4 Eine ausgebrannte Ruine

»Es ist hoffnungslos«, murmelte Yanis. »Wenn das so weitergeht, werden wir Vannor nie mehr finden.« Er trank ein wenig von seinem Bier und verschluckte sich fast. »Bei den Göttern – dieses Zeug schmeckt, als käme es aus einem Abort!«

»Das tut es wahrscheinlich auch. In der Stadt sind jetzt so viele Dinge knapp geworden, daß mich nichts mehr überraschen würde«, erwiderte Tarnal unglücklich und hoffte, den Anführer der Nachtfahrer auf diese Weise mit Hilfe der geringeren Sorge von der größeren abzulenken. Obwohl er sich an die Übellaunigkeit seines Freundes gewöhnt hatte, bereiteten ihm in letzter Zeit Yanis’ dauernde Anspielungen auf die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage große Sorgen. Er zweifelte daran, daß sich der Anführer der Nachtfahrer über das Ausmaß seiner Gefühle für Zanna bewußt war, aber was Tarnal anging – für ihn kam es überhaupt nicht in Frage, nach Hause zurückzukehren, bevor er sie gefunden hatte.

Der blonde junge Schmuggler seufzte und sah sich angewidert im Schankraum des Unsichtbaren Einhorns um. Es war kein Lokal, das besonderen Optimismus weckte, das mußte er sich eingestehen, während er naserümpfend den Gestank des schmutzigen, von Ungeziefer verseuchten Strohs auf dem Fußboden wahrnahm. Angeekelt betrachtete er die einstmals weißen Wände, die jetzt übersät waren mit Ruß und Fettflecken und Rostspritzern, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussahen. »Als Parric bei uns in Wyvernesse war, sagte er, dies sei seine Lieblingstaverne«, bemerkte er. »Nur gut, daß er sie jetzt nicht sehen kann.«

»Psst, du Narr!« Yanis sah sich mißtrauisch um, aber nur wenige von den anderen Gästen schienen sich in Hörweite aufzuhalten. »Um Himmels willen, posaun doch hier keine Namen aus! Hier wimmelt es nur so von den verfluchten Söldnern, die im Lohn von du weißt schon wem stehen, und du schreist dir die Kehle aus dem Leib …«

Tarnal spürte, wie sein Gesicht vor Verlegenheit blutrot wurde. »Aber du warst doch derjenige, der überhaupt hierherkommen wollte. Ich habe dir gleich gesagt, daß ich es für eine idiotische Idee halte. Und du hast außerdem damit angefangen, als du Va …«

»Wirst du wohl still sein!«

»Aber du hast doch …«

»Ja, na schön. Ich war unvorsichtig, tut mir leid«, sagte Yanis hastig. Tarnal bemerkte, daß sich mehrere Köpfe in ihre Richtung wandten, und schauderte. »Na komm, laß uns hier verschwinden. Was du auch denken magst, Yanis, es war eine dumme Idee, ausgerechnet in diese Taverne zu gehen.«

Die beiden Nachtfahrer stahlen sich hinaus auf die dunkle Straße und nahmen den Weg in den Norden der Stadt. Sie folgten einer Route, die durch die Hintergassen führte, hievten sich mühsam über Hofmauern und Zäune und kürzten ihren Weg durch leerstehende Gebäude ab, bis sie ganz sicher waren, daß ihnen niemand folgte. Endlich wechselte das Labyrinth zerfallender, rußverschmutzter Häuser über zu ordentlich in Reih und Glied stehenden neueren Häusern, deren Backsteinwände nach wie vor leuchtend weiß getüncht waren.

»Diese Straßen sehen für mich alle so verdammt gleich aus«, stöhnte Yanis, aber der jüngere Mann hatte sich die wenigen bemerkenswerten Unterschiede genau eingeprägt und war sich seines Weges völlig sicher.

»Hier entlang.« Tarnal bog scharf nach rechts ein, ging auf die Nordtore der Stadt zu und wählte dann einen Weg durch eine kleinere Gasse zu seiner Linken. Dann noch einmal scharf rechts, und sie standen vor der frisch geschrubbten Türschwelle von Hebbas Haus.

»Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst«, staunte Yanis kopfschüttelnd. Tarnal drückte die Holztür auf und versagte sich eine schroffe Antwort. Er konnte nur den Göttern dafür danken, daß der junge Schmugglerführer auf See besser zu Hause war als in der Stadt – ansonsten säßen die Nachtfahrer jetzt unangenehm in der Klemme. Immerhin war Yanis wenigstens auf die Idee verfallen, bei Hebba Zuflucht zu suchen, rief Tarnal sich ins Gedächtnis, denn er war immer darauf bedacht, jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wäre Hebba nicht gewesen, wer weiß, was dann aus uns geworden wäre!

