9 Auf den Flügeln des Windes

Die Sonne näherte sich bereits ihrem Zenit, als Chiamh aus dem schattigen Eingang der Xandim-Festung trat. Diese Tatsache überraschte ihn einigermaßen. Hatte er wirklich so lange geschlafen? Am Tag zuvor hatten ihn ungefähr zur selben Zeit widerwillige Geflügelte von der Stahlklaue hierher zurückgeflogen, und mit ihm Shia, Khanu und die beiden Magusch. Sie alle waren durchgefroren bis auf die Knochen und benommen vor Erschöpfung, und niemand hatte noch genug Energie, um auf die ängstlichen Fragen von Parric, Schiannath und den anderen einzugehen, die zurückgeblieben waren. Sehr zur augenfälligen Empörung des augenblicklichen Rudelfürsten hatten sie nur die drängendsten Fragen beantwortet, während sie sich über die mit Eintopf gefüllten Schalen und den scharf gewürzten Wein hermachten, die Iscalda für sie aufgetischt hatte. Dann setzte Anvar, dem Aurians offensichtliche Erschöpfung große Sorgen bereitete, der Versammlung mit solcher Schroffheit ein Ende, daß Parric ernstlich in Wut geriet. Es hatte ihn bereits verärgert, daß er zurückbleiben mußte, um für den neuen Zustrom von Fremdländern Platz zu schaffen und seine Leute nach dem Schreck über Meiriels Angriff zu beschwichtigen.

Das Windauge hatte sich, um endlich entkommen zu können, so schnell wie nur möglich zu seinen Gemächern auf den Weg gemacht. Nach den peinigenden Ereignissen der vergangenen Nacht war er vollständig angezogen auf seine mit Heu gestopfte Matratze gefallen und eingeschlafen, bevor er auch nur Zeit fand, sich mit den bereitliegenden Fellen zuzudecken.

Als er schließlich wieder erwachte, waren seine Augen noch immer verquollen von zu wenig Schlaf. Um sich ein wenig zu erfrischen, hatte er beschlossen, ein Bad in dem eisigen Teich am Fuße des nahe gelegenen Wasserfalls zu nehmen. Also wickelte er frische Kleider zum Wechseln in eine dicke, warme Decke, mit der er sich selbst einhüllen wollte, bis er trocken war, und brach sich durch das Labyrinth von Korridoren und Gängen zum Eingang der Festung auf.

Chiamh stand auf der einen Seite des großen, überwölbten Tores, gähnte und reckte sich und ließ seinen Blick über die hügelige grüne Landschaft gleiten, die jenseits des gewaltigen Steinbaus lag, und über das offene Gelände dahinter, das sich langsam dem Meer zuneigte. Der Tag war kalt, es wehte ein frischer Wind, der die zerklüfteten grauen Wolkenberge über den Himmel jagte und das Land zwischen den heftigen Schauern immer wieder mit flüchtigen Sonnenstrahlen überhauchte. Heller als diese funkelten jedoch die bunten Zelte, die die Wiesen vor der Festung übersäten.

Das Windauge stutzte angesichts des weitläufigen Lagers von Pferdeleuten, das in seiner Abwesenheit aus dem Boden geschossen war – eine Reaktion auf die Boten, die er und Parric vorausgeschickt hatten, bevor sie den Turm von Incondor verließen. So vieles war seitdem geschehen, daß er diese Boten ganz vergessen hatte – und gestern abend waren ihm die düsteren Umrisse der Zelte in der verregneten Dunkelheit nicht weiter aufgefallen. Außerdem mußte er sich im Augenblick um wichtigere Dinge kümmern. Die Xandim jedoch waren dem Ruf des Rudelfürsten gefolgt. Den verschiedenartigen und typischen Mustern der Fellzelte entnahm Chiamh, daß sie aus allen Richtungen hierhergeströmt waren.

Beim Anblick so vieler fremder Leute auf der Wiese trat das Windauge unwillkürlich einen Schritt zurück in den sicheren Schutz des Eingangs. Noch nie hatte er so viele Menschen auf einmal gesehen, und ihre Gegenwart beunruhigte ihn ein wenig. Den größten Teil seiner Tage hatte er in erzwungener Einsamkeit zugebracht, bevor das Auftauchen der Fremdländer sein Leben verändert hatte. Und obwohl er die Wärme dieser neu gefundenen Freundschaften genoß, verlangte es ihn gelegentlich immer noch nach der Einsamkeit und dem Frieden seines eigenen kleinen Tals und der luftigen Freiheit seiner Kammer der Winde, in der er jetzt gern eine Weile über die unglaublichen und gewaltigen Ereignisse nachgedacht hätte, die ihn in letzter Zeit überrollt hatten.

Einem Impuls folgend, beschloß Chiamh, seine Pläne zu ändern und für eine Weile nach Hause zu gehen. Er konnte sein Bad genausogut in dem vom Fluß gespeisten Teich in seinem Tal nehmen, und außerdem mußte er in seiner Wohnhöhle unbedingt wieder mal nach dem Rechten sehen. Das zumindest war es, was er sich einredete. In Wirklichkeit lief Chiamh davon – doch das war etwas, worüber er lieber nicht nachdenken wollte.

Zunächst einmal mußte er allerdings, ohne gesehen zu werden, durch das überfüllte Lager gelangen, aber das stellte für jemanden wie ihn keinerlei Schwierigkeit dar. Entschlossen trat er in einen Teich aus Schatten in den Tiefen des Durchgangs, nahm die körperlosen Fetzen Dunkelheit zusammen und wob einen Mantel aus Zwielicht um sich herum. In seinem Schattenmantel solchermaßen vor neugierigen Blicken geschützt, schlüpfte er mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen auf den Eingang zu.

»Ho, Chiamh!«

Als er seinen Namen hörte, blieb das Windauge mit einem Ausruf der Bestürzung wie angewurzelt stehen. Dann drehte er sich um und sah eine Silhouette vor dem von Fackellicht beleuchteten Eingang der inneren Halle. Aurian. »Das ist wirklich ein ausgesprochen guter Trick«, sagte sie beim Näherkommen, »aber ich sollte dich warnen – bei uns Magusch funktioniert er nicht. Warum die Verkleidung, mein Freund?« Sie lächelte ihm zu, und Chiamhs Erbitterung zerschmolz.

