In der Küche der Akademie, an einem besonders ins Auge fallenden Platz an der Wand, befand sich ein geschnitztes Holzregal, das acht Globen aus schimmerndem Kristall beherbergte, von denen jeder einst in einem sanften, jeweils andersfarbigen Licht erstrahlt war. Genau solche Regale befanden sich auch in den Dienerquartieren und den Pförtnerhäusern am Anfang und Ende des steilen Pfades, der von dem Gipfel des Felsens zum Fluß hinunterführte. Jetzt jedoch waren fünf der Kristalle düster und leblos geworden – nie mehr würden ihre maguschgeborenen Besitzer Befehle erteilen oder irgend jemandem ihren Willen aufzwingen. Nur drei glühten noch: der rote, der silberweiße und der grüne.
Als Janok, der Küchenmeister der Akademie, sich in der Küche umsah, um sicherzustellen, daß seine Untergebenen auch wirklich alle hart arbeiteten, blieb sein Blick an den Kristallen hängen. Er rieb sich sein stoppeliges Kinn und sah die Globen nachdenklich an. Erst vor zwei Tagen war der fünfte, der blauviolette Kristall, erloschen. Auch die Lady Meiriel war also gestorben. Es sind nicht mehr viele von ihnen übrig, dachte Janok. Langsam, aber sicher starben seine Herren aus.
Janok brachte den Magusch im Gegensatz zu vielen anderen Nexianern keinen besonderen Haß entgegen. Warum sollte er auch, da sie ihm doch eine so behagliche Existenz verschafften? Solange ihre Mahlzeiten üppig, appetitlich und immer zur rechten Zeit fertig waren, ließen sie den Küchenmeister in seinem kleinen Reich herrschen, wie es ihm gefiel – und da er sich der Gunst seiner mächtigen Herren erfreute, wagte es keiner der anderen Diener, sich ihm in den Weg zu stellen. Aber wie lange mochte diese erfreuliche Situation noch andauern? Während sich die Zahl der Magusch nach und nach verringerte, beunruhigte dieser Umstand Janok immer mehr.
Zwei Dinge gaben ihm Grund zur Sorge: Falls Miathan und Eliseth ein ähnliches Schicksal bevorstand, würde er dann in der Lage sein, seine Machtposition zu halten und zu verhindern, daß sich die anderen Diener gegen ihn stellten – und würden die Zeitzauber, die die Magusch ihren Vorräten auferlegt hatten, auch dann noch Bestand haben, wenn sie selbst tot waren? Wenn Janok nur diese Vorräte in die Hand bekommen könnte – mit so viel dringend benötigter Nahrung würden ihm unten in Nexis alle Türen offenstehen.
Natürlich hing das Ganze in großem Maß von seiner dritten und schlimmsten Sorge ab. Der Küchenmeister warf einen Blick auf den grünen Kristall und runzelte die Stirn. Das Funkeln in seinem Herzen war schwächlich und trübe und bedeutete, daß der Besitzer des Kristalls noch immer sehr weit fort war – was Janok nur begrüßen konnte. Je weiter weg sie war, um so besser für ihn. Die Lady Aurian – in Gedanken verwandelte er ihren Titel in ein Schimpfwort – war verantwortlich dafür, daß der Sklave Anvar entkommen war. Selbst nach all der langen Zeit zuckte er noch immer zusammen, wenn er an die Strafe dachte, die Miathan ihm auferlegt hatte. Und an allem war nur diese arrogante rothaarige Hexe schuld.
Seit kurzem war es Janok jedoch aufgefallen, daß das grüne Licht in Aurians Kristall langsam heller wurde. Wo auch immer sie die ganze Zeit über gesteckt hatte, sie war offensichtlich auf dem Rückweg – und was würde dann geschehen? Janok fühlte sich auf einmal ausgesprochen unwohl in seiner Haut.
Während Janok noch so vor sich hin grübelte, begann einer der anderen Globen in einem hellen, silbernen Weiß zu erstrahlen und in regelmäßigen Abständen zu pulsieren. Der Küchenmeister murmelte einen Fluch und streckte zögernd die Hand nach dem Kristall aus. Die Lady Eliseth hatte noch nie ein besonders sanftes Temperament besessen – aber in letzter Zeit war sie geradezu bösartig, und das in einem solchen Ausmaße, daß sogar Janok ihre Ausbrüche zu fürchten begonnen hatte. Was wollte sie jetzt schon wieder? Eines zumindest stand fest: Es würde die Dinge nur verschlimmern wenn er sie warten ließ. Janok zuckte mit den Schultern und krampfte die Finger um den Kristall, um seine Macht zu aktivieren, bevor er ihn wieder auf das Regal zurücklegte. Ein kleiner silberner Fleck, halb so breit wie Janoks ausgestreckte Arme, schimmerte nun über der faustgroßen Kugel auf, und im Zentrum des Lichts erschien ein Bild von Eliseths Gesicht.
Janok nahm eine unterwürfige Haltung an. »Wie kann ich Euch dienen, Herrin?« fragte er.
»Mit größerer Aufmerksamkeit«, fauchte die Wettermagusch. »Wie kannst du es wagen, mich warten zu lassen, Sterblicher!«
»Ich bitte um Vergebung, Herrin«, erwiderte Janok mit einer Verbeugung. Er wußte nur allzugut aus bitterer Erfahrung, daß man Eliseth, wenn sie in dieser gereizten Stimmung war, mit irgendwelchen Entschuldigungen nur noch mehr erzürnte. »Wie kann ich meine Nachlässigkeit wiedergutmachen?«
Eliseths Augen wurden schmal, als suche sie im Inhalt oder im Ton seiner Feststellung nach etwas, an dem sie weiteren Anstoß nehmen konnte, dann jedoch ließ sie zu seiner Erleichterung achselzuckend von dem Unterfangen ab. »Ich brauche Inella«, keifte sie. »Ist das kleine Biest unten bei dir?«
»Leider nein, Herrin. Ich habe sie den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Ich dachte, sie sei in Euren Gemächern.«
Janok bemühte sich nach Kräften, seinen Triumph zu verbergen. Ich wußte, daß das kleine Miststück früher oder später einen Fehler begehen würde, dachte er selbstgefällig.
»Nun, steh nicht einfach da rum und grins mich an, du Idiot! Such sie und schick sie zu mir hinauf – und vertrödle nicht den ganzen Tag dabei.«
Bevor Janok Zeit fand, etwas zu erwidern, war Eliseths Bild auch schon verschwunden, und die Dunkelheit kehrte in diese Ecke der Küche zurück. Die eifrig hin und her huschenden Küchenknechte, die alle in ihrer Arbeit innegehalten hatten, um das Gespräch mit der Magusch zu belauschen, brachen plötzlich in lärmende Aktivität aus, und Janoks Gedanken gingen in dem Getöse von Schrubben, Kratzen und Rühren unter.
