20 Eine Königin zwischen Hoffen und Bangen

»Wie meinst du daß, sie haben beschlossen, zurückzukommen?« brauste Rabe auf, und ihre Stimme hallte von den Dachsparren des großen Thronsaals wider. »Wer hat ihnen gesagt, daß sie das tun dürfen? Wie konnten sie es wagen! Und was ist aus den beiden Magusch geworden?«

Cygnus zuckte zusammen, und er war nicht der einzige. Alle Ratgeber der Königin sahen entschieden beunruhigt aus, wenn nicht sogar eindeutig nervös, mit Ausnahme von Elster, die so gelassen schien wie immer, und Aguila, dem Hauptmann der Königlichen Wache, dessen teilnahmsloses Gesicht selten irgendwelche Gefühle zeigte.

»Euer Majestät, ich bin sicher, Ihr erregt Euch völlig unnötig«, sagte Sonnenfeder, dessen verbindliches Benehmen nur durch die Hast, mit der er sprach, Lügen gestraft wurde. »Als Flügelmarschall der Syntagma habe ich es persönlich auf mich genommen, die Kuriere nach ihrer Rückkehr zu befragen und …«

»Ach?« Königin Rabe starrte ihn wütend an. »Dann hast du diesmal wohl ein wenig zuviel auf dich genommen. Wo sind die Kuriere? Warum hat man sie nicht sofort zu mir gebracht?«

»Meine – meine Königin, ich wollte Euch nicht mit solchen Nichtigkeiten behelligen …« Ausnahmsweise einmal schien Sonnenfeder nicht zu wissen, was er sagen sollte. Seit die verfluchten Zauberer weg waren, war die Königin viel gefügiger erschienen, und er war sich seiner Macht über sie in zunehmendem Maße sicher gewesen. Er hatte geglaubt, daß er sie mit seinem guten Aussehen und seinen vornehmen Manieren in seinen Bann geschlagen hatte, aber plötzlich mußte er mit einem flauen Gefühl im Magen feststellen, daß er sich offenbar verrechnet hatte.

»Das ist keine Nichtigkeit!« rief Rabe und schlug mit den Fäusten auf den Tisch, der vor ihr stand. »Bringt sie sofort zu mir!«

»Aber Majestät, sie schlafen jetzt nach ihrer langen Reise …«

»Sofort, habe ich gesagt!« Die Königin und Sonnenfeder sahen einander streitlustig an – und sie war nicht die erste, die den Blick senkte.

»Nun gut, Majestät. Wenn Ihr es so wollt, werde ich nach ihnen schicken lassen«, erwiderte der Flügelmarschall mit kalter Würde.

»Nein, Sonnenfeder.« Rabe sprach jetzt sehr hastig, aber ihre Stimme klang stahlhart. »Ich habe dir gesagt, daß du sie holen sollst. Dieser Rat wird warten, bis du zurückkehrst – mit den Kurieren.«

Sonnenfeder öffnete den Mund, als wolle er dagegen protestieren, schloß ihn dann jedoch schnell wieder, als er sah, daß sich Aguila mit der Hand an seinem Schwert halb von seinem Stuhl erhob. Obwohl sein Gesichtsausdruck so teilnahmslos war wie eh und je, funkelte in den Augen des Hauptmanns der Königlichen Wache boshafte Belustigung auf.

Wutschnaubend und mit zusammengepreßten Lippen stolzierte Sonnenfeder aus dem Zimmer. In dem nun folgenden verlegenen Schweigen bedeutete Elster einer Dienerin, die Weingläser neu zu füllen. Als das kleine Mädchen mit seiner Aufgabe fertig und ebenfalls aus dem Zimmer gegangen war, wandte sich Aguila dem amtierenden Hohepriester zu. »Hast du von dieser Sache gewußt?«

Skua zuckte mit den Achseln. »Sonnenfeder hat es mir gegenüber erwähnt, als die Kuriere zurückkamen, aber ich mußte mich um den Wiederaufbau des Tempels kümmern, also habe ich es ihm überlassen, die Situation zu handhaben, wie er es für richtig hielt. Selbst als amtierender Hohepriester« – er sah Rabe, die ihn noch immer nicht im Amt bestätigt hatte, vorwurfsvoll an – »habe ich eine gewisse Verantwortung. Ich bin nicht Herr über meine Zeit …«