»Sieh mal nach draußen«, erwiderte er. »Es hat den Anschein, als kampierte die gesamte Xandim-Bevölkerung auf diesen Wiesen. Ich verspürte den Drang nach Abgeschiedenheit und …«

»Und ich habe deine Flucht vereitelt«, entschuldigte sich Aurian.

»Ich hatte nicht den Wunsch, vor dir zu fliehen. Ich wollte nur für eine Weile nach Hause …«

»Ist das hier denn nicht dein Zuhause?«

Chiamh schüttelte den Kopf. »Ich lebe weiter oben auf dem Berg – für gewöhnlich. Es ist sehr schön da.« Plötzlich fand er den Gedanken an Einsamkeit doch nicht mehr so verlockend. »Möchtest du es gern sehen?«


»Ist es noch sehr weit?« Aurian, die von ganzem Herzen froh darüber war, den breiten Klippenpfad endlich hinter sich gelassen zu haben, stand oben auf dem Bergpfad, der sich zu der Felsenspitze jenseits der Festung hinaufschlängelte, und ließ ihren Blick über das windgepeitschte Gebirgsplateau gleiten. Von einem zweiten Tal war jedoch nichts zu sehen, und sie wollte Wolf nicht zu lange allein lassen. Obwohl ihr Sohn kaum unangenehme Nachwirkungen von seiner Entführung davongetragen zu haben schien, hatte er doch große Angst ausgestanden, und die Magusch wollte in seiner Nähe sein, falls er Trost brauchte – obwohl das Junge in Wirklichkeit mit seinen wölfischen Wächtern ganz zufrieden zu sein schien, die in der Nacht zurückgekehrt waren. Dennoch war Aurian den ganzen Vormittag über um ihn herumgeschlichen, bis Anvar und Shia sie mit vereinten Kräften dazu bewogen hatten, hinaus an die frische Luft zu gehen – damit sie selbst endlich etwas Frieden und Ruhe fanden.

Anvar mußte unbedingt ein wenig Zeit für den alten Elewin haben, der es sich so sehr gewünscht hatte, den jungen Diener aus der Akademie wiederzusehen, den er einst beschützt hatte. Nun, so schien es, hatten ihre Positionen sich umgekehrt. Der Haushofmeister, noch immer geschwächt von seiner Krankheit, hatte Meiriels Tod schlecht aufgenommen. Er schien irgendwie in sich zusammengesunken zu sein – lustlos und verdrießlich und plötzlich sehr, sehr alt; und Anvar hatte sich mit vor Sorge gefurchter Stirn darangemacht, seinen früheren Mentor ein wenig aufzuheitern. Auch Shia und Khanu hatten ihre eigenen Pläne: Sie wollten einen kurzen Abstecher zurück zur Stahlklaue machen – zu Fuß diesmal –, um festzustellen, wie Hreeza in ihrer neuen Rolle als Erstes Weibchen zurecht kam.

Plötzlich bemerkte Aurian, daß das Windauge mit ihr sprach, und schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, um seine Antwort auf ihre halbvergessene Frage zu hören. Chiamh schob sich eine vom Wind zerzauste Locke aus den Augen. »Mein Tal ist noch ein gutes Stück von hier entfernt, und ein Teil der Strecke geht bergauf.« Mit einem schmerzlichen Stich der Enttäuschung bemerkte er Aurians Zögern. Er hatte sich so darauf gefreut, ihr sein Heim zu zeigen – ihm war bisher überhaupt nicht bewußt gewesen, wie sehr. Da plötzlich kam ihm eine Idee. Aber konnte er es schaffen? Plötzlich stand sein Entschluß fest. Lächelnd drehte er sich zu Aurian um. »Zu Pferd wäre man in Null Komma nichts da.«

»Aber wir haben kein Pferd«, bemerkte Aurian. Das Windauge grinste breit. »Nein, wirklich nicht? Mach dich bereit, meine Freundin, dann zeig ich dir ein Wunder.«

Aurian wußte, wenn es auch bisher nur ein abstraktes Wissen war, daß die Xandim ihre Gestalt wechseln konnten, aber da sie so lange in Aerillia gewesen war, hatte sie diese Veränderung niemals selbst beobachtet. Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen sah sie nun zu, wie Chiamhs Umrisse verschwammen und sich plötzlich ausdehnten; seine Knochen wurden dicker, und sein Hals und Kopf schwerer und länger, während er sich nach und nach in einen Vierbeiner verwandelte. Urplötzlich war die Veränderung vollbracht. An der Stelle des Windauges stand nun ein stämmiges braunes Pferd mit zottiger Mähne.

»O Chiamh«, flüsterte Aurian. Sie traute ihren Augen kaum. Zögernd trat sie näher an das Pferd heran, unsicher, ob sie es wagen durfte, den Hengst zu berühren. Dies war schließlich kein normales Tier, sondern ein Mann. Und außerdem ein Verbündeter und Freund, versuchte Aurian sich klarzumachen. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und legte ihm sanft eine Hand auf seinen warmen, muskulösen Hals.

Mit einem erschrockenen Schnauben sprang Chiamh zurück, unfähig, sich zu beherrschen. Sein Verstand arbeitete irgendwie anders, wenn er in seiner Pferdegestalt steckte, und die Berührung einer fremden, menschlichen Hand war beunruhigend. Einen Augenblick lang war er versucht, sich wieder zurückzuverwandeln. Er zweifelte daran, daß er an seinem Angebot, sie auf seinem Rücken zu tragen, festhalten konnte. Normalerweise mußte schon eine echte Notsituation bestehen, damit ein Xandim dem anderen erlaubte, ihn in Pferdegestalt zu reiten – oder es mußte ungeheure Vertrautheit zwischen den beiden herrschen. Er und Aurian waren in sehr kurzer Zeit Freunde geworden, aber …

Das Windauge bemerkte, daß Aurian sich zurückhielt, offensichtlich im Zweifel darüber, ob sie sich ihm wieder nähern durfte. Sie runzelte die Stirn, und kaum merkliche Veränderungen in ihrer Haltung und ihrem Duft verrieten ihre Angst. Es machte ihn unglücklich, ihr finsteres Gesicht zu sehen – und das alles nur, weil er unbedingt hatte angeben müssen, begriff er mit plötzlichem Schuldbewußtsein. Hatte sie nicht schon genug Sorgen ohne die verrückten Launen eines halbwilden Pferdes? Auf einmal stand seine Entscheidung fest. Waren sie nicht zusammen auf dem Wind gereist? Und war dies wirklich so anders?