»Ruhe!« keifte der Küchenmeister und murmelte einen Fluch. Als hätte er nicht schon genug zu tun, ohne den halben Tag darauf zu verschwenden, Lady Eliseths hinterhältige kleine Magd zu suchen! Dann plötzlich hellte sich seine Miene auf. Wenn die Wettermagusch unzufrieden war, dann würde nicht nur sie persönlich Inella bestrafen, sondern wahrscheinlich auch Janok die Möglichkeit geben, der Dienerin den ein oder anderen Hieb zu versetzen – etwas, worauf sie nicht lange würde warten müssen, denn es juckte ihn schon seit geraumer Zeit in den Fingern, das unverschämte Mädchen endlich verprügeln zu dürfen, ohne mit Vergeltungsmaßnahmen durch seine Herrin rechnen zu müssen. Janok grinste. Solange Inella sich des Schutzes der Lady Eliseth sicher gewesen war, war sie trotzig und dreist gewesen und hatte seine Autorität bei den anderen untergraben. Eine wahre Ewigkeit hatte er darauf warten müssen, daß das Mädchen endlich in Ungnade fiel – und jetzt, so schien es, würde er seine Rache endlich bekommen. Ein hämisches Lächeln glitt über Janoks Züge. Es gab nicht viele Plätze in der Akademie, wo man sich verstecken konnte. Er würde Inella finden. Im Handumdrehen.
Die meisten der kalten, steinernen Lagerräume hinter und unter den Akademieküchen waren den Knechten, die dort arbeiteten, verboten, denn dort befand sich das ungeheure Vorratslager, das die Magusch aus der Zeit herausgenommen hatten. Daher waren die Akademie und ihre Bewohner unabhängig und bestens versorgt, während die Menschen unten in der Stadt hungerten und litten und kaum wußten, wie sie die Not überleben sollten, die Eliseths grimmigem Winter gefolgt war. Sie brauchten auch nicht zu fürchten, daß irgend jemand ihnen ihre Vorräte stehlen oder durch List entwenden konnte – sollte sich überhaupt ein Sterblicher finden, der tapfer oder töricht genug war, so etwas zu versuchen. Der Zeitzauber hielt die Nahrungsmittel nicht nur frisch, sondern verhinderte auch, daß es den sterblichen Dienern gelingen konnte, etwas von dem so verzweifelt benötigten Essen in die Stadt hinunterzuschmuggeln, um es hungrigen Freunden und Familien zu geben.
Das Versteck war klein und nur schwer zu erreichen, vor allem bei Dunkelheit, aber zumindest schenkte es Zanna eine kurze Atempause, in der sie vor Janoks Brutalität und der Grausamkeit der Magusch sicher war. Ihr taten noch immer die Glieder weh. Der Küchenmeister hatte sie, als er sie in der großen Bibliothek entdeckte, übel verprügelt – aber das war nichts gewesen im Vergleich zu der Entdeckung, daß die Lady Eliseth, wenn sie verstimmt war, einem schlimmere Schmerzen zufügen konnte als jeder Sterbliche, und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren.
Das Mädchen wischte sich mit zitternden Fingern eine Träne von einer verschmierten Wange und wand und krümmte ihren Körper in dem engen Raum. Wenn sie doch nur eine bequeme Haltung für ihre schmerzenden Knochen finden könnte! Nachdem ihre Herrin sie für die Nacht weggeschickt hatte, war sie hierhergekommen, um auf keinen Fall Janok über den Weg zu laufen – denn jetzt, da die Lady Eliseth böse auf sie war, wußte sie, daß er das Gefühl haben würde, endlich alles mit ihr machen zu können, was er wollte. Wenn sie in der Vergangenheit doch ihm gegenüber nur vorsichtiger gewesen wäre! Jetzt würde sie dafür büßen müssen – aber hier war sie zumindest für den Augenblick sicher. Allerdings würde sie am Morgen wieder auftauchen müssen, und was würde Janok ihr dann antun? Plötzlich blieb ihr keine Zeit mehr – und ihrem Vater auch nicht. Zanna wünschte nur, sie könnte in diesem engen kleinen Winkel hinter den großen Steinkrügen voller Honig, Mehl und Bohnen auch vor ihren Sorgen und Ängsten Schutz finden – und vor den Gedanken an ihr eigenes Versagen.
In den vergangenen Tagen hatte sie sich eine Zeitlang der Hoffnung hingegeben, daß sie doch noch eine Möglichkeit finden würde, ihren Vater zu befreien. Vannor hatte es geschafft, ihr eine Nachricht zuzuschmuggeln, verborgen unter den schmutzigen Tellern auf einem Tablett. Auf diese Weise hatte sie von dem geheimen Fluchtweg durch die Katakomben erfahren, der unter der Bibliothek entlanglief und von dort in die Abwasserkanäle mündete. Aber heute erst hatte sich Zanna davonstehlen können, um Nachforschungen anzustellen – und dabei herausgefunden, daß das schmiedeeiserne Tor vor den alten Archiven fest verschlossen war. Um die Dinge noch zu verschlimmern, hatte Janok sie bei ihren Nachforschungen erwischt – und obwohl ihre Strafe schon schlimm genug gewesen war, war das Schlimmste von allem, daß er sie in Zukunft wie ein Habicht beobachten würde. Jetzt würde sie sich nicht einmal in die Nähe der Bibliothek wagen können – nicht ohne einen verdammt guten Grund!
Und ich habe geglaubt, ich wäre so klug, dachte Zanna erbittert. Was für eine wunderbare Idee: unter dem Namen Inella als Dienerin an die Akademie zu gehen und die Magusch auszuspionieren. Und dann haben sie Vater gefangen … Sie unterdrückte ein Schluchzen. Ich wollte ihn freilassen, und wir wollten zusammen fliehen. Diesmal konnte sie das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Aber ich kann ihn nicht retten – ich habe mir hundertmal das Gehirn zermartert, und es gibt einfach keine Möglichkeit, an den Wachen vorbei aus der Akademie zu kommen. Und er hat solche Schmerzen … Der Erzmagusch tötet ihn, ganz allmählich, nach und nach – und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nur zusehen, wie er leidet …
Das Problem war, daß sie fürchtete, Vannors Leiden nicht länger mitansehen zu können – nicht mehr lange jedenfalls –, ohne ihrer Herrin gegenüber ihre Gefühle zu verraten. Zanna hatte Angst, daß Eliseth sie zu guter Letzt doch noch durchschauen würde, und was würde dann aus ihr werden? Schon jetzt ging sie viel zu viele Risiken ein und verbrachte bei der Suche nach einem Ausweg für sich und ihren Vater zuviel Zeit außerhalb des Turms. Das hatten ihr die schrecklichen Ereignisse des heutigen Tages klargemacht. Aber sie war so verzweifelt gewesen, und sie wollte endlich von hier fort … Wenn sie doch nur nachdenken könnte …
Du bist hierhergekommen, um nachzudenken, schalt sich Zanna selbst. Aber du denkst nicht nach! Du versteckst dich weinend und feige im Lagerraum … Ungeduldig wischte sich das junge Mädchen die Tränen aus den Augen. Ihre Tränenströme würden sie nicht weiterbringen, sagte sie sich. Was ist aus deiner Entschlossenheit geworden? Du hast immer zu Maya und der Lady Aurian aufgesehen. Du hast dir gewünscht, ihren Mut zu haben. Nun, Mädchen – das ist deine Chance. Du warst doch immer so stolz auf dein Gehirn – also benutz es jetzt auch! Das war deine Idee – du wolltest es so.
