Emmie schlafwandelte beinahe, als sie die Küchenhöhle betrat. Der leere Raum war in tiefe Schatten getaucht, denn in dem komplexen Netzwerk von Höhlen, die die Schmuggler ihr eigen nannten, waren die meisten Lampen schon vor langer Zeit gelöscht worden. Emmie störte das nicht. Das schläfrig rote Glühen von den mit Asche belegten Feuern spendete genug Licht für ihre Zwecke. Sie ging hinüber zu dem von Messerspitzen eingekerbten Tisch, zog das eine Ende der massiven Holzbank, die darunter stand, hervor und setzte sich schwerfällig hin. Sie war völlig ausgehungert, aber sie hatte nicht genug Energie, um sich etwas zu essen zu suchen. Es war schon eine Weile nach Einbruch der Dämmerung, und die Küchenhelferinnen waren vor langer Zeit ins Bett gegangen. Jeder hatte während der vergangenen beiden Tage so hart und ohne Pause gearbeitet, daß Emmie jetzt niemanden wecken wollte. Das wäre nicht fair gewesen. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch, ließ ihre Finger durch das Gewirr ihrer unordentlichen blonden Locken gleiten und verlor sich in besorgten Gedanken.
Als könne er ihre Müdigkeit spüren, legte der weiße Hund, der mittlerweile auf den Namen Sturm getauft worden war, seinen Kopf auf ihren Schoß und winselte, während er vertrauensvoll und mit einem auf unheimliche Weise intelligenten Ausdruck in den dunklen Augen zu ihr aufblickte. Emmie schluckte schwer, als unerwartete Tränen ihr die Sicht trübten. Sie murmelte einen Fluch vor sich hin und fuhr sich ungeduldig mit der Hand übers Gesicht. Meine Güte, wie tief bist du doch gesunken, schalt sie sich. Zu flennen wie ein Baby, aus Mitleid zu einem Hund!
»Ach du liebe Güte, Mädchen – du siehst ja aus wie ein Gespenst! Hier – sieh zu, daß du was zwischen die Rippen kriegst.« Emmie zuckte zusammen. Sie mußte wirklich in Gedanken versunken gewesen sein, denn sie hatte niemanden hereinkommen hören. Eine rauhe, kräftige, von Arbeit gerötete Hand erschien, und eine Suppentasse wurde ohne weiteres Zeremoniell vor Emmie auf den Tisch gestellt. Sie blickte auf und sah Remana vor sich, die Mutter von Yanis, dem Anführer der Nachtfahrer.
Die Frau zog sich die Bank auf der anderen Seite des Tisches heraus und ließ sich müde auf die harte hölzerne Sitzfläche fallen. Obwohl sie ebenfalls zum Umfallen erschöpft war, brachte sie ein ermutigendes Lächeln für das junge Mädchen zustande. »Hast du die Sache denn jetzt geregelt?« erkundigte sie sich und nahm vorsichtig einen Schluck aus ihrem eigenen dampfenden Becher. »Und warum hat Jarvas sich nicht darum gekümmert?«
Emmie zuckte mit den Schultern. »Es war ja nur eine von vielen Streitereien, was die Unterkunft betrifft«, erwiderte sie. »Jarvas hat geschlafen – ich habe ihn schließlich in einer Ecke gefunden, aber es sah so aus, als wäre er da, wo er saß, einfach umgekippt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu wecken – der Verlust seiner Zufluchtsstätte hat ihn hart getroffen. Ich habe es geschafft, die undankbaren Narren unterzubringen, und das ohne weiteres Blutvergießen.« Von irgendwoher schlich sich die Andeutung eines Lächelns auf ihre Lippen. »Glücklicherweise haben die Leute hier alle großen Respekt vor Sturm.«
Die Hündin, die ihren Namen gehört hatte, winselte kurz auf, und Remana streichelte ihren breiten weißen Kopf. Dem Tier war die Berührung der fremden Hand nicht recht geheuer – aber es hatte bereits beschlossen, daß die Nachtfahrerfrau wohl in Ordnung sein mußte, da sie schließlich eine Freundin ihrer Herrin war. Langsam begann der buschige weiße Schwanz hin und her zu wackeln – dann tauchte eine große schwarze Nase an der Tischkante auf, um hoffnungsvoll Remanas Becher zu beschnuppern. »Immer schön langsam!« Remana kicherte und brachte ihre Suppe in Sicherheit. »Das ist das erste, was ich heute überhaupt zu essen bekomme!« Dann wandte sie sich wieder an Emmie. »Merk dir meine Worte, das Tier wird noch mal eine richtige Schönheit! Alles, was es braucht, ist ein bißchen Fleisch auf den Rippen …«
Emmie sah den Schatten eines Stirnrunzelns über Remanas Gesicht ziehen. »Das Problem ist – es wird nicht genug zu essen geben, nicht wahr?« wollte sie von der Nachtfahrerfrau wissen.
