche Sorgen Zanna ausstehen mußte. Das arme Kind – ihre Mutter war bereits tot, und ihr Vater konnte ihr sogar noch weniger von Nutzen sein. Wie ein Donnerschlag traf es ihn, daß er in Wirklichkeit gar nicht nutzlos war: daß jemand ihn immer noch brauchte; daß jemand immer noch davon abhängig war, daß er stark und tapfer war – und immer noch mit felsenfester Überzeugung daran glaubte, daß er nichts von seiner alten Kraft eingebüßt hatte.

»Steh auf, du verdammter selbstsüchtiger alter Narr«, murmelte Vannor zornig bei sich. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um im Bett rumzuliegen und dir selber leid zu tun und über die Ungerechtigkeit der Welt zu jammern. Deine Tochter braucht dich!«

Das Verlassen des Bettes erwies sich als weit schwieriger, als der Kaufmann es sich je vorgestellt hätte. Ihr zermürbender Marsch durch die unterirdischen Kanäle war nichts im Vergleich zu dem Problem, sich auf Beinen hochzuziehen, die, wie es schien, zu zwei kraftlosen Stöcken geworden waren, während sich das Zimmer vor seinen Augen drehte. Innerlich lehnte sich Vannor gegen seine Schwäche auf und stellte fest, daß der Zorn ihm nicht nur half, sein Ziel schließlich zu erreichen, sondern auch viele der alles verzehrenden Zweifel und Ängste zu verscheuchen, die ihn während der letzten grauenvollen Tage in die Knie gezwungen hatten.

Vannor klammerte sich mit einer Hand an den Pfosten am Fußende des Bettes und fluchte wild, während er sich gleichzeitig fragte, ob er das verdammte Ding wohl jemals würde loslassen können, ohne sofort umzukippen. Wie, zum Teufel, sollte er den ganzen Weg bis ins nächste Zimmer schaffen? Er schleppte sich, soweit es ging, ohne den Bettpfosten loszulassen, und plötzlich schien ihm die Tür gar nicht mehr so weit entfernt zu sein. Er holte tief Luft, ließ los und taumelte durch den Raum, obwohl nicht viel gefehlt hätte, und er wäre der Länge nach hingestürzt. Der Kaufmann erreichte gerade noch rechtzeitig die Tür und lehnte sich dankbar gegen das herrliche, kräftige Holz; wie ein Betrunkener hing er schwer atmend an der Türklinke, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.

Bei allen Göttern – er war ja schon halb am Ziel. Er brauchte nur noch durch den winzigen Flur zu gehen … Plötzlich stellte Vannor fest, daß ihn seine Phantomhand nicht länger quälte.

In der Dunkelheit des vollgestopften kleinen Zimmers lag Zanna auf dem Bett und weinte in ihr Kissen. Sie war am Ende ihrer Kraft. So lange war sie, um ihres Vaters willen, tapfer gewesen, aber jetzt sah es so aus, als würde ihr Mut sie verlassen. Was sollen wir nur tun? dachte sie verzweifelt. Oh, wenn ich ihm doch nur irgendwie helfen könnte. Plötzlich hörte sie, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde. »Geht weg«, keifte sie, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. »Laßt mich doch alle in Ruhe!«

Sie spürte, wie sich jemand auf die Bettkante setzte, und dann zerzauste ihr eine vertraute, sanfte Hand das Haar. »Ich bin es, Kleines. Weine nicht mehr.«

»Vater!« Zanna schoß in die Höhe und schlang die Arme um ihn.

Vannor legte seinen gesunden Arm um sie. »Es wird alles wieder gut, mein Mädchen – hab keine Angst. Gib mir nur ein oder zwei Tage Zeit, bis ich meine Beine wieder unter Kontrolle habe, und dann brechen wir auf.«


Aus Nexis herauszukommen würde nicht leicht werden. Die Anzahl der Straßenpatrouillen hatte seit Vannors Flucht beträchtlich zugenommen, vor allem in der Nacht, und Zannas Beschreibung war überall in der Stadt bekanntgemacht worden. Die Belohnung, die Miathan für ihre Gefangennahme ausgesetzt hatte, war so groß, daß sich die Leute jedes Mädchen ihres Alters zweimal ansahen. Ausgerechnet Yanis war es jedoch, der schließlich die Lösung für dieses Problem fand. »Warum muß sie denn eigentlich ein Mädchen sein?« sagte er. »Warum kann sie sich nicht als Junge verkleiden?«

»Was?« rief Hebba empört. »Und sich ihr schönes Haar abschneiden und alles? Wie kann man nur auf so eine Idee verfallen?«

»Nun«, meinte Benziorn mit einem entschuldigenden Lächeln in Zannas Richtung. »Das scheint die einzige Lösung zu sein.«

»Keine Sorge, Hebba«, sagte Zanna entschlossen. »Die Haare kann ich mir ja wieder wachsen lassen.«

Aber später, als die dichte Mähne ihrer abgeschnittenen Locken auf dem Küchenboden lag und Zanna sich in Hebbas winzigem Spiegel ansah, fand sie den Plan lange nicht mehr so gut – um genau zu sein: Sie war maßlos entsetzt. Gütige Götter! dachte sie. Das kann doch unmöglich ich sein. Ich sehe ja aus wie eine Vogelscheuche. Sie hatte schon immer gewußt, daß sie nicht hübsch war, und deshalb schon vor langer Zeit aufgehört, sich Gedanken über ihr Aussehen zu machen, aber jetzt, da Hebba ihr die Haare geschoren hatte – und noch dazu schlecht –, wurde ihr unattraktives Äußeres um so mehr betont. Was würde Yanis, der selbst so hübsch war, von ihr halten, wenn er sie mit dem Mädchen Emmi verglich, nach dem er im Schlaf gerufen hatte? Er hatte gesagt, die Fremde sei schön …

Und Hebba war auch keine Hilfe – immer noch flatterte sie, entsetzt mit der Zunge schnalzend, um Zanna herum. »Du arme Kleine, was haben wir dir nur angetan? Dein ganzes schönes Haar – was für eine schreckliche Sache! Und noch dazu in deinem Alter! Also wirklich, welcher junge Mann würde dich jetzt noch ansehen – du siehst ja selber aus wie ein Junge! Wie konnte der Herr das nur erlauben … Ich habe es ihm gesagt, jawohl. Ach, wenn sie doch nur auf mich gehört hätten.«

Zanna konnte es nicht länger ertragen. »Halt den Mund, du dummes, altes Weib! Es war notwendig. Besser das, als den Magusch in die Hände zu fallen.«

»Nun, mir tut es jedenfalls sehr leid«, fuhr Hebba gekränkt auf. »Aber du regst dich sicher selber schon genug darüber auf.« Mit diesen Worten stürzte sie aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu.