Vannors Tochter schöpfte aus dem Gedanken an die beiden Frauen, die sie immer sosehr bewundert hatte, neue Hoffnung. Allein das Wissen, daß sie immer noch gegen Miathan und Eliseth kämpften, gab ihr neuen Mut – denn sie hatte einmal die Wettermagusch belauscht und auf diese Weise herausgefunden, daß Aurian immer noch lebte. Und Zanna klammerte sich hartnäckig an die Überzeugung, daß Maya, obwohl sie schon so lange verschwunden war, ebenfalls nicht tot sein konnte. Wenn die Lady Aurian an meiner Stelle wäre, überlegte sie, was würde sie tun? Ach, wenn sie doch nur hier wäre. Wenn ich sie doch nur um Rat fragen könnte …
Einen Augenblick mal – vielleicht kann ich das doch! Zanna setzte sich plötzlich mit vor Aufregung hämmerndem Herzen auf.
Aber war das möglich? Konnte er so weit reichen? Du wirst es nie erfahren, wenn du es nicht versuchst, sagte sie sich entschlossen, als ihr das Regal mit den Kristallen wieder einfiel, das in der Küche hing. Erst heute, als Janok sie erwischt hatte, hatte der Küchenmeister Lady Eliseths silberweißen Kristall aufgenommen, gewartet, bis er zu schimmern begann, und dann hineingesprochen. »Ich habe sie«, hatte er gesagt, und die Magusch hatte geantwortet. Lady Aurians Kristall war der grüne, das wußte Zanna – und er enthielt noch immer dieses verräterische Lichtfunkeln, das bewies, daß sie noch lebte. Wenn sie eine solche Kugel doch nur benutzen könnte, um mit Aurian zu sprechen – aber natürlich nicht die, die in der Küche stand. Die würde man vermissen. In den mittlerweile verlassenen Quartieren, die früher den Hausdienern gehört hatten, stand jedoch ein ähnliches Regal, vergessen und von Staub überzogen … Es war eine kleine und schwache Hoffnung, aber sie wärmte Vannors unzähmbarer Tochter das Herz. Vergessen waren ihre Schmerzen und ihre Verzweiflung, als sie sich daran machte, einen neuen Plan zu schmieden.
»Morgen werde ich einige unserer Nahrungsvorräte den Sterblichen von Nexis überlassen.«
»Du willst was tun?« rief Eliseth. »Miathan, hast du den Verstand verloren?«
Zu ihrer Erbitterung blieb der Erzmagusch völlig ungerührt. »Hier«, sagte er und zog mit einer spöttischen Verbeugung eine Karaffe unter seinem Umhang hervor, die mit einem hellen Wein gefüllt war. »Während ich unten die Vorräte überprüft habe, bin ich über eine Flasche von deinem Lieblingsgetränk gestolpert.« Mit einer nachlässigen Handbewegung warf er ihr die Flasche zu, und Eliseth schrie erschrocken auf, als ihre Finger auf dem kühlen Glas abrutschten und sie die Flasche um ein Haar hätte fallen lassen.
»Verdammt, Miathan – hör auf, den Narren zu spielen«, brauste sie auf. »Ich weiß ganz gut, daß der Wein nur eine List ist, um mich abzulenken.« Sie stellte die Flasche auf den Tisch, ohne ihm etwas von ihrem Inhalt anzubieten. »Also – was soll dieses närrische Gerede, unsere wertvollen Nahrungsmittel an diese nutzlosen, winselnden Sterblichen zu verschwenden?«
Miathan setzte sich unaufgefordert auf einen von Eliseths Stühlen und fuhr geistesabwesend über das weiße Fell, das über der Lehne hing. Schließlich begann er zu sprechen: »Es ist kein närrisches Gerede, du dummes Weib. Meiriels Tod hat mir zu denken gegeben …« Sein Gesicht verdüsterte sich bei dieser Erinnerung, und auch Eliseth mußte ein Schaudern unterdrücken, als sie daran dachte, wie sie in der vergangenen Nacht aufgewacht war, um an den grausamen Qualen teilzuhaben, mit denen die Heilerin zu Tode gekommen war. Obwohl die Entfernung die Wucht dieser Schmerzen ein wenig gedämpft hatte, war es trotzdem völlig klar gewesen, wie Meiriel gestorben war – und durch wessen Hand.
»Hör mir zu!« fuhr Miathan sie mit scharfer Stimme an, und die Wettermagusch zuckte zusammen. »Es ist wichtig, daß du verstehst, was ich tue und warum ich es tue. Deine hellseherischen Versuche, eine Spur von Aurian zu finden, waren bisher erfolglos. Doch sollte uns Meiriels Tod eine ausreichende Warnung sein, was ihre Fähigkeiten betrifft. Wenn sie nach Norden zurückkehrt – und zurückkehren wird sie –, müssen wir bereit sein. Wir brauchen die Sterblichen von Nexis auf unserer Seite, und dankenswerterweise verfügen sie nur über eine geringe Intelligenz und ein sehr kurzes Gedächtnis. Wenn wir behaupten, daß es Aurian gewesen sei, die den Winter verursacht hat und daß du diejenige warst, die ihm ein Ende setzte, und wenn wir dann den hungernden Pöbel füttern, haben wir eine gute Chance, ihre Unterstützung zu gewinnen.«
»Das gefällt mir nicht«, erwiderte Eliseth, ohne nachzudenken. »Also wirklich, schon allein der Gedanke, vor diesem niedrigen Ungeziefer im Staub zu kriechen, um seine Gunst zu gewinnen! Und möglicherweise brauchen wir das Essen noch.«
»Wir haben jetzt Frühling, du Idiotin!« brüllte der Erzmagusch. »Die Sterblichen verhungern jetzt, denn bisher hatte nichts Zeit zu wachsen. In wenigen Monaten wird es mehr als genug Essen für jeden geben – dank deines Versagens, als du die Kontrolle über den Winter verloren hast. Und wenn erst einmal genug zu essen da ist, nutzen uns unsere Vorräte überhaupt nichts, wenn wir einen Handel mit den Sterblichen schließen wollen.«
Eliseth biß sich auf die Lippen, um ihren Zorn im Zaum zu halten. »Na schön«, fauchte sie zurück. »Mach, was du willst. Verschwende unsere Vorräte, wenn du unbedingt mußt – aber dafür verlange ich etwas von dir.«
»Was verlangst du?« Miathans Augen bohrten sich die ihren.