»Oh, wir werden schon zurechtkommen – mach dir da mal keine Sorgen.« Remanas fröhliche Worte konnten Emmie nicht im geringsten täuschen. »Und wie, bitte?« fragte sie unverblümt. Seit der zerlumpte Haufen von Flüchtlingen aus Nexis vor zwei Tagen angekommen war, hatten sich die Dinge im Versteck der Schmuggler vom Schlechten zum Schlimmeren gewandelt. Das geheime Netzwerk der Höhlen war den hungrigen und erschöpften Flüchtlingen zuerst wie ein Paradies erschienen, denn hinter ihnen lag das Entsetzen über den Angriff auf ihr Heim, der höllische Weg in die Freiheit durch die Abwasserkanäle unter der Stadt und die Kälte und Enge während ihrer gefährlichen Reise zu dem Schlupfwinkel der Nachtfahrer. Das Schiff, das sie benutzt hatten, war so überladen gewesen, daß bei jeder Welle die Gefahr bestand, daß die Dollborde überschwemmt wurden. Für die Nexianer jedoch war die Erleichterung über ihre Rettung nur von kurzer Dauer gewesen.
Gut und gern sechzig Leute aus der Stadt waren mit dem Leben davongekommen, und die Schmugglerhöhlen waren auf einen solchen Zustrom von Menschen nicht eingerichtet. Das Ergebnis war ein unglaubliches Chaos gewesen. Emmie, Remana und Jarvas, der Anführer der Flüchtlinge, hatten sich alle Mühe gegeben, ausreichend Platz zu finden, um die Nexianer irgendwo unterzubringen, während die armen, ahnungslosen Schmugglerfamilien die Invasion mit Entsetzen betrachteten. Um ehrlich zu sein, konnte Emmie ihnen kaum einen Vorwurf machen. Die Flüchtlinge besaßen nichts als die Lumpen, die sie am Leib trugen, und jeder einzelne von ihnen stank nach den Abwasserkanälen, durch die ihr Weg sie geführt hatte. Man mußte zusehen, daß sie ein Bad nehmen konnten und etwas zu essen erhielten, und die überlasteten sanitären Einrichtungen der Höhle, die auf das zweimal tägliche Anschwellen der Flut angewiesen waren, wurden schnell für alle unerträglich. Aber das schlimmste waren die Krankheiten.
Emmie seufzte und bedauerte zum tausendsten Mal, daß sie gezwungen gewesen waren, durch die Kanalisation zu fliehen. Es war wohl unvermeidbar gewesen, daß ihre Leute, wenn man ihren unterkühlten und halb verhungerten Zustand bedachte, eine leichte Beute für alle Seuchen waren, die in diesem schmalen stinkenden Tunnel unter dem Erdboden gediehen. Die meisten der Nexianer waren bereits von Gram und Entbehrungen schwer gezeichnet – denn es gab keine einzige Familie mehr, die nicht einen oder mehrere geliebte Menschen während des entsetzlichen Blutbads verloren hatten, das die Stadtwachen in ihrem Lager angerichtet hatten. Und viele von Jarvas’ Flüchtlingen zählten zu den besonders anfälligen Gruppen, die nicht in der Lage gewesen waren, sich selbständig in der Stadt zu helfen – die Alten, die ganz Jungen, die, die verkrüppelt waren oder unfähig zu arbeiten – und vor allem natürlich jene, die bereits an einer Krankheit litten.
»Verdammt!« Emmie schlug mit der Faust auf den Tisch und biß sich auf die Lippen, um nicht in Tränen der Erschöpfung und des Zorns auszubrechen. Seit dem Verlust des Arztes Benziorn bei dem Angriff auf die Zufluchtsstätte der Flüchtlinge war Emmie die einzige in Nexis gewesen, die überhaupt noch etwas von Heilung verstand. Mit Unterstützung von Remanas Kräuterweibern war sie während der vergangenen sechsunddreißig Stunden pausenlos auf den Beinen gewesen, hatte sich um die Kranken gekümmert und den anderen die wenigen Vorsichtsmaßnahmen erklärt, die ihnen noch blieben, um eine weitere Ausbreitung der Krankheiten zu verhindern – und natürlich hatte sie sich um die Bestattung der Toten gekümmert. Die vierzehn Leichen, von denen drei mitleiderregend klein waren, waren an diesem Abend mit dem Schiff hinausgebracht und im Meer versenkt worden. Diese vierzehn toten Menschen waren der endgültige Beweis für Emmies Scheitern – und das war es, was sie am meisten schmerzte.
»Tu das nicht.« Remanas starke Hand schloß sich um die ihre. »Du kannst nicht die Lasten aller Menschen auf deine Schultern nehmen, Mädchen. Irgendwie werden wir diese Krise überstehen.«
»Diejenigen, die sie überleben.« Emmie erkannte die dumpfe, niedergeschlagene Stimme kaum als ihre eigene.