»Also wirklich«, knurrte Aguila. »Nun, immerhin wußtest du mehr als ich. Ich habe erst ganz kurz vor dieser Zusammenkunft davon erfahren, als ich Sonnenfeder fragte, ob er wisse, warum Ihre Majestät uns zusammengerufen hat: Und was ist mit dir, Cygnus? Du bist der Freund des Flügelmarschalls. Hat er dich auch im dunkeln gelassen?«

Rabe funkelte ihn wütend an. Das war mal wieder typisch für diesen Mann – für sie alle –, einfach an ihr, der Königin, vorbeizureden, das Gespräch an sich zu reißen und sie zu ignorieren, als sei sie überhaupt nicht da. »Darum geht es nicht«, warf sie ein, in der Hoffnung, auf diese Weise die Sache unter Kontrolle zu bringen. »Was ich wissen will, ist …« Sie wurde von zwei Dingen unterbrochen: Einen scharfen Tritt von Elster gegen ihr Schienbein und die Rückkehr von Sonnenfeder, der die vier geflügelten Kuriere mitbrachte.

Rabe erhob sich. »Nun?« fragte sie scharf. »Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen? Warum habt ihr euch meinen Befehlen widersetzt und die Magusch und ihre Gefährten im Stich gelassen?«

Die Beschuldigten konnten ihrem zornigen Blick nicht standhalten. Rabe knirschte mit den Zähnen. »Ihr könnt damit beginnen«, sprach sie weiter, »mir zu erklären, was mit den Magusch geschehen ist, nachdem sie mich verlassen haben – bis zu dem Zeitpunkt, da ihr sie verlassen habt.«

Die Kuriere sahen einander an, und dann trat einer der geflügelten Männer vor. »Die Welt jenseits der Grenzen unserer Berge ist ein furchterregender, feindseliger Ort. Ihr wäret gut beraten, genau zuzuhören, was wir zu sagen haben …«

Rabe hörte sich seinen Bericht an. Während sich die Geschichte langsam entwickelte, wurde ihr Herz immer schwerer und kälter, und die Angst um ihre früheren Gefährten schnürte ihr die Luft ab. Als der geflügelte Mann zum Ende gelangte und von dem Angriff in der Xandimfestung sprach, konnte sie einfach nicht glauben, daß das alles sein sollte.

»Und ausgerechnet in diesem Augenblick habt ihr sie im Stich gelassen?« fragte sie nach. »Ihr wißt nicht mal, ob sie überlebt haben oder nicht? Ihr habt ihnen überhaupt keine Hilfe angeboten – und daß trotz der Befehle, die ich euch gegeben habe?«

Die geflügelten Kuriere blickten zu Boden und scharrten verlegen mit den Füßen.

»Sprich«, befahl Aguila dem Mann. »Die Königin hat dir eine Frage gestellt.«

Einer der geflügelten Kuriere blickte auf, eine Frau mit mürrischem Gesichtsausdruck. »Wenn Euer Majestät erlauben«, begann sie, »niemand hat etwas von Befehlen gesagt, als wir mit diesen Erdlingen gegangen sind. Man hat uns zu verstehen gegeben, daß wir Freiwillige seien.«

»Das stimmt«, warf ein anderer geflügelter Mann ein. »Und niemand hat, als wir uns freiwillig meldeten, etwas davon gesagt, daß wir mit den großen Katzen, unseren Erzfeinden, kämpfen müßten; oder daß wir in die Kriege der Zauberer verstrickt würden; oder daß wir bei einem Versuch der Pferdeleute, ihren Führer zu stürzen, unser Leben riskieren müßten. Bei allem Respekt, diese Dinge gehen die Himmelsleute nichts an. Und es war auch nie die Rede davon, daß wir uns von diesem weiblichen Dämon, dieser Zauberin, beschimpfen lassen müssen … Nun, Euer Majestät, es war einfach zuviel.«

