14 Durch Feuer …

»Wie viele Wachposten haben sie aufgestellt?« fragte Anvar den Moldan.

»Einen direkt um die Ecke, da wo die Korridore aufeinanderstoßen«, erwiderte Basileus. »Zwei im Eingang und die übrigen in der Vorratskammer, wo sie die Gefangenen bewachen – insgesamt ein Dutzend.«

»Ein Dutzend?« Anvar stöhnte entsetzt. Wie sollte er mit so vielen Männern fertigwerden? Aurian, die von dem größten Schwertkämpfer der Welt unterwiesen worden war, hatte sich während des größten Teils ihres Lebens in den Kampfkünsten geübt – sie hätte es vielleicht in Erwägung gezogen, es mit zwölf Männern gleichzeitig aufzunehmen, aber Anvar kannte seine Grenzen. Vielleicht konnte er seine Gegner einfach aus der Zeit herausnehmen … Doch als er die Hand nach der Harfe ausstreckte, die er gewöhnlich auf dem Rücken trug, fiel ihm ein, daß er sie in der ganzen Hektik und Verwirrung in seinem Zimmer gelassen hatte. Er fluchte erbittert. Wie hatte er nur so dumm sein können? Und vor allem, was sollte er jetzt tun?

»Fürchte dich nicht, Zauberer«, sagte der Moldan zu ihm. »Ich werde sie ablenken. Sei bereit, wenn ich dir das Zeichen gebe.«

Anvar preßte sich an die Wand und wartete, wobei er mehrfach schlucken mußte, um seine von der Nervosität trocken gewordene Kehle zu befeuchten. Und während sich seine Hand um den Schwertgriff schloß, der sich kalt und schlüpfrig anfühlte, konnte er mit seinen Maguschsinnen den prickelnden Puls des Lebens in den Silbervenen des glatten, dunklen Steins hinter sich spüren. Wie, um alles in der Welt, fragte er sich, wollte Basileus die Wachen ablenken? Was konnte ein unbelebtes Wesen wie ein Moldan schon tun, um den Ausgang des bevorstehenden Kampfes zu beeinflussen? Anvar brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht auf der Stelle seinen Körper zu verlassen und sein Bewußtsein nach oben zu schicken, um zu sehen, was dort vor sich ging. Aber er war klug genug zu wissen, daß das ein törichter Fehler gewesen wäre. Was würde geschehen, wenn noch mehr Xandim-Rebellen hier entlangkämen, solange er nicht in seinem Körper war? Nein – er mußte Basileus wohl vertrauen und einfach abwarten.


Schiannath konnte seinen Zorn über den niederträchtigen Verrat seiner Landsleute kaum beherrschen. Obwohl er hilflos war – er lag mit gefesselten Händen und Füßen direkt an der Mauer des Vorratsraumes –, hielt ihn das nicht davon ab, darüber nachzudenken, wie er sich gegen sein Schicksal auflehnen könnte. Das Blut tropfte ihm von einer Schnittwunde an der Stirn in die Augen, und er hatte am ganzen Körper Schrammen und Prellungen von den Schlägen, die er empfangen hatte, denn er und Yazour hatten ihre Freiheit teuer verkauft. Aber seine Wunden machte Schiannath viel weniger Sorgen als die entsetzliche Angst, wieder einmal durch sein eigenes Volk gefangen und versklavt zu werden. Seine Rückkehr aus dem Exil war wie das Erwachen aus einem schlimmen Alptraum gewesen, und jetzt, so schien es, würde der Alptraum von neuem beginnen. Was würden sie ihm diesmal antun?

Um die Panik zu beherrschen, die wie würgende Galle in ihm aufstieg, wandte Schiannath seine Aufmerksamkeit den Dingen zu, die um ihn herum vor sich gingen. Warum hatten die Xandim plötzlich gegen Parric rebelliert? Auch wenn der Rudelfürst ein Fremdländer war, so hatte er doch den Kampf um dieses Amt in jeder Hinsicht fair erstritten – und außerdem hatte er versprochen, zurückzutreten, sobald seine Gefährten gerettet waren. Da die dunkle Phase des Mondes morgen nacht die Chance bot, einen neuen Führer zu wählen, war dieser Aufstand doch sinnlos, oder? War die Xandimtradition, daß alle Fremden sterben mußten, wirklich so wichtig? Soweit es Schiannath betraf, waren ihm diese seltsamen Nordländer bessere Freunde gewesen als irgend jemand seiner eigenen Rasse – mit Ausnahme von Iscalda natürlich.