Als die beiden jungen Männer nach Nexis gekommen waren, hatten sie mehrere, mit diskreten Nachforschungen angefüllte Tage damit zugebracht, Vannors alte Köchin zu finden. Begonnen hatten sie mit einem heimlichen mitternächtlichen Besuch im Dienerquartier des ehemaligen Wohnhauses des Kaufmanns und waren entsetzt gewesen, als sie herausfanden, daß es nun von dem korrupten, geldgierigen Gildeherrn Pendral bewohnt wurde, den der Erzmagusch, wie es hieß, vollends in der Tasche hatte und der sich schon auf seine Rolle als neues Oberhaupt der Händlergilde vorbereitete. Die meisten von Vannors ehemaligen Dienern waren bereits gegangen, aber der Bursche des Gärtners erinnerte sich noch an Hebba und glaubte, daß eine der jüngeren Küchenmägde – eine gute Freundin von ihm, wie er ihnen mit einem lüsternen Augenzwinkern versicherte – ihren jetzigen Aufenthaltsort kannte. Das Mädchen bediente jetzt in einer Taverne und würde morgen dort zu finden sein. Und für den Fall, daß sie selbst Hebbas Adresse nicht kannte, würde sie sicher jemanden wissen, der das tat … Von einem Ort zum anderen hatte die Spur geführt, bis die beiden Männer die frühere Köchin schließlich im nördlichen Teil der Stadt entdeckten, im Haus ihrer Schwester, die zusammen mit ihren Kindern und ihrem Ehemann in der Nacht der Todesgeister gestorben war.

Hebba wußte noch, daß Yanis der Neffe von Vannors Haushälterin Dulsina war, aber zum Glück für ihr Nervenkostüm hatte sie keine Ahnung von der Verbindung der beiden Männer mit den legendären Schmugglern. Als sie ihr erzählten, daß sie auf der Suche nach ihrer geliebten Zanna seien, war sie mehr als bereit gewesen, ihnen Zuflucht zu gewähren, und außerdem hatte sie Angst davor, in diesen gewalttätigen Zeiten allein zu leben, und sehnte sich verzweifelt nach jemandem, den sie wieder bemuttern konnte. Sie hatte die beiden jungen Männer mit offenen Armen willkommen geheißen, und wenn sie auch nur wenig besaß, gab sie doch großzügig davon ab.

Obwohl Hebba bereits zu Bett gegangen war, als Yanis und Tarnal nach Hause kamen, hatte sie ihnen doch einen kleinen Willkommensgruß in ihrer gemütlichen, fleckenlos sauberen kleinen Küche mit dem farbenprächtigen Teppich auf dem Fußboden hinterlassen. Leuchtende Kupfertöpfe funkelten unter den Balken der niedrigen Decke, und auf den Regalen blitzten blank gescheuerte Becher und Teller, die Hebba unbemerkt aus Vannors Haus hatte mitgehen lassen, als die Villa den Besitzer wechselte. Ein Topf mit dünner Suppe war zum Warmhalten an den Rand des Feuers gestellt worden – die letzten Überreste eines mageren Hühnchens, das die Männer vor drei Tagen auf einem ungenehmigten Raubzug durch Pendrals Ställe gestohlen hatten.

Die Nachtfahrer legten ihre Umhänge und Schwerter ab und setzten sich dankbar und mit randvollen Schüsseln ans Feuer. Eine kurze Zeit verging in hungriger und erwartungsvoller Stille. Obwohl die Suppe nicht sättigte, wärmte sie doch, und dank Hebbas beträchtlicher Kochkünste war sie obendrein köstlich. Der Gedanke daran, daß sie den früheren Besitzer des Federviehs zum Narren gehalten hatten, verlieh ihrem Mahl noch zusätzliche Würze.

Schließlich kratzte Yanis seine Schale mit dem Löffel aus und stellte sie weg. Eine Weile saß er stirnrunzelnd und nervös da, und hielt den Blick stier aufs Feuer gerichtet. »Hör zu«, brach es plötzlich aus ihm heraus, »um fortzuführen, was ich vorhin in der Taverne gesagt habe: Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht, und ich glaube nicht, daß wir noch länger hierbleiben dürfen. Ich sollte jetzt zu Hause sein, Tarnal. Als Anführer der Nachtfahrer habe ich meinem eigenen Volk gegenüber eine gewisse Verantwortung. Und außerdem, was für einen Sinn hätte es, noch länger zu bleiben? Wir werden Vannor niemals finden – genausowenig wie Zanna. Wir haben die Stadt jetzt seit Tagen durchkämmt, ohne ein Wort über die beiden zu hören oder auch nur die geringste Spur zu finden. Ich bin der Meinung, daß sie bereits entkommen sind, oder …« Plötzlich konnte er seinem Kameraden nicht mehr in die Augen sehen. »Oder sie sind tot.«

Kaltes Entsetzten ergriff Tarnal, dicht gefolgt von heißem Zorn. Er sprang auf die Füße, und sein Stuhl kippte mit einem lauten Krachen hinter ihm um. »Du Bastard! Zanna ist nicht tot!« schrie er. »Du elender verfluchter Feigling – du hast ja nur Angst, daß sie dich schnappen. Außerdem kannst du es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen, damit du die blondhaarige Hexe in dein Bett holen kannst, die wir gerettet haben und die dir so gut gefallen hat. Du machst dir überhaupt nichts aus Zanna. Und so was nennt sich Anführer? Wenn deine Mutter nicht wäre, würdest du …« Plötzlich tanzten nur noch funkelnde Sterne vor seinen Augen, denen düstere Schwärze folgte. Der Fausthieb hatte ihn mitten ins Gesicht getroffen.