Während er seinen Pferdeinstinkten nun unerbittlich seinen Willen aufzwang, rückte Chiamh einen Schritt nach vorn. Aurian streckte die Hand aus, zögerte dann, offensichtlich immer noch unsicher, und das Windauge verfluchte sich dafür, daß er ihr die Dinge nicht besser erklärt hatte, bevor er sich in das Abenteuer seiner Verwandlung gestürzt hatte. Denn weder seine Andersicht noch seine Fähigkeit zur Gedankenrede würden funktionieren, solange er seine Pferdegestalt trug. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, sich zurückzuverwandeln, um mit ihr zu sprechen – aber nein. Wahrscheinlich würde er dann nie mehr den Mut finden, wieder Pferdegestalt anzunehmen. Statt dessen tat er also einen Schritt nach vorn und rieb seine lange Nase an ihrer ausgestreckten Hand.

Diese kleine Geste des Windauges half der Magusch, sich endlich zu entspannen. Sie streichelte die weiche, stoppelige Nase und lächelte. »Chiamh, das ist ja wunderbar! Ich wünschte, ich wüßte, wie du das machst«, sagte sie leise. Chiamh schnaubte, seine Ohren zuckten, und er schüttelte seine lange schwarze Mähne. Aurian lachte vor Entzücken, aber in einem der hintersten Winkel ihres Geistes war sie sich immer noch der Tatsache bewußt, daß die Zeit drängte. »Bist du sicher, daß du mich immer noch reiten lassen willst? Geht das wirklich in Ordnung?«

Das Windauge sah sie an und nickte nachdrücklich.

»Danke«, sagte Aurian, »aber ich brauche etwas, worauf ich mich stellen kann, da du keinen Sattel hast. Du bist größer, als ich dachte.« Sie sah sich suchend um, bis sie eine Stelle entdeckte, an der ein kleiner Felsbrocken aus dem Rasen herausragte. »Das müßte reichen.« Chiamh, dessen Blick ihrem Zeigefinger folgte, ging hinüber zu dieser Stelle und stand geduldig da, während Aurian mühsam einen großen, von Flechten überwucherten Stein erklomm. Als sie ein Bein über seinen Rücken schwang, biß er die Zähne zusammen und schloß die Augen, und nur mit Mühe gelang es ihm, nicht zusammenzuzucken. Aber sobald sie erst auf seinem Rücken saß, fühlte er sich besser. Sie hatte so etwas schon vorher getan, stellte er überrascht fest. Ihre Beine umklammerten ihn mit einer gewissen Sicherheit, aber nicht zu fest, und sie wußte genau, wie sie sich halten mußte, um ihm die Sache leicht und bequem zu machen. Plötzlich konnte sich Chiamh entspannen und das Ganze genießen. Sobald er fühlte, wie ihre Finger sich um das lange, rauhe Haar seiner Mähne schlossen, wußte er, daß sie bereit war, und stürmte los, quer über das kurze grasbewachsene Plateau hinweg.

Aurian saß mühelos auf dem Rücken des galoppierenden braunen Pferdes, ihr Haar flatterte im Wind, und ihre Augen tränten, so gewaltig war die Geschwindigkeit, die Chiamh an den Tag legte. Die Welt flog an ihnen vorbei, die hellen Frühlingsblumen, die das Gras sprenkelten, verschwammen unter den hämmernden Hufen zu einem Regenbogen bunter Farben. Es war herrlich! Außerstande, sich zu beherrschen, stieß sie einen wilden Freudenschrei aus, der von den nahen Gipfeln widerhallte.

Nur allzuschnell war der Ritt vorüber. Vor ihnen erblickte Aurian ein paar hohe, aufrecht stehende Steine: das Tor, das zu einem schmalen, pinienbewachsenen Tal führte, dessen felsige Flanken steil in die Höhe ragten. Das Windauge verlangsamte sein wildes Tempo und kam bedächtig im Schatten der riesigen Steine zum Stehen. Die Magusch ließ sich widerwillig von seinem Rücken hinuntergleiten und trat ein paar Schritte zurück, damit er genug Platz hatte, um seine Verwandlung vorzunehmen. Und wieder einmal sah Aurian, wie sich seine Umrisse in Nebel hüllten, zusammenschrumpften und eine aufrechte Gestalt annahmen – und Chiamh, der Mann, stand vor ihr, leicht außer Atem und über das ganze Gesicht strahlend.

Einen Moment lang sahen sie sich stumm an, bevor sie wie auf ein unausgesprochenes Signal hin einander in die Arme fielen. »Chiamh, das war einfach wunderbar«, sagte Aurian, als sie sich voneinander lösten. »Diesen Ritt werde ich niemals vergessen, solange ich lebe.«

»Ich auch nicht«, versicherte ihr das Windauge. Dann hielt er ihr die Hand hin und fügte hinzu: »Komm – ich möchte dir mein Tal zeigen.« Hand in Hand ließen sie das sonnenbeschienene Plateau hinter sich und traten in den kühlen Schatten des Pinienwaldes.


»Hat sich Wolf von seinem unerfreulichen Abenteuer erholt?« erkundigte sich Chiamh. Sie hatten ein kurzes Bad in dem eisigen Bergtümpel genommen und saßen nun vor einem hastig entzündeten Feuer im Eingang seiner Höhle, nippten an heißem Kräutertee und blickten hinunter in das Tal, vorbei an den Schatten des großen Felsturmes, der über der Behausung des Windauges aufragte.