Die Wettermagusch zuckte mit den Schultern. »Keine große Sache«, erwiderte sie mit seidenweicher Stimme. »Während du dich um die Angelegenheiten hier in der Stadt kümmerst, könnte es uns immer noch von Nutzen sein, wenn ich versuchen würde, meine hellseherischen Kräfte dazu zu benutzen, doch noch einen Blick auf Aurian zu werfen …«
»Schau der Tatsache ins Auge, Eliseth – so weit reichen deine Fähigkeiten nicht«, erwiderte der Erzmagusch ungeduldig. »Wie viele Male hast du es nun schon versucht und bist gescheitert? Seit Aurian die Berge erreicht hat, gibt es irgend etwas, das sie abschirmt.«
»Und wir müssen herausfinden, was das ist«, beharrte sie. »Miathan, hör zu. Du hast mich davon abgehalten, Vannor zu quälen, was meine Kräfte hätte anschwellen lassen – du wolltest selbst mit ihm experimentieren. Laß es mich jetzt versuchen; das ist der Gefallen, um den ich dich bitte. Der Kaufmann wird noch am Leben sein, wenn ich fertig mit ihm bin, das verspreche ich dir.«
»Da ich dich kenne, wird er sich sicher wünschen, er wäre tot«, erwiderte Miathan sarkastisch. »Na schön, Eliseth. Du kannst es versuchen, wenn es dir Spaß macht. Tu, was du tun mußt, aber denk daran …« Er beugte sich vor und sah ihr tief in die Augen. »Ich will Vannor lebendig, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Wenn du ihn tötest, wirst du meinen Zorn am eigenen Leib zu spüren bekommen – oder zumindest an deinem Gesicht.« Sein Lächeln war kalt und grausam. »Es wäre doch interessant zu sehen, welche Wirkung zwanzig weitere Jahre auf diese makellosen Züge hätten …«
Eliseth erschauderte. »Ich werde vorsichtig sein, Erzmagusch – das schwöre ich.«
»Es liegt bei dir – du kennst ja die Konsequenzen, die auf dich warten, wenn du nicht vorsichtig bist.« Mit diesen Abschiedsworten erhob sich der Magusch und ging, ohne Eliseth noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Wettermagusch starrte die Tür an, die sich hinter ihm geschlossen hatte, und ballte die Fäuste so fest zusammen, daß sich die Fingernägel ins Fleisch bohrten. Eines Tages, Miathan, dachte sie, eines Tages werde ich dich umbringen.
Eliseth wickelte sich ein weißes Leinenhandtuch um ihre langen, bleichen Finger und benutzte es, um die Weinkaraffe zu öffnen. Dann hob sie sie in das Licht des Feuers und betrachtete durch die helle, klare Flüssigkeit das bernsteinfarbene Flackern der tanzenden Flammen. Sie seufzte. Obwohl Miathans Keller schier unermeßlich groß waren, war dies eine der letzten Flasche von dem weißen Wein. Der Erzmagusch zog die schwereren, kräftigeren Weine vor, in deren dunklen Tiefen rubinfarbenes Feuer glomm. Nun, dagegen war nichts zu machen – noch nicht. »Wenn ich erst Erzmagusch bin«, murmelte Eliseth, »wird sich hier einiges ändern.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Aber bis es endlich soweit war, ließ sich in dieser Hinsicht nichts tun …
Die Wettermagusch konzentrierte ihre Kräfte auf die geschliffenen Glasfacetten der Karaffe und schloß ihre Hand um den schlanken Flaschenhals. Die Erschaffung des unnatürlichen Winters und die anschließenden Nachforschungen in Finbarrs vernachlässigten Archiven hatten sie vieles über die vergessenen und verbotenen Zauber der Kalten Magie gelehrt. Auf ihren Befehl hin prallten die Flammen im Kamin wie geschlagene Straßenköter zurück und flackerten blau auf, und das Licht der Kerzen wurde kleiner und erlosch beinahe. Ein Hauch eisiger Kälte schoß durch die Luft und legte sich auf die Flasche, um den Wein in ihrem Innern unter einem glitzernden weißen Frostfilm zu verbergen.
»Genug!« Eliseth bot dem Zauber Einhalt, bevor die Flüssigkeit gefrieren konnte und verdarb. Und dann, während sie die Karaffe noch immer vorsichtig mit dem Taschentuch festhielt, begann sie den kühlen Wein in einen Kristallkelch zu gießen. Dann ging sie hinüber zu ihrem Lieblingsstuhl am Feuer und setzte sich erwartungsvoll hin, wobei sie über die Ironie nachdachte, eine so alte, mächtige und tödliche Magie für etwas so Banales wie die Kühlung eines Weins einzusetzen. Aber andererseits, warum nicht? Heute abend hatte sie das Gefühl, sich ein wenig verwöhnen zu müssen. Ihre Laune bedurfte dringend der Verbesserung: denn in letzter Zeit waren die Dinge nicht allzugut gelaufen.
Es war ein Fehler gewesen, überlegte sie, ihren Zorn an ihrer Magd auszulassen, obwohl die faule kleine Schlampe eine Strafe wirklich verdient hatte. Eliseth nahm einen weiteren Schluck von dem köstlichen Wein und ließ die Erinnerung an die Qualen des Mädchens noch einmal aufleben. Unbeweglich und festgefroren hatte Inella mitten im Zimmer gestanden, und nur ihre Augen hatten ihr Entsetzen verraten, als die Magusch über ihr stand und ihre Finger bog, um den Schmerz brennender, eisiger Kälte in Inellas Körper anschwellen zu lassen. Erst nachher hatte sie den Blick verschleierten Grolls in den Augen ihrer Dienerin bemerkt und ihren Fehler eingesehen. Obwohl sie durch die Folterung der Magd ein befriedigendes und dringend benötigtes Ventil für ihre jüngsten Frustrationen gefunden hatte, hatte sie der Loyalität des Kindes möglicherweise irreparablen Schaden zugefügt – und heutzutage, rief sich die Magusch energisch ins Gedächtnis, mußte sie für jegliche Unterstützung, die sie bekommen konnte, dankbar sein.
Mit sanften Fingern strich sich Eliseth die Falten von der Stirn. Seit Miathans gehässiger Zauber ihrem Antlitz zehn weitere Jahre hinzugefügt hatte, mußte sie größte Sorgfalt auf ihre Schönheit verwenden. Aber noch war nicht alles verloren. Die dunklen Schwellungen, die Inellas Arme und Gesicht entstellten, ihre gebeugte Haltung und die steifen, unbeholfenen Bewegungen hatten Eliseth verraten, daß noch ein anderer seine Rache an ihr genommen hatte: Zweifellos hatte Janok schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Wunderbar! Eliseth fand ihr Lächeln wieder. Der Küchenmeister hatte ihr direkt in die Hände gespielt. Sie würde sich eine Weile taub stellen und zulassen, daß er das Kind mißhandelte – und dann würde sie ihn bestrafen und Inella retten; auf diese Weise würde sie sich aufs neue die Dankbarkeit ihrer Magd sichern.