Tarnal erhob sich taumelnd, und Yanis schlug abermals zu – aber diesmal war der jüngere Mann auf den Angriff gefaßt. Er wich einen Schritt zurück, prallte von der Wand ab und benutzte den Schwung, den er dadurch erhielt, um sich nach vorn zu stürzen. Sein Schlag ließ eine dunkelrote Fontäne aus Yanis’ Nase spritzen, und der Nachtfahrer konterte mit einem hinterhältigen Tritt nach Tarnals Knie. Der Kampf ging hin und her, durch die ganze Küche, begleitet von einem Tumult klirrender Töpfe und Pfannen und splitternden Geschirrs, bis Tarnal eine Öffnung in der Deckung seines Gegners erspähte und Yanis einen Hieb in den Magen versetzte. Der Schmugglerführer stürzte nach hinten auf den wackligen Tisch, der wie Zündholz unter ihm zerbrach und ihn mit sich zu Boden riß. Dann stürzte sich Tarnal mit geballten Fäusten auf ihn und konnte drei oder vier saubere Treffer verzeichnen, bevor Yanis sowohl seinen Atem als auch seinen Verstand wiederfand und ihm ein Knie in den Unterleib rammte. Tarnal krümmte sich in hilflosem Schmerz zusammen – und keuchte, als ihn ein Schwall kalten Wassers traf. Mit überquellenden Augen blickte er auf und sah Hebba mit einem Holzeimer in Händen über sich stehen. Ihr rundliches Gesicht war dunkelrot vor Zorn.

»Was habt ihr euch bei dieser Keilerei gedacht, ihr undankbaren, nichtsnutzigen Raufbolde? Seht euch nur an, was ihr mit meiner hübschen kleinen Küche angestellt habt!« Mit diesen Worten vertauschte sie den Eimer gegen ihren Besen und begann, auf die beiden jungen Männer einzudreschen, bis sie winselnd um Gnade baten. Und währenddessen stand ihre scharfe Zunge keinen Augenblick still.

»Ich weiß nicht … Ist das eure Dankbarkeit für die Freundlichkeit, mit der ich euch aus reiner Herzensgüte aufgenommen habe? Was würde deine arme Tante Dulsina dazu sagen … Bei dem Krawall, den ihr veranstaltet habt, hättet ihr uns noch die Stadtwache auf den Hals gehetzt … Und mein armer Tisch ist nur noch ein Haufen Feuerholz und das ganze gute Geschirr in Scherben gegangen … Es will schon etwas heißen, wenn zwei gesunde junge Männer wie ihr nichts Besseres im Sinn haben, als eine arme hilflose Witwe mit solcher Herzlosigkeit zu behandeln …«

Unaufhörlich tobte Hebba weiter, selbst nachdem ihr Ärger verraucht war und Tränen ihre Stimme zittern ließen. Sie schimpfte sogar noch, als sie ihren Schrank nach Zaubernuß und Weidenborke durchstöberte, um die Schrammen der beiden jungen Männer zu versorgen und ihre Prellungen in kaltem Wasser zu baden. Tarnal hatte sich beinahe wohler gefühlt, als sie mit dem Besen auf ihn eindrosch, obwohl er sich schämte und ihm ganz übel vor Gewissensbissen war, als er mit seinen rapide anschwellenden Augen die Zerstörung betrachtete, die Yanis und er im Zimmer angerichtet hatten.

»Ach, halt doch den Mund, Frau, um Himmels willen!« brüllte Yanis.

Tarnal blickte auf und sah, wie sich Hebbas Mund in der folgenden Stille in entsetzter Empörung öffnete. Der Schmugglerführer funkelte sie düster an. »Die Sache mit deiner Küche tut mir leid, Hebba«, murmelte er undeutlich durch aufgeplatzte Lippen. »Ich werde es dir eines Tages ersetzen, das verspreche ich. Aber jetzt muß ich aufbrechen.« Die letzten wütenden Worte waren an Tarnal gerichtet: »Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst – oder zur Hölle gehen. Das ist mir egal. Was mich betrifft, bist du kein Nachtfahrer mehr!« Mit diesen Worten riß er sein Schwert an sich und stampfte aus dem Haus.

Das Zuschlagen der Tür schien eine Ewigkeit durch die in Trümmern liegende Küche zu hallen. Für Tarnal, der immer noch unter dem Schock von Yanis’ Worten stand, war es der Todesstoß für das einzige Leben, das er je gekannt hatte. Schließlich nahm Hebba ihren ganzen Mut zusammen und brach das Schweigen, das dem Aufbruch des Schmugglers gefolgt war: »Hat er gesagt Nachtfahrer?«

Damit war die Sache gelaufen. Tarnal konnte nur unglücklich nicken.

»Und Dulsina wußte davon?« Hebbas Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Also wirklich!« sagte sie empört. »Was kommt denn noch alles?«

Tarnal wünschte nur, er hätte es ihr sagen können.


Es hatte angefangen zu regnen. Der tropfende, bleierne Himmel spiegelte wunderbar Yanis’ Laune wider, während der Nachtfahrer zitternd und schon jetzt ohne jede Orientierung durch das verwirrende Labyrinth leerer, schlammiger Straßen stapfte. Sein Ärger schmolz bereits dahin, als hätte der unerbittliche Regen ihn weggewaschen. Sein schlechtes Gewissen jedoch reichte aus, um ihn vorwärtszutreiben. Er konnte unmöglich zurückgehen und Hebba und seinem früheren Freund nach allem, was er getan hatte, ins Gesicht sehen … Zaghaft betastete Yanis die pochenden Schwellungen auf seinem Gesicht, und kurz blitzte sein früherer Zorn wieder auf. »Dieser Mistkerl Tarnal!« brummte er. »Es ist alles seine Schuld. Wie konnte er wagen, meine Autorität so in Frage zu stellen?« Yanis’ Stolz war es, der ihm den letzten Stachel ins Fleisch trieb. Was? Jetzt zurückkehren und sich bei dem kleinen Scheißer entschuldigen? Warum sollte ich? dachte er. Ich war keineswegs im Unrecht. Ich bin der Anführer der Nachtfahrer. Ich gehöre nach Hause zu meinen Leuten – ganz besonders in diesen harten und gefährlichen Zeiten. Und, piesackte ihn eine lästige kleine Stimme in seinem Innern, es gibt außer Tarnal noch viele Leute zu Hause, die deine Fähigkeiten als Führer bezweifeln. Wenn du deine Autorität wahren willst, solltest du besser schleunigst heimkehren, um sie zu verteidigen.