»Ich stelle fest, daß es für eure beiden treuen Kameraden, die es vorgezogen haben, zurückzubleiben, nicht zuviel gewesen ist«, knurrte Aguila. »Das Blut der Himmelsleute kann heutzutage nicht mehr viel wert sein, wenn die Grenzen eures Mutes so schnell erreicht sind.«

»Mein Herr, das ist nicht gerecht«, protestierte die geflügelte Frau. »Wir sind treue Krieger der Syntagma. Aber als wir uns freiwillig meldeten, hat Flügelmarschall Sonnenfeder uns gesagt, daß wir, wenn wir je den Wunsch hätten, nach Hause zu kommen, das durchaus tun dürften.«

»Er hat euch gesagt, ihr dürftet die Magusch verlassen, wann immer es euch gefällt?« fragte Rabe zornig. »Ich habe nichts dergleichen angeordnet.«

»Bei meiner Ehre, Majestät, so etwas habe ich nie gesagt«, wandte Sonnenfeder empört ein. »Ich kannte Eure Befehle nur allzugut. Diese Feiglinge müssen mich absichtlich mißverstanden haben.«

»Vielleicht hast du dich nicht klar genug ausgedrückt«, zischte Aguila. »Bist du sicher, daß du selbst die Befehle ihrer Majestät verstanden hast?«

Sonnenfeder lief vor Wut rot an. »Natürlich habe ich sie verstanden …« Seine Stimme brach, und er schloß hastig den Mund, als ihm klar wurde, wie geschickt Aguila ihn in die Falle gelockt hatte.

»Das ist ja alles schön und gut«, ergriff Cygnus nun hastig das Wort und rettete Sonnenfeder damit aus seiner Verlegenheit, »aber es bringt uns einer Entscheidung über die Strafe für diese Missetäter nicht näher.«

»Eine Strafe für die Kuriere?« Aguila hob spöttisch die Augenbrauen. »Da die Verwirrung durch die Anweisungen des Flügelmarschalls entstanden ist, sollte er vielleicht, bei aller Bescheidenheit, ihr Schicksal teilen.«

Sonnenfeders Hand fuhr an sein Schwert. »Seit wann nehmen wir Anweisungen von einem niedrig geborenen Stück Mist entgegen, von einem Mann, der sich viel zu hoch über seinen natürlichen Stand erhoben hat?« fauchte er. »Euer Majestät, ich bitte um Erlaubnis, Aguila für diese Beleidigung mit seinem eigenen, niederen Blut zahlen lassen zu dürfen.«

Aguila grinste freudlos. »Jederzeit – wenn du glaubst, daß du es mit mir aufnehmen kannst.«

»Seid still, alle beide!« donnerte Rabe. »Wie könnt ihr wagen, euch in meinem Thronsaal wie zwei ungezogene kleine Jungen zu streiten!« Sie stellte fest, daß nach ihrem Wutanfall alle Blicke erwartungsvoll auf sie gerichtet waren, und plötzlich wußte sie nicht mehr weiter und errötete.

»Herrin?« ergriff Skua die Initiative. »Dürfte ich etwas vorschlagen? Warum lassen wir diese Kuriere nicht für ihre Verfehlungen bezahlen, indem sie bei Yinze selbst Buße tun? Da so viele unserer Leute zur Feldarbeit gepreßt wurden, brauche ich dringend jede Hand, die mir beim Wiederaufbau des Tempels helfen kann …«

Rabe ergriff nur allzugern diese Möglichkeit, eine Lösung für ihr Dilemma zu finden. Ihr Kopf schmerzte, und schon bei dem bloßen Anblick ihrer Ratgeber wurde ihr langsam übel. Das einzige, was sie im Augenblick wirklich interessierte, war die Frage, ob Aurian und ihre Gefährten in Sicherheit waren. Wenigstens hatte Skua ihr die Chance gegeben, eine Entscheidung zu treffen, auch wenn das Gewissen ihr sagte, daß es nicht die richtige war. »Ja, ja«, sagte sie hastig. »Ich danke dem amtierenden Hohepriester für seine weisen Worte, die genau zur richtigen Zeit gesprochen wurden. Es soll sein, wie er es vorgeschlagen hat. Ich unterstelle diese Missetäter seiner Obhut, und sobald der Tempel fertig ist, dürfen sie zur Syntagma zurückkehren. Ob sie dort wieder ihren früheren Rang einnehmen werden oder nicht, das hängt von ihrem Verhalten in der Zwischenzeit ab. Das ist mein Urteil.« Dann ließ sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder auf ihren Platz fallen.