Sterbliche waren ja so leicht zu manipulieren – mit einer einzigen erzürnenden Ausnahme. Als sie an Vannor dachte, ertappte sich Eliseth bei einem neuerlichen Stirnrunzeln. Sie sprang auf die Füße, füllte ihren Kelch noch einmal aus der frostigen Karaffe und schluckte den köstlichen Wein hastig hinunter, um ihren Zorn zu beschwichtigen. Seit vielen Tagen schon, während der Mond die Hälfte seines Zyklus zurückgelegt hatte, hatte sie versucht, Miathan zu überreden, ihr zu gestatten, die dunkle Energie von Furcht und Schmerz des Sterblichen zu benutzen, um ihre Zauberkraft zu schüren. In jener ersten Nacht, als sie in die Kammer des Kaufmanns hinaufgestiegen war, um ihr Glück zu versuchen, hatte der Erzmagusch ihrem Tun Einhalt geboten und seitdem Vannor für sich behalten. Er schien nicht zu begreifen, wie ungeheuer wichtig es war, daß Eliseth ihre hellseherischen Fähigkeiten vergrößerte, um die vielen Meilen zu überwinden, die sie von Aurian trennten. Und der frühere Anführer der Rebellen war der Schlüssel dazu – dessen war sie sicher.
Die Wettermagusch fauchte einen Fluch. Miathan! Er hatte darauf bestanden, daß man mit Vannors Kraft sparsam umgehen müsse, daß man ihm keine ernsthaften oder verkrüppelnden Verletzungen zufügen dürfe, die ihn vielleicht töten könnten. Was für ein Unsinn! Der Kaufmann war stark wie ein Ochse. Dieser geifernde Narr von einem Erzmagusch wurde langsam weich. Oder vielleicht nicht? Es war immer ein Fehler, Miathans Schläue zu unterschätzen, wie sie schmerzlich am eigenen Leibe erfahren hatte. Hatte der alte Fuchs seine eigenen Pläne mit Vannor? Oder versuchte er lediglich, Eliseths Macht zu begrenzen? Nun, was auch immer er im Schilde führte, es würde nicht funktionieren. Sie hatte jetzt lange genug gewartet. Angeregt von dem Wein, den sie getrunken hatte, loderte Entschlossenheit wie eine weißglühende Flamme in ihr auf. Lächelnd machte sie sich daran, ihren Kristall zu holen, um das Pförtnerhaus zu rufen und die beiden dort untergebrachten Söldner zu sich zu befehlen, die ihr bei dem Kaufmann zur Hand gehen sollten. Dieser verfluchte Miathan mit seinen blödsinnigen Experimenten! Aber zumindest hatte sie ihn endlich zum Nachgeben gezwungen. Solange sie Vannor nicht tatsächlich tötete, konnte sich der Erzmagusch kaum über das beklagen, was sie dem Sterblichen antat – nicht, wenn sie Ergebnisse vorzuweisen hatte. Und heute nacht, das wußte sie, war ihr der Erfolg sicher. Sie würde Aurian finden, gleichgültig um welchen Preis.
Vannor lag in sich zusammengekauert auf Aurians Bett, als Eliseth in das Zimmer stolzierte, begleitet von zwei Söldnern mit steinernen Gesichtern. Als er sie eintreten hörte, erhob er sich mühsam und nahm auf der Stelle eine Haltung unbeugsamen Trotzes ein, als fürchtete er sich nicht im mindesten vor ihr. Aber die Wettermagusch hatte für einen flüchtigen Augenblick gesehen, wie sein Gesicht bei ihrem Eintritt erbleicht war, und sie hatte den Schatten einer furchtbaren Angst in seinen Augen bemerkt, einer Angst, die er nun vor ihr verbarg.
»Immer noch auf den Beinen, Vannor?« verhöhnte sie ihn. »Offensichtlich war der Erzmagusch viel zu milde mit dir. Aber jetzt bin ich ja da.« Ihre Stimme war ein leises, bösartiges Fauchen. »Heute nacht wirst du mir helfen.«
»Ich werde dir bei gar nichts helfen«, schnaubte Vannor, »so wie ich es vorher schon deinem Herrn gesagt habe.«
»Wahrhaftig.« Eliseths Stimme war eisig vor Zorn. »Das werden wir ja sehen.« Auf ihr Signal hin stürzten die beiden Wachen nach vorn und ergriffen den Kaufmann. Eliseth kehrte Vannor den Rücken zu und winkte den Söldnern, ihr mit dem Gefangenen zu folgen. Sie ging ins Wohnzimmer, legte ihren Kristall auf den blankpolierten Sims des schmalen Fensters, stellte zwei Kerzen daneben, so daß sich ihr Licht in den diamantförmigen Facetten widerspiegelte, und drehte sich schließlich zu Vannor um. »So, Sterblicher …« Sie sah Vannor, den die Wächter mit festem Griff umklammert hielten, etwa in der Art an, wie sie ein Insekt betrachtet hätte. »Laß uns jetzt das Ausmaß deines Trotzes erproben.«
Ihr leidenschaftsloser Blick wandte sich den Wachen zu. »Zuerst etwas Kleines«, überlegte sie so gelassen, als suche sie auf dem Markt einen Seidenstoff aus. »Aber doch etwas, das dich für alle Zeiten lehren wird, niemals wieder den Magusch zu trotzen. Eine Hand vielleicht, die rechte Hand – damit er nie wieder in einer Rebellion ein Schwert führen kann.«
»Nein!« heulte Vannor auf, während er sich verzweifelt wand und krümmte. Die Söldner hielten ihn so, daß seine Hände flach auf der glatten Oberfläche des Tisches lagen. Er kämpfte weiter, bis die Wettermagusch mit einem kleinen, verärgerten Ausruf die Hand zu einer abrupten, scharfen Geste hob. Urplötzlich konnte sich der Kaufmann nicht mehr bewegen, konnte nicht mehr sprechen; seine Glieder und seine Zunge waren eingehüllt in ein Tuch aus Eiseskälte, eine Kälte, die qualvoll bis auf seine Knochen drang. Seine Augen waren weit geöffnet und ebenfalls wie festgefroren, während er auf die Hand hinunterblickte, die schlaff und hilflos und bleich auf dem dunklen Holz des Tisches lag. Es gab keine Möglichkeit, wie er verhindern konnte, mit ansehen zu müssen, was sie ihm antaten. Lediglich Vannors Geist stand noch – wenn auch schwach – unter seiner eigenen Kontrolle, und sein Verstand konnte nichts tun als ohnmächtig zu fluchen.