»Was die meisten von ihnen tun werden – du wirst schon sehen«, erwiderte Remana energisch. »Die meisten von denen, die gestorben sind, waren alt, Schätzchen, und schon fast am Ende ihrer Tage angelangt. Und die Kleinen, nun, welche Chance hätten sie denn in Nexis gehabt, so wie die Dinge heutzutage liegen? Was zählt, ist nur, daß du ihnen diese Chance überhaupt gegeben hast, Emmie – du und Jarvas. Was die anderen betrifft – nun ja, es sieht so aus, als hätten sie dank deiner Pflege das Schlimmste hinter sich. Denk nicht zuviel über die wenigen nach, die du verloren hast. Denk statt dessen an die vielen, die du gerettet hast.«
»Vielen Dank, Remana.« Emmie drückte der älteren Frau dankbar die Hand. »Das hilft mir sehr – aber was können wir für die Überlebenden tun? Es ist unmöglich, sie alle mit Nahrung und Kleidern zu versorgen, und ich weiß, daß deine eigenen Leute dir wegen der zunehmenden Platzprobleme Schwierigkeiten machen …«
»Mit meinen eigenen Leuten habe ich schon ein Wörtchen geredet, vielen Dank!« erwiderte Remana düster, »und das ist das letzte, was wir zu diesem Thema zu hören bekommen, möchte ich meinen! Ich habe dafür gesorgt, daß zusätzliche Fischerboote rausfahren, um unsere knappen Vorräte ein wenig aufzubessern …« Einen Augenblick lang hellte sich ihr Gesicht auf. »Was für ein Segen doch dieser plötzliche Wetterumschwung ist! Bei den Göttern, es hat mich wirklich ermutigt, endlich wieder einmal die Sonne zu sehen!«
»Wetter?« Emmie runzelte überrascht die Stirn.
»Was? Du meinst, du hast während der vergangenen zwei Tage nicht ein einziges Mal deine Nase nach draußen gesteckt? Du hast es nicht einmal gesehen?« rief Remana aus. »Aber es ist doch ein Wunder geschehen, Mädchen. Es ist wieder Frühling!«
Emmie schüttelte ungläubig den Kopf. Es schien so lange her zu sein … Nach so vielen Monaten Schnee und Kälte und schrecklicher Dunkelheit konnte sie sich kaum daran erinnern, was Frühling eigentlich war.
»Warte nur bis morgen früh«, sagte Remana zu ihr. »Warte, bis du es mit eigenen Augen siehst. Ich nehme dich zu einer Segelpartie mit hinaus – das wird dir gut tun.«
»Aber ich kann nicht!« rief Emmie. »Ich muß …«
»Du mußt überhaupt nichts!« schnauzte Remana. »Morgen wirst du dich ausruhen, mein Mädchen! Wir haben hier alles unter Kontrolle«, fuhr sie ein wenig leiser fort, » … oder werden es zumindest bald haben. Überlaß das ruhig mir. Morgen schicke ich einen Boten zu meiner Schwester Dulsina, die bei den Rebellen im Tal der Lady Eilin ist. Sie haben viel größere Vorräte als wir und können uns sicher mit zusätzlichen Nahrungsmitteln aushelfen. Ich habe mir überlegt, daß wir deine noch gesunden Nexianer – diejenigen, die noch immer in der Lage sind, eine Waffe zu führen, und alle, die mit ihnen gehen wollen – zu ihnen schicken. Das sollte uns hier genug Platz verschaffen, um mit den übrigen fertig zu werden. Was hältst du davon?«
»O Remana – ich danke dir!« rief Emmie. Das Gewicht der Sorgen, das sich mit einem Mal von ihren Schultern gehoben hatte, schenkte ihr das Gefühl, wie auf Wolken zu schweben. »Was würden wir ohne dich nur tun?«
»Ich weiß nicht, was du ohne mich getan hättest, aber ich weiß, was du für mich tun wirst«, erwiderte die Nachtfahrerfrau energisch. »Als allererstes wirst du jetzt etwas Kräftigeres als Suppe zu essen bekommen, dann wirst du ein Bad nehmen – und dann gehst du in mein Zimmer, wo du dich ins Bett legen und in aller Ruhe ausschlafen wirst. Ist das klar?«
Emmie nickte dankbar. »Ja – ich glaube, ich könnte jetzt schlafen«, sagte sie. Aber trotz ihrer Beteuerungen mußte sie, als sie erst einmal unter der dicken Decke in Remanas warmem Bett lag, die weiße Hündin an ihrer Seite zusammengerollt, feststellen, daß es mit dem Schlafen nicht so einfach werden würde. Jetzt, da ihre Gedanken nicht länger um die praktischen Probleme der Unterbringung ihrer Leute kreisten, konnte sie nicht umhin, an jene zu denken, die den Angriff nicht überlebt hatten. So viele waren gestorben – Menschen, die sie gekannt und gemocht hatte. Der arme Benziorn, ihr Mentor und Lehrer in den heilenden Künsten, war verschwunden und wahrscheinlich nicht mehr am Leben … Und die arme Tilda … Mit einem Schaudern erinnerte sich Emmie an das Schwert, das den Bauch der Straßendirne durchbohrt hatte, so daß sich ihre Gedärme über dem blutbefleckten Boden ergossen hatten. Und was war aus Tildas kleinem Sohn Grince geworden? Er war in das brennende Lagerhaus zurückgelaufen, um Sturms Welpen zu retten, ohne zu ahnen, daß die kleinen Hündchen bereits tot waren … Emmie unterdrückte ein Schluchzen. Sie hatte den Jungen binnen kurzer Zeit so lieb gewonnen, aber es schien kaum Hoffnung zu geben, daß er noch lebte. Und selbst wenn er das Inferno im Lagerhaus überlebt hatte, war es wohl unwahrscheinlich, daß ein zehnjähriges Kind dem Gemetzel auf dem Vorhof unversehrt entkommen sein konnte.
