19 Der Spion

Hebba erbleichte und stieß einen leisen Schrei aus. »Die Götter stehen uns bei – es ist der Herr!« Dann ließ sie sich schwach auf einen Stuhl neben dem Kamin sinken und fächelte sich mit ihrer Schürze Luft zu. Zanna lief zu ihrer alten Freundin, der Köchin, hinüber, um sie zu trösten. Es war fast so, als sei sie endlich heimgekehrt.

Irgendwo fand Vannor noch die Kraft für ein leises Kichern. »Es ist schon gut, Hebba. Ich bin kein Geist.«

»Nein – aber bei allem Respekt, muß ich doch sagen, daß du so aussiehst wie einer.« Tarnal, der eine Schulter unter Vannors Arm geschoben hatte, führte ihn zu dem anderen weichen Stuhl hinüber; er stützte den Kaufmann, wie er ihn den ganzen langen, anstrengenden und nervenaufreibenden Weg von der Stadt hierher gestützt hatte.

»Nimm dich zusammen, Hebba«, fuhr der junge Nachtfahrer die alte Frau scharf an, und Vannor sank mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Stuhl und schloß die Augen. »Hör auf zu flennen und steh auf, damit die arme Zanna sich setzen kann – sie braucht den Stuhl im Augenblick dringender als du. Außerdem brauchen wir warmes Wasser – und hast du etwas Taillin da? Wir müssen diesen Narren Benziorn so schnell wie möglich ausnüchtern. Vannor ist verletzt.«

»Verletzt? Der Herr? Und außerdem halb verhungert, wenn ich ihn mir so ansehe – und die arme Kleine auch.« Der bloße Gedanke daran war genug, um die Lebensgeister der alten Köchin wieder zu wecken. Augenblicklich sprang sie von ihrem Sessel auf, verfrachtete Zanna hinein, legte ihr eine Decke über die Knie und suchte dann eine zweite Decke für Vannor. Als das geschehen war, begann sie, geschäftig in ihrer Küche herumzuwerken, setzte einen Kessel mit Wasser auf und durchstöberte die Schränke erst nach Eßbarem und dann nach Leinen, um Verbände anzufertigen, wobei sie die ganze Zeit über wie eine alte Henne vor sich hingackerte, um ihre Sorge zu verbergen. »Dieser Benziorn! Dieser Nichtsnutz! Warum ich ihn in meinem Haus dulde, weiß ich wirklich nicht. Also wirklich, der Kerl ist genauso nützlich wie ein Hut in einem Wirbelsturm.«

Sie drehte sich um und funkelte den Arzt wütend an, der immer noch töricht in der Tür stand und nicht recht wußte, ob er willkommen war oder nicht. »Na, dann komm schon rein«, fauchte Hebba ihn an und ließ dabei einen Topf auf den Tisch krachen, wie um ihre Worte zu unterstreichen. »Und schließ diese Tür da – es zieht, und der Herr wird sich noch erkälten. Du willst ein Arzt sein? Du solltest es wirklich besser wissen.«

Vannor entspannte sich und ließ ihren Wortschwall über sich ergehen, wobei er sich ganz auf die köstliche Wärme des Feuers konzentrierte, die langsam in seine unterkühlten Knochen drang. Obwohl er schmutzig und verletzt war, hungrig, durstig und erschöpft, obwohl seine verwundete Hand unerträglich pochte, als das Gefühl wieder in seine Gliedmaßen zurückflutete, überwältigte ihn eine unglaubliche Glückseligkeit, und die Dankbarkeit für seine Rettung war so gewaltig, daß sie ihm die Tränen in die Augen trieb. Welch unaussprechlicher und unerwarteter Segen, daß er und Zanna lebten und in Sicherheit waren und sogar wieder Freunde um sich hatten!

Auch Zanna hatte das Gefühl, zu träumen. Zuerst der gute Tarnal und jetzt Hebba – und sie hatte ihren Vater gerettet. Obwohl der gesunde Menschenverstand ihr sagte, daß dieses herrliche Zwischenspiel notwendigerweise kurz sein mußte, da man mittlerweile sicher schon wieder Jagd auf ihren Vater veranstaltete, schob sie diesen Gedanken für den Augenblick weit von sich. Das alles mußte warten bis morgen. Wahrhaftig, sie hatte sich diese Ruhepause verdient, und sie würde das Beste daraus machen.

