26 Blitzschlag

Die Morgendämmerung vergoldete die zusammengerollten Blätter der hellgrünen Farne, und die Feldlerchen erhoben sich in benommenen Spiralen gen Himmel und ließen ihren Gesang auf die Erde niederregnen. Die frühe Morgensonne leuchtete im Osten auf, und ihre Pracht trotzte der stickigen Luft, die für die Jahreszeit sehr ungewöhnlich war, genauso wie den dunklen, drohenden Sturmwolken, die sich am westlichen Horizont zusammenballten. Als Aurian auf der letzten Anhöhe des Moorlandes stand und auf das Heim ihrer Kindheit hinunterblickte, blieb Schiannath, der sie in seiner Pferdegestalt hierher gebracht hatte, zögernd stehen, da er spürte, daß ihr Körper sich unwillig straffte.

»Stimmt etwas nicht?« erkundigte sich Shia. Khanu, der ebenfalls neben der Magusch hergelaufen war, blickte fragend auf. Aurian starrte ungläubig auf das dunkle, undurchdringliche Gewirr von Bäumen, die das Tal einhüllten und bis zum Fuß des großen Kessels aus Obsidiangestein reichten. »Ich kann es einfach nicht glauben – ich hätte das Tal kaum wiedererkannt. Anvar – was kann hier nur geschehen sein? Es sieht alles so anders aus?« Die Magusch wandte sich an ihren Seelengefährten, der neben ihr ritt, getragen von Esselnath, dem Xandimkrieger, der sich freiwillig für diese Aufgabe erboten hatte; er war in seiner Pferdegestalt ein prachtvoller, haselnußbrauner Hengst, dessen Fell wie Feuer in dem goldenen Morgenlicht erstrahlte, genauso prächtig wie Aurians Haar.

Anvar rieb sich die Augen, die nach der langen, schlaflos durchrittenen Nacht brannten. »Es waren die Phaerie, die dem Wald befohlen haben, das Tal deiner Mutter zu bewachen – ich erinnere mich daran, daß ich es dir vor einer ganzen Ewigkeit einmal erzählt habe, nachdem Hellorin und Eilin mich vor dem Aerillia-Moldan gerettet und ausgesandt haben, um die Harfe zu suchen.« Seine Miene verdüsterte sich. »Weißt du, sie haben mir erzählt, daß D’arvan und Maya hier als Wächter zurückgelassen wurden, aber ich dachte, sie seien nur als Wächter des Tales eingesetzt worden. Warum, zum Teufel, haben Hellorin und Eilin mir nicht verraten, daß auch das Schwert hier ist? Denk nur, wieviel Ärger uns erspart geblieben wäre, wenn wir das vorher gewußt hätten.«

»Ich nehme an, sie konnten es dir nicht verraten – wahrscheinlich war der Standort des Schwertes etwas, das ich allein herausfinden mußte«, erwiderte Aurian nachdenklich. »Außerdem wären wir auch so gezwungen gewesen, erst das Land der Xandim zu durchqueren.« Sie sah sich vorsichtig um, um sicherzugehen, daß Cygnus außer Hörweite war. »Du erinnerst dich doch, wie sich die Himmelsleute uns gegenüber benommen haben. Davon abgesehen, wären sie auch nicht in der Lage gewesen, uns den ganzen Weg über das Meer zu tragen. Selbst wenn sie es gekonnt hätten, hätten sie sich niemals dazu bereit erklärt.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, meinte Anvar. »Wenn D’arvan und Maya die Wächter hier sind, dürften wir wenigstens keine Schwierigkeiten haben, durch den Wald zu kommen.«

»Ich hoffe nicht, aber …« Ein Schauder der Vorahnung lief Aurians Rückgrat hinunter, und sie krallte die Hände in Schiannaths rabenschwarze Mähne, bis dieser unwillig den Kopf schüttelte. »Anvar, was ist, wenn D’arvan und Maya das Schwert bewachen sollen? Ich könnte es nicht ertragen, gegen meine Freunde zu kämpfen.«

Anvar sah sie ernst an. Dann trat ein entschlossener Blick in seine Augen. »Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«

»Ja«, sagte Shia scharf, »und die besteht nicht darin, wie ein Haufen Narren hier im hellen Tageslicht herumzustehen. Vorwärts, Aurian, das ist nicht der rechte Zeitpunkt, um zu zögern.«

Ihre Worte verloren sich, als das Rauschen von Flügelschlägen über ihnen ihre Aufmerksamkeit erregte. Cygnus, der als Späher unterwegs gewesen war, schoß vom Himmel herunter.