Das verhaßte Spiegelbild verschwamm plötzlich vor Zannas Augen, als sie spürte, wie Tränen ihr die Kehle zuschnürten. Sie schluckte schwer, denn sie wollte sich den Männern gegenüber, wenn diese wieder in die Küche zurückkehrten, nicht verraten. Du Närrin! rief sie sich ärgerlich zur Ordnung. Was du zu Hebba gesagt hast, stimmte – es war notwendig. Wie kannst du dich nach allem, was du in diesen letzten Wochen durchgemacht hast, über so eine Kleinigkeit aufregen. Wenn dein Gesicht für diesen sogenannten Anführer der Nachtfahrer nicht gut genug ist, dann ist das sein Problem.

Aber nicht mal ihr gesunder Menschenverstand konnte sie wirklich trösten, und sie fürchtete sich vor dem, was sie in den Gesichtern der anderen lesen würde, wenn sie zurückkehrten.

Vannor war der erste, der hereintrat, und an der vorsichtigen Art, wie er seinen Kopf durch die Tür schob, erkannte Zanna, daß Hebba getratscht hatte. Schon der bloße Gedanke daran ließ sie vor Wut kochen. »Nun?« fuhr sie ihren Vater an. »Mach schon – lach mich ordentlich aus, damit wir die Sache endlich hinter uns bringen.«

Vannor schüttelte ernst den Kopf. »Ich sehe nichts, worüber ich lachen müßte. Ich konnte es nie verstehen, daß du dich nicht für hübsch hältst – Schönheit ist mehr als ein auffallendes Gesicht, wie deine Schwester und Sara es haben …« Ein leichtes Stirnrunzeln huschte bei dem Gedanken an seine verlorene junge Frau über sein Gesicht. »Aber wie dem auch sei«, fuhr er fort, »du darfst Hebba nicht erlauben, dich aufzuregen. Sie hat ein großes Herz und wenig Hirn, wie Dulsina zu sagen pflegte. Du siehst einfach wunderbar aus, mein Liebes – und wenn es dich wirklich so stört, denk daran, daß dein Haar etwas ist, das in Windeseile nachwachsen wird …«

Als seine Stimme sich plötzlich verlor, fuhr Zannas Blick schuldbewußt zu dem bandagierten Stumpen seiner Hand. Obwohl Vannor versuchte, es vor ihr zu verbergen, wußte sie, daß die Verletzung ihm immer noch große Schmerzen bereitete. Schließlich fand sie ihren Mut wieder, was nur gut war, da sie diesen dringend brauchte, als sie sah, wie Yanis’ Mund mit schlecht unterdrückter Belustigung zu zucken begann. Tarnal dagegen heiterte sie ein wenig auf. »Also wirklich! Ich habe nie bemerkt, was für schöne Augen du unter all diesem Haar hast!« rief er. Zanna wäre ihm am liebsten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen.

Die Flucht aus Nexis war für den folgenden Tag angesetzt, und die Flüchtlinge saßen bis spät in die Nacht um das Küchenfeuer herum und schmiedeten Pläne. Zanna in ihrer Jungenverkleidung und Hebba würden mit Tarnal – der darauf bestand, die Frauen zu begleiten – am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen, zu einer Zeit, da die Leute auf der Suche nach Nahrungsmitteln unterwegs und die Straßen besonders überfüllt waren; auf diese Weise hofften sie, in der Menge verschwinden zu können. Tarnal sollte sie sicher bis zur Walkmühle geleiten und in die Abwasserkanäle hinunterbringen, wo sie bis zum Einbruch der Abenddämmerung warten sollten; zu diesem Zeitpunkt würde dann Benziorn zusammen mit Yanis und Vannor zu ihnen stoßen. Tarnal sollte die Stadt währenddessen durch die Abwasserkanäle verlassen und zu den wenigen auswärts gelegenen Kaufmannsvillen gehen, die zu weit vor den Toren von Nexis lagen und daher nicht von Miathans großer Mauer eingeschlossen wurden. Dort sollte er die kleinen Bootshäuser am Fluß nach einem Boot absuchen, das er stehlen konnte.

»Und laßt uns hoffen, daß er eins findet«, warf Vannor an dieser Stelle ein, »sonst haben wir einen verdammt langen Marsch bis nach Wyvernesse vor uns.« Nach einigem Widerstreben hatte er sich von den anderen dazu überreden lassen, das Versteck der Schmuggler statt das Rebellenlagers anzusteuern, weil man ersteres auf dem Wasserweg erreichen konnte und ihm dadurch die Qual einer langen Reise durch das Moor erspart blieb. Es war die einzig vernünftige Lösung, aber das bedeutete nicht, daß er darüber glücklich sein mußte. Er wollte nicht nur zurück zu seinen eigenen Leuten, sondern dachte auch mit Angst und Schrecken daran, was einem kleinen Boot auf dem offenen Meer alles zustoßen konnte, selbst wenn sie sich dicht an der Küste hielten.

Zanna gab keine Antwort. Sie war ganz damit beschäftigt, sich um Tarnal zu sorgen. Er würde die mit Sicherheit gefährlichste Aufgabe bei ihrer Flucht übernehmen, da er sich auf das Territorium der gut bewachten Villen wagen mußte – und das noch dazu bei hellem Tageslicht.

Aber als Vannor sie am folgenden Morgen im Zwielicht vor der Dämmerung aus dem Schlaf riß, war Zanna viel zu müde, um sich über irgend etwas Gedanken zu machen. Zitternd und widerwillig zwängte sie sich in die kunterbunte Auswahl von Jungenkleidern, die Hebba für sie aufgetrieben hatte. Es war ein seltsames Gefühl, keine Röcke um die Beine zu spüren – sehr frei und gleichzeitig seltsam beengend. Während sie sich ein Stück Stoff stramm um die Brust band und sich anschließend einen weit fallenden, ausgefransten Umhang überwarf, der sie ganz und gar einhüllte, dachte sie kläglich, was für ein Glück es doch war, daß sie in dieser Hinsicht nicht viel zu verbergen hatte.