Hebba kam mit einer Tasse Taillin zu ihr. »Da, mein Schatz, das wird dir guttun – und ich koche uns jetzt auch noch etwas Suppe …«

Zanna nippte dankbar an dem heißen Getränk. Sie war sicher, daß ihr noch nie im Leben etwas so gut geschmeckt hatte. Der Taillin war mit Honig gesüßt, und als sie ihn trank, konnte sie spüren, wie sich die Wärme in ihrem schmerzhaft leeren Magen ausbreitete. Als sie durch den duftenden Dampf aufblickte, sah sie, daß ihr Vater ebenfalls eine Tasse in der Hand hielt. Er blinzelte ihr zu und hob seine Tasse, um ihr schweigend und von tiefer Dankbarkeit erfüllt, zuzuprosten.

Tarnal führte einen stolpernden Benziorn im Zimmer auf und ab, wobei er pausenlos leise vor sich hinfluchte. Er hatte eine Tasse auf den Tisch gestellt und eine auf das Regal neben der Tür und gab dem prustenden Arzt jedesmal, wenn sie an diesen Stellen vorbeigingen, einen Schluck von dem starken Taillin zu trinken. Zanna sah ihm lächelnd zu, wie er sich so eifrig und zornig seiner Aufgabe widmete; er hatte die Stirn über den grauen Augen angesichts von Benziorns Unvernunft finster gerunzelt, und sein Haar glühte im Schein der Lampen wie blankpoliertes Gold. Er fing ihren Blick auf, und sein zorniges Stirnrunzeln wich einem beruhigenden Grinsen. »Keine Angst, Zanna«, sagte er zu ihr. »Ich sorge dafür, daß dieser alte Herumtreiber bald wieder einen klaren Kopf hat. Er ist ein guter Arzt, wenn er nicht zu tief in die Flasche geschaut hat, und du wirst sehen, er bringt deinen Vater im Nu wieder in Ordnung.«

Es tat so gut, ihn wiederzusehen. Obwohl sie nur ein paar Monate getrennt gewesen waren, schien er während ihrer Abwesenheit auffallend gereift zu sein. Ich frage mich, ob es ihm mit mir genauso ergeht? überlegte Zanna. Wenn sie ihn heute erst kennengelernt hätte, hätte sie gewiß einen Mann in ihm gesehen und nicht einen dummen Jungen. Ihr fiel auf, daß er stark genug war, um den widerstrebenden Arzt hinter sich herzuzerren, während er mit grimmiger Miene auf und ab schritt. Plötzlich fragte sich Zanna, was er eigentlich in Nexis tat. Da es so wichtig war, Vannor an einen Ort zu bringen, wo er sich ausruhen konnte, hatten sie auf ihrem Weg durch die Stadt keine Zeit für Erklärungen gehabt. Und wo steckte Yanis? Was tat er im Augenblick? Bei den Gedanken an den hübschen, dunkelhaarigen Anführer der Nachtfahrer versank Zanna in einen Traum …

Sie mußte wohl eingenickt sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, war die Küche von einem köstlichen Duft erfüllt. Zannas Magen knurrte, und Hebba schüttelte sie sanft an der Schulter. »Komm, Kleines – ich weiß, daß du den Schlaf brauchst, aber du schläfst bestimmt noch besser, wenn du ein bißchen warme Suppe im Bauch hast. Dieser Benziorn sieht sich im Augenblick deinen Vater an, also kannst du jetzt einfach essen, und dann richten wir euch beiden ein ordentliches Bett her, obwohl die guten Götter allein wissen, wo wir dieses Bett unterbringen sollen oder wo wir die Decken herbekommen …«

Wie sie es früher sooft getan hatte, hörte Zanna nicht auf Hebbas Geplapper, sondern konzentrierte sich statt dessen ganz darauf, ihren Magen mit der wunderbaren Suppe zu füllen – bis der Name Yanis wie ein Donnerschlag an ihre Ohren drang. »Was?«

Ärgerlicherweise hörte die alte Köchin genau in diesem Augenblick auf zu sprechen. »Was hast du gesagt?« wiederholte Zanna noch einmal. »Was ist mit Yanis?«

Hebba sah aus, als sei sie gerade aus allen Wolken gefallen. »Also wirklich, sein Fieber ist wieder gestiegen. Der arme Junge. Und dieser Taugenichts von einem Arzt war den ganzen Tag nirgends zu finden …«

»Einen Moment mal«, unterbrach Zanna sie scharf. »Willst du damit sagen, daß Yanis hier ist?«