»Schnell!« rief der geflügelte Mann. »Lauft! Eine Armee nähert sich, angeführt von einer Frau mit silbernen Haaren. Sie stürmen von der Südseite des Waldes hierher. Wenn ihr euch nicht beeilt, werden sie euch den Weg abschneiden.«

»Verflucht!« rief Aurian. »Eliseth! Kommt!« Sofort stürzte Schiannath mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Hügel hinunter, dicht gefolgt von Anvar und Esselnath. Seite an Seite donnerten sie auf den sicheren Schutz des Waldes zu, während ihr Haar – Aurians feurig rot, Anvars von glänzendem Gold – wie zwei Schlachtenbanner in der frühen Morgensonne flatterte. Ihre Kameraden und die Xandim folgten ihnen, und Cygnus kreiste wie ein Geier über ihren Köpfen. Aurian konnte bereits Eliseths Armee sehen, die wie eine Welle aus Dunkelheit, der ein finsterer Sturm folgte, von Westen her auf sie zurückte.


D’arvan und Maya beobachteten, wie sie es sich angewöhnt hatten, den Sonnenaufgang über dem See und suchten Trost in der Gesellschaft des anderen und dem Frieden der frischen Morgenluft. Sie hatten in letzter Zeit das Rebellenlager gemieden, da es ihnen unerträglich war, die Trauer von Vannors Freunden mitanzusehen, denen Bern die Nachricht gebracht hatte, daß ihr Anführer in den Händen der Magusch war und schreckliche Qualen litt. D’arvan seufzte und wünschte, seine Sorgen würden diesen herrlichen, magischen Augenblick des Tages nicht zerstören. Es schien, als hätten die Rebellen jeden Mut verloren, als sie von der Gefangenschaft des Kaufmanns erfuhren. Der Magusch hätte ihnen gern geholfen, aber was konnte er schon tun? Die Rebellen konnten ihn weder sehen noch hören – und selbst wenn sie es gekonnt hätten, was hätte er sagen können, um ihnen den Kummer zu erleichtern?

Plötzlich versteifte sich das Einhorn, und seine silbernen Ohren stellten sich auf. Dann fing auch D’arvan das Geräusch erregten Flüsterns zwischen den Bäumen hinter ihnen auf. Der Wald übermittelte die Nachricht von einer bewaffneten und berittenen Truppe, die ihn von Westen her umzingelte. Einen Augenblick später folgte die Nachricht von einer weiteren Woge von Eindringlingen, die wie der Wind von Osten her heranritt.

»Von Osten?« murmelte der Magusch zu Maya, während er verwirrt die Stirn runzelte. »Aber in dieser Richtung liegt nichts außer den Fischersiedlungen. Woher können diese Leute kommen, und wer, im Namen aller Götter, können sie sein?« Heiße Angst durchfuhr ihn. Eliseth und der Erzmagusch hatten viel zu lange stillgehalten – D’arvan hatte schon seit geraumer Zeit etwas Derartiges erwartet. »Das muß eine Finte sein.« Hastig lief er auf die östliche Seite des Tales zu und überließ es dem Einhorn, allein die Brücke zu bewachen, wie es seine Aufgabe war.


Kopf an Kopf blieben die Pferdeleute, die die beiden Magusch auf ihrem Rücken trugen, am Waldrand stehen; ihre Kameraden jagten hinter ihnen her. Einen Augenblick herrschte Zögern. Es gab keinen sichtbaren Weg, der durch das dichte, ineinander verwobene Blätterwerk in den Wald führte, und die finstere Düsternis der Bäume schien ihnen eine Drohung entgegenzuschleudern.

Anvar sah Aurian an. »Was jetzt?«

Aurian wagte es noch nicht, den Stab der Erde zu benutzen, um Eliseth nicht zu verraten, daß sie im Besitz des Artefakts war.

Die Magusch zuckte hilflos mit den Achseln. »Du bist doch derjenige, der den Waldfürsten kennengelernt hat – ich hatte gehofft, du wüßtest vielleicht eine Antwort.«

Sie konnten hören, daß das Donnern der Hufe immer lauter wurde, während sich der Feind näherte. Mittlerweile war die kleine Armee bereits so nah, daß die beiden Magusch das Aufblitzen von Sonnenlicht auf nacktem Stahl sehen und die hochgewachsene Gestalt erkennen konnten, die an der Spitze der Feinde ritt; ihr silbernes Haar flatterte hinter ihr im Wind.