Iscalda! Was würde jetzt mit seiner Schwester geschehen? Man konnte davon ausgehen, daß er und Yazour nicht die einzigen Opfer dieses feigen Angriffs waren. Was war aus Anvar geworden? Und aus Aurian, die sich seine ewige Dankbarkeit verdient hatte, als sie ihn – wenn auch nur für allzu kurze Zeit – wieder in den Schoß seines Volkes führte? Hatte man auch ihnen aufgelauert? Hatte man sie gefangengenommen? Waren sie verletzt – oder sogar tot?

Was hatten die Xandim eigentlich gegen diese Fremdländer? Warum haßten sie jeden, der nicht zu ihrem eigenen Stamm gehörte? Dann dachte Schiannath an Chiamh, der ebenfalls ein Xandim war; und doch hatte er, Schiannath, bevor er eines Besseren belehrt worden war, wie alle anderen Mitglieder seines Stammes das Windauge gefürchtet und ihm mißtraut. Schiannath blickte hinauf in die Gesichter seiner Wachen, die lachten und Witze rissen, um die hellen, falschen Flammen ihres Mutes weiter anzufachen. Er spürte die Angst hinter ihrer aufgesetzten Gleichgültigkeit, ihre Weigerung, Yazour und ihn selbst überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, und plötzlich begriff Schiannath, daß es sich um die irrationale, aus dem Bauch kommende Angst jeder Kreatur vor dem Unbekannten handelte, vor dem Undurchschaubaren oder einfach dem Anderen.

Verflucht sollten sie sein! Schiannath konnte nicht glauben, daß ihm das widerfuhr – nicht noch einmal –, nicht so kurz nach seiner Rettung! Die Ungerechtigkeit des Ganzen steigerte seinen Zorn nur noch. Halb blind vor Wut, kämpfte er gegen seine groben Fesseln an, die in die zarte Haut seiner Handgelenke schnitten. Aber die Rebellen hatten die Seile zu fest verschnürt – sie verstanden sich nur allzugut auf ihre Aufgabe.

Plötzlich nahm Schiannath aus den Augenwinkeln wahr, daß Yazour ebenfalls versuchte, sich zu befreien. Als ihre Blicke sich trafen, blitzte in ihm die wilde Hoffnung auf, daß sie sich vielleicht näher zueinander hinbewegen könnten, um sich so gegenseitig beim Lösen der Fesseln zu helfen. Aber ein Blick auf einen der Wachtposten – einen Fremden für Schiannath – ließ ihn diesen Plan aufgeben, noch bevor er Zeit hatte, weiter auszureifen. Der Mann, der mit gezücktem Schwert ganz in der Nähe der Gefangenen stand, ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Schiannath knirschte mit den Zähnen und fluchte leise vor sich hin. Bei der Göttin, es mußte doch irgend etwas geben, was er tun konnte!

Da plötzlich wehte eine Wolke fettigen, schwarzen Qualms aus dem leeren Kamin und füllte den Raum mit einem beißenden Nebel. Schiannath versteifte sich, und die Wachen schrien erschrocken auf. Konnten sie, die Gefangenen, dieses unvorhergesehene Ereignis irgendwie ausnutzen? Aber solche Überlegungen waren schnell vergessen, als immer mehr Qualm aus dem dunklen Kamin der Vorratskammer quoll und sich eine schwere, alles erstickende Wolke im Raum ausbreitete, eine Wolke, die an allem haften blieb, was sie berührte. Obwohl Schiannath und Yazour dem Boden näher waren als ihre Wächter und daher weniger von dem widerwärtigen Qualm abkriegten, konnte er spüren, wie der Rauch in seine Lungen drang. Seine Augen brannten und tränten, während er verzweifelt um seine Freiheit – und um sein Leben – kämpfte.


»Jetzt!« Die Stimme des Moldan hallte laut in Anvars Gedanken wider. Der Magusch nahm all seinen Mut zusammen und umklammerte sein Schwert noch fester als zuvor, bevor er um die Ecke stürmte und feststellte, daß der Korridor dahinter völlig unbewacht war. Der Grund für die Abwesenheit der Wachen wurde ihm einen Augenblick später klar, als er die Qualmwolken sah, die aus der Vorratskammer drangen, und die Flüche und die panischen Schreie hörte, die aus dem Innern des Raumes ertönten.

»Hast du etwa Feuer gelegt?« fragte er den Moldan erschrocken.