»Aber ja – wir haben ihn in das Gästezimmer nebenan verfrachtet und …« Diesmal wurde sie von dem Krachen splitternden Töpferwerks unterbrochen, dem gleich darauf das Zuschlagen der Tür folgte. Hebba sah auf die Scherben ihrer besten Schale hinunter, die jetzt inmitten einer sich langsam in Richtung Herd ausbreitenden Suppenpfütze lagen. Ungehalten stemmte sie die Fäuste in die ausladenden Hüften. »Also wirklich«, sagte sie mehr oder weniger zu dem leeren Zimmer. »Diese Manieren hat das Mädchen eindeutig von den Schmugglerburschen gelernt, soviel steht mal fest.«

Yanis starrte Zanna mit weit aufgerissenen Augen und ohne eine Spur von Wiedererkennen an. Sein strähniges, dunkles Haar klebte an seinem schweißüberströmten Gesicht, und sein Bett war von seinen ruhelosen Bewegungen völlig zerwühlt. Der befleckte Verband um seinen Arm verriet Zanna auch den Grund für das Fieber. Sie spürte, wie ein eisiger Schrecken sie durchfuhr. Sie durfte ihn nicht verlieren, nicht Yanis! Plötzlich trat heißer Zorn an die Stelle ihrer Angst. Tarnal hatte doch gesagt, Benziorn sei ein guter Arzt? Wenn er wirklich gut war, wie konnte er dann zulassen, daß sein Patient in diesen Zustand geraten war? Und dieser nutzlose Trunkenbold behandelte in eben diesem Augenblick ihren Vater? Bei diesem Gedanken erstarrte Zanna das Blut in den Adern, und sie mußte sich zusammennehmen, um nicht sofort aus dem Zimmer zu stürzten und Benziorn zur Rechenschaft zu ziehen.

Du mußt dich beruhigen, sagte sie sich immer wieder. Denk nach. Wir sind jetzt Flüchtlinge, mein Vater braucht dringend Hilfe, und Benziorn, gleichgültig ob er gut oder schlecht ist, ist der einzige Arzt, den wir haben. Wir können von Glück sagen, überhaupt einen Arzt bei uns zu haben.

Sobald sie diese Dinge durchdacht hatte, wurde ihr klar, daß Yanis nur deshalb so lange vernachlässigt worden war, weil sich Benziorn um sie und ihren Vater hatte kümmern müssen. Ja, selbst Hebba hatte zuviel zu tun gehabt, um Yanis zu helfen. Aber sie, Zanna, hinderte nichts daran, für Yanis zu tun, was sie konnte.

Vorsichtig zog sie die zerwühlten Decken des Nachtfahrers zurecht und schüttelte seine Kissen auf, wobei sie versuchte, ihn so wenig wie möglich zu stören. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihn endlich in die Arme nehmen zu dürfen, sein Gesicht zu berühren und ihm übers Haar zu streichen; aber daran war im Augenblick nicht zu denken. Sie fand einen Wasserkrug auf dem Tisch neben dem Bett und ein Tuch, mit dem sie sein Gesicht abtupfen konnte. Dann goß sie etwas Wasser in einen Becher und schaffte es, ihn dazu zu bringen, ein wenig davon zu schlucken, obwohl der größte Teil ihm übers Kinn lief. Anschließend entfachte sie noch ein Feuer im Kamin und entzündete die Lampe, womit sie für den Augenblick alles getan hatte, was sie tun konnte. Jetzt hatte er es wenigstens etwas bequemer.

Mit plötzlichem Schuldbewußtsein erinnerte sich Zanna an ihren Vater. Benziorn mußte mittlerweile schon lange fertig sein. Sie mußte sofort zu ihm und feststellen, wie es um ihn stand. Gerade als sie auf die Tür zueilte, begann Yanis, leise vor sich hinzumurmeln. Zanna drehte sich um, und ein Hoffnungsschimmer flackerte in ihr auf. Würde er aus seinem Delirium erwachen?

Anscheinend nicht. Yanis warf sich jetzt wieder unruhig von einer Seite zur anderen und vereitelte all ihre Bemühungen, sein Bettzeug glattzuziehen. Währenddessen murmelte er die ganze Zeit unverständliche Worte. Ihre Versuche, ihn zu beruhigen, waren völlig fruchtlos, und langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie wollte gerade Benziorn oder Hebba holen, als Yanis zu ihrer Erleichterung wieder etwas ruhiger wurde. Nun wurde seine Ausdrucksweise auch deutlicher, und Zanna beugte sich über ihn, um zuzuhören. Was sagte er da?