Vannor drängte sich durch die Schar der Xandim nach vorn. »Keine Angst, wenn der Wald sich an mich erinnert, wird er uns gewiß einlassen. Das möchte ich ihm jedenfalls raten.« Er trat einen Schritt nach vorn. »He!« schrie er so laut, daß eine kleine Schar erschrockener Vögel mit schrillen Schreien aus den Baumwipfeln aufstoben. »Ich bin es – Vannor. Laßt mich durch!«


D’arvans Gedanken überschlugen sich vor Schreck, als er Vannors Stimme hörte, während er auf den Waldrand zustürmte. Vannor war doch in Gefangenschaft – oder vielleicht nicht? Der Magusch hatte von Anfang an einen gewissen Argwohn gegenüber Bern gehegt. Hatte der elende Kerl die ganze Zeit über gelogen? Oder war das nur eine List, die der Erzmagusch ersonnen hatte, um sich so einen Weg in den Wald zu bahnen und das Schwert an sich zu reißen? D’arvan lief, so schnell er konnte. Er mußte es herausfinden – und zwar bald.


Aurian und ihre Gefährten standen mit dem Rücken zum Wald, während Eliseth und ihre Kohorten auf sie zustürmten. Parric sprang von seinem Pferd und stellte sich an Vannors ungeschützter rechten Seite auf. Die Hälfte der Xandim, von denen die meisten Pferdegestalt angenommen hatten, um schneller voranzukommen, schlüpften nun hastig wieder in ihre Menschengestalt und holten sich Bogen und Schwerter aus den Bündeln, die sie zuvor auf dem Rücken getragen hatten. Mit grimmigen Gesichtern sprangen sie auf jene ihrer Gefährten, die ihre Pferdegestalt nicht aufgegeben hatten, und wandten sich dem Feind zu. Iscalda stellte sich in Pferdegestalt mit Yazour auf dem Rücken dicht neben Aurian und ihren Bruder. Shia fauchte und streckte ihre Krallen aus, bevor sie vor den beiden Magusch in Position ging. Aurian, die auf Schiannath saß, zog ihr Schwert.

»Laß uns die Artefakte noch nicht benutzen – erst, wenn uns wirklich keine andere Wahl mehr bleibt!« rief sie Anvar zu. »Wo immer Miathan auch sein mag, es ist besser, wenn er nicht weiß, daß wir sie haben.«

Dann drehte sie sich zu dem Kaufmann um. »Vannor, was auch geschieht, du bleibst hier. Versuch weiter, daß wir in den Wald gelangen, koste es, was es wolle.«

Das Windauge, das Sangra auf seinem Rücken getragen hatte, wieherte schrill und warf den Kopf zurück. Als die Frau von seinem Rücken hinunterglitt, nahm er seine Menschengestalt wieder an. »Herrin – laß mich …« Er trat vor Eliseths heranstürmende Truppe und fuhr schnell mit den Händen durch die Luft. Die Pferde, die in der ersten Reihe ritten, bäumten sich wiehernd auf und warfen ihre zu Tode erschrockenen Reiter ab, als sich die Gestalt von Chiamhs Dämon vor ihnen materialisierte. Die geordnete Struktur des Vormarschs löste sich auf, Pferde wurden gegeneinander geschleudert, und Männer flohen mit lauten Entsetzensschreien auf den Lippen.

Nur Eliseth ließ sich von der Vision nicht beeindrucken. »Kommt zurück, ihr Narren!« schrie sie und riß den Kopf ihres in panischer Angst steigenden Pferdes so gnadenlos herum, daß dem Tier das Blut aus dem zerrissenen Maul tropfte. »Da ist nichts! Das ist nur eine Illusion!« Plötzlich schaute sie an Chiamh vorbei und erblickte Vannor, und ihr Gesicht wurde weiß vor Zorn. »Wie?« zischte sie. »Wie bist du mir entkommen, Sterblicher? Nun, noch einmal wird dir das nicht gelingen!«

Sie hob die Hand, griff nach den sich zusammenballenden Wolken und ließ einen zischenden Lichtblitz auf das ungeschützte Windauge hinunterkrachen. Aurian, die sich schneller bewegte als je zuvor in ihrem Leben, riß um Chiamh herum einen magischen Schild in die Höhe, so daß der Blitz an der Barriere abprallte und sich in einen Schauer prasselnder Funken auflöste. Aber da der Schild auch Chiamhs Kräfte blockierte, verschwand der Dämon abrupt, und die Angreifer faßten neuen Mut.