»Nein, Zauberer – es ist nur Rauch.«

Anvar atmete so tief ein, wie er nur konnte, und machte sich bereit, den Flur hinunterzustürmen.

»Warte.«

Anvar zog sich fluchend wieder zurück. Gerade als er den Mut aufgebracht hatte, loszulaufen … »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte er gereizt.

»Vergiß nicht, daß du ein Zauberer bist und über die Magie der Luft gebietest«, bemerkte Basileus mit einer Spur Belustigung in der Stimme. »Wenn irgend jemand den Qualm nicht einzuatmen braucht, dann bist das du

»Verdammte Pest! Daran hätte ich wirklich selber denken können«, murmelte Anvar. Dann baute er sorgfältig einen Energieschild um sich herum auf, der saubere Luft durchlassen würde, aber keineswegs den ekelerregenden Qualm. Solchermaßen gewappnet, setzte er sich wieder in Bewegung.

»Ich an deiner Stelle würde mich ein wenig beeilen«, drängte ihn Basileus. »In bezug auf den Qualm ist möglicherweise mein Temperament mit mir durchgegangen.«

Das brauchte er dem Magusch nicht zweimal zu sagen. Schon jetzt wogten große, schwarze Rauchwolken aus dem Eingang der Vorratskammer. Aus den dunklen Wolken schossen mehrere laufende Gestalten hervor, die Anvar beinahe umrannten. Offensichtlich hatten die Xandimwachen den Kampf mit dem Qualm aufgegeben und traten jetzt hastig den Rückzug an. Obwohl Anvar froh war, daß er sich nicht mehr um sie kümmern mußte, verhieß ihre Panik nichts Gutes für Yazour und Schiannath. Der Magusch eilte weiter.

In dem Vorratsraum konnte man überhaupt nichts mehr sehen. Nicht mal die Nachtsicht eines Magusch konnte die dunklen Wolken durchdringen. So gern Anvar den beiden Gefangenen etwas zugerufen hätte, zwang er sich doch, Schweigen zu bewahren. Er hatte keine Ahnung, ob noch Wachen in der Vorratskammer zurückgeblieben waren, und das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war die Aufmerksamkeit der falschen Leute. Also folgte er dem Geräusch von Husten, Würgen und einer schwachen Stimme (er konnte nicht sagen, wem sie gehörte), die nach Hilfe rief; er tastete sich durch den Raum, stolperte über Bänke und stieß gegen Tische, bis er schließlich beinahe über zwei gefesselte Männer fiel, die in der Nähe der Wand lagen.

Schiannath und Yazour waren unterdessen nicht untätig gewesen. Sobald der Qualm ihre Wachen abgelenkt hatte, hatten sie die Gelegenheit ergriffen, sich an der Wand entlang aufeinander zuzubewegen, bis sie unmittelbar nebeneinander lagen. Mit einigen Schwierigkeiten hatten sie es geschafft, sich Rücken an Rücken zu setzen. Dann hatten sie verzweifelt versucht, die Fesseln des anderen zu lösen. Aber die Knoten in den Seilen gaben kaum nach und ließen sich nur schwer lösen, und die wachsende Panik hatte ihre Finger unbeholfen und zittrig werden lassen. Schon bald dämmerte ihnen die schreckliche Erkenntnis, daß sie ihre Flucht niemals würden bewältigen können, weil der Rauch sie vorher ersticken würde.

Schiannath hatte dem Tod so viele Male während des letzten Jahres ins Auge gesehen, daß die Vertrautheit des Schreckens einen Teil seiner Furcht ausblendete. Statt der Angst nachzugeben, kämpfte er daher nur um so verbissener, um sich und seinen Freund zu befreien, aber der heimtückische Qualm ließ sich nicht bezwingen. Er kroch ihm brennend in Augen, Kehle und Lungen, bis er nur noch nieste und um Luft rang und von seinen eigenen Tränen so blind war, daß er die dunkle Gestalt, die sich aus dem Nichts näherte, nicht sah.