In diesem Augenblick riß Yanis die Augen auf und starrte sie ohne jedes Verständnis an. »Emmie?« rief er mit schwacher Stimme. »Feuer, du mußt runterklettern… eine sichere Reise wünsche ich dir, schöne, traurige Emmie …«

Zanna fuhr auf. Wer, zum Teufel, war diese Emmie? Irgendeine Frau – soviel stand wohl fest. Vielleicht war es ja nur eine alte Dame, der er die Treppe hinunter zu der Feuerstelle in der Küche geholfen hatte – oder eine der Schmugglerinnen vielleicht. Nein. Sie wußte genau, daß es keine Nachtfahrerin mit diesem Namen gab. Und er hatte gesagt, sie sei schön. Plötzlich wurde Zanna eiskalt – und im nächsten Augenblick dunkelrot, so gedemütigt fühlte sie sich. Was hatte dieser Dummkopf in ihrer Abwesenheit getan? Er hatte weniger Vernunft als ein neugeborenes Baby. Nun, sagte sie sehr entschlossen zu sich selbst, sie war viel zu klug, um sich wegen der Eskapaden eines dummen Schmugglers Gedanken zu machen. Sie mußte sich um wichtigere Dinge kümmern – wie zum Beispiel um ihren Vater; und sie hätte jederzeit gewettet, daß diese Emmie, wer immer sie auch sein mochte, niemals in der Lage gewesen wäre, Vannor ganz allein aus den Fängen der Magusch zu befreien!

Yanis schwieg jetzt wieder, zog und zerrte aber nach wie vor an seinen Decken, so daß sein frisch gemachtes Bett wieder ganz und gar zerwühlt war. Zanna betrachtete den fiebrigen Missetäter und das Chaos, das er um sich herum verbreitete, mit kaltem Blick. Sollte doch diese Emmie kommen und ihm das Bett aufschütteln, wenn sie so wunderbar war – sie hatte jedenfalls genug Zeit auf Yanis verschwendet. Also drehte sie sich wieder um und zwang sich, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, aus dem Zimmer zu gehen. Sie brauchte dringend Ruhe – gerade erst war ihr klar geworden, wie unaussprechlich müde sie war –, und sie mußte ihren Vater suchen. Erst als sie den Türgriff nicht finden konnte, hielt sie inne, um sich die Augen zu trocknen.

»Das Feuer muß wohl qualmen«, murmelte sie bei sich und verließ das Zimmer, wobei sie die Tür entschlossen hinter sich zuzog.

Benziorn und Tarnal warteten in der Küche auf sie. Zanna brauchte nur einen Blick auf ihre ernsten Gesichter zu werfen, und alle Gedanken an Yanis waren vergessen.

»Vater?« flüsterte sie. Tarnal, dessen Augen dunkel vor Sorge waren, stand auf, nahm ihren Arm und führte sie sanft zu einem Stuhl. Seltsamerweise verspürte Zanna den Drang, ihn zu schlagen. Sie riß sich von ihm los und sprang wieder auf. »Was ist los?« rief sie. »Was ist passiert?«

Tarnal öffnete den Mund, nur um ihn sogleich wieder mit einem hilflosen Achselzucken zu schließen, und zum ersten Mal sah Zanna den Schimmer von Tränen in seinen Augen. Er sah den Arzt erwartungsvoll an.

Benziorn beugte sich vor und griff nach Zannas Hand. »Dein Vater hat mir erzählt, wie du ihn aus der Akademie herausgeholt hast«, begann er unverfänglich.

Zanna starrte ihn ungläubig an. Vannor war etwas Schlimmes zugestoßen – sie wußte es –, und dieser Wahnsinnige wollte ihre Zeit mit blödsinnigem Gerede verschwenden? Na gut, um gerecht zu sein, war er in nüchternem Zustand wohl nicht ganz so nutzlos, wie es vorher den Anschein gehabt hatte. Im Gegenteil, er wirkte väterlich und vernünftig: ein Mann, der sie respektierte. Ein Mann, dem sie vertrauen konnte. »Was ist los mit meinem Vater?« fragte sie durch zusammengebissene Zähne.

»Ich war wirklich erstaunt«, fuhr der Arzt fort, als hätte sie nichts gesagt, »daß so ein kleines Ding, wie du es bist, so viel Mut haben kann. Aber es ist noch nicht vorbei, Zanna. Vannor braucht deinen Mut und deine Hilfe noch einmal.« Sie spürte, wie starke Finger sich um die ihren legten. »Seine Hand ist zu schwer beschädigt, als daß ich sie retten könnte«, erklärte er ihr nun unumwunden. »Ich werde sie abnehmen müssen.«

»Nein!« stieß Zanna hervor. Ihr starker, energischer Vater, verstümmelt und verkrüppelt? Das war einfach undenkbar. Obwohl die Tränen in ihren Augen brannten, schaffte sie es mit ruhiger Stimme zu sagen: »Bist du wirklich sicher? Kannst du denn gar nichts tun, um ihm noch eine Chance zu geben?«