Eliseth schien jedoch durchaus in der Lage zu sein, seine Gedanken zu hören. »So ist es schon viel besser«, murmelte sie mit einem selbstgefälligen kleinen Lächeln. »Die Kraft deiner gefesselten Gefühle wird deutlich erhöht, wenn du keine Möglichkeit hast, sie zu äußern.«
Der Kaufmann versuchte in seiner Qual und Hilflosigkeit, sich abzulenken, indem er sich vorstellte, und zwar mit kalten, präzisen Einzelheiten – was genau er Eliseth alles antun würde, wenn er nur erst wieder frei wäre –, aber die Magusch lachte lediglich. »Haß wird meinen Zwecken genauso dienen«, sagte sie zu ihm. »Genau wie deine Verzweiflung. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Du hast keine andere Wahl, als deine Freunde zu verraten.«
Aus den Augenwinkeln fing Vannor ein Aufblitzen von Silber auf und hörte das heisere Zischen von Stahl, als einer der Söldner seine Klinge zog. Das Blut des Kaufmanns verwandelte sich in Eis. Ihm seine Hand abschneiden? Nein, das konnten sie nicht! Sie …
Der Wachposten zog sein Schwert heraus und hielt es mit der Spitze nach oben hoch über den Tisch. Dann umklammerte er den Griff mit beiden Händen und ließ es mit voller Wucht nach unten krachen, so daß sich die scharfen Schneiden der Klinge wie ein silberner Nebel und gefährlich nahe vor dem Gesicht des Kaufmanns hinunterbewegten. Vannors Welt explodierte in einem Aufflimmern weißglühenden Schmerzes. Sein Geist stieß einen lautlosen Schrei aus, als der schwere Stahlknauf des Schwertgriffs einmal, zweimal, dreimal auf den Rücken seiner Hand hämmerte und Fleisch und zarte Knochen zu einer blutigen Masse zerquetschte.
»Genug.« Wie aus großer Ferne vernahm Vannor Eliseths kalte Stimme, ein leises Summen in seinen Ohren. Er wollte loslassen, wollte seinen Schmerz, sein Entsetzen und seinen Zorn in die dunkle Zuflucht gesegneter Bewußtlosigkeit stürzen, aber der Zauber der Magusch hielt ihn mit eisernen Klauen umklammert und verwehrte ihm einen so einfachen Fluchtweg. Diese verfluchte, bösartige, widerliche Hexe, tobte Vannor innerlich – aber nein; sie hatte ja gesagt, sie könne auch seinen Zorn benutzen. Ich werde das nicht zulassen, dachte er. Ich will verdammt sein, wenn ich ihr gestatte, mich zu benutzen!
Mit unendlicher Anstrengung löste er seinen Geist von dem Schmerz und der Verstümmelung, um sich auf schöne Dinge zu konzentrieren: auf den Wohlstand und Luxus früherer Tage, als er noch das Oberhaupt der Händlergilde gewesen war; die Wärme und Kameradschaft, die ihn mit Forral und Aurian, mit Parric und Maya verbunden hatte. Er dachte an die Menschen, die er liebte: Zanna … (Nein, nicht Zanna! Gerade noch rechtzeitig fiel Vannor ein, in welche Gefahr er Zanna damit bringen würde.) Statt dessen dachte er an seine wunderschöne erste Frau und an Sara … Aber zu seinem Erstaunen war es die Erinnerung an Dulsina, seine kluge, empfindsame Haushälterin mit ihrem leidenschaftlichen Herz und ihrer scharfen Zunge, die Vannor am meisten Kraft gab, seiner Peinigerin zu widerstehen. Ohne ihren Gefangenen eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte die Wettermagusch sich zu ihrem Kristall um und ließ ihre geistigen Energien in den faustgroßen Edelstein fließen, der vor einem Hintergrund samtschwarzer Nacht im Kerzenlicht flackerte. Dann stählte sie ihren Willen, öffnete sich für Vannors Schmerz und Entsetzen und befeuerte ihre Kräfte mit den heißen Wogen negativer dunkler Energie, die über ihrem leidenden Opfer zusammenschlugen. Es hatte viele Stunden erschöpfenden und sorgfältigen Übens gekostet, um an jenen Punkt zu gelangen, an dem ihre innere Sehkraft sich so weit ausdehnte, daß sie in das Jenseits hineinspähen konnte, aber jetzt … Eliseth schloß die Augen halb, als das spröde Regenbogenglitzern des Kristalls verschwamm und sich in einen dichten, milchigen Nebel hüllte – und im Inneren … »Ahhh.« Die Wettermagusch stieß einen langen Seufzer der Befriedigung aus. »Jetzt habe ich sie!«
Eliseths erster Eindruck war der eines warmen goldenen Flackerns von Feuerschein, und dann, als die Bilder langsam deutlicher wurden, konnte sie Aurian und Anvar sehen, die dicht nebeneinander saßen. Die beiden Magusch und zwei Sterbliche, ein Mann und eine Frau, unterhielten sich mit jemand anderem, den zu sehen ihr ärgerlicherweise nie so recht gelingen wollte. Sie runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Dann konzentrierte sie all ihre Gedanken auf den Kristall, in dem verzweifelten Versuch, die Identität der fünften Person zu ermitteln. Aber alles, was sie wahrzunehmen vermochte, war eine in Schatten gehüllte Gestalt – menschlich und wieder doch nicht menschlich –, die vor ihren Augen zerfloß und zerfiel und all ihren Versuchen einer näheren Bestimmung auswich. Mit Mühe konzentrierte Eliseth sich so lange auf die Vision, bis sie hören konnte, was gesagt wurde – und um ihren Verdruß noch zu vergrößern, schien es so, als befände sich noch eine sechste Person in dem Raum! Unverkennbar sprachen Anvar und Aurian mit einem verborgenen Wesen, dessen Antworten für Eliseth nicht zu hören waren, und sosehr die Wettermagusch sich auch bemühte, dieses sechste Wesen blieb vollkommen unsichtbar.
Aurian nahm einen Schluck von dem zuckersüßen Met aus ihrer Tasse, und Chiamh sah, wie sie versuchte, angesichts der klebrigen Süße des Getränks nicht das Gesicht zu verziehen. Obwohl die Xandim ein mehr als passables Bier zu brauen imstande waren, wurde bei Gelegenheiten von größerer Bedeutung – wie zum Beispiel wichtigen (wenn auch inoffiziellen) Beratungen – traditionellerweise etwas Stärkeres serviert. Der heutige Tag hatte ihnen eine kurze Atempause verschafft, was die Probleme der Pferdeleute betraf, damit sie Elewin begraben konnten. Morgen jedoch würden schwerwiegende Entscheidungen bezüglich der zukünftigen Führung der Xandim notwendig werden, und man würde einen Entschluß treffen müssen, welche Rolle dieses Volk bei Aurians Kampf gegen den Erzmagusch zu spielen hatte. Heute abend waren Parric, Chiamh, die beiden Magusch und Sangra zusammengekommen, nicht nur, um ihren Kummer über das Dahinscheiden des Haushofmeisters miteinander zu teilen, sondern auch, um sich zu beraten und einen Plan und eine Strategie zu entwickeln, die sie am Morgen den versammelten Rudelführern vortragen konnten.