»Halte durch, Schiannath – ich bringe euch sofort hier raus.«

»Anvar!« keuchte der Xandim. Wäre er nicht so überglücklich gewesen, hätte er vor Erleichterung weinen können, als er die Stimme des Magusch erkannte. Plötzlich spürte Schiannath, wie ein beunruhigendes Prickeln seinen Körper durchlief, und der Qualm, der ihn umgeben hatte, verschwand. Zum ersten Mal seit langen, qualvollen Minuten konnte er mühelos durchatmen, und die jähe Veränderung stürzte ihn fast in einen Begeisterungstaumel. Dann gaben die Seile, mit denen seine Handgelenke gefesselt waren, dem kalten Stahl einer Klinge nach, und seine Hände waren wieder frei. Nachdem er seine tränenden Augen mit dem Ärmel abgetupft hatte, schaute der Xandim auf und stellte fest, daß die dünner werdende, schwarze Klebemasse jetzt von etwas zurückgehalten wurde, das wie eine Blase aus sauberer Luft wirkte, eine Blase, die Yazour, den Magusch und ihn selbst einschloß.

Yazour schien sich in einem weit schlimmeren Zustand zu befinden als der Xandim. Er war, als Anvar ihn fand, kaum noch bei Bewußtsein gewesen. Jetzt atmete er so gierig ein und aus, als sei die Luft um sie herum voll köstlicher Aromen, und langsam trat auch wieder ein wenig Farbe in seine grausam bleichen Wangen. Anvar kniete neben ihm nieder und zerschnitt mit seinem Messer Yazours Fesseln. »Sieh zu, daß du die Füße frei kriegst, wenn du das schaffst«, riet er Schiannath, ohne aufzublicken. »Und beeil dich – uns bleibt nur noch sehr wenig Zeit.«

Schiannath verschwendete keine Sekunde mit überflüssigen Fragen. Sobald die beiden Gefangenen frei waren, erhoben sie sich taumelnd, und Anvar legte Yazour helfend einen Arm um die Schultern, während Schiannath das Schwert des Magusch ergriff und voranging. So schnell wie möglich tasteten sie sich durch den abflauenden Qualm auf die Tür zu.

Ohne Vorwarnung stürzte hinter ihnen aus dem Qualm eine Gestalt hervor und zielte mit einem Schwert auf Anvars Kopf. Aber so benommen er auch war, Yazours kampferprobte Reflexe ließen ihn nicht im Stich. Er hörte das Sirren der Klinge, schrie auf, ließ seine Knie unter sich nachgeben und zog den Magusch auf diese Weise mit sich zu Boden. Das Schwert schoß harmlos an Anvars rechter Schulter vorbei und traf mit fliegenden Funken und dem lauten Kreischen von Stahl auf Stahl auf eine andere Klinge, da Schiannath, von dem Aufschrei seines Gefährten gewarnt, unverzüglich reagiert hatte. Der Angreifer, den die Wucht des Schlages aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, stolperte und bot seinem Gegner ein leichtes Ziel. Einen kurzen Augenblick lang konnte Anvar das Entsetzen und die Verzweiflung in dem Gesicht des Mannes sehen, als er seinen Irrtum erkannte und, aufgespießt auf die Spitze von Schiannaths Schwert, zu Boden taumelte.

Der Kampf hatte begonnen und gleich wieder aufgehört, beinahe bevor Anvar begriffen hatte, was da vor sich ging. Er erhob sich ein wenig zittrig auf die Füße, als Schiannath gerade das Schwert aus dem Körper seines Gegners herauszog und die blutige Klinge flüchtig an dem Rock des sterbenden Mannes abwischte, bevor er sie Anvar reichte und selbst nach dem Schwert des Gefallenen griff.

»Danke.« Der Magusch nahm die Waffe aus Schiannaths starker, brauner Hand entgegen. »Wir alle können von Glück sagen, daß du so schnell bist – und du auch, Yazour.« Mit diesen Worten wandte er sich dem Khazalimhauptmann zu, um ihm aufzuhelfen, aber der Mann stand bereits neben ihm.

»Ihr dürft keine Zeit mehr verschwenden«, warnte Basileus Anvar. »Eure Gefährten werden belagert, und die Sache sieht schlimm aus für sie.«

»Kommt weiter«, drängte Anvar seine Kameraden. »Laßt uns gehen – Aurian braucht uns.«


Bohan hatte die Wölfe bereits aus den Augen verloren. Das bereitete ihm viel mehr Sorgen als die Tatsache, daß er um Haaresbreite ums Leben gekommen wäre, als er auf Händen und Füßen über die federnde, schlüpfrige Holzbrücke gekrochen war, die unter seinem Gewicht bedenklich nachgegeben hatte. Obwohl es nur ein kurzer Weg vom Fenster der Festung bis zum Bergvorsprung war, mußte er doch sehr aufpassen, nicht abzustürzen, und als er auf der anderen Seite angelangt war, waren die Wölfe zusammen mit Aurians Sohn in der Dunkelheit verschwunden.