»Es tut mir leid«, erwiderte Benziorn. »Ich weiß, was du denkst. Der Kerl ist nur ein hoffnungsloser Trunkenbold – was weiß er schon? Jemand, der auch nur die geringste Ahnung von seinem Handwerk hat, müßte diese Hand doch retten können – aber du irrst dich. Was ich auch sein mag, Mädchen, ich bin ein verdammt guter Arzt und habe deinem jungen Schmugglerfreund da drüben schon den Arm gerettet – frag Tarnal. Ich war der berühmteste sterbliche Heiler in Nexis, bevor die Todesgeister mir meine Familie genommen haben und ich mich dem Trunk hingegeben habe. Du bist nicht die Art Mensch, die man mit ein paar schönen Worten übertölpeln kann. Du möchtest lieber die ganze Wahrheit kennen, damit du weißt, womit du es zu tun hast – und darum habe ich dir überhaupt die Wahrheit gesagt. Diese Hand ist nicht mehr als ein Klumpen verstümmelten Fleisches. Die Knochen sind zerschmettert und zersplittert, die Muskulatur unrettbar zerstört, und wo die Sehnen geblieben sind, das wissen nur die Götter. Nach eurem kleinen Marsch durch die Abwasserkanalisation hat sich die Wunde entzündet, und diese Entzündung breitet sich jetzt rasch aus. Vannor mußte einen Entschluß treffen – seine Hand oder sein Leben –, und er hatte Vernunft genug, um da nicht lange zu zögern. Wir haben nur auf dich gewartet, bevor wir anfangen. Vannor braucht dich da drin, Mädchen – er hat nach dir gefragt –, aber wenn du glaubst, du schaffst es nicht, wenn du glaubst, daß du dich übergeben mußt oder ohnmächtig wirst oder möglicherweise auch noch Schreikrämpfe kriegst, dann bleibst du besser weg. Dein Vater braucht jetzt jemanden, der stark ist.« Benziorn hob herausfordernd die Augenbrauen. »Nun? Wie sieht es aus?«

»Ich bin natürlich dabei«, erwiderte Zanna ohne Zögern. »Sag mir nur, was ich tun muß.«


Das Moor war bei Nacht ein kalter und unheimlicher Ort. Die niedrigen, schwarzen, kahlen Höcker der Hügel erstreckten sich endlos in alle Richtungen, und es gab nichts, was die Gewalt des kalten Windes, der klagend über das Land wehte, hätte brechen können.

Bern zitterte und zog die Kapuze seines Umhangs enger um sein Gesicht, um möglichst wenig von der schauerlichen Dunkelheit um sich herum wahrnehmen zu müssen. Diese verfluchte Wildnis war kein Aufenthaltsort für einen Stadtmenschen. Der Bäcker, der sich niemals für die Reitkunst interessiert hatte, wünschte jetzt, er hätte als Jugendlicher nicht alle Besorgungen, die einen Ritt erforderten, seinem älteren Bruder überlassen. Unbehaglich rutschte er auf seinem Sattel hin und her und versuchte, eine Stelle an seiner Kehrseite zu finden, die noch nicht wundgerieben war. Außerdem wünschte er sich nichts sehnlicher als zu erfahren, wo er eigentlich war. Normalerweise hätte er, sobald er die Straße verlassen hatte, sein Nachtlager aufgeschlagen, aber diesmal hatte er, gerade als die Sonne unterging, einen dunklen Flecken auf einem noch recht weit entfernten Hügel gesehen, der aussah, als könne es sich um das Wäldchen handeln, von denen die Lady Eliseth sprach. Törichterweise hatte er geglaubt, die Stelle erreichen zu können, bevor es dunkel wurde. Er hatte sich geirrt.

Nicht zum ersten Mal wünschte Bern, er hätte dem Plan der Lady Eliseth niemals zugestimmt – bis er wieder an den Keller in seiner Bäckerei dachte, der bis oben hin mit Unmengen herrlichen Korns gefüllt war. Er lächelte. Der Gedanke an die Männer und Frauen, die zu hintergehen er im Begriff stand, störte ihn nicht im geringsten. Er mußte nur diese kleine Aufgabe erledigen, und wenn er dann wieder nach heimkehrte, würde er der einzige Bäcker in Nexis sein, der etwas zu tun hatte. Ha! Er konnte jeden Preis für sein Brot verlangen, und niemand konnte Einwände erheben. Bei dem bloßen Gedanken an die Reichtümer, die er nach seiner Rückkehr scheffeln würde, fand er jederzeit neuen Mut. Außerdem mußte er mittlerweile fast da sein. Auf dem Pferd, daß die Lady ihm gegeben hatte und mit Hilfe ihrer Anweisungen, war er gut vorangekommen. Wenn er an dieser Stelle umgekehrt wäre, hätte er einen viel weiteren Weg vor sich gehabt und nichts, was er am Ende dieses Wegs hätte vorweisen können – und obwohl er lieber gestorben wäre, als es zuzugeben, ließ ihm der bloße Gedanke das Blut in den Adern erstarren, irgend etwas zu tun, was der kaltäugigen Maguschfrau mißfallen könnte.