Als Zanna das enge kleine Zimmer, das sie mit der Köchin geteilt hatte, verließ und die Treppe hinunterging, waren die anderen bereits vollzählig in der Küche versammelt und scharten sich um das Feuer, tranken Taillin und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Hebba, die wie immer hin und her lief, um das Frühstück zuzubereiten, brach bei dem Gedanken, ihr geliebtes Zuhause zu verlassen, immer wieder in Tränen aus. In dieser Hinsicht war Vannor jedoch absolut unnachgiebig gewesen. Falls die Magusch jemals herausfinden sollten, daß Hebba den Flüchtlingen Zuflucht geboten hatte, war ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert. Ob es ihr gefiel oder nicht, er war fest entschlossen, sie zu retten.

Als er seine Tochter sah, fuhren Vannors Augenbrauen überrascht in die Höhe. »Bei den Göttern, Mädchen – ich hätte dich nie erkannt.« Dann nahm er sie unbeholfen in die Arme. »Weißt du«, sagte er leise, so daß nur sie allein es hören konnte, »als du geboren wurdest, war ich jung und dumm genug, mir zu wünschen, es wäre ein Sohn gewesen. Nun, ich möchte dir jetzt sagen, daß du viel tapferer und klüger warst und mir viel kostbarer, als irgendein Sohn es hätte sein können. Ich bin unendlich stolz auf dich.«

Vannors Worte drangen tief in Zannas Herz, und sie gaben ihr auch den notwendigen Mut, als sie zum ersten Mal seit drei Wochen über Hebbas Schwelle trat und sich auf die gefährlichen, feindseligen Straßen wagte. Plötzlich fühlte sie sich ganz und gar nackt, und das nicht nur wegen ihrer ungewohnten Kleider. Jeder Passant mußte ihr doch ansehen, daß etwas nicht mit ihr stimmte. Dann blinzelte Tarnal ihr zu. »Du bist ein Junge, vergiß das nicht. Du mußt nur die ganze Zeit daran denken. Und ich muß sagen, du bist ein sehr überzeugender Junge – obwohl du mir als Mädchen besser gefallen hast.«

Zanna erwiderte sein Lächeln und konzentrierte sich ganz auf ihre Rolle, während sie langsam durch die Straßen der Stadt wanderten. Sie war ein Junge, sagte sie sich entschlossen, ein Junge, der mit seinem Bruder unterwegs war; zusammen halfen sie ihrer Großmutter, zum Markt zu gelangen. Pflichtschuldigst nahm sie Hebba den schweren Korb ab und hakte die alte Köchin unter. Hebba zitterte in ihrem Umgang, und Zanna war plötzlich sehr dankbar für den Schal, der den Kopf der alten Frau einhüllte und ihr Gesicht fast verbarg.

Zanna war so in Gedanken versunken, daß sie das Getrampel von Stiefeln nicht hörte, bis Tarnals Ellbogen sich scharf in ihre Rippen bohrte. »Soldaten!« zischte er ihr zu. »Benimm dich ganz normal – denk daran, daß der Junge nichts zu befürchten hat.«

Sie war ihm für seine Warnung sehr dankbar – auf diese Weise hatte sie Zeit, sich zu fassen und einen Gesichtsausdruck anzunehmen, von dem sie hoffte, daß er liebenswürdige Dummheit verriet. Zanna starrte die Patrouille bewundernd an, als sie an ihr vorbeizog, und wünschte sich wie jeder Junge in diesem Alter, selbst ein Soldat zu sein und ein glänzendes Schwert zu tragen.

Als sie jedoch an den Soldaten vorbei waren, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Röcke anzuhaben, damit sie dem Zittern ihrer Beine hätte nachgeben können, ohne daß irgend jemand es bemerkte. Tarnal grinste ihr ermutigend zu. »Gut gemacht«, flüsterte er. »Sie haben nicht den geringsten Verdacht geschöpft.«

Die drei kamen noch an zwei weiteren Patrouillen vorbei, bevor sie das Flußufer erreichten, und zu diesem Zeitpunkt war Zanna, begeistert von dem Erfolg ihrer Verkleidung, sehr dankbar dafür, daß sie ihrer Eitelkeit nicht nachgegeben und sich die Haare hatte schneiden lassen. Aber als sie die Walkmühle erreichten und Tarnal das Gitter anhob, um sie in die schmutzigen, tropfenden, schleimüberzogenen Kanäle einzulassen, löste sich ihr Optimismus bei dem Gedanken, wieder in die Kanalisation hinunterzusteigen, abrupt auf. Die Erinnerung an diesen letzten, alptraumhaften Marsch, bei dem sie ihren verwundeten Vater durch die engen, stinkenden Tunnel geschleppt hatte, war noch zu frisch. Aber die Notwendigkeit, mit Hebbas Ängsten und Befürchtungen fertigzuwerden, ließ sie ihre eigenen vergessen. Irgendwie schafften Tarnal und sie es mit vereinten Kräften, die rundliche alte Köchin in den Tunnel hinunterzubefördern, obwohl Hebba ein solches Wehgeschrei anstimmte, daß Zanna ihr zu guter Letzt am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte.

Dann war nur allzubald der Zeitpunkt gekommen, sich von dem jungen Nachtfahrer zu verabschieden. Zanna begleitete ihn, soweit das Licht, das durch das Gitter fiel, reichte. Und als Tarnal ihr zum Abschied die Hand gab, kehrten alle Ängste, die Zanna um seinetwillen gehegt hatte, mit einer überwältigenden Woge der Verzweiflung zurück. Impulsiv schlang sie ihm die Arme um den Hals und preßte ihn an sich. »Paß auf dich auf«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Tarnal grinste und erwiderte ihre Umarmung. »Keine Angst – das tu ich.« Nachdem er ihr noch einen Kuß auf die Stirn gegeben hatte, war er schließlich fort. Geistesabwesend berührte Zanna die Stelle in ihrem Gesicht, an der sie noch immer den Abdruck seiner Lippen spüren konnte. Dann sah sie ihm nach, bis sein Licht an der nächsten Biegung des Tunnels verschwand, bevor sie mit zögernden, schleppenden Schritten zurückging, um Hebba zu trösten.


Tarnal sog dankbar die herrlich süße frische Luft ein, die ihn am Ausgang des Kanals empfing; er befand sich jetzt ein Stück flußabwärts auf der anderen Seite des großen, mit Riegeln gesicherten Flußtores in Miathans vor kurzem erbauter Stadtmauer. So schnell er konnte, schlitterte er das steile Ufer bis zum Fluß hinunter und verschwand im Schatten unter den Weiden, deren Zweige bis ins Wasser reichten. Von dort aus setzte er seinen Weg flußabwärts eilig fort, wobei er nur lange genug innehielt, um sich den Schleim von seinen Stiefeln zu spülen.