Aguilas Mund hatte sich zu einer dünnen, harten Linie zusammengepreßt. Er funkelte sie so wütend an, daß sie wegsehen mußte, unfähig, seinem anklagenden Blick standzuhalten. Sonnenfeder grinste hinter vorgehaltener Hand. Rabe biß sich auf die Lippen. Sie hatte das Ganze irgendwie falsch verstanden, das war offensichtlich – aber wo genau lag eigentlich ihr Fehler?

Cygnus war erleichtert darüber, daß sein Freund Sonnenfeder der Kritik der Königin entgangen war. Wer hätte auch gedacht, daß sich Rabe als so schwierig erweisen würde? Yinze sei Dank, daß sie nicht genug Erfahrung hatte, um zu sehen, was hier vor sich ging. Und was Aguila betraf – der hatte auf jeden Fall Tadel verdient dafür, daß er die Dinge solchermaßen kompliziert hatte. Der Zeitpunkt, da der Hauptmann der Königlichen Wache wieder an seinen ihm angestammten, niedrigen Platz zurückversetzt wurde, kam mit Riesenschritten näher.

Die plötzliche Erkenntnis, daß die Königin wieder zu sprechen begonnen hatte, riß Cygnus mit einem Ruck aus seinen Überlegungen heraus.

»Was immer ihr von meiner Beziehung zu den Magusch halten mögt, ich habe ein Versprechen gegeben, das ich halten muß«, sagte Rabe. »Also muß ich jemanden ausschicken, der feststellt, ob Lady Aurian in Sicherheit ist und ob sie vielleicht Hilfe braucht. Diesmal muß es jemand sein, dem ich vertrauen kann, jemand, der mir verläßlich Bericht erstattet und nicht beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten seinen Posten verläßt. Weiß einer von euch jemanden, den wir mit dieser Aufgabe betrauen könnten?«

Cygnus’ Herz vollführte einen kleinen Sprung. Endlich war, nachdem er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, seine Chance gekommen! Er war außer sich vor Zorn gewesen, als ihn die Königin zu ihrem Vorkoster bestimmt und auf diese Weise seine Aussichten vollends beseitigt hatte, vielleicht doch noch die Stellung des Hohepriesters für sich zu gewinnen. Seit damals waren seine gierigen Gedanken wieder und wieder zu der Harfe der Winde zurückgekehrt. Wenn er dieses Artefakt doch nur in seinen Besitz bringen könnte …

»Euer Majestät – aus Liebe und Treue zu Euch wäre ich bereit zu gehen.« Cygnus hatte die Worte ausgesprochen, bevor er selbst recht wußte, was er da tat, und einen Augenblick lang spürte er Panik in sich aufsteigen. Aber seine Instinkte hatten ihn nicht im Stich gelassen.

Rabes Gesicht leuchtete auf, dann aber zögerte sie. Er konnte sehen, wie ihre Mundwinkel sich ein wenig senkten, und wußte, daß sie sich selbst für diesen Augenblick der Unentschiedenheit hassen würde. »Mein lieber, treuer Cygnus, du bist mir solch ein guter Freund. Aber bist du wirklich sicher? Ich kann dich nur schlecht entbehren.«

Cygnus neigte den weißen Kopf. »Majestät, es wäre mir eine Ehre. Und wer könnte sich besser für diese Mission eignen als ich, der ich die Magusch bereits kenne und ihnen freundlich gegenüberstehe?«

Die Königin des geflügelten Volkes nickte. »Du hast dir meine ewige Dankbarkeit verdient – und wenn du zurückkehrst, wird hier dein verdienter Lohn auf dich warten.«

Das wird er bestimmt, dachte Cygnus – aber wenn alles gutgeht, wird mein Lohn ein anderer sein als der, den du jetzt im Sinn hast …