»Das Schlimme ist nur, daß meine Mutter mir die Haut abziehen wird, wenn ich ohne Zanna zurückkomme«, stöhnte Yanis. Allerdings gab es nichts mehr, was er in dieser Angelegenheit hätte unternehmen können, versuchte er sich einzureden. Hatte er nicht in der ganzen Stadt nach ihr gesucht? Was erwartete man denn noch alles von ihm? »Nein – ich gehe nach Hause, und damit hat sich’s.« Die Tatsache, daß er laut sprach, half ihm, seine schwindende Entschlossenheit zu stärken. Jetzt mußte er nur noch die Orientierung wiederfinden.

Zum ersten Mal, seit er Hebbas Haus den Rücken gekehrt hatte, begann Yanis, auf seine Umgebung zu achten. Die Gebäude in der schmalen Straße waren immer noch dieselben verfluchten Dinger aus Backstein und Gips, obwohl ihm plötzlich aufging, daß er sich eigentlich bereits in dem älteren Teil der Stadt hätte befinden müssen. »Diese verdammten Häuser«, murmelte er angewidert. »Ich muß im Kreis gegangen sein.« Er blieb einen Augenblick stehen, sah sich um und versuchte ohne Erfolg, einen Orientierungspunkt zu finden. Verzagt mußte er sich eingestehen, daß im Augenblick die lange Heimreise das geringste seiner Probleme darstellte. In seinem Wutanfall hatte er nichts aus dem Haus mitgenommen als den Umhang, den er am Leibe trug, und schon jetzt war er so durchgefroren, daß ihm die Zähne klapperten. Verzweifelt sehnte er sich nach Wärme und einem Dach über dem Kopf – aber da er sich so gründlich verirrt hatte, hätte er jetzt nicht mehr zu Hebba zurückkehren können, selbst wenn er es gewollt hätte. Die verriegelten Türen und die fest geschlossenen Fensterläden der Häuser um ihn herum starrten ihn mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern an. Bei der ungeheuren Gewalttätigkeit, die im Augenblick in Nexis herrschte, würden die Leute einem Fremden nach Einbruch der Dunkelheit kaum die Türen öffnen. Yanis stieß einen leisen Fluch aus. Es hatte keinen Sinn, einfach hier herumzustehen und immer nasser zu werden – nicht, daß er jetzt überhaupt noch nasser werden konnte, dachte er säuerlich. Schulterzuckend marschierte er also wieder weiter. Eine andere Wahl blieb ihm nicht.

Nach einer Weile faßte der Nachtfahrer jedoch neue Hoffnung, als er ans Ende einer Straße stieß, die von einer zweiten gekreuzt wurde: einer Straße, die zu seiner Linken steil hügelabwärts führte. Den Göttern sei gedankt! Yanis atmete erleichtert auf. Jetzt mußte er nur noch immer bergab laufen, dann würde er gewiß in den älteren Teil der Stadt gelangen. Vielleicht würde er dann auch seine Orientierung wiederfinden, unten, zwischen den verlassenen Lagerhäusern und den verfallenen Gebäuden in der Nähe des Hafens, die ihm außerdem auch ein Dach über dem Kopf bieten würden.

Yanis lief durch die einsamen Straßen, hielt den Kopf gesenkt und die Augen auf die trügerisch schlammigen Pflastersteine gerichtet und war immer sorgsam darauf bedacht, nicht auszurutschen, da sich seine Schritte auf dem steil nach unten führenden Weg bedenklich beschleunigt hatten. Das einzige Licht sickerte durch die Ritzen in den Fensterläden; hier und da hing eine Laterne über einem Hauseingang, und über manchen Gebäuden baumelten vom Regen verdüsterte Lampen, die Straßenkreuzungen anzeigten. Die Nässe, die ihm bis auf die Knochen ging, setzte dem jungen Schmuggler schwer zu, aber noch schlimmer war der Schaden, den Tarnals Fäuste bei ihrer abendlichen Keilerei angerichtet hatten. Da er von Kälte, Müdigkeit und unerfreulichen Erwägungen abgelenkt war, waren seine Selbsterhaltungsinstinkte nicht so wachsam wie sonst.

Yanis versuchte, den Anschein eines normalen Bürgers zu erwecken, der bei der Ausübung seiner gewohnten Pflichten in einen Regenguß geraten war und jetzt so schnell wie möglich nach Hause wollte. Er hatte vergessen, daß er nicht der einzige Gesetzlose war, der sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen von Nexis herumtrieb.