Die Nacht war immer noch schwarz, und die Morgendämmerung würde noch ein oder zwei Stunden auf sich warten lassen. Der Eunuch preßte sich an die steile Oberfläche des Berges. Mühsam zwängte er seine dicken Finger in einen schmalen, schrägen Riß im Stein, und er brauchte seine ganze Kraft, um auf dem Felsvorsprung, der kaum breiter war als die Spanne einer großen Hand, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte bereits zu seinem Entsetzen festgestellt, daß die schmale Felsspalte, an die er sich klammerte, immer schmaler wurde, bis fast nichts mehr von ihr übrigblieb, und wenn er sich nicht irgendwo festhalten konnte, würde er wegen seines massigen Körpers auf dem Felsvorsprung gewiß das Gleichgewicht verlieren. Bohan schloß gequält die Augen. Was sollte er tun? Jede Sekunde, die er hier verweilte, aus Angst, vorwärtszugehen und unwillig in die Festung zurückzukehren, gab den verfluchten Wölfen weiteren Vorsprung.

Obwohl es im Augenblick nicht regnete, waren die Steine noch immer feucht von dem Regenschauer, der kurz zuvor niedergegangen war, und ein schwacher, kühler Wind schlängelte sich winselnd und fauchend über die kahlen Flanken des Windschleiers. Bohan, der sein ganzes Leben in dem glutheißen Wüstenklima des Südens zugebracht hatte, zitterte unkontrolliert, und in seiner Brust knüpfte sich ein Knoten aus schierer Panik. Obwohl er sich immer wieder sagte, daß ihm die Kälte, wie schlimm sie auch werden mochte, nichts anhaben konnte, vergrößerte die wachsende Taubheit in seinen Füßen und seinen Fingern die Gefahr des ohnehin schon erschreckend schwierigen Aufstiegs, und je länger er wartete, um so größer würde das Risiko eines tödlichen Sturzes werden.

Er hatte keine andere Wahl. Bohan konnte die Schande nicht ertragen, seiner geliebten Aurian gestehen zu müssen, daß er ihr Kind verloren hatte. Er wußte, daß er irgendwie weiterklettern und Wolf finden oder bei dem Versuch sterben mußte. Langsam kroch er weiter über den Felsvorsprung, wobei er mit seiner rechten Hand den schmalen Spalt im Stein abtastete; seine ganze Konzentration richtete sich auf diese kleine Unebenheit in den Felsen, die seinen abgeschürften Fingern einen dürftigen Halt bot.

Und dann endete die Felsspalte plötzlich. Als die tastenden Finger des Eunuchen nur noch glatten Stein fanden, geriet er für einen entsetzlichen Augenblick ins Wanken, bis er sich mit der linken Hand, die noch sicheren Halt hatte, zitternd wieder gegen den kalten Stein der Klippen pressen konnte. Dabei verlagerte er jedoch zuviel Gewicht auf den zerbrechlichen Vorsprung unter seinen Füßen. Mit einem furchtbaren Krachen gab der Stein unter ihm nach.


Parric, für den das Wirken der Magusch nichts Neues war, hatte sorgsam darauf geachtet, daß er Aurian und Chiamh nur ja nicht in den Weg geriet. Während sie die Angreifer in Schach hielten, war er nach oben zu Sangra und Iscalda geschlüpft und hatte ihnen aufgetragen, die Zimmer zu durchsuchen und jeweils ein Bündel mit notwendigen Dingen zu packen: Sie sollten Umhänge, Waffen und alles Eßbare mitnehmen, das sie in den Kammern finden konnten. Er hatte gewußt, daß ein Rückzug unvermeidlich sein würde, und er wollte vorbereitet sein. Jetzt sah es so aus, als sei die Zeit gekommen.