Nachdem die Zusammenkunft des Rates beendet war und die geflügelten Männer sich verabschiedet hatten, blieb Elster als einzige zurück. »Euer Majestät«, sagte sie mit ernster Stimme. »Darf ich unter vier Augen mit Euch reden?« Ohne auf eine Antwort zu warten, griff die Ärztin nach Rabes Handgelenk und zerrte sie geradezu aus ihrem Gemach. Statt jedoch hinaus auf die Veranda zu treten und den kurzen Weg zu den Privaträumen der Königin zu fliegen, wie sie das normalerweise taten, drängte Elster ihre junge Schutzbefohlene durch das Labyrinth der selten benutzten Korridore innerhalb des Palastes, ohne Rabe auch nur einen Augenblick loszulassen.

Als sie endlich in Rabes üppigen Gemächern angelangt waren und ein Diener, der ihnen beiden ein wenig Wein eingeschenkt hatte, wieder gegangen war, wandte sich Rabe seufzend an die ältere Frau. »Also schön«, murmelte sie. »Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hast du mir etwas zu sagen.«

Elster nahm einen tiefen Schluck von ihrem Wein, schüttelte den Kopf und erwiderte dann: »Was fange ich nur mit dir an?« wobei sie, wie sooft, wenn sie vertraulich mit ihrer Königin sprach, in das alte ›Du‹ zurückfiel.

»Wie meinst du das?« fragte Rabe. »Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«

»Willst du behaupten, du weißt es wirklich nicht?« Die Ärztin hob eine Augenbraue. »Du törichtes Mädchen – mußtest du dich so mit Sonnenfeder anlegen?«

Rabe knallte ihren Becher zornig auf den Tisch, und etwas von dem Wein ergoß sich über das kostbare Ebenholz. »Und was, bitte, hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?« explodierte sie. »Hätte ich vielleicht bescheiden dasitzen und angesichts seiner kaum verhohlenen Unverschämtheit noch lächeln sollen? Bei Yinze, Elster, wie soll ich denn regieren, wenn ich mich nicht mit Sonnenfeder anlegen darf, ganz zu schweigen von diesen anderen arroganten, selbstgefälligen, hinterlistigen Schranzen, die in meinem Rat sitzen?«

»Wisch den Wein weg, Rabe«, sagte Elster sanft, »bevor er den Tisch ruiniert. Es geht nicht darum, daß du niemals anderer Meinung sein darfst als sie, sondern um die Art und Weise, wie du das kundtust. Heute hattest du völlig Recht, Sonnenfeder an seinen Platz zu verweisen – er hat versucht, dir wichtige Informationen vorzuenthalten, und das darfst du niemals erlauben. Aber du hättest ihn nicht gleichzeitig demütigen dürfen. Du hättest nur entschieden zu sein brauchen. Es hätte gereicht, wenn er begriffen hätte, daß du ihm solches Taktieren nicht durchgehen läßt. Das hätte ihm nicht gefallen, aber einen solchen Schritt deinerseits hätte er respektieren können. Den Flügelmarschall der Syntagma jedoch zu einem Botengang auszuschicken, den jeder Diener hätte unternehmen können, das war unentschuldbar. Glaub mir, Rabe, wenn du den Rat mit solch hochmütigem Benehmen erzürnst, dann wird deine Herrschaft die kürzeste in der Geschichte des Himmelsvolkes sein.«

Rabe sah die alte Ärztin schweigend an, und stur verzog sie den Mund zu einem schmalen Strich. »Das ist nicht gerecht«, murmelte sie schließlich. »So, wie diese Leute sich mir gegenüber benehmen, käme niemand auf die Idee, daß ich ihre Königin bin – und du bist auch nicht viel besser. Du behandelst mich wie ein Kleinkind.« In ihren Augen blitzte es zornig auf.