Aber was war das? Das ferne Heulen, daß er jetzt plötzlich hörte, war leise und schauerlich und jagte ihm eine Gänsehaut ein. Plötzlich fühlte er sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt und mußte an all die Geschichten von Geistern und Dämonen denken, die angeblich des Nachts im Moor zu finden waren. Berns Finger schlossen sich fester um die Zügel. Dann hörte er das Geräusch noch einmal, viel näher jetzt, und plötzlich wären selbst Geister ihm geradezu willkommen gewesen. Wölfe! Diesmal hatte Bern keine Schwierigkeit, das Geräusch zu erkennen – genausowenig wie sein Pferd. Mit einem schrillen Wiehern der Furcht jagte es los und hätte dabei seinen unaufmerksamen Reiter um ein Haar aus dem Sattel geworfen.

Alle Gedanken an die Wölfe waren vergessen – der Bäcker war viel zu sehr damit beschäftigt, sich einfach im Sattel zu halten. Verzweifelt klammerte er sich an die Pferdemähne und wurde bei jedem Schritt des Tieres in die Höhe geworfen. Hilflos mußte er erleben, wie das Pferd mit halsbrecherischer Geschwindigkeit blind über das unebene Terrain galoppierte. Berns Kapuze wurde zurückgeweht, und der kalte Wind durchdrang seine Kleider, da sein Umhang nutzlos hinter ihm herflatterte. Er raffte seinen ganzen Mut zusammen, um die Mähne loszulassen und verzweifelt an den Zügeln zu zerren, bis er glaubte, seine Arme würden ihm aus den Schultern gerissen. Aber all seine Bemühungen zeigten keinerlei Wirkung auf das verängstigte Pferd. Er verlor erst den einen Steigbügel, dann den anderen und rutschte schließlich unaufhaltsam zur Seite weg. Plötzlich vollführte das Pferd einen Satz nach vorn, als es über irgendein unsichtbares Hindernis sprang, und Bern wurde durch die Luft geschleudert. Nach seiner unangenehm harten Landung konnte er sich an nichts weiteres erinnern.

Als er die Augen wieder öffnete, wurde er von grellem Tageslicht geblendet. Einen Moment lang fragte er sich, wo er war. Er fror fürchterlich und war von Tau durchnäßt; sämtliche Glieder taten ihm weh, und sein Schädel hämmerte abscheulich. Jeder andere Mann hätte sich vielleicht gefragt, ob er in der letzten Nacht zuviel getrunken hatte, aber Bern war viel zu knauserig mit seinem Geld, um es wie sein Vater auf Bier zu verschwenden; außerdem war er viel zu besessen von seiner Arbeit, um die Geselligkeit und das unbeschwerte Treiben einer Taverne zu suchen. Hinzu kam, daß er keine Freunde hatte und diese auch als überflüssigen Luxus angesehen hätte.

Mit einem Stöhnen rollte er sich zur Seite, und das erste, was er sah, war der Leib des Pferdes, das in seiner Nähe lag, kalt und steif und mit so grotesk verrenktem Hals, daß es ihm den Magen umdrehte. Erst da erinnerte Bern sich an die vergangene Nacht und an die Wölfe. Die Wölfe! In panischer Angst versuchte er, auf die Beine zu kommen – und begriff erst dann, daß die Wölfe nun wohl kaum eine Gefahr darstellen konnten.

Selbst dieser kurze, aber verzweifelte Versuch aufzustehen, hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. Der Bäcker saß eine Weile mit geschlossenen Augen da, bis sich ihm nicht mehr alles drehte. Als er die Augen wieder öffnete und sich umsah, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß er den Wald beinah erreicht hatte. Er lag direkt vor ihm auf dem Gipfel der nächsten Anhöhe. Bern hatte keine Ahnung, ob Pferde in der Dunkelheit sehen konnten – dieses jedenfalls hatte es offensichtlich nicht gekonnt, dachte er mürrisch mit einem letzten Blick auf sein zu Boden gestürztes Reittier –, aber es hatte wahrscheinlich die Bäume gerochen (oder was immer Pferde sonst taten) und war vor seinem Sturz ihrem zweifelhaften Schutz entgegengelaufen.