Als sich die ersten brennenden Pfeile in die Tür bohrten, rannte er nach unten und packte Aurian am Ellbogen. »Das reicht!« rief er. »Sie versuchen uns auszuräuchern. Wir müssen jetzt gehen, bevor es zu spät ist.«

»Nein!« Die Magusch entwand sich dem Griff des Kavalleriehauptmanns. »Führ du die anderen hinaus. Ich bleibe hier, bis Anvar kommt.«

»Hast du den Verstand verloren?« brüllte Parric. »Du weißt nicht, wo er ist oder wie bald er hier sein kann – oder ob er überhaupt noch lebt …«

»Er lebt! Hast du vergessen, daß ein Magusch den Tod eines anderen spüren kann?« fuhr Aurian den kleinen Mann an, und ihre Augen sprühten Feuer. »Fang nicht an zu streiten, Parric. Bring die anderen hier raus, und ich werde auf Anvar warten.«

»Verdammt, Aurian, das wirst du nicht. Sieh dir das doch an!« Die Tür war ziemlich dick, und es würde eine Zeitlang dauern, bis sich das Feuer hindurchgefressen hatte, aber die winzigen, gelben Flammenzungen bahnten sich bereits ihren Weg über die versengten Paneele. Chiamh benutzte die Wasservorräte aus den oberen Räumen, um die Flammen zu löschen, aber das Feuer auf der anderen Seite der Tür brannte lichterloh, und Chiamhs Löschaktion konnte das Ganze nur für eine Weile hinauszögern. Im Treppenhaus war es bereits unangenehm heiß. Die Luft war zum Schneiden dick und von einem beißenden Qualm erfüllt.

»Wenn du mir nicht in die Quere kommst, werde ich versuchen, diese Flammen mit Hilfe von Magie zu löschen«, brauste Aurian auf. »Und jetzt laß mich los, damit ich mich konzentrieren kann.«

Parric, der mittlerweile völlig verzweifelt war, zermarterte sich das Gehirn nach einer Möglichkeit, wie die Magusch zur Vernunft zu bringen wäre. Die Tatsache, daß er Anvar gegenüber einen wachsenden Widerwillen verspürte, war nicht gerade hilfreich, und es erzürnte ihn, daß sie sich seinetwegen solcher Gefahr aussetzte. Obwohl es ihm widerstrebte, ihr weh zu tun, stand doch eindeutig fest, daß sie vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich war. Außerdem hatten sie gar keine Zeit mehr für solche Auseinandersetzungen .

Die Magusch richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die brennende Tür, und Parric ergriff seine Chance. Er hob sein Schwert, um sie mit dem Griff bewußtlos zu schlagen.

Kühle Finger schlossen sich um sein Handgelenk.

»Nein.« Chiamh klang sehr ruhig, aber sein freundliches Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen, wie ihn der Kavalleriehauptmann noch nie zuvor an dem Windauge gesehen hatte. Dann flackerten die bernsteinfarbenen Augen silbern auf, und Parric spürte, wie das Schwert in seiner Hand zu brennendem Eis wurde. Mit einem wütenden Fluch ließ er die Klinge fallen, die auf die harten Steinstufen klirrte.

»Ruhe da hinten«, fauchte Aurian, ohne sich umzusehen.

Chiamh hob das zu Boden gefallene Schwert auf und gab es dem Hauptmann zurück. »Schäm dich«, sagte er leise. »Du hast kein Recht, eine solche Entscheidung für sie zu treffen. Geh, wenn wir dir nicht vertrauen können. Ich werde auf sie aufpassen.«

Parric sah das Windauge an und schüttelte den Kopf. »Nein«, zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich werde Sangra und Iscalda wegschicken, aber ich selbst bleibe hier. Wenn ihr beiden Narren auf diesem Wahnsinn beharrt, dann werdet ihr alle Hilfe brauchen, die ihr kriegen könnt.«

»Na gut – aber ich werde keinen weiteren Verrat dulden.« Chiamhs Stimme war immer noch kalt. Parric unterdrückte eine ärgerliche Erwiderung. Statt dessen umklammerte er den Griff seines Schwertes, bis seine Knöchel weiß wurden, und schaute dem Windauge über die Schulter, um zu sehen, welche Fortschritte Aurian machte.

Die Magusch hatte von dem erhitzten Gespräch hinter sich nichts mitbekommen. Sie mußte mit ihren eigenen Problemen fertig werden. Es war eine einfache Sache, die Flammen und Feuerbälle unter Kontrolle zu halten, die sie selbst mit ihrer Magie geschaffen hatte, aber hier handelte es sich um ein wildes Feuer – eine undisziplinierte und unbezähmbare Naturgewalt. Aurian näherte sich dem glimmenden Holz, so weit sie es wagte, obwohl die Hitze und der beißende Rauch in ihren Augen brannten und bis in ihre Lungen drangen, so daß sie husten mußte. Sie hatte versucht, ihre Kräfte zu benutzen, um die Wärmeenergie der Flammen aufzusaugen, sie zu kühlen und in sich zusammenfallen zu lassen, aber schon bald begriff sie mit einem flauen Gefühl der Angst, daß das Feuer dafür bereits zu stark geworden war. Es mußte eine andere Möglichkeit geben. Wenn die Flammen das Holz durchdrangen, hatte sie nichts mehr, womit sie die angreifenden Xandim in Schach halten konnte – und wenn Anvar jetzt mit Schiannath und Yazour zurückkäme, würden auch sie vor einer Wand aus Feuer stehen.