Parric nahm einen Schluck aus seinem Hornbecher und betrachtete die ernsten Gesichter der anderen.
»Ich weiß, daß keinem von euch danach zumute ist, heute abend schwerwiegende Entscheidungen zu treffen«, sagte er mit gequälter Miene, »aber nach dem, was gestern geschehen ist, sollten wir uns besser schleunigst etwas ausdenken. Der Mond hat sich wieder verdunkelt, so daß man mich herausfordern kann, und ich will nicht und muß ja auch nicht länger Rudelfürst sein. Außerdem«, fügte er bitter hinzu, »habe ich keine Lust, so einen Kampf noch einmal auszutragen. Für niemanden. Es muß doch unter den Xandim irgend jemanden geben, der die Führung übernehmen kann – jemanden, der unserer Sache aufgeschlossen gegenübersteht. Was geschieht nach dem Gesetz der Xandim, wenn der Rudelfürst seinen Führungsanspruch nicht verteidigen will? Können wir irgend jemanden für das Amt benennen?«
»Nun?« drängte Aurian Chiamh, der still und ganz in Gedanken versunken dagesessen hatte. Jetzt wandte das Windauge seine Aufmerksamkeit wieder den anderen zu und antwortete auf Parrics Frage. »Ja«, sagte er. »Mit deiner Zustimmung kann einer der Herausforderer an deine Stelle treten – er muß jedoch trotzdem um die Führung kämpfen, falls irgend jemand sich ihm entgegenstellt. Aber wen willst du an deiner Stelle im Amt des Rudelfürsten sehen?«
»Schiannath«, erwiderte Aurian an Parrics Stelle. »Abgesehen von dir, Chiamh – und offensichtlich kannst du ja nicht Rudelfürst werden –, ist er der einzige Xandim, auf dessen Unterstützung wir zählen können.«
»Aber wartet«, unterbrach Anvar sie. »Ich dachte, Schiannath hätte schon einmal versucht, den Rudelfürsten zu bezwingen, und wäre dabei besiegt worden. Also kann er seine Herausforderung wiederholen?«
»Weil Parric ihn benannt hat«, erwiderte Chiamh. »Im wesentlichen handelt er dann ja für einen anderen, nicht für sich selbst.« Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr er fort: »Es besteht kein Zweifel, daß Schiannath den Xandim befehlen würde, euch zu helfen, wenn er Rudelfürst wird. Im Augenblick glaubt er, alles, was ihm in letzter Zeit an Glück widerfahren ist, sei euch zu verdanken. Er wird alles für dich tun, was in seiner Macht steht, Aurian.«
»Aber ich habe doch eigentlich gar nichts für ihn getan«, protestierte Aurian.
Das Windauge zuckte mit den Schultern. »Nein? Wärst du nicht gewesen, wäre Parric niemals in unser Land gekommen. Ich wäre nicht gezwungen gewesen, etwas gegen den Rudelfürsten zu unternehmen, und Phalihas hätte aller Wahrscheinlichkeit nach seine Herrschaft aufrechterhalten können. Schiannath wäre immer noch ein Verbannter und seine Schwester gefangen in ihrer Pferdegestalt. Zweifle nicht an seiner Ergebenheit, Aurian. Sie ist nicht unverdient – und im Augenblick hat sich alles zu eurem Besten entwickelt.«
Obwohl Chiamh versuchte, seine eigenen Gefühle zu verbergen, gab es da etwas – eine winzige Spur des Zögerns, ein Anflug von Bitterkeit –, das ihn verriet. Stirnrunzelnd schaute Anvar das Windauge an. »Du sagst, es sei alles zu unserem Besten. Willst du damit andeuten, daß es nicht zum Besten von Schiannath oder den Xandim ist?«
Chiamh zögerte. Während der letzten Tage hatten ihn starke Erinnerungen an seine Vision von vor so langer Zeit heimgesucht. Bisher war alles eingetreten, was er vorhergesehen hatte. Er hatte Aurian und Anvar bei ihrem Kampf gegen die bösen Mächte geholfen, und auch Schiannath hatte seine Rolle gespielt. Bisher war nur ein einziger Teil seiner Vision nicht in Erfüllung gegangen: die furchterregende Prophezeiung, daß das Kommen Aurians das Ende der Xandim-Rasse bedeuten würde. Seit Tagen hatte er nun mit seinem Gewissen gerungen und darüber nachgedacht, ob er dem Magusch erzählen sollte, was er vorhergesehen hatte. Hatte Aurian nicht schon genug Schwierigkeiten? War es fair, ihre Last zu vergrößern, indem er ihr auch noch das Schicksal einer Rasse aufbürdete, die nicht mal ihre eigene war? Auf der anderen Seite – sollte er sie nicht wenigstens warnen, daß ihr Tun vielleicht ernsthafte Konsequenzen haben würde? Wenn er es nicht tat und das Schlimmste geschehen würde, würde dann nicht ihn die Schuld treffen? Und doch, wenn die Vision der Wahrheit entsprach, gab es dann überhaupt eine Möglichkeit, das Schicksal abzuwenden, gleichgültig, ob er seine Befürchtungen aussprach oder nicht? Chiamh spürte, daß Aurian ihn anstarrte. Auch Anvar sah ihn stirnrunzelnd an. Die beiden Magusch würden sich eindeutig nicht zufriedengeben, ehe sie nicht irgendeine Art von Erklärung erhalten hatten.
»Na schön«, meinte das Windauge schließlich. »Ich sollte es euch wahrscheinlich erzählen – nicht, daß es wirklich einen Unterschied macht …«
»Nein! Tu es nicht!« Chiamh schrak zusammen, als die Stimme von Basileus scharf in seinen Gedanken widerhallte. Nach Aurians erstauntem Aufkeuchen und Anvars weit aufgerissenen Augen zu urteilen, hatten die Magusch den Moldan wohl ebenfalls gehört. Das Windauge bemerkte, wie die beiden einen raschen Blick wechselten.
»Wer, zum Teufel, war das?« wollte Aurian wissen. »Das war doch gewiß dasselbe Wesen, das mich gegen den Tod verteidigt hat. Und warum sollst du es uns nicht sagen – was immer es auch sein mag. Wenn es etwas ist, das wir wissen müßten …«
»Es ist etwas, das ihr Magusch nicht wissen müßt.« Die Gedankenstimme des Moldans war streng und unerbittlich. »Kleines Windauge, du darfst das nicht tun«, fuhr er fort, und den finsteren Mienen seiner beiden Freunde entnahm Chiamh, daß Basileus nun nur noch mit ihm sprach und die Magusch ihn nicht hören konnten.