Aurian, die sich geistesabwesend damit beschäftigte, weiße Siebensterne, die sie in der Nähe gepflückt hatte, zu einer Kette zu flechten, blickte bei dem Klang seiner Stimme auf und nickte. »Anscheinend schon – obwohl er immer noch irgendwie etwas schreckhaft ist. Ich glaube, er hatte in den letzten Nächten schlimme Träume, das heißt, wenn ein Wolf träumen kann – aber heute wirkte er schon viel glücklicher und ausgeglichener, sonst hätte ich ihn nicht allein gelassen.«

Chiamh nickte. »Trotzdem war es richtig, daß du mitgekommen bist. Abgesehen von der Tatsache, daß ich deine Gesellschaft genieße …« Er lächelte sie an. »Abgesehen davon mußtest du endlich mal, wenigstens für kurze Zeit, von deinen Sorgen loskommen.« Sein Gesicht wurde nachdenklich. »Wie lange ist es her, Aurian, seit du zuletzt eine Chance hattest, einmal nur an dich selbst zu denken?«

Seine Sorge rührte Aurian. »Bei den Göttern, ich weiß es nicht mehr«, sagte sie und seufzte. »Wahrscheinlich nicht mehr seit Forrals Tod.« Die Erinnerung an dieses Ereignis, die trotz all der vergangenen Zeit immer noch schmerzte, warf einen Schatten auf den hellen Nachmittag.

»Ah, Forral«, sagte Chiamh. »Parrics Freund und Wolfs Vater.«

»Parric hat dir davon erzählt?«

»Ja, ganz kurz. Als wir uns kennenlernten.« Das Windauge ergriff ihre Hand. »Ich trauere mit dir um deinen Verlust«, sagte er leise, und Aurian wußte, daß dies keine leeren Worte waren. »Was ist geschehen, nachdem ihr beide, du und Anvar, nach Süden gekommen seid? Wie seid ihr in den Besitz der Harfe und des Stabes gelangt?« fuhr er fort, und die Magusch stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß sie ihm offen von ihren Abenteuern erzählen konnte. Obwohl sie versuchte, ihren Bericht möglichst kurz zu halten, neigte sich die Sonne, als sie mit ihrer Geschichte langsam die Gegenwart erreichte, bereits dem Kliff zu ihrer Linken entgegen, und die Luft in dem schattigen Bergtal wurde empfindlich kühl. »Und jetzt«, beendete sie ihre Erzählung hastig, »haben wir den Stab und die Harfe, aber wir müssen immer noch das Schwert finden – und das ist versteckt, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich suchen soll.«

»Ich könnte dir vielleicht helfen, weißt du«, erwiderte Chiamh. »Vielleicht könnte ich mit Hilfe einer Vision herausfinden, wo es versteckt ist.«

»Eine Vision?« Aurian beugte sich vor, und in ihren Augen glomm ein Hoffnungsfunke auf. »Wie meinst du das?«

»Das … ich …« Chiamh breitete hilflos die Hände aus, denn ihm fehlten die Worte, um zu erklären, was er meinte. »Wenn ihr beide, du und Anvar, heute abend zu mir hierherkommen würdet, dann werde ich es euch zeigen.«

»Natürlich tun wir das.« Aurian blinzelte hinauf in die untergehende Sonne. »Aber ich glaube, wir sollten uns jetzt langsam auf den Rückweg machen, Chiamh. Es wird spät, und Wolf vermißt mich vielleicht.« Sie sprang auf die Füße und drehte sich plötzlich wieder zu ihm um, als ihr etwas einfiel. Sie hatte vorgehabt, das Windauge zu fragen …

»Chiamh – wer ist Basileus? Weißt du das? Als ich mit dem Tode gerungen habe, hat er mir geholfen – aber was ist er?«

Das Windauge lächelte geheimnisvoll. »Ich glaube, das könnte er dir besser selbst erklären. Jetzt, da du von Stahlklaue zurück bist, bin ich sicher, daß du schon bald Basileus’ Bekanntschaft schließen wirst – was nur gut ist. Aber wenn du vor Einbruch der Nacht zu deinem Sohn zurückkehren möchtest, haben wir im Augenblick keine Zeit dazu. Kannst du dich noch ein kleines Weilchen gedulden?«

»Ich denke schon«, murmelte Aurian ein wenig ungnädig. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Chiamh grinste. »In diesem Falle stellt sich die Frage – möchtest du zurückreiten?«

Aurians Gesicht leuchtete auf. »O ja!«


Als Aurian und das Windauge, das nun wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte, den schmalen Zickzack-Pfad des Kliffs hinunterkletterten, der zu der Festung führte, war Chiamh der erste, der sah, daß es Schwierigkeiten gab. Die Höhenangst der Magusch machte sich selbst auf diesem breiten Weg bemerkbar, und der Abstieg erwies sich als weitaus nervenaufreibender, als es der Aufstieg gewesen war. Wieder einmal verfluchte Aurian die ungeheure Neugier der Maguschgeborenen, die sie überhaupt zu diesem Abenteuer verleitet hatte. Den ganzen Weg nach unten klammerte sie sich verzweifelt an den Klippen fest – und die einzige Richtung, in die sie nicht geschaut hatte, lag unten.

»Schau nur! Da unten!«

Aurian warf dem Windauge einen säuerlichen Blick zu. »Muß ich?«

Unerwarteterweise erwiderte Chiamh ihr unbehagliches Lächeln nicht. »Ich glaube, du solltest es tun«, sagte er ernst.