Im einen Augenblick lief Yanis noch mit langen Schritten seinem Ziel entgegen, im nächsten traf ihn etwas Hartes und Schweres von hinten, und er stolperte. Er prallte heftig gegen eine Wand und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den durchweichten Boden, sein Schädel brummte, und sein Mund war voller Schlamm. Jetzt jedoch handelte er instinktiv und rollte sich keuchend zur Seite – aber ein Strahl kalten Feuers in seinem rechten Arm machte ihm klar, daß er zu spät reagiert hatte. Das Messer hatte sich direkt durch den Muskel seines Unterarms gebohrt, bevor seine Spitze die Pflastersteine darunter traf. Yanis schrie auf und riß seinen Arm so ruckartig weg, daß die Klinge der Hand seines Angreifers entrissen wurde und in seinem Fleisch steckenblieb. Noch atemlos vor Schmerz, erhaschte der Schmuggler einen Blick auf den Schatten, der sich über ihn beugte, eine dunkle Silhouette vor dem Flimmern einer Laterne in einem der nahen Hauseingänge. Dahinter waren zwei weitere Gestaltern zu sehen, die sich ihm näherten wie ein paar Wölfe.

Mit seiner linken Hand griff Yanis eine Faust voll Schlamm und schleuderte diesen seinem Angreifer ins Gesicht. Der Mann schrie ihm ein unflätiges Wort entgegen und prallte, die Hände an die Augen gepreßt, zurück. Yanis mühte sich auf die Knie und griff nach dem Messer, aber seine schlammigen Finger fanden auf dem vom Blut klebrigen Griff kaum Halt. Als sein Angreifer sich von neuem auf ihn stürzte, gelang es ihm endlich, die Klinge in einer Fontäne aus Blut aus seinem Arm zu ziehen und dem Räuber in den Bauch zu rammen. Schreiend stürzte der Mann zu Boden und riß im Fallen einen seiner Kameraden mit sich. Yanis, der die Mauer benutzt hatte, um sich mühsam hochzuziehen, trat dem vor ihm liegenden Burschen kräftig ins Gesicht.

Der dritte Wegelagerer, ein drahtiger kleiner Mann, der bisher wenig Neigung zum Kämpfen gezeigt hatte, rückte ihm jetzt bedrohlich näher. In der Hand hielt er einen langen, massiven Knüppel. Yanis sah, wie der Mann einen Blick auf seine am Boden liegenden Kameraden warf und zögerte – und stufte die kleine Ratte sofort als Feigling ein. Er ließ das blutbefleckte Messer kurz durch die Luft schnellen und warf es unbeholfen mit der linken Hand auf den Mann zu. Die Klinge war für solche Kunststückchen nicht geschaffen. Dieser Nachteil wurde durch die Nähe des Ziels jedoch wieder ausgeglichen. Der kleine Mann kreischte und ließ seine Waffe fallen, als das Messer ihn in die Brust traf, obwohl Yanis wußte, daß seinem Wurf die notwendige Kraft gefehlt hatte, um mehr als nur einen Kratzer zu verursachen. Mit ungeschickten Bewegungen tastete der Nachtfahrer nach seinem Schwert, und der Anblick von funkelndem Stahl tat ein übriges. Der knochige kleine Mann drehte sich auf dem Absatz um und gab Fersengeld. Yanis, von dessen Arm noch immer das Blut tropfte, taumelte in die entgegengesetzte Richtung davon, denn sein einziger Wunsch war jetzt, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und seine Angreifer zu legen.

Glücklicherweise war er bereits nahe genug am Fluß, um die hohen Dächer der Lagerhäuser sehen zu können, die die niedrigeren Gebäude um Längen überragten. Obwohl er mit seiner linken Hand den Schwertgriff noch immer fest umklammert hielt, benutzte Yanis seinen Unterarm, um sich den Regen und seine schlammigen, zerzausten Haare aus den Augen zu wischen. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, den weißglühenden Schmerz in seinem nutzlosen rechten Arm zu ignorieren. Gleichzeitig versuchte er, nicht darüber nachzudenken, daß er – selbst wenn er den Zufluchtsort, den er so dringend brauchte, finden sollte – kaum eine Chance hatte, seine Verletzung mit der linken Hand so zu verbinden, wie es notwendig war. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt über dieses Problem Gedanken zu machen. Er verlor zuviel Blut, und Kälte und Nässe taten ein übriges. Hinzu kam, daß das Risiko einer weiteren Begegnung mit Wegelagerern immer größer wurde, je länger er durch die Straßen lief. Wenn er nicht schnellstens eine sichere Zuflucht vor dem Regen fand, einen Ort, an dem er ein Feuer entzünden konnte, würde sich das Problem, seine Wunde zu versorgen, überhaupt nicht mehr stellen. Yanis blickte sich um, und als niemand zu sehen war, legte er einen Augenblick lang und mit größtem Widerwillen sein Schwert zur Seite. Mit schmerzverzerrtem Gesicht riß er einen Lumpenstreifen aus dem zerfetzten Ärmel seines Hemdes und band ihn, so fest er konnte, über seiner tropfenden Wunde fest, wobei er mit den Zähnen und den von der Kälte taub gewordenen Fingern seiner linken Hand einen unbeholfenen Knoten zustande brachte. Dann griff er wieder nach seinem Schwert und taumelte weiter.