Emmie hatte schon so viele Menschen verloren, die sie geliebt hatte – ihr Mann und ihre beiden eigenen Kinder waren vor einigen Monaten während der Raubzüge des Erzmagusch ermordet worden, mittlerweile hätte sie eigentlich keine Tränen mehr übrig haben dürfen. Aber während sie nun allein in der Dunkelheit lag, klammerte sich Emmie zum Trost an die weiße Hündin und weinte um den zerlumpten kleinen Jungen, der nie im Leben eine Chance gehabt hatte. Keinen Augenblick glaubte sie daran, daß sie ihn jemals lebendig wiedersehen würde.
Nach Einbruch der Dunkelheit war die Große Arkade in Nexis ein unheimlicher Ort. Die riesigen Säulenhallen, einst das pulsierende Herz des nexianischen Handels, waren jetzt nur noch ein Schatten ihrer früheren Pracht. Viele der ungezählten Geschäfte und Läden waren in den schwarzen Tagen von Miathans Herrschaft verlassen worden, und die endlosen Reihen kristallener Globen, die einst ein goldenes Licht erfüllte, waren dem Erlöschen nahe oder hatten sich bereits vollends verdüstert. Die Gänge und Gäßchen, durch die in glücklicheren Tagen Heerscharen von Füßen getappt waren, lagen jetzt still und in tiefe Schatten getaucht. Spinnen woben ihre seidenen Fallen, ohne dabei gestört zu werden, und die Stille wurde nur von dem huschenden Schritten der Küchenschaben und Ratten durchbrochen, die ihre nächtlichen Runden ungehindert fortsetzten – bis jetzt jedenfalls. Ein neuer Lumpensammler hatte sich in der Großen Arkade breitgemacht. Eine neue Gestalt, schweigsam wie die Schatten, schob sich durch die verlassenen Gänge, rasselte hier an einem Fensterladen, versuchte dort, ein Schloß zu öffnen, und verängstigte das Ungeziefer mit seinem menschlichen Geruch und seiner menschlichen Stimme. Sobald der Neuankömmling auftauchte, huschten Ratten und Insekten davon, um sich zu verstecken, unfähig zu begreifen, daß diese Störung ihrer friedlichen Existenz eine viel geringere Bedrohung war, als es den Anschein hatte – denn ihr Rivale war nur ein Kind.
Er mußte das Hündchen retten – das war der einzige Gedanke, der Grince während der letzten zwei oder drei oder vier Tage aufrechterhalten hatte – er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er nun schon davonlief und sich versteckte, voller Angst um sein Leben, den kleinen Hund in den versengten Fetzen seines Hemdes verborgen. Voller Entsetzen war er geflohen, nachdem die Soldaten die Herberge gestürmt hatten, die dem schroffen, häßlichen Jarvas gehörte – und er hatte nach Emmie gesucht, seiner besten Freundin auf der Welt, die ihm alle fünf Hündchen geschenkt hatte, die ihre große weiße Hündin geworfen hatte. Vier dieser kleinen Lebensfünkchen lagen jetzt tot in der ausgebrannten Ruine des Lagerhauses, das für so viele arme Familien zu einem Heim geworden war. Grince hatte jetzt nur noch den einen verzweifelten Wunsch, diesen letzten seiner Hunde zu retten – denn soweit er das beurteilen konnte, war der kleine Welpe das einzige lebende Geschöpf, das zu ihm gehörte. Emmie, wenn sie überhaupt noch lebte, war nirgends zu finden.
Die erste klare Erinnerung, die der Junge nach den Schwertern und dem Blut und den Flammen hatte, war Tageslicht, eine offene Küchentür, ein kleiner Brotlaib, der zum Abkühlen auf einem Tisch lag – und Hunger, schrecklicher, quälender Hunger und Durst. Er war in das Haus hinein- und wieder herausgeflitzt, bevor die Hausfrau Zeit hatte, sich von dem Feuer abzuwenden, das sie gerade schürte, während Grince seine Beute fest mit seiner schmutzigen Faust umklammerte. Die Frau war zu dick und unbeholfen gewesen, um ihn einzuholen, obwohl er sich gut an den Klang ihrer Verwünschungen und Flüche erinnerte, die ihn den ganzen Weg die Straße hinunter verfolgten, bis er um eine Ecke bog und eine Öffnung in einem Kellergitter fand, durch die er seine magere Gestalt mühelos hindurchzwängen konnte.
Grince würde nie vergessen, wie schwer es ihm jenes erste Mal gefallen war, sein Hündchen zu füttern. Das kleine Geschöpf war in seinen Fortschritten kaum so weit gediehen, etwas anderes als Muttermilch zu sich zu nehmen, und es war schon völlig entkräftet und matt vor Hunger. Trotzdem zeigte es nicht das geringste Interesse an den Brotkrumen, die er ihm vors Maul hielt. Der kleine Junge schauderte, wenn er sich daran erinnerte, wie nah er daran gewesen war, seinen kostbaren kleinen Freund zu verlieren. Wenn ihm nicht wieder eingefallen wäre, was Emmie ihm erzählt hatte, daß nämlich die Muttertiere das Essen für ihre Jungen vorkauten … Sobald er einen oder zwei durchgeweichte Brotklümpchen zwischen die winzigen Kiefer des Hündchens geklemmt hatte, schien es zu begreifen, um was es ging. Wie das Kind war es zum Überleben geboren.