Obwohl er sich um seine Kameraden sorgte und sich der Gefahren, die ihn erwarteten, bewußt war, erfüllte es Tarnal mit einer unerklärlichen Freude, endlich die Stadt mit ihrem Schmutz, ihrem Qualm und ihren Menschenmengen hinter sich zu lassen; sein Herz jubilierte beim Anblick des funkelnden Sonnenlichts auf dem Wasser, bei dem Vogelgezwitscher und dem fröhlichen Plätschern des Flusses.

Tarnal schlich vorsichtig weiter und ließ sich von seiner Freude nicht von seiner Aufgabe ablenken. Als jedoch Stunde um Stunde dahinging, wurde er immer mutloser. Das erste Bootshaus, auf das er traf, war zum Fluß hin offen, aber leer. Als Tarnal vorsichtig über die niedrige Steinmauer spähte, die das Grundstück der zweiten Villa umgab, sah er einen Gärtner, der dicht beim Bootshaus die Hecken beschnitt. Der Mann verrichtete seine Arbeit gleichgültig und obendrein im Schneckentempo – man hatte den Eindruck, als würde er sich den ganzen Tag damit aufhalten. Also ging der Nachtfahrer wieder hinter der Mauer in Deckung, stahl sich an diesem Grundstück vorbei und schlich einen Weg entlang, der ihm endlos zu sein schien – vor allem, als das dritte Bootshaus ebenfalls leer war, das er über eine fast unerklimmbare Mauer erreichte und dessen Schloß ihn eine volle, zermürbende Stunde kostete, bevor er es aufbrechen konnte.

Tarnal, der sich immer im Schutz der Bäume hielt, die das Ufer säumten, ging weiter flußabwärts, wobei er versuchte, seinen immer geringer werdenden Mut und seinen knurrenden Magen zu ignorieren, bis er plötzlich die letzte der außerhalb der Stadt liegenden Villen erspähte, die sich mit einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten Mauer vor Dieben wie ihm zu schützen versuchte. Trotz seiner Müdigkeit und seines Hungers grinste der Nachtfahrer. Damit würde er schon fertig. Solch raffinierte Vorsichtsmaßnahmen waren ein gutes Omen – sie deuteten für gewöhnlich darauf hin, daß es dort etwas gab, was des Stehlens wert war. Er eilte am Ufer entlang und lief um die Mauer herum, bis sie, wie er erwartet hatte, ihren Lauf änderte und zum Fluß hinunterführte. Dort wich sie einem hohen, schwarzen Eisengitter, hinter dem flache Stufen zu einer kleinen, hölzernen Mole führten, auf deren anderer Seite ein prunkvoll erbautes Bootshaus stand; zweifellos war es aus demselben Stein gebaut wie das Wohnhaus, und die eisernen Wassertore waren von der gleichen Machart wie die Gitter.

Verdammt! Das elende Ding lag natürlich auf der falschen Seite der Mole, so daß er über eine freie Fläche laufen mußte, wo ihn jeder sehen konnte. Tarnal seufzte. Nun, es hatte auch niemand behauptet, daß seine Aufgabe leicht sein würde. Er entledigte sich seines Umhangs und dann auch seiner übrigen Kleider einschließlich der Stiefel und seines Schwertes, rollte das Ganze zu einem Bündel zusammen und versteckte es sicher zwischen den Wurzeln eines Baumes hoch oben am Ufer, wo die Erde trocken war. Er zitterte ein wenig in dem kalten Frühlingswind, schaute noch einmal zweifelnd zu der allzu leicht einsehbaren Stelle am Gitter hinüber und wünschte, er hätte auf die Dunkelheit warten können. Aber Vannor hatte ihn gewarnt, daß viele der Kaufleute riesige, wilde Hunde hätten, die sie freiließen, sobald der Abend dämmerte. Nein. Obwohl es ein großes Risiko war, würde er das Boot tagsüber stehlen müssen oder gar nicht.

Schweigend und geschickt wie ein Otter ließ sich der Nachtfahrer in den Fluß gleiten, nur bekleidet mit einem Lendentuch und einem Riemen um den Hals, an dem ein schmaler Dietrich hing. Das Wasser war eiskalt, und die Strömung zerrte an ihm, aber Tarnal, der sein ganzes Leben am Meer verbracht hatte, war ein kräftiger Schwimmer und an kaltes Wasser gewöhnt. Er schwamm unter der Oberfläche und ließ sich von der Strömung an den mit einem Eisenzaun gesicherten Ufer entlangtragen, bis er durch das schlammige Wasser das dunkle Holzgerüst der Mole sah. Dort tauchte er auf, keuchend, aber vor feindlichen Blicken sicher, um ein paarmal tief Luft zu holen, bevor er wieder tauchte und das letzte Stück bis zum Bootshaus zurücklegte.

Wegen der unerwarteten Schnelligkeit der Strömung wäre Tarnal um ein Haar übers Ziel hinausgeschossen. Erst im allerletzten Augenblick erspähte er die Eisenstangen der Wassertore und streckte hastig die Hand danach aus, wobei er sich um ein Haar ertränkt hätte. Schließlich gelang es ihm jedoch, auch seine andere Hand an das Gitter zu klammern und sich so weit hochzuziehen, daß sein Kopf aus dem Wasser ragte. Dann hielt er sich an den lebensrettenden Toren fest, würgte, spuckte Wasser und versuchte verzweifelt, das Geräusch seines Hustens und Prustens zu dämpfen. Als sich sein Atem endlich beruhigte, rieb er den Kopf an seinem Arm, um das tropfende Wasser aus den Augen zu wischen.

Nach einer Weile hatte er sich wieder erholt, so weit, daß er durch das Gitter in die Düsternis des Bootshauses spähen konnte – und stieß einen üblen, von Herzen kommenden Fluch aus. Nach all seiner Mühe war auch dieses verdammte Ding leer. Stöhnend ließ er sich wieder ins Wasser sinken. Jetzt würde er den ganzen Weg zurückschwimmen und in der Kälte des Abends naß und müde in die Abwasserkanäle zurückkehren müssen.

Und wie sollte er das den anderen beibringen – vor allem Zanna –, daß er sie so schmählich im Stich gelassen hatte? Schlimmer noch, wie sollten sie es jetzt schaffen, Vannor und Hebba den ganzen Weg bis nach Wyvernesse zu bringen?