»Na schön, aber wir müssen einen Augenblick stehenbleiben, sonst wird mir schwindlig.« Mit diesen Worten suchte sie den Schutz der tröstenden Steinwand zu ihrer Rechten und blickte dann hinunter, vorbei an den zahlreichen mit Zinnen versehenen Dächern der Festung. Der gewundene Pfad lag in einer Biegung des Kliffs, die ihr nur einen ungefähren Blick auf den großen überwölbten Eingang der Feste ermöglichte – und auf die Menge, die sich davor versammelt hatte. Obwohl die Dämmerung sich nun mit ungeheurer Geschwindigkeit auf das Land herabsenkte, konnte sie die dunklen Gestalten zahlreicher Menschen erkennen, von denen viele Fackeln bei sich trugen. Jetzt, da sie ihre Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse weiter unten gerichtet hatte, drang auch das schwache Gemurmel protestierender Stimmen mit dem Wind zu ihr herauf. Aurian fluchte. Auf den obersten Stufen der Treppe, die zu dem Eingang hinaufführte, stand Parric mit Iscalda und Schiannath – offensichtlich im Zentrum des Zorns eines Speere schwenkenden Mobs.

»Große Göttin! Wir müssen hinunter – schnell!« rief Chiamh.

Die Richtigkeit seiner Worte war nicht zu bestreiten. »Geh du voran!« rief Aurian ihm zu. »Ich folge dir, so schnell ich kann.«

Das Windauge hatte seinen Abstieg schon fast beendet, bevor es endlich einzelne Stimmen in der Menge wahrnehmen konnte. Wie üblich war der großmäulige Galdrus einer der lautesten.

»Schwerfälliger Körper, schwerfälliger Kopf«, murmelte Chiamh bei sich, während er auf den Mob zulief, aber dieser Umstand machte den Krieger Galdrus nicht weniger gefährlich. Galdrus war schon seit langem der Anführer all jener, die über das junge Windauge spotteten und besondere Freude daran hatten, es zu schikanieren. Einen Augenblick lang gerieten Chiamhs schnelle Schritte ins Stocken, dann rannte er unbeirrt weiter. Die Tage der Furcht vor Galdrus und den anderen waren nun vorbei. Es war an der Zeit, den widerspenstigen Respekt zu festigen, den die übrigen Xandim Chiamh in der letzten Zeit entgegengebracht hatten.

»Man hat uns einen neuen Anführer versprochen, Fremdländer!« brüllte Galdrus dem unglücklichen Parric zu. »Und doch sind es nur noch drei Tage bis zum Dunkelwerden des Mondes, und wir haben von dir noch kein einziges Wort gehört. Und wir wollen auch nichts mehr von dir hören!«

Viele Stimmen gesellten sich lautstark zu der seinen:

»Du bringst unsere Feinde, die schwarzen Geister und das Himmelsvolk über uns!«

»Du besudelst unsere Festung mit schmutzigen Wölfen und fremdländischen Magiern!«

»Du steckst unter einer Decke mit Gesetzlosen und Verbannten!«

»Du hast unseren wahren Rudelfürst verflucht!«

»Wir wollen Phalihas!«

Und noch weitere Xandim liehen dem mißmutigen Singsang ihre Stimme. »Wir wollen unseren Rudelfürst!«

»Befreit Phalihas!«

Parric versuchte, ihnen eine Antwort zu geben, aber seine mit lauter Stimme gerufenen Worte gingen in dem Gebrüll unter. Die Stimmung des Pöbels erhitzte sich von Minute zu Minute. Chiamh lief noch schneller – und erst, als plötzlich einer der Aufrührer sich umdrehte und ihn kommen sah, erkannte dieser seinen Fehler.

»Da ist er! Das Windauge!«

»Er ist derjenige, der den Fremdländern all diese Dinge erst ermöglicht hat!«

»Es ist alles seine Schuld!«

Ein Teil der Menge blieb, wo er war, um weiter Parric zu beschimpfen, aber eine große Gruppe, angeführt von Galdrus, löste sich von den übrigen und lief auf das Windauge zu, mit Gesichtern, die von Haß und Zorn verzerrt waren. Ein eisiger Knoten der Angst ballte sich in Chiamhs Magen zusammen. Er blieb stehen und wandte sich halb um; all seine Instinkte schrien ihm eine Warnung zu, rieten ihm, davonzulaufen – und dann änderte er seine Meinung. Sein Gespräch mit Basileus und das Erscheinen der Fremdländer hatten sein Leben verändert: Die Tage des Davonlaufens waren tatsächlich vorüber.

Also griff er nach dem frischen Wind, der um ihn herumwirbelte, nahm eine Handvoll davon heraus und verknüpfte sie zu der Gestalt eines gräßlichen, leuchtenden Dämons. Das war der größte Fehler, den er begehen konnte. Galdrus und mehrere seiner Männer hatten diesen Dämon schon einmal gesehen. Damals hatte er sie in Angst und Schrecken versetzt und zutiefst gedemütigt, und gerade diese Erinnerung gab ihrem Zorn nun neue Nahrung. Und was noch schlimmer war, sie wußten, daß der Dämon trotz seines furchterregenden Aussehens nur eine Erscheinung war und ihnen nichts anhaben konnte.

»Es ist in Ordnung.« Galdrus’ Bellen durchschnitt die ersten entsetzten Schreie der Panik. »Das Ding ist genauso harmlos wie das Windauge. Holt ihn euch!«

Der Mob tobte vorwärts, aber trotz der tapferen Worte ihres Führers waren nur wenige von ihnen bereit, der Dämonengestalt, die vor dem Windauge hockte, in die Nähe zu kommen. Selbst Galdrus verspürte nicht die geringste Lust dazu. Einen Augenblick lang konnte Chiamh vor Erleichterung aufatmen, dann ging plötzlich einer der Männer in die Hocke, griff nach einem Stein und warf diesen. Bevor das Windauge wußte, wie ihm geschah, fand es sich inmitten eines Hagels von Wurfgeschossen wieder. Seine Verfolger schossen sich langsam, aber unerbittlich auf ihn ein, und trotz des zunehmenden Zwielichts wurden ihre Würfe immer genauer. Ein kleiner Stein traf ihn mit unangenehmer Wucht an der Schulter, und er schrie vor Schmerz auf. Sein Dämon flackerte und begann zu verblassen. Er war alles, was die zornigen Männer noch davon abhielt, ihn in Stücke zu reißen, und jetzt verlor er ihn … Während Chiamh sich noch bemühte, die Dämonenerscheinung wieder aufleben zu lassen, schoß ein weiterer Stein direkt an seinem Gesicht vorbei und schlitzte ihm dicht über dem Auge die Haut auf. Fluchend ließ Chiamh seinen Dämon fahren und gab Fersengeld.