Dieser Abend im Keller war der Wendepunkt für sie beide. Grince, der zwar noch immer unter Schock stand, nachdem er den verwüsteten Leichnam seiner Mutter in den Ruinen von Jarvas’ Herberge gesehen hatte, fand in der Fürsorge für den winzigen Hund einen neuen Lebenssinn. Hundewelpen brauchten eigentlich Milch, das wußte er, aber Milch war ausgesprochen rar in Nexis, und obwohl er lange und verzweifelt danach suchte, konnte er keine finden. Dann dachte er an Käse – würde das vielleicht auch gehen? Mittlerweile führte ihn seine Suche zu den weniger von Armut geprägten Haushalten im Norden der Stadt. In einer unbewachten Speisekammer fand er schließlich ein Stück Käse, nachdem er sich wie ein Schatten durch ein offenes Küchenfenster hatte gleiten lassen. Außerdem stand da ein Topf Haferbrei, der am Rande des Feuers bis zum Frühstück warm gehalten werden sollte. Auch den Brei stahl Grince, wobei er den heißen Griff des Topfes in einen Lumpen hüllte, bevor er ihn hochhob. Er hatte gestaunt, wie leicht es ging.
Auf der Suche nach einem Versteck, in dem er seine Beute genießen konnte, hatte der Junge ein hohes Fenster auf der Rückseite der Arkade entdeckt, dessen hölzerne Läden einen kleinen Spalt weit offenstanden. Es war schwierig gewesen, mit dem Hündchen, das er noch immer in den versengten Lumpen seines Hemdes versteckt hielt, dort hinaufzuklettern, und als noch schwieriger hatte es sich schließlich erwiesen, den Topf mit dem Haferbrei hinaufzubekommen, ohne den Inhalt zu verschütten. Aber Grince, durch Not erfinderisch geworden, hatte schließlich alles geschafft und sich zu guter Letzt stöhnend und fluchend über das Fenstersims geschwungen. Vor der Fensteröffnung befand sich eine Reihe von Metallstangen, aber die Zwischenräume waren gerade breit genug für einen kleinen mageren Jungen, der sich hindurchquetschen wollte.
Grince war auf der anderen Seite der Mauer schwer zu Boden gefallen; sein Sturz war deshalb so unbeholfen gewesen, weil er versuchte, sowohl seinen kostbaren kleinen Hund als auch den Inhalt des Haferbreitopfes zu schützen. Glücklicherweise waren die Steinfliesen auf dem Fußboden mit einer dicken Schicht staubigen Strohs bedeckt gewesen, das den Fall ein wenig milderte. Trotz seiner Sorgfalt machte ihn seine harte Landung jedoch für einen Augenblick atemlos, und ein Teil des erstarrten Breis schwappte über den Rand des Topfes. Grince fluchte und löffelte mit einem schmutzigen Finger einen Breiklumpen, der immer noch am Rand klebte, zurück in den Topf. Dann steckte er seine Finger in den Mund, und plötzlich wurde ihm klar, wie hungrig er war. Er hätte den ganzen Topf leer essen können, hielt sich aber mit Mühe zurück. Der Brei war für das Hündchen bestimmt.
Das Hündchen! Hatte es den Sturz gut überstanden? Mit zitternden Händen öffnete Grince sein Hemd und untersuchte das kleine Geschöpf, wobei er es in das schwache Licht hielt, das durch das Fenster über ihm fiel. Als der kleine Hund die kalte Luft auf seinem Körper spürte, stieß er ein klagendes Wimmern aus, aber davon abgesehen schien es ihm gut zu gehen. Grince war sicher, daß das kleine Tier ebenfalls hungrig war. Er mußte einen sicheren Ort für sie beide finden, an dem sie sich verstecken konnten …
Die leisen, raschelnden und scharrenden Laute im Stroh, die die Anwesenheit von Ratten verrieten, hatte der Junge bereits vernommen. Grince konnte ihre leuchtenden kleinen Augen in der Dunkelheit vor sich sehen, konnte sehen, wie sie ihn beobachteten. Er hatte keine Angst vor ihnen, sagte er sich mutig. Immerhin hatte es zu Hause auch immer Ratten gegeben. Aber das Hündchen war in tödlicher Gefahr, und die Ratten würden mit dem ohnehin geringen Essensvorrat des Jungen kurzen Prozeß machen. Grince ließ seinen Plan fallen, den Breitopf in einer Ecke stehen zu lassen, während er das Haus erkundete. So sperrig er auch sein mochte, er würde den Topf mitnehmen müssen. Was er für den Anfang wirklich brauchte, war ein Kerzenstummel – und ein guter, kräftiger Stock würde auch nichts schaden! »Komm mit, Hündchen«, sagte der Junge zu seinem kleinen Kameraden. Dann umklammerte er mit festem Griff den Henkel des Breitopfes und machte sich in der Finsternis auf den Weg.