»Wo sind sie jetzt«, fragte sie Basileus, der sie über die Schritte ihrer verschwundenen Kameraden auf dem laufenden gehalten hatte.

»Sie kommen näher. Sie werden gleich hier sein.« Der Moldan zögerte. »Was wirst du tun, wenn sie kommen?«

»Ich weiß nicht.« Verzweiflung klang aus der Gedankenstimme der Magusch. »Kannst du uns denn nicht irgendwie helfen?«

»Nein, leider nicht. Ich habe schon versucht, Zugluft zu erzeugen, um die Flammen zu löschen, aber damit habe ich sie nur weiter angefacht und die Dinge noch verschlimmert.«

»Ja, natürlich. Aber warte mal – einen Augenblick!« Die Worte des Moldan hatten Aurian auf eine Idee gebracht. »Chiamh!« schrie sie. »Schnell – komm hier rüber!«

»Ich bin doch schon da.« Die Stimme des Windauges erklang ganz in ihrer Nähe, und sie zuckte zusammen. Wenn seine Miene auch ein wenig angespannt wirkte, so war Aurian doch zu sehr mit ihrem Plan beschäftigt, um darauf zu achten.

»Chiamh, du bist doch ein Experte in Sachen Luft – meinst du, du könntest dir irgend etwas ausdenken, wie du die Luft von den Flammen auf der anderen Seite der Tür fernhalten kannst?«

Chiamhs Augen weiteten sich vor Überraschung, dann breitete sich langsam ein verstehendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ah«, sagte er. »Eine kluge Idee. Ich will sehen, was ich tun kann.«

Aurian trat zur Seite, um ihm Platz zu verschaffen, und das Windauge ging in der Nähe der Tür in die Knie. Trotz der Hitze zitterte er ein wenig, als seine Augen glasig wurden und diese unheimliche, reflektierende Quecksilbertönung annahmen. Sein Blick verschwamm und wich der durchscheinenden, scharfen, kristallenen Klarheit seiner Andersicht. Ganz schwach würde ihm noch bewußt, daß die Magusch eine Hand ausstreckte, um seinen in sich zusammenfallenden Körper zu stützen, während er seinen Geist auf die andere Seite der brennenden Tür schickte. Die silbernen Luftfäden dort flirrten unruhig in der Hitze, wirbelten um das Feuer herum und bildeten eben jene Ströme, die die gierigen Flammen nährten. Die Flammen selbst waren für Chiamhs Andersicht kaum erkennbar, da sie nur noch schwache, glimmende Schatten ihres eigentlichen Selbsts waren. Die ungeduldigen Angreifer, die sich in sicherer Entfernung von dem Feuer im Korridor scharten, waren als glühende Phantome zu sehen. Die Aura der Lebensenergie, die sie umhüllte, zeigte den wütenden, dunkelroten Schimmer von Mordlust und Gier. Das Windauge schauderte in dem Bewußtsein, daß sie sich früher oder später um diese Männer würden kümmern müssen; aber zuerst mußte das Feuer gelöscht werden.

Mit aller Macht versuchte Chiamh, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Er versuchte, die sich windenden Luftranken an sich zu reißen und sie von den verzehrenden Flammen fernzuhalten. Aber weil sein Geist außerhalb seines Körpers weilte und er viel Energie brauchte, um diesen unnatürlichen Zustand aufrechtzuerhalten, verfügte er nicht über seine gewohnten Kräfte und besaß bloß die Gewalt seines Geistes, um die silbrigen Fäden festzuhalten und nach seinem Willen zu formen. Die wilden Strömungen, die das Feuer bewirkte, trugen erheblich zu seinen Schwierigkeiten bei, da sie der Luft eine eigene Stärke und Gewalt verliehen, mit der sie ihm trotzen konnte. Dennoch obsiegte Chiamh schließlich, obwohl dieser Kampf mit den mächtigen Luftströmungen zu den schwierigsten Dingen gehörte, die er je im Leben bewältigt hatte. Wenn er auch die Flammen nicht löschen konnte, so konnte er das Feuer doch zumindest in seinem Fortschritt aufhalten und Anvar damit die wenigen zusätzlichen Sekunden verschaffen, die er noch brauchte.