Während er zurück zu dem Klippenweg rannte, hörte Chiamh das blutdurstige Geheul des Mobs dicht hinter sich – viel zu dicht. Viele Steine trafen ihn am Rücken, aber trotz der Schmerzen, die sie verursachten, verlieh seine grenzenlose Angst ihm die Kraft, immer weiterzutaumeln, während er zur Göttin flehte, daß er in der zunehmenden Dunkelheit nicht den Halt verlor und ausrutschte. Dann traf ihn ein Stein am Kopf, und während er zu Boden stürzte, wurde die Welt für einen Augenblick in tiefes Schwarz getaucht.

Halb betäubt und aus mehreren Wunden blutend, bemühte er sich nach Kräften, wieder aufzustehen, aber ihm war übel und schwindlig, und seine Glieder verweigerten ihm den Dienst. Jetzt hatte der Mob ihn fast erreicht … Er sah verzerrte Gesichter, furchteinflößend wie das bestialische Antlitz seines Dämons, während Hände gierig nach ihm griffen …

… und plötzlich mitten in der Bewegung verharrten, als wären sie gegen eine unsichtbare, aber stabile Mauer geprallt, die bei der Berührung in einem unirdisch silbrigen Licht erglühte …

Dann war Aurian neben ihm. Eisiger Zorn blitzte silbern in ihren Augen auf; der Erdenstab in ihren Händen funkelte in seinem schauerlich grünen Licht, während sie dessen Macht als Schild benutzte, um das Windauge von seinen Angreifern abzuschirmen. Und nun beugte sie sich vorsichtig über ihn, während ihr Gesicht von dem Glanz ihres Schildes sanft beleuchtet wurde. Chiamh spürte, wie ihn ein seltsames und unheimliches Kribbeln durchlief, während sie seinen Körper mit ihren Heilerinnensinnen erforschte und, wie er wußte, nach irgendwelchen Hinweisen auf gebrochene Knochen oder innere Verletzungen suchte. Als sie ihm dann sanft eine Hand auf die Stirn legte, löste sich all sein Schmerz in Nichts auf, und er konnte wieder mühelos durchatmen, obwohl er sich irgendwie schläfrig fühlte, so schläfrig … Chiamh bemühte sich nach Kräften, bei Bewußtsein zu bleiben, wobei er sich beharrlich in Erinnerung rief, daß die Gefahr noch nicht vorüber war.

»Du hast Glück gehabt«, murmelte die Magusch. »Wenn man es Glück nennen kann, von diesen törichten, blutdürstigen Tieren beinahe gesteinigt zu werden«, fügte sie trocken hinzu. »Der Umstand, daß sie dich in der Dunkelheit nicht richtig sehen konnten, war wahrscheinlich der Grund, warum du mit dem Leben davongekommen bist.« Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der tollwütigen, tobenden Menge zu, die sie umgab und immer noch erfolglos versuchte, die silbernschimmernde Barriere, die die Magusch errichtet hatte, zu durchbrechen. Viele der Männer hatten jetzt ihre Schwerter gezückt, aber die meisten von ihnen schraken, wie Chiamh mit einiger Befriedigung feststellte, vor der Wildheit in Aurians Augen zurück und schienen plötzlich weit weniger versessen auf einen Angriff zu sein.

»Bastarde!« murmelte Aurian mit finsterem Gesicht. Dann hob sie eine Hand, und plötzlich flirrte die Barriere blutrot und heiß auf – und kurz darauf die Schwerter. Galdrus und seine Anhänger prallten schreiend zurück, ließen ihre feurig glühenden Waffen fallen und umklammerten ihre verbrannten Hände.

»Das wird ihnen eine Lehre sein«, hörte er Aurian kichern. Durch die Lücke, die der Rückzug ihrer Angreifer in der Menge hinterlassen hatte, sah Chiamh, wie sich ein weiteres, unheimlich flirrendes Licht näherte, und er überlegte kurz, ob der Schlag auf seinen Hinterkopf möglicherweise seinen Blick getrübt hatte. Da hörte er mit einem Mal eine wilde unirdische Musik, die so schön war, daß sie ihm die Tränen in die Augen trieb. Und mit einer Woge des Erschreckens stellte er fest, daß selbst seine schlechten Augen in der Lage waren, die Noten klar vor sich zu sehen, die da wie ein Sternennebel durch die Luft wehten. Und als dieser Sternengesang auf Galdrus und seine Schar niederging, fielen die Männer einer nach dem anderen zusammengekrümmt und wie schlafend zu Boden.

Der schauerliche Glanz wurde heller, und nun gingen Parric, Sangra, Iscalda und Schiannath langsam auf Aurians Barriere zu. Anvar war bei ihnen – und in seinen Armen lag die Harfe der Winde, die unermüdlich sang.

»Anvar! Oh, bin ich froh, dich zu sehen!« Aurian ließ ihren Schild sinken und eilte ihm mit offenen Armen entgegen, und als Harfe und Stab aufeinandertrafen, explodierte die Nacht zu einem wahren Rausch blitzender Lichtstrahlen, die als knisternde Aurora silberblau und grün gen Himmel stoben.

Parric und die anderen sprangen hastig zurück. »Seid bloß vorsichtig mit diesen schrecklichen Dingern!« rief der Kavalleriehauptmann. »Ihr werdet uns alle noch zu Asche verbrennen!«

Die beiden Magusch sahen einander an und brachen in schallendes Gelächter aus, und es war der Klang ihrer heiteren Stimmen, der dem Windauge schließlich in die Finsternis folgte.


»Was hast du mit ihnen gemacht?« Aurian zeigte auf die bewußtlos am Boden liegenden Xandim.