Das Innere des Hauses war zu dunkel, um es auszukundschaften. Grince hatte noch keine drei Schritte getan, als er schon gegen eine hölzerne Wand lief. Er trat einen kleinen Schritt nach links und wäre um ein Haar über einen Haufen von Kisten und Kästen gestolpert, die sich dort türmten. Der Junge unterdrückte einen Fluch und strahlte plötzlich übers ganze Gesicht, als ihm eine Idee kam. Er bückte sich und begann, sich durch den unordentlichen Stapel hindurchzugraben. Und da, direkt in der Mitte, fand er endlich sein Versteck in einem alten Mehlfaß, das die Ratten nur aus einer Richtung erreichen konnten – und mit einem Holzbrett, das er von einer kaputten Lattenkiste herunterzog, würde er sie leicht fernhalten können. Zum ersten Mal seit einer ganzen Ewigkeit hatte Grince einen Zufluchtsort, an dem er sich beinahe sicher und geborgen fühlte – einen Platz, an dem er darangehen konnte, Pläne für sein Überleben zu schmieden.
»Hab keine Angst, Kleiner – ich passe schon auf dich auf.« Obwohl Grinces Worte an das kleine Hündchen gerichtet waren, das noch immer unter den Lumpen seines Hemdes kauerte, waren sie doch auch ein verzweifelter Versuch, sich selbst zu trösten. Der kleine Junge war erschöpft und hungrig, er war ganz allein in der Kälte und Dunkelheit dieses fremden, riesigen, unheimlichen Hauses, und es gab niemanden mehr in seiner ganzen kleinen Welt, an den er sich um Hilfe wenden konnte.
Sie waren alle tot. Grince schloß die Augen und erschauerte. Sein Geist versuchte noch immer verzweifelt, sich vor der brutalen Wahrheit zu schützen. Wieder einmal überfiel ihn der Impuls zu laufen – zu laufen, wie er gelaufen war seit dem Tag, an dem sein junges Leben in Blut und Flammen aufgegangen war. Aber Grince war nun schon zu lange vor der Wahrheit davongelaufen. Er hatte jetzt ein gutes Versteck gefunden, und er hatte genug Verstand, um zu wissen, daß er hierbleiben sollte. Die Arkade bot Schutz vor den Gefahren und der Gewalttätigkeit des dreckigen Hafenviertels. Sie würde ihn vor Wind und Wetter beschützen und vor den brutalen Wachen, deren Schwerter das Blut seiner einzigen Beschützer getrunken hatten. Hier würde er auch mit einigem Glück ab und zu etwas zu essen stehlen können und eine Art Frieden finden, der es ihm ermöglichte, sich um seinen kleinen Kameraden zu kümmern.
Grince befand, die beste Möglichkeit gegen den drohenden Tränenstrom zu kämpfen, bestünde darin, sich um sein Hündchen zu kümmern, das unter seinem Hemd zitterte und vor Hunger wimmerte. Es war eine schreckliche Angelegenheit, in der Dunkelheit den Brei in den winzig kleinen Mund hineinzustopfen, und als der Junge fertig war, hatte er das Gefühl, das klebrige Zeug am ganzen Körper zu haben – zumindest den Teil, der nicht in dem weißen Pelz des kleinen Hundes steckte. Immerhin schien das Hündchen jetzt zufrieden zu sein. Grince konnte das leise, gleichmäßige Seufzen seines Atems hören, als es einschlief. Schließlich verbarg der Junge es wieder unter seinem Hemd, wo das Tier es warm haben würde. Dann schob er den Breitopf an die Rückseite des Fasses, damit die Ratten nicht an den kleinen Rest, der noch übrig war, heran konnten, ohne es vorher mit ihm aufnehmen zu müssen.
Als ihm jetzt sein eigener Hunger wieder einfiel, angelte er ein zerquetschtes, schäbig aussehendes Käsebröckchen aus seiner Tasche und biß hinein. Dann wand und krümmte er sich unbeholfen in dem engen, gewölbten Faß, um eine bequeme Lage zu finden, nahm seinen Stock in die Hand, schmiegte sich beschützend um den pelzigen kleinen Leib seines Hündchens und befahl sich, einzuschlafen. Dieser Ort war so sicher wie jeder andere auch, und am Morgen, sobald es heller Tag war, würde er das Haus ein wenig auskundschaften …
Grince erwachte schreiend aus einem Alptraum. Das Tor der Herberge war niedergerissen, und das Lagerhaus wurde von einer tosenden Feuersbrunst verzehrt. Menschen rannten durcheinander, schrien … Überall waren Soldaten, ihre langen, scharfen Klingen glitzerten blutrot in dem Licht der Flammen und sogen durstig immer mehr Blut in sich auf. Überall waren Leichen, lagen im Schmutz wie zerbrochenes Spielzeug. Und da war auch Grinces Mutter, flach ausgestreckt, wo sie gefallen war, aufgeschlitzt wie ein geschlachtetes Tier, während die Soldaten mit ihren grimmigen Gesichtern und ihren Schwertern immer weiter und weiter mordeten … Grince wimmerte, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, während sich vor seinem inneren Auge Schwerter, Feuer und Tod die Hand reichten … Er hockte sich in seinem Faß hin, als wolle er die Wachposten mit ihren scharfen Klingen abwehren – bis er plötzlich ein scharfes, gequältes Bellen aus seinem Hemd hörte.