Einen endlosen, verzweifelten Augenblick lang hing Tarnal einfach dort im Wasser, legte den Kopf auf seine Arme und brachte nicht den Mut auf, wieder umzukehren, obwohl das eiskalte Wasser seinem Körper langsam auch die letzte Energie entzog. Die Sonne sank dem Abend entgegen und verwandelte den Fluß in einen gekräuselten Pfad aus gehämmertem Kupfer. Die Niederlage verdüsterte Tarnals Geist so sehr, daß der junge Nachtfahrer blind war für die Schönheit des Abends. Aber schließlich triumphierte der gesunde Menschenverstand über die düstere Laune und sagte ihm, daß er besser schnellstens aus dem Wasser herauskommen sollte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß das Sonnenlicht auf dem Fluß jetzt Lichtstrahlen direkt in das Bootshaus sandte. Tarnal blinzelte, unfähig, seinen Augen zu trauen. Dort, auf den Planken im hinteren Teil des Gebäudes, lag auf zwei Böcken ein umgestülptes Ruderboot, frisch gekalkt und gestrichen. Man hatte es für den Winter aus dem Wasser geholt und konnte es nun jederzeit wieder hineinziehen.

»Ich danke euch, ihr Götter – o vielen Dank«, flüsterte der Nachtfahrer laut. Er hätte vor Erleichterung weinen können, als er die Hände ausstreckte, um an dem kräftigen Vorhängeschloß zu hantieren, das die Gitter sicherte. Mehr als einmal hatte er allen Grund, dankbar dafür zu sein, daß sein Einbrecherwerkzeug an dem Riemen befestigt war, da es seinen tauben Fingern wieder und wieder entglitt, bis er schließlich vor Wut fluchte. Nach einer Weile wurde seine Beharrlichkeit jedoch belohnt. Das Schloß und die Kette, an der es gehangen hatte, fielen mit einem leisen Platschen ins Wasser, und die Tore schwangen auf gut geölten, lautlosen Angeln auf.

Es war ungeheuer mühsam, das Boot ohne Hilfe ins Wasser zu bugsieren, aber Tarnal arbeitete mit fieberhafter Hast. Der Abend senkte sich jetzt über das Land, und die Hunde konnten jederzeit freigelassen werden. Auch wenn sie von der anderen Seite des Flusses nicht in das Bootshaus gelangen konnten, würden sie auf jeden Fall wissen, daß er dort war. Sobald er das kleine Boot mit den Riemen darin im Wasser hatte, sah er sich um und fand ein Seil sowie eine alte Plane, die ihm beide sehr nützlich erschienen. Vielleicht konnten sie mit Hilfe eines der Riemen und der Plane ein kleines Notsegel setzen, wenn sie aufs offene Meer hinausfuhren …

Diese neue Hoffnung ließ Tarnal die Müdigkeit vergessen, und er huschte auf leisen Sohlen in dem immer dunkler werdenden Zwielicht aus dem Boothaus. Sobald er den Schutz der Bäume auf der anderen Seite der Mole erreicht hatte, zog er das Boot ans Ufer und vertäute es sorgfältig, bevor er seine Kleider holte. Der warme, trockene Stoff auf seiner Haut war ein Luxus, der ihn fast in Ekstase trieb. Dieses Gefühl setzte die letzten Kraftreserven in ihm frei, die er brauchte, um flußaufwärts zu rudern, wo er auf seine Freunde warten würde.


Für Zanna, die frierend und unbequem auf dem schlüpfrigen Gehweg in der feuchten, stinkenden Kanalisation saß, nahmen die Stunden kein Ende und wurden zu einer furchtbaren Qual. Obwohl sie nach einer ganzen Zeit hungrig und durstig war und Hebba reichlich Proviant in ihrem Korb hatte, genügte der bloße Gedanke daran, an diesem widerlichen, schmutzigen Ort etwas zu essen, um ihr die Galle in die Kehle zu treiben. Da sie selbst außer sich vor Angst war wegen der Gefahren, denen ihr Vater und Tarnal ausgesetzt waren, trieb Hebbas wimmernde Schwarzseherei sie schon bald zur Verzweiflung. Nach einer Weile gelangte sie zu der Einsicht, daß es nur eine einzige Art und Weise gab, wie man das verflixte Weibsstück zum Schweigen bringen konnte – sie mußte so tun, als schliefe sie.

»Hebba, es tut mir sehr leid, aber ich kann die Augen wirklich nicht mehr offenhalten«, unterbrach sie das Wehklagen der älteren Frau. »Du solltest auch versuchen, dich etwas auszuruhen – wir haben eine lange Nacht vor uns.« Dann hüllte sie sich mit einem lautstarken, gespielten Gähnen so gut es ging in ihren Umhang und legte den Kopf auf die Arme. Aber es dauerte gar nicht lange, da wurde aus ihrem Täuschungsmanöver Wirklichkeit, denn sie hatte in der Nacht zuvor kaum Schlaf gefunden.

Hebbas Finger, die sich in der Dunkelheit schmerzhaft in Zannas Arm bohrten, rissen sie schließlich wieder aus ihren Träumen heraus. Bei den Göttern, dachte sie benommen. Wie lange habe ich wohl geschlafen?

»Horch!« zischte Hebba. Zanna konnte spüren, daß sie am ganzen Leib zitterte. »Da kommt jemand!«

Jetzt, da sie richtig wach war, konnte das Mädchen das Geräusch schleppender Schritte von oben hören. »Das sind sicher Vater und die anderen«, sagte sie, zog aber trotzdem das Messer, das Tarnal ihr gegeben hatte, und war dankbar dafür, daß die Dunkelheit diesen Akt vor Hebba verbarg. Die alte Frau hatte schon genug Angst. Weiter unten im Tunnel hörte sie das gequälte Knirschen des Gitters, das zur Seite geschoben wurde.

»Zanna – wir sind es!« flüsterte eine heisere Stimme, und plötzlich kam sich Zanna unaussprechlich töricht vor, weil sie sich von Hebbas Angst hatte anstecken lassen.

»Vater«, flüsterte sie überglücklich. »Wir sind gleich hier auf dem Gehweg.«

»Mach bitte die Laterne an, ja? Wir wagen es nicht, hier oben ein Licht anzuzünden, und wir können nicht die Hand vor Augen sehen – und schon gar nicht die Leiter. In diesen verfluchten Tunneln ist es finsterer als in Miathans Herz, und ich kann unmöglich mit einer Hand die Leiter herunterklettern, wenn es so dunkel ist.«

Aber selbst mit dem Licht und der Hilfe von Benziorn unter ihm und Yanis über ihm hatte Vannor noch große Schwierigkeiten, die Leiter hinunterzuklettern. Schließlich gab er es auf und ließ sich die letzten zwei Meter fallen, wobei die Schmerzen, die der Aufprall seinem verbundenen Armstumpf bereitete, ihn laut fluchen ließen. Zanna bemerkte, daß er die Lederhandschuhe trug, die sie eigens für ihn gefertigt hatten; der rechte Handschuh war bis zu den Fingerspitzen mit Lumpen ausgestopft und mit einem dünnen Lederriemen an Vannors Handgelenk befestigt. Das war Benziorns Idee gewesen – einmal um Vannors Verletzung vor den Infektionen zu schützen, die in der Kanalisation drohten, und zum anderen, um die Tatsache, daß ihm eine Hand fehlte, vor neugierigen Augen zu verbergen. Wenn die Magusch erfahren sollten, daß sich ein einhändiger Mann in Nexis aufhielt, würden sie sofort Bescheid wissen.