Anvar hatte in der Zwischenzeit seinen eigenen Kraftstoß auf die Wettermagusch losgelassen und sie auf diese Weise gezwungen, ihren Angriff einzustellen und sich selbst mit einem Schild zu umgeben, bis der Hauptmann der Söldner sich vom Boden aufgerappelt, seinen Bogen vom Rücken gezogen und Pfeil um Pfeil auf seine Feinde abgeschossen hatte, die nach wie vor vor der undurchdringlichen Mauer des Waldes in der Falle saßen. Zwei, drei, vier der Xandim schrien auf und fielen.

Nachdem der gegnerische Hauptmann seinen Soldaten hastig einige Befehle zugebrüllt hatte, folgten diese seinem Beispiel, und binnen weniger Sekunden ergoß sich ein tödlicher Pfeilhagel über die Xandim, so daß die beiden Magusch gezwungen waren, ihre Schilde aufzubauen, um ihre Gefährten zu schützen.

Jetzt, da sowohl Aurian als auch Anvar in eine Verteidigungsposition gedrängt waren, war die Wettermagusch wieder frei, selbst zu handeln. Wieder und wieder ließ sie ihre tödlichen Energiestrahlen auf die schwache Barriere der Schilde prasseln, während immer mehr Pfeile auf Aurian und ihre Gefährten niedergingen. Schiannath und Esselnath zeigten bemerkenswerten Mut, indem sie mit den beiden Magusch auf dem Rücken keinen Zentimeter zurückwichen, obwohl sie mit den Augen rollten und angesichts des Ansturms von Magie zitterten, der für sie, solange sie in Pferdegestalt waren, besonders erschreckend war. Die weiße Stute Iscalda stand tapfer neben ihrem Bruder.

Obwohl der Mut ihrer Gefährten Aurian das Herz wärmte, griff doch immer stärker Verzweiflung nach ihr. Trotz der Tatsache, daß sie und Anvar zu zweit waren, waren sie durch die Notwendigkeit gehemmt, so viele andere zu beschützen. Da die beiden Magusch überaus große Schilde errichten mußten, damit alle ihre Gefährten dahinter Platz fanden, war die magische Barriere so dünn, daß sie unter dem unablässigen Ansturm ihrer Feinde immer schwächer wurde und bereits zu schwinden begann.

Mit grimmiger Entschlossenheit hielten Aurian und Anvar jedoch aus, bis ihnen zu ihrem Entsetzen klar wurde, daß Eliseth ihnen mit einer immer größer werdenden Kraft begegnete. Woher hat sie diese Kraft nur? dachte Aurian verzweifelt – und dann spürte sie plötzlich die wogende, kaum kontrollierbare Macht der Hohen Magie.

»Anvar!« flüsterte sie, und ihre Stimme brach fast vor Entsetzen. »Sie hat den Kessel!«

»Warum gebt ihr nicht einfach auf?« verhöhnte Eliseth sie, während der Triumph in ihren Augen aufblitzte und ihr makellos schönes Gesicht von einem hämischen Grinsen verzerrt wurde. »Ihr mitleiderregenden, weichherzigen, rückgratlosen Narren! Ihr könnt euren Schild nicht mehr lange aufrechterhalten. Wenn ihr jetzt nachgebt, werde ich das miserable Leben des Pöbels in eurem Gefolge vielleicht verschonen. Miathan hat immer Verwendung für weitere sterbliche Sklaven.«

»Du kannst Pferdemist fressen, du stinkender, verlauster Knochensack!« fauchte Shia, indem sie ihre Gedankenstimme der Wettermagusch entgegenschleuderte. »Mögen die Maden sich an dem laben, was du als dein Gehirn bezeichnest!«

Eliseth zuckte zusammen, als die Beschimpfungen der Katze unerwartet in ihren Gedanken widerhallten. Ihr magischer Angriff geriet für einen Augenblick ins Wanken, während sie die Reihen ihrer Feinde absuchte, um herauszufinden, von wem die Botschaft gekommen war.

Aurian, die viel zu beschäftigt damit war, sich auf ihren Schild zu konzentrieren, um selbst eine passende Antwort geben zu können, warf Shia aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Sehr hübsch«, murmelte sie. »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.«

Das was alles, wofür sie Zeit hatte, bevor Eliseth, blaß vor Zorn über die Beleidigung, ihren Angriff mit doppelter Kraft wieder aufnahm und weiße Energiestrahlen auf die magische Barriere abschoß, die langsam zu qualmen begann und Funken sprühte.