Dieser Laut riß Grince schlagartig aus allen Alpträumen heraus. Das Hündchen – um ein Haar hätte er ihm weh getan! Während er noch mit sich ob seiner Dummheit haderte, ließ der Junge eine zitternde Hand in sein Hemd gleiten. Eine weiche, pelzige Gestalt schmiegte sich mit freudigem Winseln an seine Finger, und eine winzige Zunge leckte ihm die Hand. Tief in seinem Innern spürte Grince einen warmen Schauder der Freude, der auch noch die letzten Fetzen seines Alptraums zu vertreiben half. Ja wirklich, das Tier kannte ihn! Und eigentlich, dachte er, sollte es auch einen Namen haben … Wie er da in der Dunkelheit hockte und seine Hand immer noch das warme, trostspendende Fell des kleinen Hundes liebkoste, dachte Grince über die verschiedenen Möglichkeiten nach. Es mußte irgendwie ein besonderer Name sein. Das war immerhin sein Hund, und er verdiente etwas Besonderes. Zusammengekauert in der Dunkelheit, zermarterte sich der Junge das Gehirn nach einem passenden Namen – einem perfekten Namen –, aber ohne jeden Erfolg. Eine Möglichkeit nach der anderen wurde verworfen, weil sie eben doch nicht ganz richtig war. Doch immerhin lenkte diese Beschäftigung von Kälte und Hunger ab, von Einsamkeit und mitternächtlichem Grauen …
Tief in Gedanken versunken, streichelte Grince den drahtigen Körper des kleinen Welpen. Eigentlich war er gar nicht so klein, überlegte er. Er war ihm nur so klein erschienen, weil er ihn früher mit der ungeheuren Größe seiner Mutter verglichen hatte. Außerdem war er der größte der Welpen gewesen und hatte riesige Ohren und Füße, dachte er stolz. Emmie hatte ihm erzählt, die Füße seien deshalb so groß, damit das Hündchen in sie hineinwachsen konnte. Und eines Tages, hatte sie gesagt, würde es genauso groß werden wie ihr eigener weißer Hund. Wo mochte Emmie jetzt sein? Ohne zu begreifen, was mit ihm geschah, versank der Junge von neuem in den Schauervisionen der Herberge. Wieder waren die Soldaten mit ihren brutalen Schwertern da – nur daß Grince diesmal nicht allein war. An seiner Seite stand ein riesiger weißer Hund – sein weißer Hund, der jetzt ganz erwachsen war. Mit einem wütenden Fauchen sprang er die Soldaten an, zerrte mit seinen großen weißen Zähnen an den Männern, die mit ihren Schwertern nichts gegen ihn auszurichten vermochten. Schreiend vor Entsetzen liefen die Soldaten davon …
Da kam Grince wieder zu sich: unbequem in das staubige Faß geschmiegt und der große weiße Hund ein hilfloses Baby, das sich in das zerlumpte Hemd des Jungen kuschelte. Aber er wird nicht immer so klein bleiben, dachte Grince glücklich. Wenn ich jetzt gut auf ihn achtgebe, wird er so groß und stark wie seine Mutter, und dann wird er auf mich achtgeben! Und er wird ein besserer Kämpfer sein als all diese gemeinen Soldaten zusammen …
Plötzlich setzte sich Grince aufrecht und schlug mit dem Kopf an den gewölbten Deckel des Fasses. Der Schmerz des Stoßes konnte sein begeistertes Grinsen jedoch nicht beeinträchtigen. Natürlich. Das war’s! Das war der perfekte Name! Der kleine Junge zog sein Hündchen glücklich an sich. »Weißt du was?« fragte er es. »Ich werde dich Krieger nennen.« Dann schlief Grince endlich mit einem Lächeln auf den Lippen ein, eingehüllt in das sichere Wissen, daß ihn sein weißer Hund vor seinen Träumen beschützen würde.
Hoch über dem schlafenden Nexis, auf dem Felsen, von dem aus man einen Blick auf die Überreste der einstmals so stolzen Stadt hatte, fingen die weißen Mauern der Akademie das Mondlicht ein und verwandelten es in ein unheimliches Glitzern. Ein Betrachter, der die Akademie von den niedereren Unterkünften der Stadt aus beobachtete, hätte aus der Ferne meinen können, das Heim der Magusch sei immer noch unverdorben und vollkommen – bis auf die Stelle, an der der gewaltige Wetterdom eingestürzt war. Wenn man die Dinge jedoch von einem Standort innerhalb der Mauern betrachtete, sahen sie ganz anders aus.
Ist das immer so? überlegte Miathan, während er vorsichtig über die schmutzigen, rissigen Pflastersteine des Hofes schlurfte. Ist stets alles anders, wenn man es von der anderen Seite betrachtet? Der Erzmagusch ermüdete immer noch leicht, denn die lange Zeit, die er in einem anderen Körper zugebracht hatte, hatte ihn ungeheure Kräfte gekostet – ganz zu schweigen von den übermenschlichen Anstrengungen, die nötig waren, um sich wieder in seinen eigenen Körper zurückzukatapultieren, nachdem seine Schachfigur Harihn, deren Gestalt er sich geborgt hatte, niedergemetzelt worden war.
Als er den vom Mondlicht versilberten Hof halb überquert hatte, machte Miathan eine kurze Pause, um sich auszuruhen, und setzte sich auf den alten Steinrand des Springbrunnens, dessen sprudelnde Wasser mit ihrem fröhlichen, plätschernden Lied schon lange verstummt waren. Ein bitteres Lachen verzerrte Miathans Lippen. Dies war wahrlich ein passender Thron! Endlich hatte er sein ehrgeiziges Ziel erreicht – seine Herrschaft über die Sterblichen in der Stadt war absolut, so wie er es sich immer gewünscht hatte – und sein Sieg war so hohl und leer und schal wie die geborstene Ruine des einst so gewaltigen Wetterdoms.