»Geh zur Seite!« rief Yanis leise von oben und unterbrach damit Zannas Gedankengang. Sie hatte kaum Zeit gehabt, hastig einen Schritt zurück zu tun, da wurden auch schon zwei schwere Beutel nach unten geworfen. Benziorn hob sie auf. Nachdem er das Gitter wieder zurück an seinen Platz geschoben hatte, ließ sich nun auch der Anführer der Nachtfahrer schnell die Leiter hinuntergleiten.

»Geschafft!« sagte er fröhlich. »Die Sache war gar nicht so schwierig – obwohl ich zugeben muß, daß mir fast das Herz stehengeblieben ist, als diese Patrouille an uns vorbeigegangen ist und Vannor so getan hat, als wäre er betrunken.« Während Yanis sprach, sah Zanna im Lampenlicht, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte, und plötzlich überfiel sie eine heiße Woge des Zorns. Wie konnte dieser Dummkopf nur so selbstgefällig sein? Sie mußten immer noch durch die Kanalisation – und außerdem, was war mit Tarnal, der da draußen sein Leben aufs Spiel setzte? Was, wenn er kein Boot fand? Was, wenn er irgendwo in der Dunkelheit lag, verletzt – oder sogar tot? Mit einem Schaudern versuchte Zanna, diese schrecklichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Er war sicher gesund und munter, sagte sie sich. Tarnal zumindest hatte einen klugen Kopf auf den Schultern.

Vannor, den der lange Marsch durch die Straßen der Stadt zu Tode erschöpft hatte, verspürte nicht den geringsten Wunsch, auch nur eine Minute länger in den Abwasserkanälen zu bleiben, als unbedingt nötig war. Also gingen sie weiter – Zanna stützte Hebba und trug ihren Korb, während Benziorn dem Kaufmann half. Yanis, der den Weg am besten kannte, nahm die beiden Beutel und ging mit der Laterne durch den feuchten, stinkenden Tunnel voran.

Wie Zanna diese Kanäle haßte! Obwohl sich ihr zweiter langer Marsch unterhalb der Stadt als weniger schwierig erwies als der erste, mußte sie immer noch mit dem Gestank fertigwerden, mit dem Schleim und den allgegenwärtigen, quiekenden Ratten – ganz zu schweigen von den hysterischen Anfällen, mit denen Hebba letztere zur Kenntnis nahm. Mehr als einmal liefen sie bei solchen Anlässen Gefahr, den Halt auf dem schlüpfrigen Gehweg zu verlieren und in den mit Unrat gefüllten Kanal zu fallen. Da sie schon auf der Höhe des Flusses waren, brauchten sie nicht mehr zu klettern, obwohl es dort, wo die Gehwege schmaler wurden, an der Kreuzung zweier Tunnel noch einige heikle Stellen gab. Nichtsdestotrotz erschien es Zanna, als gelangten sie nur qualvoll langsam voran, denn Vannor war fast am Ende seiner Kraft und mußte immer häufiger ausruhen.

Gerade als sie schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, das Tageslicht jemals wiederzusehen, drang ein frischer Lufthauch an ihre Nase, der köstlich nach feuchtem Gras und wildem Knoblauch duftete. Zannas müdes Herz faßte neuen Mut. Endlich hatten sie diesen schrecklichen Ort hinter sich. Wenige Sekunden später erreichten sie den Ausgang der Kanalisation und hatten Zeit, einmal tief Luft zu holen und einen raschen Blick auf die funkelnden Sterne zu werfen, die sich in dem schwarzen Netz der Baumwipfel verfangen zu haben schienen. Dann zog Yanis sie plötzlich das Ufer herunter und drängte sie in den Schutz der Weiden. In der Dunkelheit unter den Bäumen konnte Zanna ihren Vater leise fluchen hören – in seiner Stimme lag eine verzweifelte Schärfe, die von Sorgen kündete. Auf der Stelle begriff Zanna, was geschehen war, und das Blut erstarrte ihr in den Adern. Tarnal war nicht dort, wo er sein sollte.

Als sie schließlich wieder in der Lage war, zu begreifen, was um sie herum geschah, hatte Yanis zu sprechen begonnen. »Nun, es hat keinen Sinn, wenn wir so dicht bei den Stadtmauern warten. Es ist doch mal wieder typisch, daß Tarnal die Sache verpfuscht. Ich hätte selber gehen sollen. Vannor, meinst du, du kannst heute abend noch ein kleines Stückchen weitergehen? Wenn wir es irgendwie schaffen könnten, in kleinen Etappen bis nach Norberth zu gelangen, könnten wir vielleicht am Hafen ein Boot stehlen …«

Seine Stimme wurde leiser, während er in der Dunkelheit voranschritt, dicht gefolgt von den anderen. Selbst Hebba trottete gehorsam hinter ihnen her, viel zu müde, um noch klagen zu können. Zanna biß die Zähne zusammen und ging, von stillem Zorn erfüllt, weiter. Wie konnte Yanis so herzlos sein? In ihrem eigenen Kummer war ihr die Angst in seiner Stimme entgangen, die er mit Wut zu überdecken suchte. Der Mistkerl kann von Glück sagen, daß er so weit vorne ist, dachte sie zornig. Wenn ich ihn jetzt in die Finger bekäme, würde ich ihn in den Fluß werfen.

Ganz in ihre wütenden Gedanken versunken, folgte sie den anderen blind. Das Gehen war schwierig, und immer wieder stolperten sie in der Dunkelheit über Wurzeln oder hohe Grasbüschel. Es dauerte nicht lange, da hatte sich Zanna von den vielen Stürzen die Knie aufgeschürft, an ihren Händen klebte schwarzer Schlamm, und ihre Füße waren völlig durchnäßt, weil sie dem Fluß mehrere Male zu nahe geraten war. Aber das alles war ihr gleichgültig – sie bereitete sich zu große Sorgen um Tarnal, um sich wegen solcher Kleinigkeiten aufzuregen.