Als sich allmählich das trübe Licht einer bleiernen Dämmerung über den Himmel schob, wurde der Regen zu einem unangenehmen Nieseln und hörte schließlich vollends auf. Der Nachtfahrer trottete in einem immer dunkler werdenden Traum aus Schmerz und Erschöpfung die letzten Gassen hinunter auf die halb verfallenen Häuserreihen am Ufer zu. Er war mittlerweile jenseits von Angst und Sorge. Die Sehnsucht nach einem sicheren Platz zum Schlafen war das einzige, was ihn aufrechthielt. Irgendwo in seinem Gehirn, überlagert von verschwommenen Gedanken, hatte der instinktive Teil seines Verstandes seine Arbeit jedoch nicht ganz eingestellt und nahm Notiz von Dingen, die ihm vertraut erschienen. In diesem Teil der Stadt war er viel mehr zu Hause als in den oberen Bereichen von Nexis. In besseren Zeiten hatten seine Leute einen großen Teil ihrer heimlichen Geschäfte auf den Docks ausgeübt, und noch vor kurzem hatten Tarnal und er viel Zeit hier verbracht – als sie die Lagerhäuser und die anderen verfallenen Gebäude nach einer Spur von Vannor durchsuchten. Die verzweifelte Notwendigkeit, endlich ein Dach über dem Kopf zu haben, stand in den Gedanken des jungen Mannes an vorderster Stelle und lenkte seine Schritte automatisch zu dem Ort, den er als Heimat für so viele verzweifelte, unglückliche Leute aus der Stadt in Erinnerung hatte.

Yanis blinzelte erstaunt, als er plötzlich die vertraute Silhouette zerfallener, rußbeschmierter Steine vor dem schiefergrauen Himmel aufragen sah. Wie bin ich denn hierhergekommen, dachte er verschwommen. Träume ich? Plötzlich strömten die Erinnerungen zurück, Erinnerungen an die Nacht, in der er und seine Mutter zusammen mit Tarnal nach Nexis gekommen waren, um nach Zanna zu suchen. Am Ende ihrer heimlichen unterirdischen Reise durch die Abwasserkanäle waren sie in einen Alptraum aus Blut und Feuer und dem entsetzlichen Geräusch von Schreien getreten. Er erinnerte sich noch an das große alte Lagerhaus, dessen Dach in einer Fontäne aus Funken und Flammen einstürzte, während Pendrals Soldaten mit ihren durstigen Schwertern und erfüllt von brutaler Teilnahmslosigkeit das Blut von Frauen, Kindern und schwachen alten Menschen tranken. Er erinnerte sich auch an Remanas verzweifelten Versuch, die Überlebenden in dem alten Entwässerungsgraben, der unterhalb der Walkmühle verlief, in Sicherheit zu bringen, während Jarvas, der seltsame Gründer dieser Zufluchtsstätte für die Verzweifelten, die Zerstörung seines Traumes mitansehen mußte und Tränen des Zorns über sein häßliches Gesicht strömten. Und besser als alles andere war Yanis Emmie in Erinnerung geblieben: jenes blonde Mädchen, das eine ätherische Lieblichkeit mit einem unnachgiebigen Sinn fürs Praktische vereinte, der ihn eingeschüchtert und sprachlos gemacht hatte.

Widerwillig zwang sich Yanis, in die Gegenwart zurückzukehren. Was dachte er sich nur dabei, hier mit offenem Mund herumzustehen und seinen Tagträumereien nachzuhängen wie ein mondsüchtiger Narr, wo doch die Sicherheit, die er brauchte, so nah war? Es bestand keine Notwendigkeit mehr, das Tor der Palisade zu finden – die versengten Holzbalken des einst so hohen Zaunes waren samt und sonders zerstört. Obwohl das Lagerhaus nicht mehr war als eine ausgebrannte Ruine, war die Walkmühle noch immer intakt – und barg in ihrem Herzen Wasservorräte und einen sicheren Fluchtweg. Yanis, der den Göttern für sein glückliches Geschick dankte, torkelte wie ein Betrunkener auf das große alte Bauwerk zu.

Das fahle Licht des grauen Morgens reichte kaum bis hinter die verrotteten Holztüren, die schief in ihren Angeln hingen. Es war so dunkel in der Mühle, daß Yanis sich mit einem furchtsamen Frösteln fragte, ob sich der ungeheure Blutverlust nun plötzlich in Blindheit niederschlug. Als sich seine Augen jedoch an die Düsternis gewöhnt hatten, bemerkte er ein schwaches Glimmen von Helligkeit, das an das warme, bernsteinfarbene Flackern von Feuerschein erinnerte und seinen Ursprung am anderen Ende des staubigen, von Echos erfüllten Raumes zu haben schien. Wenn sein Verstand ihm keinen Streich spielte, mußte sich die Lichtquelle hinter der langen Reihe großer Färbetröge befinden. Nachdem er jedoch einen ersten Schritt nach vorn getan hatte, blieb der Nachtfahrer zögernd stehen. Wenn das wirklich ein Feuer war, wer hatte es dann entzündet? Und wen würde er hier finden: Freund oder Feind? In diesem Augenblick stimmte eine zittrige und benommen klingende Stimme ein Lied an, und Yanis beschloß weiterzugehen. Wer immer da hinten saß, schien zu betrunken zu sein, um ihm gefährlich werden zu können. In der Tat, wenn da jemand Wein oder Stärkeres besaß, konnte er nur hoffen, daß er in der Stimmung zum Teilen war. Dennoch erschien ihm eine gewisse Vorsicht durchaus angebracht. Also schlich er sich nun durch den langen, schmalen Raum, so schnell er das auf seinen unsicheren Füßen vermochte. Dann stahl er sich vorsichtig um einen der Färbetröge herum und spähte um die Ecke.