Anvar drehte sich mit angespannter Miene zu Aurian um. »Wir können das nicht mehr lange durchhalten – nicht gegen den Kessel.« Er sprach durch zusammengebissene Zähne. »Wir werden bald gezwungen sein, die Artefakte einzusetzen.«

»Ich weiß.« Irgendwoher nahm Aurian die Kraft, um diese wenigen Worte auszustoßen. »Aber solange der Schild hält …« Aber der Schild begann bereits nachzugeben. Verzweifelt wurde Aurian klar, daß ihnen nur noch wenige Augenblicke blieben …


Als D’arvan den Waldrand erreichte, konnte er schon das Sirren der Pfeile hören. Der Gestank böser Magie warf ihn beinahe von den Beinen. Noch immer außer Atem, begriff er plötzlich, was sich da vor seinen Augen abspielte. Aurian – es war wirklich Aurian, die aus dem Süden zurückgekehrt war, und neben ihr standen Anvar und Parric … Und bei allen Göttern, das war tatsächlich Vannor – eindeutig der Kaufmann selbst und nicht irgendeine Illusion. Er war ausgesprochen lebendig und schrie dem unnachgiebigen Wald, der ihm den Eintritt verwehrte, erbitterte Flüche entgegen. Aber wer waren die Fremden, die mit ihnen gekommen waren? Egal. Der Blick des Magusch wanderte zu Eliseth, in deren Augen Haß und Triumph aufflackerten, während sie Aurians langsam in sich zusammenbrechenden Schild attackierte …

D’arvan handelte sofort und rief dem Wald einen Befehl zu. Die Bäume, die den Kampf, der sich zu ihren Füßen abspielte, mit einiger Beklommenheit beobachtet hatten, leisteten Widerstand. Also schlang der Magusch seine Finger fest um den Stab der Lady Eilin und sandte seine ganze Macht aus, bis er spürte, wie sich der Wald langsam und widerstrebend seinem Willen beugte.


Ungläubig betrachtete Vannor die sich weitende Kluft zwischen den Bäumen. Sein Herz machte einen wilden Satz. »Kommt!« rief er den zusammengekauerten, verängstigten Xandim zu. »Hier entlang – schnell!« Sie brauchten keine zweite Aufforderung. Vannor mußte schnell zur Seite springen, als sie an ihm vorbei dem Schutz des Waldes entgegenrannten. Nur Parric, die Katzen, Chiamh, Yazour und Iscalda blieben zurück.

Eliseths Gesicht verzerrte sich vor Wut zu einer häßlichen Maske, als sie sah, daß ihre Pläne durchkreuzt waren. Angestachelt und vorwärtsgetrieben von ihrem Zorn, nahm die Wucht ihrer Blitze noch weiter zu.

Vannor, der begriff, daß sich die Magusch und ihre beiden Pferde nicht zurückziehen konnten, bevor alle in Sicherheit waren, drängte die Zögerlichen unter Aurians Gefährten zur Eile. »Macht schon, ihr verdammten Narren!« brüllte er. »Steht nicht einfach da rum – ihr haltet alle auf!«

Glücklicherweise sahen sie ein, daß er recht hatte, und gehorchten ihm widerstrebend. Shia blieb neben Vannor stehen, um auf Aurian zu warten. Auch Chiamh wartete. »Wenn ich mich verwandle, steig schnell auf meinen Rücken«, sagte er zu dem Kaufmann. »Ich werde dich in Windeseile von unseren Feinden wegbringen.«

Sobald sich alle anderen sich hastig in Sicherheit gebracht hatten, stieg Vannor auf Chiamh, der sich noch einmal vom Waldrand abwandte. »Aurian, Anvar – jetzt!« schrie der Kaufmann. »Alle sind in Sicherheit. Kommt her zu uns!«

Schiannath und Esselnath machten auf der Stelle kehrt und galoppierten Seite an Seite der Sicherheit des Waldes entgegen. Hinter ihnen brach der Schild in einem letzten Funkenschauer zusammen, und ein sengender Lichtstrahl riß den Rasen unter ihren Hufen auf.