»Ich habe sie aus der Zeit genommen. Mit der Harfe.« Anvar grinste. »Ich wußte ja gar nicht, wie gut das funktioniert. Die Harfe scheint eine besondere Vorliebe für diese Art von Magie zu haben – wahrscheinlich eine Folge der Ewigkeiten, die sie am Zeitlosen See der Cailleach zugebracht hat. Ich habe übrigens dasselbe mit dem Rest des Mobs angestellt, der Chiamh nicht verfolgt hat, aber das ist nur eine vorübergehende Lösung. Die anderen Xandim, diejenigen, die sich nicht an der Rebellion beteiligt haben, sind nicht gerade glücklich über das Schicksal ihrer Kameraden. Wir müssen das eigentliche Problem lösen – und zwar schnell.«

Parric starrte ihn wütend an. »Das eigentliche Problem ist meine Angelegenheit«, sagte er kalt. »Immerhin bin ich der Rudelfürst.«

Die Antwort des Kavalleriehauptmanns war so uncharakteristisch, daß Aurian ihn überrascht ansah. »Was ist denn nur in dich gefahren?« fragte sie ihn. »Es ist unser aller Angelegenheit – wenn wir uns weiterhin der Hilfe und Unterstützung der Xandim versichern wollen. Wir müssen alle zusammen nachdenken, wenn wir eine gute Lösung finden wollen – und vor allem brauchen wir Chiamh.« Sie beugte sich hinunter, um das bewußtlose Windauge zu untersuchen. »Armer Mann. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie ihn so sehr hassen.«

»Die Xandim sind genau wie viele andere Leute auch. Die Angst vor dem Unbekannten bringt sie schier um den Verstand«, warf Anvar ein, und Aurian bemerkte, daß er seinen Blick auf Parric geheftet hatte. Sie seufzte. Was war in ihrer Abwesenheit zwischen den beiden Männern vorgefallen? Zum Teufel mit ihnen, dachte sie übellaunig. Es sieht so aus, als könnte ich sie nicht mal einen einzigen Nachmittag allein lassen, ohne daß etwas schiefgeht. Achselzuckend verschob sie das Problem auf später. »Wollt ihr den armen Chiamh vielleicht die ganze Nacht auf dem feuchten Boden liegen lassen?« erkundigte sie sich scharf. »Helft mir, ihn zurück in die Festung zu bringen. Sobald es ihm besser geht, können wir uns dieser Krise hier zuwenden, und entscheiden, was wir als nächstes tun.«

Anvar zog eine Grimasse. »Das«, murmelte er, »ist sicher leichter gesagt als getan – und es ist nicht unsere einzige Sorge.« Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst. »Aurian, ich war gerade auf dem Weg zu dir, als all das hier passiert ist.« Mit einer weit ausholenden Bewegung seines Armes zeigte er auf die bewußtlosen Xandim. »Chiamh ist nicht der einzige, der heute nacht deiner Heilküste bedarf. Es geht um Elewin … Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, aber – ach egal.« Er verzichtete darauf, ihr die Sache weiter zu erklären und zog an ihrem Arm. »Du solltest besser schnellstens mit mir kommen und selbst sehen, was da los ist.«


Der alte Haushofmeister lag im Sterben. Aurian wußte es in dem Augenblick, als sie in das Zimmer trat. Er lag vollkommen kraftlos auf seiner Pritsche. Seine eingefallene Haut war erfüllt von einer durchscheinenden Blässe, die der jungen Magusch ein vertrautes Frösteln über den Rücken jagte. Sein unregelmäßiger, schnarrender Atem durchschnitt die unnatürliche Stille, die in dem Raum lastete. Aufgrund ihrer vorangegangenen Begegnungen mit dem Tod in dessen Reich war sich Aurian überdeutlich dieser Geistererscheinung bewußt, die in den Schatten lauerte und nur auf den rechten Augenblick wartete. Mit einiger Mühe schüttelte Aurian die unheimliche und bedrückende Atmosphäre ab. »Mach Feuer«, wies sie Anvar mit scharfer Stimme an. »Und laß frische Fackeln holen.«

»So ist es richtig, Junge – und sieh zu, daß du schnell machst. Ich kann ja nicht die Hand vor Augen sehen.« Beim Klang der brüchigen alten Stimme fuhren die beiden Magusch herum, und Aurian hörte Anvar keuchen. Das war immer einer von Elewins Lieblingssätzen gewesen. Ungebeten tauchte die Erinnerung an kühle Herbstabende in der Akademie auf und an den alten Haushofmeister, der eben jene Worte benutzt hatte, wenn er die säumigen Diener zum Entzünden der Lampen aufforderte. Aurian preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Es bedeutete Schlimmes, daß Elewins Geist in die Vergangenheit zurückwanderte.

Parric und Sangra waren den beiden Magusch ins Zimmer gefolgt. »Was ist mit ihm passiert?« wollte der Kavalleriehauptmann wissen. »Gestern ging es ihm noch gut – zumindest nicht schlechter als sonst auch.«

»Seit Chiamh ihn neulich geheilt hat, ging es ihm viel besser«, warf Sangra ein.

Anvar warf frisches Holz aufs Feuer, und die beiden Krieger traten ans Fußende der Pritsche, wobei sie sich mit leisen, besorgten Stimmen unterhielten, während Aurian nun neben Elewins Bett niederkniete und sein Gesicht im Licht der neu entfachten Flammen betrachtete. Der Haushofmeister hatte ihr den Kopf zugewandt, um sie anzusehen. »Herrin, sag ihnen, sie sollen aufhören zu flüstern«, brummte er gereizt. »Ich mag es nicht, wenn die Leute flüstern.«

»Schon gut, Elewin. Sie werden es nicht wieder tun«, beschwichtigte ihn Aurian. Während sie mit ihm sprach, untersuchte sie ihn mit ihren Heilerinnensinnen – aber auch die sagten ihr nichts anderes, als ihre Instinkte es bereits getan hatten. Mit Krankheiten und Verletzungen konnte sie es aufnehmen, aber gegen Alter und Verzweiflung war sie hilflos. Der Körper des Haushofmeisters schwand dahin. Sie wußte, daß ihr Patient während der vergangenen Monate immer wieder tapfer gegen Krankheit und Not gekämpft hatte, aber irgend etwas hatte ihn schließlich in die Knie gezwungen. Es lag ein Schatten über seinem Geist, den sie nicht durchdringen konnte, und sie fragte sich, was es war, das ihn veranlaßt hatte, die Zügel des Lebens schießen zu lassen.