Der Sänger trug eine unmanierliche Ansammlung schmutziger Lumpen und darüber eine fadenscheinige, zerfetzte alte Decke, die er sich um die Schultern geschlungen hatte. Er lehnte mit dem Rücken an der gewölbten Wand des massiven steinernen Färbetrogs, und vor ihm brannte ein kleines Feuer. Ganz offensichtlich schien er seine Umgebung nicht wahrzunehmen, während er mit der fast leeren Flasche, die er mit festem Griff umklammert hielt, den Takt zu seinem Lied schlug. Er war ein Mann von mittleren Jahren, und für Yanis schienen die tief in sein hageres Gesicht eingemeißelten Furchen eher ein Zeichen von Leid zu sein als von Alter, obwohl der stumpfe Goldton seines glatten, fettigen Haars mit silbernen Strähnen durchzogen war. Sein Gesicht erschien ihm auf eine vage, ärgerliche Art vertraut zu sein – aber Yanis erhielt keine Gelegenheit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Plötzlich war er am Ende seiner Kräfte angelangt, Schwindel erfaßte ihn, und während er sich noch vergeblich an die glatten Steine des Färbetroges zu klammern versuchte, geriet er ins Taumeln – und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden, wobei er um ein Haar in dem Feuer des Fremden gelandet wäre.


»Sie hätte ja jünger sein können, das geb’ ich zu, aber ich, ich hab’ nur Augen für die Größe ihrer …« Benziorns Gesang fand ein jähes Ende, als jemand dicht neben seinem Feuer zu Boden fiel. »Was, zum Kuckuck …« Er erhob sich mühsam auf die Füße, sein Herz hämmerte wie verrückt, und er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Erscheinung, die plötzlich vom Himmel gefallen zu sein schien. »Aber hier gibt es keinen Himmel, Benziorn, du alter Narr«, murmelte er mit der unwiderlegbaren Logik der Betrunkenen. »Nur ein Dach … Also kann er unmöglich vom Himmel gefallen sein …« Diese Sache wurde ihm langsam zu kompliziert. Na ja, überlegte er, ich sollte ihm wohl besser helfen, bevor er noch Feuer fängt …

Benziorn zog die zusammengekrümmte Gestalt ein Stück von den drohenden Flammen weg und ging neben seinem mysteriösen Besucher in die Hocke. Als er den Körper herumdrehte, stieß er einen überraschten Fluch aus. Also wirklich, war das nicht dieser Schmugglerjunge? Und in ernsten Schwierigkeiten, wie es schien. Irgend jemand hatte sein Gesicht ganz schön zugerichtet, aber größere Sorgen bereitete ihm im Augenblick der verwundete Arm, wo eine Klinge Fleisch und Muskeln durchtrennt und sich auf der anderen Seite ihren Weg ins Freie gebahnt hatte. Stirnrunzelnd und mit unsicheren Fingern beschäftigte sich der Arzt mit der provisorischen Aderpresse, die oberhalb der Wunde angelegt worden war. Dieses Ding mußte als erstes weg. Es war schon viel zu lange angelegt – der Arm darunter war bereits weiß und zeigte eine ungesunde bläuliche Färbung, während das Fleisch um den Lumpenstreifen herum angeschwollen war, so daß dieser nun um so fester saß und Benziorn alle Mühe hatte, ihn mit zitternden, trunkenen Fingern zu lösen.

»Emmie!« rief Benziorn instinktiv, während er sich weiter an dem verdammten Knoten abmühte. »Komm her und hilf mir – und bring meine …« Seine Stimme erstarb, während die Erinnerung, die er im Wein ertränkt hatte, sich wie eine Messerklinge von neuem in sein Herz bohrte. Emmie war fort. Jarvas war fort und all die alten Leute und die kleinen Kinder … Einen Augenblick trübte das Bild verkohlter und unkenntlich gewordener Leichen seinen Blick.

»Verdammter Mistkerl«, zischte Benziorn dem bewußtlosen Mann wütend zu. »Warum mußtest du hierher zurückkommen und mich an all das erinnern? Ich bin kein Arzt mehr – wo läge da auch der Sinn? Ich habe das Heilen aufgegeben, sag’ ich dir …«

»Nun, dann solltest du jetzt besser wieder damit anfangen – und zwar schnell.«

Benziorn fuhr herum und sah sich plötzlich Auge in Auge mit einer Speerspitze. Sein Blick verfolgte die lange funkelnde Klinge, immer weiter, hinauf und hinauf, bis er in die kalten Augen des anderen jungen Schmugglers sah – des kleinen Blonden, der ihm ebenfalls noch aus der schrecklichen Nacht von Pendrals Angriff in Erinnerung war.


Tarnal sah mit wachsendem Ärger hinunter auf die taumelnde Gestalt des Arztes mit dem verschleierten Blick. Was, zum Teufel, war nur los mit dem Mann? Dann roch er den Alkohol in Benziorns Atem, und sein Ärger verwandelte sich in Furcht. »Sitz da doch nicht gaffend rum, du betrunkener Narr. Tu was! Hilf ihm!« Die Schärfe in seiner Stimme, das wußte er, entsprang unter anderem seinem eigenen schlechten Gewissen.