Als Eliseth sah, daß ihre Opfer entkamen, stieß sie einen schrillen Zornesschrei aus. Sie gab ihrem Pferd die Sporen, um Aurian und Anvar zu folgen, ließ Donner und Flüche auf die beiden Flüchtlinge niederprasseln, aber es war bereits zu spät. Die Bäume des Waldes schlossen sich schnell wieder, ihre Zweige verwoben sich ineinander, und eine undurchdringliche Schranke aus Dornen und Stacheln sprang aus dem Nichts und versperrte Eliseth den Weg. Fluchend wandte sich die Wettermagusch ab und sah deshalb auch die beiden Wölfe nicht, die einen Bogenschuß von ihr entfernt hinter einem Ginsterbusch Zuflucht gesucht hatten. Das Weibchen hielt ein sehr kleines Wolfsjunges im Maul, das sie vorsichtig an der lockeren Haut seines Nackens gepackt hatte. Lautlos glitten sie in den Wald hinein, um Aurians Spur zu folgen. Die Bäume teilten sich, um sie durchzulassen, bevor sie sich eilig wieder hinter ihnen schlossen.


Noch immer zitternd nach ihrer Flucht, die auf des Messers Schneide gestanden hatte, traten die Kameraden in die schattigen Tiefen des Waldes ein; zu erschöpft um zu reden, zu ängstlich, um stehenzubleiben, folgten sie dem gut begehbaren Weg, der sich vor ihnen geöffnet hatte. Am Rande des Tales selbst, wo sich ein Wildbach aus dem Moorland zwischen den Bäumen hindurchschlängelte und in einer schimmernden Kaskade die schwarzen Wände des Kraters hinunterstürzte, machte D’arvan eine Lichtung für die Flüchtlinge bereit, so daß sie an dieser Stelle zusammentreffen und ein wenig ausruhen konnten, bevor sie sich an den letzten Abstieg ins Tal wagten. Dann trat er ein Stück von der Lichtung zurück, unsichtbar für die Xandim, die sich dort zusammenscharten, und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Magusch.

Als Aurian und Anvar auf dem Rücken zweier Pferdeleute, die sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten konnten, auf die Lichtung gelangten, ließen sie sich von ihren Reittieren hinuntergleiten, um Schiannath und Esselnath die Möglichkeit zu geben, wieder Menschengestalt anzunehmen.

»Der Göttin sei Dank!« Schiannath strich sich eine Locke dunklen Haares aus der verschwitzten Stirn. »Ich muß zugeben, daß ich da draußen das ein oder andere Mal wirklich Angst bekommen habe.«

»Rudelfürst, du warst ein wahrer Held.« Aurian umarmte ihn. »Wärt ihr beide, du und Esselnath, nicht so mutig gewesen, allem standzuhalten, womit Eliseth euch traktiert hat, hätten Anvar und ich niemals unsere Schilde aufrechterhalten können. Wir wären alle gestorben. Wir verdanken euch unser Leben.«

»Wie wir euch das unsere verdanken, Herrin, denn ohne eure Schilde hätten wir erst gar keine Chance gehabt«, erwiderte Schiannath ernst. »Da wir nur dich und Anvar kennen, abgesehen von dem Windauge, war mir niemals klar, wie mächtig magische Kräfte sein können, wenn sie sich dem Bösen zuwenden. Ich bin bereitwillig mit euch gezogen, um euch zu helfen, aber heute habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, wie lebenswichtig unsere Mission ist, um das Schicksal der Welt zu retten.«

Als die Pferdeleute zu dem Strom hinübergingen, um zu trinken, umarmten Aurian und Anvar einander in wortloser Erleichterung, aber sie wußten, daß ihre Atempause nur kurz sein würde. »Was glaubst du, wieviel Zeit wir haben?« fragte Anvar seine Seelengefährtin.

Aurian zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Der Wald schien ziemlich fest entschlossen zu sein, Eliseths Truppen draußenzuhalten, aber wir haben es hier mit einer bösartigen Magusch zu tun – und jetzt hat sie auch noch den Kessel. Wie ich sie kenne, glaube ich nicht, daß der Wald sie lange aufhalten kann.«

»Da ist eine Sache, die mich verwirrt«, murmelte Anvar stirnrunzelnd. »Wenn Eliseth den Kessel hat, was ist dann aus Miathan geworden? Er hätte ihr niemals freiwillig eine solche Macht überlassen. Was hat sie also mit ihm angestellt? Und wie hat sie das geschafft? Er muß noch leben, denn sonst hätten wir seinen Tod gespürt.« Er schnitt eine Grimasse. »Was für eine Ironie es doch wäre, wenn wir uns am Ende gezwungen sähen, den Erzmagusch vor Eliseth zu retten.«

»Wenn wir das tun«, erwiderte Aurian grimmig, »dann sollte Miathan besser darum beten, daß er jemanden findet, der ihn anschließend vor uns rettet.«

Hastig begann Aurian nun, die Verwundeten zu heilen, die von den ersten Pfeilen der Feinde getroffen worden waren, und dachte währenddessen traurig an die drei, die nicht mehr bei ihnen waren. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich schwermütigen Gedanken hinzugeben.