Dann hörte sie aus der Dunkelheit vor sich einen leisen, erfreuten Ausruf von Yanis. »Bei allen Göttern – da ist ein Boot! Da hinten, unter den Bäumen!«

Inzwischen war der Mond aufgegangen, und als Zanna eilig weiterlief, sah sie die Silhouette des jungen Nachtfahrers vor dem silbrigen Wasser, als er die Hand ausstreckte, um nach dem Seil zu greifen, mit dem das kleine Boot vertäut war. Plötzlich erhob sich eine dunkle Gestalt aus dem Bug, die Yanis derart erschreckte, daß er das Seil mit einem erschrockenen Aufschrei fallen ließ und nach seinem Schwert griff.

»Yanis? Bist du das?« Die schlaftrunkene Stimme entlockte Zanna einen Freudenschrei, denn sie gehörte Tarnal.

Einen Augenblick später kam es am Ufer des Flusses zu einem glücklichen Wiedersehen – zumindest Zanna war glücklich.

»Was soll das heißen, du bist eingeschlafen?« fragte Yanis seinen Freund empört. »Was für ein Narrenstück hast du dir diesmal wieder geleistet? Wir dürfen uns den ganzen weiten Weg durch die Dunkelheit am Ufer entlangquälen, während du hier liegst und schnarchst wie ein Schwein … Und ist dieser kleine Waschbottich da vielleicht alles, was du finden konntest? Ich hatte an sich nicht die Absicht, den ganzen Weg bis nach Wyvernesse zu rudern.«

Tarnals graue Augen blitzten im Mondlicht gefährlich auf. Ohne ein Wort zu sagen, packte er Yanis beim Kragen und warf ihn in hohem Bogen in den Fluß. »Dann schwimm, du undankbarer Bastard!« rief er seinem prustenden Anführer zu, während er gleichzeitig eine Hand ausstreckte, um dem tropfnassen Yanis aus dem seichten Wasser herauszuhelfen. Zanna hatte sich ihren Ärmel in den Mund gestopft, um nicht laut loszulachen.

Danach wurde die Sache etwas einfacher, obwohl sie alle Mühe hatten, das Boot über den schmalen Weg zu bringen, der am Wehr vorbeiführte. »Ich schätze, jetzt bist du froh, daß ich kein größeres geklaut habe«, verhöhnte Tarnal den keuchenden Yanis, während sie unter dem beträchtlichen Gewicht des Bootes taumelten. Es gelang ihnen, sich durch den Hafen von Norberth hindurchzumanövrieren, bevor die Sonne aufging, und sie verbrachten die Stunden des Tageslichts in einer der kleinen Buchten entlang der Küste. Obwohl sie hungrig und durchnäßt waren, wagten sie nicht, ein Feuer anzuzünden, aber sie waren auch viel zu erschöpft, um solchen Widrigkeiten große Beachtung zu schenken. Außerdem schien das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich warm zu sein. Eingerollt in ihre Decken, gut versteckt in einer Höhle in den Dünen, verschliefen sie den größten Teil des Tages, obwohl natürlich immer einer von ihnen Wache hielt. In dem schwächer werdenden Licht eines herrlichen, purpurnen Sonnenuntergangs rüsteten sie sich dann wieder zum Aufbruch.

Glücklicherweise war die Küstenströmung bisher auf ihrer Seite gewesen, und das Meer war ruhig genug, um das kleine Boot nicht zu sehr herumzuwerfen, obwohl Hebba während der ganzen Reise starr vor Angst war. Jetzt jedoch, kurz bevor sie ihrer sandigen Zuflucht wieder einmal den Rücken kehren wollten, stellte Zanna fest, daß Yanis und Tarnal stirnrunzelnd übers Meer schauten, bevor sie mit leisen, erregten Stimmen zu diskutieren begannen.

»Was ist los?« fragte sie sie mit einem verwirrten Blick in Richtung Ozean. Für sie schien alles in Ordnung zu sein – das Wasser war nahezu spiegelglatt. »Es ist doch völlig ruhig, oder?«

»Ja – noch«, murmelte Yanis. »Aber bevor diese Nacht zu Ende ist, werden wir einen höllischen Sturm kriegen. Die Frage ist, sollen wir es riskieren, jetzt aufzubrechen, und beten, daß wir ankommen, bevor die Sturmfront uns erreicht, oder bleiben wir hier und warten ab, bis alles vorbei ist? Wie der Himmel und das Meer im Augenblick aussehen, steht uns ein ziemlich schlimmes Unwetter bevor; und selbst wenn das Schlimmste vorüber ist, kann es Tage dauern, bis das Meer wieder ruhig ist.«

Zanna hätte weinen können. Nicht jetzt – nicht so kurz vorm Ziel! In diesem Moment gesellte sich Vannor zu ihnen. »Trügen meine Augen mich, oder sieht der Himmel heute abend besonders bedrohlich aus?«

Yanis nickte. »Ja, uns steht ein Sturm bevor, aber was sollen wir tun? Hierbleiben, oder es riskieren und weiterfahren?«

»Ihr beide, Tarnal und du, seid die Seeleute.« Vannor zuckte mit den Achseln. »Wir werden uns nach eurer Entscheidung richten. Aber ehe wir hierbleiben und nichts zu essen haben und keinen Ort, an dem wir uns vor dem Sturm verstecken können, schlage ich vor, besser sofort aufzubrechen und zu versuchen, nach Wyvernesse zu kommen, bevor der Sturm uns erreicht. Schließlich können wir, wenn die Sache zu gefährlich wird, immer noch irgendwo an Land gehen – und auf diese Weise wären wir unserem Ziel wenigstens ein Stückchen näher gerückt.«

Hastig stiegen sie ins Boot und ruderten los, wobei sie ihr Bestes taten, um ihre Sorgen vor Hebba zu verbergen. Um die Reise zu beschleunigen, fanden diejenigen von ihnen, die bei guter Gesundheit waren, sich zu Paaren zusammen und übernahmen jeweils einen der Riemen: Yanis und Benziorn bildeten ein Paar, und Zanna, die während ihres Aufenthaltes bei den Nachtfahrern mit Booten vertraut geworden war, ruderte mit Tarnal. Zanna verspürte eine Woge des Mitleids für ihren Vater, der an der Ruderpinne saß. An seiner finsteren, unglücklichen Miene konnte sie ablesen, daß seine Unfähigkeit, beim Rudern zu helfen, ihm seine eigene Nutzlosigkeit wieder einmal schmerzhaft vor Augen führte. Obwohl ihr der Rücken und die Arme weh taten, obwohl sie schwitzte und in der stickigen Luft kaum atmen konnte, war sie immer froh, wenn sie wieder rudern mußte. Auf diese Weise brauchte sie die bedrohliche Masse schwerer, düsterer Wolken nicht anzusehen, die vom Westen her den Himmel überzogen.