»Elewin, warum?« fragte sie ihn direkt. »Nachdem du so weit gekommen bist – was bringt dich jetzt dazu, aufzugeben?«

»Herrin, bitte plage mich nicht.« Die Stimme war kaum mehr als ein ungeduldiges Flüstern. »Ich bin müde. Ich habe genug gekämpft. Ich will meine Ruhe.« Mit diesen Worten drehte er das Gesicht von ihr weg in die Dunkelheit, und Aurian spürte, wie ihr eisige Kälte über den Rücken kroch, als sie sah, daß er seinen Blick auf die Geistererscheinung heftete, die sonst nur sie allein sehen konnte. Sie schüttelte den Kopf. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern.

»Meiriels Tod hat ihn schwer getroffen«, murmelte eine leise Stimme in Aurians Ohr. Sie drehte sich um und sah, daß Anvar neben ihr kniete. Sein Gesicht war angespannt und von Gram gezeichnet. »Aurian, bitte – gibt es nichts, womit du ihm helfen könntest?« bat er sie, und sie erinnerte sich wieder an die Zuneigung, die stets zwischen dem jungen und dem alten Mann bestanden hatte. Jetzt klang Anvars Stimme gepreßt vor Anstrengung – eine Anstrengung, von der Aurian wußte, daß sie dem Versuch entsprang, daß Unvermeidliche zu leugnen.

»Du warst heute nachmittag bei Elewin. Ist irgend etwas geschehen, das erklärt, warum er so schnell seinem Ende entgegenstrebt?« fragte ihn seine Seelengefährtin. Gleichgültig, daß es hoffnungslos war – um Anvars willen konnte sie nicht einfach aufgeben. Sie sah, wie er die Hände des alten Mannes nahm und fest umklammert hielt.

»Er sprach viel über Meiriel … und dann wurde er stiller und stiller, und als er danach wieder zu reden begann, schien er mehr und mehr umherzuirren.« Mit konzentrierter Miene versuchte Anvar sich zu erinnern. »Angefangen hat es damit, daß er sich darüber beklagte, müde zu sein – und als er sich hinlegte, konnte ich ihn nicht mehr dazu bringen, wieder aufzustehen … Aurian, ich habe so etwas schon einmal gesehen.« Seine Stimme war gedämpft vor Kummer. »Bei meinem Großvater, in dem Winter, in dem du zur Akademie kamst. Es war so, als hätte er einfach aufgegeben. Aber damals hat es Wochen gedauert, nicht Stunden …«

Aurian spürte einen Luftzug in ihrem Rücken, als die Tür sich öffnete und Chiamh, noch immer voller blauer Flecken und Staub, hereinhumpelte. Sie hatte ihn schlafend in seinen eigenen Räumen zurückgelassen, obwohl seine Heilung nur oberflächlich und unvollständig gewesen war, um so rasch wie möglich zu Elewin zu eilen.

»Warum hast du keine Nachricht geschickt?« wollte das Windauge wissen und starrte die Magusch, als er neben sie ans Bett trat, wütend an. »Der alte Mann liegt auch mir am Herzen, wie du weißt.« Seine Augen folgten Aurians Blick in die schattige Ecke, und sie wußte, daß auch er sah, was dort lauerte. Er erschauerte und verfiel in Schweigen.

»Gib gut acht auf deine Herrin, Anvar.« Erschrocken über den Klang von Elewins Stimme fuhren alle im Raum herum. »Du hast dich besser gemacht, als es irgend jemand erwartet hätte – außer mir«, fuhr er fort. »Du hast mir mein Vertrauen wohl vergolten, mein Junge – ich bin stolz auf dich.« Dann wandte er sich wieder von ihnen ab, und seine grauen Augen waren dunkel vor Schmerz. »Stolzer als ich auf mich selbst bin«, murmelte er. »Meiriel war krank – sie konnte sich nicht helfen! Finbarrs Tod hat ihren Verstand verbogen. Ich sollte über sie wachen, auf sie aufpassen. Das war das letzte, was ich noch tun konnte, nachdem ich schon Miathan betrogen hatte …« Tränen strömten dem Haushofmeister übers Gesicht. »Aber ich habe sie im Stich gelassen«, flüsterte er. »Sie alle habe ich im Stich gelassen. Zu alt, zu schwach. Es tut mir leid …« Mit einem Seufzer entrang sich ein letzter Atemzug seinen Lippen.

»Du alter Narr!« schrie Anvar wild, und seine Stimme brach vor Kummer. Dann hämmerte er mit beiden Fäusten auf die Bettdecke. »Sie waren es nicht wert!«

Aurian ergriff seine Hände. »Pflichterfüllung war Elewins Leben«, sagte sie sanft. »Er hatte keine eigene Familie, nur die Leute in der Akademie. Pflichterfüllung und Loyalität bedeuteten ihm alles – und ich vermute, das war es auch, was ihn während dieser letzten harten Monate noch aufrechterhalten hat. Sobald er davon überzeugt war, daß er in beiden Punkten versagt hatte …« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Armer Mann.«

Chiamh vergrub sein Gesicht in den Händen. Am Fußende des Bettes hielt Parric die schluchzende Sangra in den Armen. Eng aneinander geschmiegt, teilten auch die beiden Magusch ihren Kummer. Aurian schaute über Anvars Schulter hinweg in den Schatten, wo der Tod gestanden hatte, aber die Ecke war leer, die Geistererscheinung verschwunden. Diesmal war er nicht betrogen worden – doch diesmal hatte derjenige, den zu holen er erschienen war, auch sein Kommen ersehnt. Nach langen Jahren treuen Dienstes hatte Elewin nun endlich seine wohlverdiente Ruhe gefunden.

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