Sobald die Magusch alle versorgt hatte, rief sie Anvar und ihre übrigen Gefährten zusammen. »Die Zeit drängt, und wir können nicht länger hierbleiben«, erklärte Aurian ihnen; sie mußte ihre Stimme über einen allgemeinen Chor von Fluchen und Stöhnen erheben. »Vannor, Parric und Sangra – ihr nehmt die Hälfte unserer Streitmacht und geht zum Rebellenlager. Bringt die Leute so schnell wie möglich zum See – wir treffen uns dort. Wenn Eliseth es schafft, in den Wald einzudringen, wollen wir sie auf keinen Fall in der Nähe des Schwertes haben – vor allem dann nicht, wenn ich versuche, es für mich zu beanspruchen. Anvar und ich werden zusammen mit Chiamh, Yazour und den Katzen sowie den übrigen Pferdeleuten ohne Umweg zur Insel gehen. Cygnus, ich möchte, daß du über dem Wald kreist, um uns über die Bewegungen des Feindes auf dem laufenden zu halten – und damit die beiden Gruppen miteinander Verbindung aufnehmen können, falls irgend jemand in Schwierigkeiten gerät. Jetzt teilt eure Leute schnellstens ein, damit wir die Sache hinter uns bringen.«

Parric, der aus jedem ihrer Worte ein Echo Forrals heraushörte, fing Vannors Blick auf und teilte ein Lächeln mit dem Kaufmann, bevor sie die Leute aussuchten, die sie mitnehmen wollten.


D’arvan, der aus dem Schatten der Bäume zusah, spürte, wie sein Herz einen Augenblick aussetzte, als Aurian von dem Schwert der Flammen sprach. Bei den Göttern, dann mußte sie der Eine sein! Aber um das Artefakt für sich beanspruchen zu können, mußte sie gegen Maya kämpfen, die nach Hellorins Willen in Gestalt des unsichtbaren Einhorns die Insel und ihre Brücken gegen jeden verteidigen mußte, der sich ihnen näherte. Und er hatte keine Möglichkeit, Aurian die Identität ihres Gegners zu enthüllen.

Der Magusch des Waldes spürte, wie er zu zittern begann. Das war eine schreckliche Nachricht – das diese beiden engen Freundinnen um des Schwertes willen einer solchen Gefahr ausgesetzt wurden. Zum ersten Mal begriff er die zweischneidige Natur dieses schrecklichen Artefaktes, und plötzlich hatte er auch die schlimme Vorahnung, daß das Schwert noch weitere Geheimnisse in sich barg. Nicht zum ersten Mal fragte sich D’arvan, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn das Schwert niemals gefunden worden wäre.

Zumindest konnte er bei Aurian und Maya sein – und vielleicht würde er auch, wenn der Kampf begann, eine Möglichkeit finden, einzuschreiten.

Er folgte Aurian und ihren Kameraden, die vorsichtig die steilen, felsigen Wände des Kraters hinunterkletterten. Plötzlich hörte er das finstere Grollen von Donner und bemerkte die zunehmende Erregung der Bäume in seiner Nähe. Als er dann ihren Schmerz und ihren Zorn spüren konnte, erstarrte D’arvan vor Entsetzen. Eliseth hatte eine Möglichkeit gefunden, in den Wald einzubrechen! An der östlichen Grenze des Waldes wurde seine Hilfe dringend gebraucht, sonst war alles verloren. Einen Augenblick lang zögerte D’arvan, auf schreckliche Weise hin und her gerissen zwischen zwei Entscheidungen: Sollte er Maya und Aurian helfen oder zur Verteidigung des Waldes eilen? Aber dann begriff er, daß er überhaupt keine Wahl hatte. Es war sehr zweifelhaft, daß ihm gestattet würde, sich in den Kampf um das Schwert einzumischen – die Dinge würden sich entwickeln, wie sie sich entwickeln mußten. Er durfte jedoch nicht zulassen, daß sich Eliseth einmischte. Mit einem geflüsterten Fluch wandte sich D’arvan von dem Drama ab, das sich in Kürze in dem Krater abspielen würde, und lief zurück durch den Wald, um die Ostgrenze zu verteidigen.