Wie schön es früher hier doch war, dachte der Erzmagusch. Es hatte eine Zeit gegeben, da war die Akademie voller Leben und Bewegung, während die Magusch hin und her huschten, ganz auf die Frage konzentriert, wie sie ihre Zauberkräfte vervollkommnen konnten. Überall hatten sich Diener zu schaffen gemacht, die unter Elewins strengem Blick schrubbten und kehrten und das Gebäude in all seiner Pracht am Leben hielten … In jenen Tagen hatten hier Stolz und zielgerichtetes Streben geherrscht, überlegte Miathan. Nicht nur das Streben und der Stolz eines einzigen ehrgeizigen Magusch, sondern das Streben und der Stolz vieler Leute, die ihren jeweiligen Geschäften nachgingen … All die Arbeit, die Persönlichkeiten, die Hoffnungen und Träume dieser Magusch hatten sich vereint, um der Akademie ein Leben und einen Geist einzuhauchen, die einzigartig waren – und er, der Erzmagusch, hatte, getrieben von seiner Gier, die größere Welt in seinen Besitz zu bringen, den Ort der Zerstörung preisgegeben, über den er rechtmäßig herrschte. Es war, als hätte er nach einem Regenbogen gegriffen – und nur eine Handvoll Regen erwischt, der ihm jetzt auch noch durch die Finger rann und im Nichts verschwand.
Der Erzmagusch ließ seinen vielfachen prismatischen Blick, den ihm die Juwelen verliehen, die seine Augen ersetzten, über den Hof der Akademie gleiten. Die perlweißen Gebäude, die einst so makellos und sauber gewesen waren, wurden nun von dunklen Moosflecken und schleimigem Moder überwuchert. Das aus Glas und Eisen errichtete Gebäude, das den Pflanzenraum beherbergte, war geschmolzen und hatte sich in der Hitze der Explosion des Wetterdoms völlig verzogen. In seinen Rissen breitete sich zählebiges Unkraut aus. Die Fenster der Großen Halle und des Maguschturms waren gesprungen und von einer Schmutzschicht überzogen, und von dem Dach der Bibliothek lösten sich die Deckenfliesen und hinterließen klaffende Löcher, die die unbezahlbaren Werke den Zerstörungskräften von Schmutz und Feuchtigkeit preisgaben.
Miathan erschauderte. »Ich habe nicht gewollt, daß so etwas passiert«, flüsterte er. Dann verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Um der Macht willen hatte er so viel geopfert, daß er diese jetzt behalten mußte, koste es, was es wolle. Dennoch war er unfähig, den Anblick des verlassenen, von Erinnerungen heimgesuchten Hofs auch nur noch einen Augenblick länger zu ertragen. Also zog er sich die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht, als könne er das Bild, das sich ihm bot, auf diese Weise auslöschen. Dann stand er hastig auf und begab sich auf den Weg in die tröstlicheren Gefilde seines Gartens.
Von ihrem Fenster im Maguschturm konnte Eliseth die gebeugte Gestalt über den Hof humpeln sehen. Miathan wirkte ganz wie der alte Mann, der er in Wirklichkeit war. Sie lächelte. Die Hände, mit denen der Erzmagusch die Zügel der Macht festhielt, wurden also endlich schwächer. Bald – schon sehr bald – würde die Reihe an ihr sein, und es war Zeit, einen Teil ihrer Pläne in die Tat umzusetzen. Sobald Miathan in seinem Garten verschwunden war, ging sie wieder in ihr Gemach und holte ihre Kristallkugel hervor. Mit diesem neuen, irgendwie kleiner gewordenen Miathan würde die Wettermagusch leicht fertig werden. Den größten Teil der Arbeit hatte Aurian für sie erledigt. Als erstes mußte Eliseth jedoch herausfinden, was diese, ihre eigentliche Feindin im Schilde führte.
Mitten im Zimmer blieb Eliseth, die noch immer die glitzernde Kristallkugel auf ihrer Handfläche balancierte, stehen und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Das Hellsehen gehörte nicht zu ihren natürlichen Fähigkeiten und würde deshalb ungeheure Konzentration und Anstrengung erfordern, wollte sie Aurian – ganz zu schweigen von diesem unverschämten Anvar – nicht auf sich aufmerksam machen. Es war eine Frage ihrer eigenen Sicherheit. Miathan hatte seine Augen verloren, als Aurian – auf dem Weg durch eine Hellseherkugel – seinen Schlag parierte. Diese Lektion hatte sich die Wettermagusch zu Herzen genommen. »Ich brauche mehr Macht«, murmelte Eliseth bei sich. »Genug Macht, um Aurian zunächst einmal zu finden und zu erreichen – und genug Macht, um mich dann vor ihr zu schützen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. »Wie überaus günstig, daß sich gerade jetzt eine solche Quelle magischer Energie hier im Maguschturm befindet.« Mit energischen Schritten verließ sie ihre Gemächer und stieg nach oben, zu Vannors Gefängnis.