Nun, zumindest hatte das dumme Geschöpf ihn fast bis an sein Ziel gebracht, dachte Bern. Er zog sich mit steifen Gliedern auf die Füße, humpelte zu dem Tierkadaver hinüber und löste mit tauben Fingern seine Decke und sein Bündel vom Sattel. Dann warf er sich die Decke als zusätzlichen Umhang über die Schultern und durchstöberte sein Bündel, bis er etwas Käse fand und einen Laib harten, altbackenen Brotes. Dieses unerquickliche Frühstück spülte er mit ein paar Schluck Wasser aus seiner Flasche herunter und dachte dabei sehnsüchtig an Haferbrei und Schinken, obwohl man letzteres in Nexis schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Aber diese verfluchten Rebellen mußten etwas zu essen haben – und je früher er sie fand, um so früher bekam er etwas in den Bauch. Also verschnürte er sein Bündel wieder, warf es sich über die Schulter und brach nach einem letzten, übellaunigen Tritt in die Flanken des toten Pferdes wieder auf.

Drei Stunden später stand er immer noch draußen vor dem Wald. Die Bäume wollten ihn einfach nicht durchlassen. Zerschunden, schmutzig und blutend, ließ sich Bern auf einen Erdhügel fallen, den Rücken der undurchdringlichen Wand aus Bäumen zugekehrt, und fluchte einige Minuten lang laut vor sich hin. Was, zum Teufel, ging da vor sich? Zuerst hatte er versucht, das Wirrwarr des Dickichts beiseite zu schieben, aber die ineinandergeschlungenen Äste schienen alle mit scharfen, gebogenen Dornen bewaffnet zu sein und hatten ihm den Weg versperrt. Als er versucht hatte, sich mit seinem Schwert hindurchzukämpfen, waren sie ihm ins Gesicht gesprungen, hatten mit ihren Dornen auf seine Augen gezielt – und einmal war ein schwerer Zweig zu Boden gefallen und hatte nur knapp seinen Kopf verfehlt. Verzweifelt hatte er es schließlich mit Feuer versucht, aber sobald er auch nur eine winzige Flamme zustande gebracht hatte, hatte jedesmal ein unerklärlicher Windstoß sie wieder erstickt und ihm Rauch und Funken in die Augen geweht. Mittlerweile war Bern mit seiner Weisheit am Ende. Was, um alles in der Welt, hatte das zu bedeuten? Man konnte ja direkt glauben, daß dieser verfluchte Wald ein lebendiges Wesen sei!

Plötzlich zischte ein Pfeil durch die Luft. Nachdem er Bern fast einen Scheitel gezogen hätte, bohrte er sich in den Rasen unter dem Erdhügel. »Ho, Fremder!« rief eine Stimme. »Was hast du hier zu suchen? Steh auf und dreh dich langsam um – und sieh zu, daß deine Hände ein gutes Stück von deinem Schwert wegbleiben.«

Zitternd tat Bern, was ihm befohlen worden war. Zu seinem gewaltigen Erstaunen war das undurchdringliche Unterholz verschwunden, und ein schmaler, mit dicht belaubten Zweigen überwölbter Pfad hatte sich zwischen den Baumreihen geöffnet (aber woher waren all die Blätter gekommen? Es war noch viel zu früh dafür, und wenn man außerhalb des Waldes stand, konnte man absolut nichts von ihnen sehen). In der Öffnung stand ein großer, bärtiger junger Mann, der ganz in Grün und Braun gekleidet war und einen Bogen in der Hand hielt, der fast so groß war wie er selbst. Mittlerweile hatte er einen zweiten Pfeil in den Bogen gelegt und zielte nun abermals auf Bern.

»Ich habe gesagt, du sollst den Grund nennen, warum du hier bist!« rief ihm der Bogenschütze ungeduldig zu.

Bern riß sich zusammen. »Ich bringe Neuigkeiten aus Nexis«, stieß er hervor. »Neuigkeiten von Vannor.«

Der Pfeil schwankte einen Augenblick, aber dann zog Fional ihn schnell wieder zurecht und blinzelte den Fremden mit gespanntem Bogen an. Sein Herz hatte bei dem Klang von Vannors Namen einen Satz vollführt, aber er bemühte sich nach Kräften, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das konnte eine Falle sein, ein Hinterhalt. »Wer bist du, und was weißt du von Vannor?« fragte er.