Eliseth, schäumte vor Wut. Nachdem Aurian und dieser verfluchte Wald sie überlistet hatten, hatte sie ihren Zorn zunächst an ihrer Armee ausgelassen und die Männer verflucht und beschimpft. Gleichzeitig trieb sie sie zu immer größeren Anstrengungen an, was ihren fruchtlosen Versuch betraf, sich mit Gewalt einen Weg durch das dornige Gewirr des Unterholzes zu bahnen. Nach einer Weile, als sie begriff, daß all ihr Toben und Schreien zu nichts anderem führte, als ihre Anhänger gegen sich aufzubringen, hatte sie sich ein wenig beruhigt und begonnen, über die Situation nachzudenken.

Diese Bäume wurden eindeutig von irgendeiner magischen Kraft aus dem Innern des Tals beschützt, denn weder Äxte noch Schwerter konnten ihnen etwas anhaben, und sie hatte bereits zu viele ihrer Männer verloren: Einige waren von besonders starken Ästen erwürgt oder von dornigen Stacheln blind gestochen worden; nicht wenige waren von herunterkrachenden Zweigen bewußtlos geschlagen worden, und einer, der unklugerweise versucht hatte, an der trockenen Rinde einer sterbenden, alten Buche ein Feuer zu entzünden, war zerquetscht worden, als sich der ganze Baum scheinbar selbst entwurzelt hatte und auf ihn heruntergestürzt war. Eliseth glaubte, die Identität des Beschützers des Waldes zu kennen: Es mußte sich um Eilin handeln, Aurians Mutter. Diese verfluchte, rebellische Erdmagusch, die ihr und den übrigen Magusch vor so langer Zeit den Rücken gekehrt hatte, würde natürlich alles tun, um ihre Tochter zu beschützen.

»Verflucht soll sie sein!« fauchte die Wettermagusch. Plötzlich hatte dieser Kampf eine persönlichere Note angenommen, denn Eilin mußte auch die Verantwortung für Davorshans Tod tragen, der seinerzeit Eliseths Geliebter gewesen war. »Der werde ich es schon zeigen.« Dann wandte sie sich wieder an ihre Söldner. »Tretet zurück«, befahl sie. »Ich werde mir einen Weg in diesen verfluchten Wald bahnen, und wenn ich jeden Baum einzeln zu Asche verbrennen muß!«

Ein zorniges Rascheln lief durch die Zweige des Waldes, als hätten die Bäume sie gehört und ihre Herausforderung angenommen. Sie werden schon sehen, was sie davon haben, dachte Eliseth grimmig. Sie hatte jedenfalls nicht die Absicht, sich von diesem Haufen Brennholz aufhalten zu lassen! Die Magusch trat ein gutes Stück von den Bäumen zurück, griff nach den niedrig am Himmel hängenden Sturmwolken über ihr, und gleich darauf rollte das dumpfe, dröhnende Echo eines Donners über das Tal hinweg. Mit einem Triumphschrei bog Eliseth ihre Finger zu Klauen und zog funkensprühende Blitze aus dem Himmel herunter.

Die Blitze schlugen zischend auf die Erde, trafen die Bäume in der Nähe des Waldrandes, ließen sie mit Hilfe durch die Luft fliegender Splitter explodieren und umschlangen sie mit einem brüllenden Flammenmeer. Eliseths Maguschsinne konnten die hohen, dünnen Schmerzensschreie auffangen, als das Feuer sich in Windeseile von einem Zweig zum nächsten ausbreitete. Mit einem kalten Lächeln, in dem das ganze Ausmaß ihrer Befriedigung lag, riß Eliseth Blitz um Blitz aus dem gequälten Himmel und entzündete die Bäume wie Fackeln. Als säße sie behaglich zu Hause an ihrem Kamin, streckte Eliseth die Hände aus, um sich an der schimmernden Hitze der Flammen zu wärmen. Da sie es gespürt hätte, wenn ein Magusch ums Leben gekommen wäre, mußte sie davon ausgehen, daß Aurian dem Feuer entkommen war, aber das spielte keine Rolle. Schon sehr bald würde sie sich mühelos ihren Weg in das Tal bahnen – und dann war endlich die Zeit gekommen, um alte Rechnungen zu begleichen.

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