»Du und ich, wir wissen beide, was du vorhergesehen hast«, fuhr Basileus nun mit etwas sanfterer Stimme fort. »Wenn Aurian das Flammenschwert ergreift, werden ihre Handlungen den Xandim möglicherweise wirklich ein Ende bereiten – aber hier steht weit mehr auf dem Spiel als das Schicksal einer einzelnen Rasse.«
»Na ja, du hast leicht reden«, erwiderte Chiamh, der – so wütend war, daß er beinahe vergessen hätte, seine Antwort nur an den Moldan zu richten. »Es ist ja auch nicht deine Rasse, die möglicherweise ausgelöscht wird!«
Der Moldan seufzte. »Junges Windauge«, sagte er sanft, »meine Rasse wurde vor langer, langer Zeit von den Zauberern auf grausame Weise gefoltert. Die Moldan wissen besser als alle anderen Wesen der Welt, welchen Schaden die Magusch anrichten können. Um aber die Welt vor jener neuen bösen Macht zu bewahren, die einige der Magusch an sich gerissen haben, würde ich mich jederzeit selbst opfern – mich und alles, was von meiner Rasse übrig ist. Vielleicht wird es sowohl für die Moldan als auch für die Xandim das Ende bedeuten – vielleicht auch nicht. Vielleicht war deine Vision unklar oder irreführend, und wir wollen beide hoffen, daß es so ist. Aber ob du bei der Deutung dessen, was du gesehen hast, richtig gelegen hast oder nicht, du hast keine Recht, diese Magusch mit deinen Ängsten und Zweifeln zu belasten. Wenn du ihnen offenbarst, was du weißt, hinderst du sie vielleicht an ihrem Kampf, und wenn die böse Macht obsiegen sollte, dann wird das mit Sicherheit das Ende der Xandim-Rasse bedeuten.«
Chiamh mußte zu seinem Kummer einsehen, daß Basileus recht hatte. In jener Nacht vor vielen Monden war das Windauge schon einmal zu einer ähnlich harten Entscheidung gekommen, als er nämlich die Wogen des Bösen im Wind entdeckt hatte, bevor seine Vision ihn zu den klaren, leuchtenden Hoffnungsfunken im Süden führte: Aurian und Anvar, mit deren Schicksal das seine inzwischen so eng verwoben war. Er senkte den Kopf in Anerkennung der Weisheit des Moldans. »Ich verstehe«, erwiderte er leise, wobei er immer noch große Sorgfalt darauf verwendete, seine Gedanken vor den Magusch abzuschirmen. »Die Last meines Wissens muß ich allein tragen.«
Die Wettermagusch fluchte und schleuderte den Kristall von sich. Auf diese Weise kam sie nicht weiter! Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was dort in der Ferne geschah. Hölle und Pest auf Aurian – wie hatte diese kleine Hexe es nur geschafft, die Klarheit von Eliseths Vision so zu trüben? Mit finsterer Miene drehte sie sich um und stellte fest, daß die beiden Söldner sie fragend ansahen und offensichtlich weitere Befehle erwarteten. Zwischen ihnen hing Vannor wie festgefroren in ihrem Zauberbann, obwohl sein Gesicht grau war und seine Miene leer. Nur ihrer Magie war es zu verdanken, daß er noch bei Bewußtsein war – und in seinen Augen glomm noch immer ein unbesiegbarer Funken Trotz. War sein hartnäckiger Widerstand die Barriere gewesen, die ihren Versuch, ihre Feindin auszuspionieren, verhindert hatte? Nun, heute nacht jedenfalls hatte sie keine Verwendung mehr für ihn, soviel stand fest. Sie würde dafür sorgen, daß sein halsstarriger Geist ein für allemal gebrochen war, bevor sie versuchte, seine Energien noch einmal zu benutzen! Mit einer einzigen Handbewegung löste sie ihren Zauber auf, und die Knie des Kaufmanns gaben unter ihm nach, während aus dem Klumpen zerfetzten Fleisches und zerschmetterter Knochen, der einst seine Hand gewesen war, das Blut sickerte. Die Söldner griffen hastig nach Vannors Armen und zogen ihn wieder hoch.
»Laßt ihn los!« fauchte Eliseth den Wachen zu. »Verbindet ihm die Hand – ich will nicht, daß er verblutet.« Dann ergriff sie ihren Kristall und stolzierte aus dem Zimmer, während Vannor auf dem Fußboden zusammenbrach.
Als die Wettermagusch die gewundene Treppe zu ihren Räumen hinunterlief, hatte sich ihr Zorn bereits ein wenig abgekühlt. Immerhin waren ihre Bemühungen nicht völlig fruchtlos geblieben. Zumindest hatte sie herausgefunden, daß Aurian vorhatte, nach Norden zurückzukehren – und daß sie den Xandim bewogen hatte, ihr zu helfen. Eliseth nickte grimmig, während sie sich hastig an Früchten und Wein labte, um die Energien zu ersetzen, die sie durch ihre magische Arbeit verloren hatte. Na schön. Es war an der Zeit, daß sie einige ihrer Pläne in die Tat umsetzte. Es gab wenig, was sie in bezug auf Aurians mysteriöse Verbündete aus dem Südland tun konnte, aber in ihrem eigenen Land würde die junge Magusch nur wenig Unterstützung finden, falls sie es tatsächlich wagen sollte, hierher zurückzukehren. Und wenn Eliseth ihr eine Falle stellen wollte, dann war Vannor der perfekte Köder. Sie brauchte lediglich einen Sterblichen als Spion bei den Rebellen einzuschleusen und ihnen auf diese Weise die traurige Nachricht von der Gefangenschaft ihres ehemaligen Anführers zukommen zu lassen. Und sie glaubte auch, genau den richtigen Mann für diese Aufgabe zu kennen … Ohne die Sache weiter aufzuschieben, hüllte sie sich in ihren dunkelsten, wärmsten Umhang, griff nach ihrem Stab und verließ den Turm.
Die Wettermagusch schlüpfte über den Hof, wobei sie die schimmernden Teiche im Mondlicht sorgsam mied; sie war nur ein weiterer Schattenfetzen innerhalb der Schatten, die die Mauern warfen, und hatte nichts und niemanden zu fürchten. Der einsame Wachposten in dem oberen Pförtnerhaus bemerkte nicht das geringste, als sie an ihm vorbeiging. Die Schar bewaffneter Söldner, die das untere Tor bewachten, hatten die Aufgabe, nach Eindringlingen Ausschau zu halten und nicht nach Leuten, die die Akademie verließen. Außerdem waren sie voll und ganz in ein Würfelspiel vertieft. Eine Tatsache, die Eliseth sehr wohl vermerkte. Morgen würden diese Hanswurste bereuen, daß sie sich im Dienst der Magusch eine solche Unaufmerksamkeit hatten zuschulden kommen lassen! Dann aber tat sie die Angelegenheit für den Augenblick achselzuckend ab und glitt still wie ein Geist über die Brücke, bevor sie in den Schatten der Stadt verschwand.