»Er lebt, aber er ist in schrecklicher Gefahr. Mein Name ist Bern. Ich war Diener in der Akademie, und sobald ich herausfand, was geschehen war, bin ich hierhergeeilt, um euch zu warnen. Ich bin den Magusch nur mit knapper Not entkommen … Bitte, laßt mich hinein. Sie wissen jetzt, wer ich bin, und ich wage es nicht, nach Nexis zurückzukehren.«

Fional runzelte die Stirn. Der Mann schien ehrliche Angst zu haben, aber … »Wie kommt es, daß du wußtest wo du uns finden würdest?« wollte er wissen.

Der Fremde schwitzte mittlerweile sichtbar. »Man erzählt sich in der Stadt Geschichten darüber, daß Angos’ Söldner ins Tal der Lady Eilin gezogen und nie zurückgekehrt sind. Daher dachte ihr, ihr müßtet hier sein. Wer sonst könnte Angos vertrieben haben?«

Der Bogenschütze stieß einen leisen Fluch aus. Das ließ nichts Gutes ahnen. Aber wenn dieser Mann den Aufenthaltsort der Rebellen kannte, war es auf jeden Fall sicherer, wenn sie ihn im Auge behielten. Und seine Neuigkeiten schienen wichtig zu sein. Dulsina war völlig außer sich vor Sorge, seit Vannor nicht zurückgekehrt war, ob nun mit seiner Tochter oder ohne sie.

Fional traf seinen Entschluß. »Leg deine Waffen am Waldrand ab und komm mit mir«, sagte er zu dem Fremden. »Bis du bewiesen hast, daß man dir vertrauen kann, mußt du dich als meinen Gefangenen betrachten.«

Obwohl der Mann keine Waffen bei sich hatte, war der Bogenschütze nicht so dumm, Bern zu vertrauen. Er stieß einen schrillen, hohen Pfiff aus, und ein Dutzend Wölfe löste sich wie Schatten aus der Dunkelheit des Waldes. Mit einem drohenden Knurren umringten sie den Gefangenen. »Eine falsche Bewegung«, warnte ihn Fional, »und sie reißen dich in Stücke.«

Der Fremde erbleichte und schauderte. »Ich werde nichts dergleichen tun, das verspreche ich«, schwor er.

»Nach dir, bitte.« Der Bogenschütze zeigte mit seiner Waffe auf den Wald, und der Mann ging, umringt von seinen Wolfswächtern, zu dem Pfad hinüber, der sich zwischen den Bäumen gebildet hatte. Fional folgte ihm mit gespanntem Bogen.


»Was treibt dieser Idiot da?« murmelte D’arvan an Maya gewandt. Aus dem Schutz der Bäume heraus hatte er gesehen, wie der Fremde sich näherte, und er hatte nur wenig Zeit gebraucht, um zu dem Schluß zu gelangen, daß der Mann ihm absolut nicht gefiel. Der Magusch hatte jeden Trick, den er kannte, benutzt, um ihm den Eintritt in den Wald zu verwehren, und hatte ihn beinahe ausreichend entmutigt, um ihn zu vertreiben, als Fional erschienen war und alles verhindert hatte.

D’arvan seufzte. »Das Schlimme ist«, sagte er zu dem Einhorn, »daß ich ihn nicht wirklich fernhalten kann, ohne ihn zu töten, und das wäre im Augenblick nicht klug – nicht wenn er wirklich weiß, was aus Vannor geworden ist. Außerdem haben wir im Grunde nichts gegen ihn in der Hand.«

Das Einhorn warf seinen Kopf zurück und stieß ein leises Wiehern der Zustimmung aus. D’arvan wünschte, er könnte mit ihr reden. Er sehnte sich nicht nur verzweifelt nach Maya, sondern hätte gerade in diesem Augenblick auch ihren gesunden Menschenverstand gebraucht. Das war das erste Mal, daß er in seiner Rolle als Waldwächter nicht wußte, was er tun sollte, und das machte ihm Angst. Bisher waren Freund und Feind leicht erkennbar gewesen, aber dieser Mann war ihm ein Rätsel.

D’arvan legte eine Hand auf den Widerrist des Einhorns. »Mir gefällt diese Sache nicht«, sagte er zu Maya. »Dieser Mann hat etwas an sich …« Er schüttelte den Kopf. »Wir werden ihn im Auge behalten – und zwar ganz genau.« Daraufhin ließ er seinen Worten Taten folgen und begab sich auf den Weg zum Rebellenlager; das Einhorn folgte ihm wie ein Schatten.

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