»Wenn du dich wie eins benimmst, kannst du auch nichts anderes erwarten«, erwiderte Elster schroff. »Jetzt hör mich an, Rabe. Bis heute haben Sonnenfeder und die anderen geglaubt, du seiest nicht mehr als ein verwöhntes Kind, das sie nach Belieben beeinflussen können. Darin lag deine Macht. Wenn Männer unvorsichtig sind, kann man sie für gewöhnlich leicht besiegen, und das, ohne daß sie es überhaupt bemerken – bis es zu spät ist. Du tätest gut daran, dir ein Beispiel an Aguila zu nehmen, statt die ganze Zeit auf ihm herumzuhacken – das ist mal ein Mann, der seinen Verstand beisammen hat.«

Die Königin stieß ein kleines, verächtliches Schnauben aus. »Aguila? Verstand? Also wirklich, der ist doch nichts als ein niedrig geborener Tölpel …«

»Genau darum geht es mir.« Elster beugte sich über den Tisch und fiel dem Mädchen, das gerade zu einer Schimpftirade ansetzen wollte, ins Wort. »Siehst du?« sagte sie leise. »Er hat dich genauso getäuscht wie alle anderen.«

Rabe starrte die Ärztin mit offenem Mund an.

»Klapp den Mund zu, Kind. Königinnen starren nicht.« Elster nahm einen Schluck von ihrem Wein. »Also, statt einfach dazusitzen und mich wütend anzusehen, solltest du noch einmal über diese letzte Zusammenkunft nachdenken, nachdem du Sonnenfeder weggeschickt hast. Mit einer einfachen, scheinbar beiläufigen Frage hat Aguila es geschafft, einerseits seine eigene Unschuld zu beweisen und andererseits Skua in eine sehr unangenehme Situation zu bringen – zumindest wäre das der Fall gewesen, wenn du richtig zugehört hättest. Hättest du ihn nicht unterbrochen, hätte er vielleicht sogar für dich herausfinden können, ob Cygnus einen Anteil an dieser Verschwörung hatte, deren Zweck ganz offensichtlich darin lag, der Königin die Wahrheit vorzuenthalten.«

»Oh!« Rabe lief dunkelrot an. »Ich dachte nicht …«

»Aber du mußt denken, wenn du herrschen willst.« Die alte Ärztin pochte mit ihrem Kelch auf den Tisch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Dann griff sie nach der Karaffe und schenkte sich Wein nach. »Das Schlimme ist«, sagte sie, »daß du Zeit brauchst, um zu lernen, wie man regiert – und Zeit ist genau das, was du nicht hast, solange all diese Geier um dich herum sind. Du brauchst jemanden, der stark genug und klug genug ist – und genug Autorität besitzt –, um dir Halt zu geben, bis du auf eigenen Beinen stehen kannst. Also, da soll mich doch … Sieh nur, was ich getan habe!« Plötzlich merkte sie, daß ihr Becher überlief, und sie setzte die Flasche mit einem leisen Fluch ab.

»Du solltest das wegwischen«, bemerkte Rabe mit einem kecken Grinsen, »bevor es den Tisch ruiniert.«

Elster kicherte. »Siehst du, du kannst sehr scharfsinnig sein, wenn du willst – der beste Beweis dafür ist, daß du dich immer wie ein verwirrtes kleines Mädchen benimmst, wenn du verhindern willst, daß Skua die Position des Hohepriesters auch offiziell erhält.« Nachdem Elster ein großes, zweckdienliches Taschentuch aus den Falten ihrer Robe herausgeangelt hatte, ging sie daran, den vergossenen Wein aufzutupfen. »Solange er nur amtierender Hohepriester ist, hast du ihn ganz hübsch in deiner Gewalt.«

»Oh, Aguila hat mir den Rat gegeben, das zu tun.«

Die Ärztin blickte überrascht auf. »Ach, hat er das?« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Übrigens, Mädchen, versuch nicht, mich vom Thema abzulenken. Bevor ich unterbrochen wurde«, sie sah Rabe mit ernster Miene an, »sagte ich, daß du diese Situation nicht länger allein bewältigen kannst. Abgesehen von allem anderen brauchst du, wie du selber gut weißt, einen Erben. Du mußt endlich eine Entscheidung treffen und einen Gemahl wählen.«

»Was?« schrie Rabe. »Wie kannst du es wagen, Elster? Wie kannst du so etwas nach allem, was mit Harihn geschehen ist, auch nur andeuten …« Unglücklich brach sie ab.