Das erste Anzeichen dafür, daß sich etwas veränderte, war das Auffrischen des Windes. Obwohl das Rudern jetzt einfacher war, spürte Zanna, wie ihr ein Schaudern der Angst über den Rücken lief. Schon bald wurde das Wasser kabbeliger, und das kleine Boot tanzte in der schweren Dünung auf und ab, so daß es schwierig wurde, die Riemen zu bedienen. Immer häufiger klatschten die Wellen gegen den Bug und spritzten ihre Gischt ins Boot. Bis auf Tarnal und Yanis, die beide erfahrene Seeleute waren, war ihnen allen mittlerweile übel geworden. Jetzt übernahmen die beiden Nachtfahrer die Riemen, denn sie wußten besser als die Landratten und die Frauen, wie man bei einem solchen Unwetter ein Boot handhabte. Hebba begann, vor Angst zu stöhnen und zu wimmern. Zanna reichte ihr den Eimer, und schon bald hatte die alte Köchin soviel damit zu tun, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen, daß ihr zum Jammern keine Zeit mehr blieb.

Der Wind wurde jetzt von Sekunde zu Sekunde stärker. In der plötzlichen Dunkelheit konnten sie einander kaum noch sehen, denn die Wolkendecke reichte mittlerweile von einem Horizont zum anderen und verdeckte die Sterne völlig. In der Ferne hörten sie das erste leise Rumoren des Donners. Vannor zog Yanis am Ärmel. »Sollten wir nicht besser Land ansteuern?«

Yanis schüttelte den Kopf. »Wir haben zu lange gewartet. An diesem Teil der Küste reiht sich ein Riff an das andere, und wir könnten nirgendwo anlegen.« Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Das ist die letzte Landspitze – siehst du den stehenden Stein da?« keuchte er. »Wenn wir diese Landspitze noch umrunden, haben wir es geschafft.«

»Übergib Zanna jetzt die Ruderpinne«, wies Tarnal Vannor an. »Sie hat mehr Erfahrung als du, und sie hat schon früher in diesen Gewässern gesegelt. Sie kennt den Weg durch die Felsen. Leg deine Hand über ihre – so ist es richtig. Sie wird deine Kraft brauchen, um zu steuern.« Für diesen letzten Vorschlag hätte Zanna ihn am liebsten geküßt. Sie hatte gehört, wie ihr Vater scharf und verletzt den Atem eingezogen hatte, als Tarnal ihn bat, ihr die Ruderpinne zu überlassen, und wußte, daß er sich nutzloser fühlen würde denn je. Aber selbst in dieser extremen Situation hatte der junge Nachtfahrer nach einer Möglichkeit gesucht, Vannor den Stolz zu lassen.

Sie schafften es um die Landspitze herum, bevor die volle Wucht des Sturms sie traf, obwohl sie einen entsetzlichen Augenblick lang in der wogenden See, die gegen die Felsenspitze donnerte, die Kontrolle über ihr Boot verloren. Als es dann auf der Spitze eines gigantischen Wellenbrechers tanzte, klammerte sich Zanna verzweifelt an die Ruderpinne und lehnte sich gegen ihren Vater, voller Dankbarkeit für seine Kraft, die ihr half, das Boot auf Kurs zu halten. Eine Sekunde später stürzten sie auf der anderen Seite wieder hinunter und schlugen mit einem gewaltigen Platschen aufs Wasser – Hebbas schriller Schrei übertönte sogar das Pfeifen des Windes. Yanis und Tarnal, deren Gesichter vor Anstrengung wie erstarrt waren, ruderten aus Leibeskräften, um sie von den scharfen Felsen fernzuhalten, während eine riesige Welle nach der anderen die zerbrechliche Nußschale, die alles war, was zwischen ihnen und der hungrigen See stand, durch die Luft wirbelte.

Und dann hatten sie mit erschreckender Plötzlichkeit die Spitze umrundet und gelangten in ruhigere Gewässer. Zanna rieb sich mit den Knöcheln das brennende Meereswasser aus den Augen und steuerte so konzentriert wie nie zuvor durch das trügerische Felsenlabyrinth, das den Eingang zu der geheimen Höhle der Nachtfahrer verbarg. Sie zermarterte sich das Gehirn, um sich an die genaue Position der Felsen vor der Höhle zu erinnern, und kniff die Augen zusammen, um die weißen Gischtspritzer zu erkennen, die in der Dunkelheit den Standort dieser Felsen verrieten. Einmal fluchte sie laut, als sie hörte, wie der Kiel über einen Stein knirschte – und dann, als sie beinahe schon in Sicherheit waren, vollführte das schwankende Boot einen Satz und schleuderte sie alle von ihren Plätzen. Man hörte das scharfe, häßliche Splittern einer berstenden Planke, und noch während sich Zanna aufrichtete, spürte sie den eisigen Wirbel von Wasser um ihre Füße.

»Du mußt weitersteuern!« schrie Tarnal, als er das Boot mit seinem Ruder von dem Felsen abstieß. »Wir sind fast da. Wir können es immer noch schaffen!«

Und so war es tatsächlich. Als die müden Flüchtlinge ihr schlingerndes Boot in die Höhle steuerten, erschien die ganze Schmugglergemeinschaft, um sie auf dem silbrig leuchtenden Strand innerhalb der riesigen Höhle zu begrüßen, allen voran Remana, die angesichts der sicheren Rückkehr ihres Sohnes Freudentränen weinte. Bereitwillige Arme wurden ihnen entgegengestreckt, um das lädierte Boot ans Ufer zu ziehen und die Neuankömmlinge willkommen zu heißen.

Yanis konnte den Blick nicht von der schönen, flachsblonden Fremden abwenden, die zwischen Remana und einem großen, weißen Hund am Strand stand, aber Zanna bemerkte es nicht. Sie sah Tarnal an. »Du hast dich verdammt gut geschlagen – und du hast uns durchgebracht«, sagte er zu ihr. »In der Dunkelheit und bei einem Seegang wie diesem hätte ich selbst nicht besser steuern können. Jetzt kannst du dich wirklich und wahrhaftig eine Nachtfahrerin nennen.«

Zanna lächelte glücklich, und ihr Herz bebte vor Stolz. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie leise. Und Tarnal streckte lächelnd eine Hand aus, um ihr ans Ufer zu helfen.

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