Der junge Schmuggler war die ganze Nacht wach gewesen, hatte seinen Kampf mit Yanis zutiefst bedauert und sich um den Anführer der Nachtfahrer gesorgt, der in Sturm und Dunkelheit allein durch die Stadt irrte. Außerdem hätte er seinen Freund vielleicht überreden können zu bleiben, wenn der nicht so aus der Haut gefahren wäre … Und auch die Erinnerung an Yanis’ letzte zornige Worte war Tarnal unerträglich gewesen. Jetzt, da Yanis’ Wut Zeit gehabt hatte, sich ein wenig abzukühlen, würde er die Dinge doch gewiß anders sehen? Sobald es hell genug war, um sich draußen zurechtzufinden, war Tarnal zur Suche nach ihm aufgebrochen, wobei er ganz zu Recht vermutet hatte, daß sein früherer Freund seine Schritte zu den Lagerhäusern am Hafen lenken würde, um dort Zuflucht zu suchen. Im Hafenviertel schließlich hatte er schon bald die unverkennbaren Abdrücke der weichbesohlten Stiefel gefunden, die die Schmuggler benutzten, um auf den schlüpfrigen Decks ihrer Schiffe nicht den Halt zu verlieren. Und daneben hatte er eine Spur dunklen Bluts im trocknenden Schlamm bemerkt, die ihm das Herz bis in die Kehle schlagen ließ und ihn schließlich zu diesem Ort führte.

»Na schön, na schön.« Benziorns Stimme riß Tarnal mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. »Du kannst diesen verwünschten Stahlklumpen jetzt wegstecken, junger Mann, und mir hier unten helfen.«

Tarnal schob sein Schwert hastig in die Scheide und ließ sich neben dem Arzt auf die Knie fallen. »Was soll ich tun?«

»Siehst du das?« Benziorn zeigte auf den blutdurchtränkten Lumpenfetzen. Der Schmuggler spürte, wie angesichts der klaffenden Messerwunde Übelkeit in ihm aufstieg. Er schluckte schwer und riß seinen Blick schließlich von dem schauderhaften Bild los. Bei solchen Dingen war er noch nie besonders gut gewesen. »Ja«, sagte er schwach.

»Also, hol dein Messer raus und schneid ihn auf.«

»Was – den Arm?«

»Nein, du verdammter Torfkopf! Den Verband!« brüllte der Arzt.

»Oh! Na ja, woher sollte ich das auch wissen?« murmelte Tarnal ein wenig töricht. Mit hochroten Wangen tastete er nach seinem Messer.

»Hast du wirklich geglaubt, du könntest dem unglücklichen Kerl hier den Arm mit einem Gürtelmesser absägen? Melisanda, steh uns bei!« Benziorn blickte gottergeben gen Himmel. »So – jetzt laß die Klinge ganz vorsichtig unter den Verband gleiten – und paß ja auf, daß du deinen Freund dabei nicht verletzt! Ich würde es ja selber tun, wenn meine Hände ruhiger wären. Ein Anflug von Schüttelfrost, glaube ich …«

Schüttelfrost, wahrhaftig, dachte Tarnal mürrisch. Die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt, manövrierte er sein Messer unter den blutdurchtränkten Lumpen und versuchte, seinen Blick möglichst von dem zerfetzten Fleisch darunter abzuwenden. Mit angehaltenem Atem drehte er die Klinge leicht, um die scharfe Kante nach oben zu richten – und seufzte vor Erleichterung, als der Stoff riß und die Aderpresse zu Boden fiel.

»Ich bin dir ja so dankbar«, sagte Benziorn sarkastisch. Tarnal mußte sich in Erinnerung rufen, daß dieser unverschämte, vom Alkohol benebelte Kerl der einzige war, der Yanis helfen konnte, und widerwillig entspannte er seine geballten Fäuste.

»Leg noch mehr Holz aufs Feuer – ich kann ja nicht mal sehen, was ich tue.« Der Arzt beugte sich tief über die gekrümmte Gestalt des Nachtfahrers und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Verletzung, aus der jetzt ein neues Blutrinnsal sickerte. »Nun, es sieht so aus, als wäre der Arm noch durchblutet«, murmelte er. »In dieser Hinsicht hat dein Freund Glück gehabt – obwohl er schon extremes Glück braucht, um einer Entzündung zu entgehen. In dieser Wunde stecken alle möglichen Sorten von Schlamm und Unrat. Da drüben, bei meiner Decke, findest du einen Topf Wasser, Junge. Würdest du ihn bitte aufs Feuer stellen, ja? Und gib mir auch den Lederranzen, den du dort siehst. Ich muß versuchen, den Arm so gut ich kann zu säubern, aber …«

Während Tarnal sich beeilte, Benziorns Wünsche zu erfüllen, machte dieser sich weiter an Yanis’ Wunde zu schaffen, wobei er weiterhin laut seine Gedanken äußerte: »Würde nicht viel nutzen, wenn ich jetzt nähe – das Fleisch ist im Moment zu sehr angeschwollen. Und außerdem vermute ich, daß die Wunde noch ziemlich lange Luft brauchen wird.« Er blickte mit so ernstem Gesichtsausdruck zu dem jungen Schmuggler auf, daß Tarnal spürte, wie ihm das Herz im Leib zu Blei wurde.

»Ich werde natürlich mein Bestes tun, Junge, aber du mußt auf alles gefaßt sein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Dein Freund wird für eine ganze Weile ein sehr kranker Mann sein. Wenn wir die Entzündung nicht unter Kontrolle kriegen, müssen wir ihm möglicherweise den Arm abnehmen, um sein Leben zu retten.«

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