Elster beugte sich über den Tisch und griff nach der Hand der jungen Königin. »Du mußt dieses schreckliche Erlebnis hinter dir lassen, Rabe«, sagte sie entschlossen. »Du bist noch so jung …«

»Wie könnte ich jemals einen Gemahl wählen, du alte Närrin? Die Geflügelten wählen nur einmal in ihrem Leben einen Gefährten! Ich bin ruiniert …«

»Absoluter Blödsinn!« gab Elster energisch zurück. »Zumindest in dieser Hinsicht hatte Schwarzkralle recht. Einen erdgebundenen Flügellosen kann man nicht zählen … Oder willst du dein Leben zerstören und dein Königreich wegen eines einzigen, dummen Fehlers verlieren?«

Tränen strömten jetzt über Rabes Gesicht, und sie flüsterte mit tragischer Miene: »Aber ich könnte nie wieder lieben.«

Die Ärztin seufzte und hob ihre Augen gen Himmel. »Diese jungen Leute! Wer hat denn etwas von Liebe gesagt? Such dir jemanden, den du mögen und respektieren kannst, jemanden mit dem du arbeiten kannst – das ist alles, was du brauchst. Eine Königin hat an Liebe nicht einmal zu denken.«

»Schöne Worte, vor allem, wenn sie von jemandem kommen, der überhaupt nie einen Gemahl gewählt hat«, höhnte Rabe. »Also, wen hast du für mich vorgesehen? Ich nehme an, du hattest schon jemanden im Sinn, bevor du dieses Gespräch angefangen hast. Zweifellos noch jemanden, der mich manipulieren wird, obwohl du natürlich nach wie vor alle Fäden in der Hand halten wirst …«

»Wenn du auch nur einen Funken Vernunft hast, dann wirst du dich für Aguila entscheiden.«

Elsters Worte schnitten wie ein Schwerthieb durch die Schimpftiraden der jungen Königin. Rabe starrte sie mit ungläubig aufgerissenen Augen an; so maßlos war ihre Verblüffung, daß sie nicht mal protestieren konnte.

»Denk nach!« Die Ärztin nutzte ihren Vorteil aus. »Du magst ihn – das hast du mir gegenüber schon verschiedentlich zugegeben. Er hat dich sehr gern, und was noch wichtiger ist, er ist dir treu ergeben und bringt dir auf diese Weise auch die Treue der Königlichen Wache ein. Er ist intelligent, und er wird sich keinen Unsinn von diesen anderen Intriganten gefallen lassen, die dich beraten – vor allem nicht, wenn er als königlicher Gemahl einen höheren Rang hat als sie alle.«

Rabe brach in Gelächter aus. »Elster, das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist ein Witz – komm schon, gib’s zu. Also wirklich, der Mann ist doch bloß ein niedrig geborener Bürgerlicher. Und er ist zu alt!«

Die Ärztin hob eine Augenbraue. »Aguila? Alt? Ich bin alt, du kleine Närrin. Er mag ein paar Jahre älter sein als du, mein Mädchen, aber das macht ihn noch lange nicht zum Greis. Und was seine Geburt betrifft – nun, jeder, der sich so weit über seine Herkunft erheben kann, um Hauptmann der Königlichen Wache zu werden, ist ganz bestimmt ein Mann, den man ernst nehmen muß. Du könntest keinen Besseren an deiner Seite haben – und was noch wichtiger ist, ist die Tatsache, daß du immer darauf vertrauen kannst, daß er wirklich auf deiner Seite steht.«

Sie sah die junge Königin ernst an. »Hör mir zu, Rabe. Da wir schon von Alter sprechen, muß ich dich daran erinnern, daß ich nicht ewig hier sein kann, um dir zu helfen und dich zu beraten. Das Amt der Königin ist das einsamste Amt auf der Welt, mein Kind – und solange ich noch da bin, um dir zuzusetzen, möchte ich dafür sorgen, daß du, auch wenn ich tot bin, jemanden hast, auf den du dich stützen kannst.« Als sie Rabes unglückliches Gesicht sah, lächelte sie ein wenig, um die Königin aufzuheitern. »Außerdem«, fügte Elster schelmisch hinzu, »habe ich keine eigenen Kinder. Wie soll ich denn zu meinem gerechten Andenken kommen, wenn du keine kleine Prinzessin zur Welt bringst, die du nach mir benennen kannst?«

»O Elster!« Mit einem Schluchzen schlang Rabe die Arme um die alte Ärztin. »Du wirst nicht sterben.«

»Noch lange nicht, hoffe ich – es sei denn, du verbesserst deine Wurftechnik mit diesen Weinbechern, die du mir immer an den Kopf wirfst, wenn ich dir Dinge sage, die du nicht hören willst.« Elster kicherte. »Nein, ganz ernsthaft, Kind. Tu, was ich dir geraten habe. Nimm Aguila zum Gemahl. Das wird die beste Entscheidung sein, die du je getroffen hast. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.«

»Aber Elster …« Rabe biß sich auf die Lippen. »Nach dieser Sache mit Harihn … Was ist, wenn Aguila mich nicht heiraten will?«

Die Ärztin lachte laut auf. »Dich nicht heiraten will? Mein liebes Kind, natürlich wird er das wollen! Also wirklich, jeder einzelne aus diesem Vipernnest, das dich berät, würde sich die Flügel abschneiden lassen, um dein Gemahl zu werden. Aber von ihnen allen ist Aguila der einzige, der dich liebt.«

Als Elster schließlich aufbrach, ließ sie eine sehr nachdenkliche Rabe zurück. Das geflügelte Mädchen trat ans Fenster und stand tief in Gedanken versunken da, und starrte blind über die Stadt, die sie regierte. Sollte sie tun, was die Ärztin ihr geraten hatte? Nach Harihns Verrat hatte sie sich von dem Gedanken verabschiedet, jemals einen Gemahl zu wählen. Und in der ersten schwierigen Zeit, in der sie ihre Herrschaft angetreten hatte, war sie viel zu beschäftigt gewesen, um über die Frage eines Erben auch nur nachzudenken. Aber Elster hatte wie gewöhnlich große Klugheit bewiesen. Rabe biß sich auf die Lippen und kämpfte mit ihren Gefühlen. Das war ja alles gut und schön, aber konnte sie nach Harihn jemals wieder einen anderen Mann an ihrer Seite ertragen – an ihrer Seite und in ihrem Bett? Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Worte, die Flammenschwinge, ihre Mutter, vor so langer Zeit und im Zorn zu ihr gesprochen hatte: »Du wurdest dazu erzogen, zu begreifen, daß du eine Verantwortung gegenüber deinem Volk und deinem Thron hast. Und dazu gehört auch, daß du eine vorteilhafte Ehe schließen mußt.«

Die Herrscherin des geflügelten Volkes seufzte. Elster hatte ihr ebenfalls gesagt, daß eine Königin an Liebe nicht mal zu denken habe. Nun denn, so sei es. Sie hatten recht – alle beide, und es war an der Zeit, daß sie, Rabe, endlich erwachsen wurde und den Dingen ins Gesicht sah. Es hätte viel schlimmer sein können, rief sich Rabe in Erinnerung. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie sich mit der unerträglichen Aussicht auseinandersetzen müssen, den grausamen Hohepriester Schwarzkralle als Gemahl zu akzeptieren. Damals hatte sie keine Wahl gehabt, aber jetzt war es anders. Und Aguila war immer nett zu ihr gewesen und hatte der einsamen, jungen Königin in diesen letzten, schwierigen Tagen fast genauso beratend zur Seite gestanden wie Elster … Elster hatte sogar gesagt, daß Aguila sie liebte, was ein ziemlicher Schock für sie war – aber sie war noch nicht bereit, darüber nachzudenken. Allerdings war er auf jeden Fall der einzige, der sie nicht für seine Zwecke zu mißbrauchen schien.

Rabe hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde es tun. Plötzlich mußte sie an die Reaktion von Sonnenfeder und Skua denken, wenn sie von dieser Neuigkeit erfuhren, und ein boshaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie würden ganz sicher krank vor Wut sein … Rabe kicherte leise vor sich hin und fühlte sich plötzlich so unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Elster hatte wieder einmal recht gehabt.

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