Die Situation im Treppenhaus verschlimmerte sich noch weiter. Die Feuchtigkeit des Holzes war mittlerweile aufgezehrt, und die Flammen fanden immer mehr Nahrung. Das Knistern des Feuers wurde lauter, und die Magusch mußte genau wie Anvar einen Schild errichten, der den Qualm von ihr, Chiamh und Parric fernhielt, der immer noch wütend drei oder vier Schritte entfernt wartete.

Aurian, die während der vergangenen Minuten über den Körper des Windauges gewacht hatte, wußte, daß Chiamh in Schwierigkeiten war. Sie konnte die Verwüstungen des geistigen Kampfes in seinem Gesicht sehen. Scharfe Linien der Anstrengung tauchten um seine Augen und seinen Mund auf, und sein langes, braunes Haar war so von Schweiß durchnäßt, daß sie es ihm immer wieder aus den unheimlichen Silberaugen streichen mußte. Obwohl sie langsam fürchtete, daß er sich bei dieser Rettungsaktion verletzen könnte, widerstrebte es ihr doch, seiner Trance ein Ende zu setzen, weil sie befürchtete, die Dinge damit noch zu verschlimmern. Sie hatte sich jedoch oft genug selbst überanstrengt und wußte aus eigener Erfahrung, daß Chiamh in ernster Gefahr stand, sich in seiner Magie zu verlieren. Wenn man einen so großen Teil seiner Energie darauf verwendete, seinen magischen Kräften Nahrung zu geben, bestand immer die Gefahr, daß man irgendwann nicht mehr in seinen Körper zurückkehren konnte.

»Anvar, wo bist du?« Sie stieß einen verzweifelten Gedankenschrei aus und betete, daß ihr Seelengefährte inzwischen nah genug war, um ihn zu hören. »Wir können hier nicht mehr lange die Stellung halten.«

»Wir sind fast da.« Anvars Antwort klang schwach und müde. »Wir haben ein oder zweimal Ärger gehabt, aber bisher konnten wir uns durchkämpfen – wahrscheinlich deshalb, weil sich die meisten Xandim vor eurer Tür versammelt haben.«

»Den Göttern sei Dank, daß dir nichts passiert ist.« Schon die Tatsache, daß sie ihn jetzt endlich wieder hören konnte, gab Aurian neuen Mut. »Sag mir sofort Bescheid, wenn ihr unsere Angreifer sehen könnt.«

»Na dann mach dich mal bereit«, erwiderte Anvar trocken. »Wir sind jetzt an der Stelle, an der die Korridore sich kreuzen.«

»Gut. Ich sage dir, wann es losgeht.« Aurian wandte sich nun wieder Chiamh zu und war erleichtert zu sehen, daß er zwar immer noch sehr blaß war, daß sein Geist jedoch wieder in seinen Körper zurückgekehrt war und seine Augen wieder ihre normale Farbe angenommen hatten.

»Ich habe euch beide gehört«, erklärte er der Magusch. »Ich bin bereit.«

Aurian zog Coronach aus der Scheide. »Wenn ich das Signal gebe, laufen wir auf den Korridor hinaus, um Anvar zu helfen«, sagte sie zu Parric. Ohne ihm Gelegenheit zu geben, dagegen zu protestieren, drehte sie sich wieder zu der Tür um, die ohne Chiamhs Unterstützung jetzt in einem Flammenmeer zusammenbrach.

»Jetzt!« Während Aurian dieses Wort rief, sowohl mit ihrer körperlichen Stimme als auch mit ihrer Gedankenstimme, schlug sie mit einem solchen Energiestrahl auf die Überreste der Tür ein, daß die brennenden Holzteile in den Korridor hinausexplodierten und die dort wartenden Xandim trafen. Die Männer stoben schreiend auseinander und schlugen auf fliegende brennende Holzstückchen und auf die Funken ein, die sich in ihrer Kleidung und ihrem Haar verfangen hatten. Mit einem lauten Kampfschrei stürzte Aurian in den Korridor hinaus, dicht gefolgt von Parric und Chiamh. Gemeinsam fielen sie wie ein Rudel Wölfe über die verwirrte Schar von Xandimsoldaten her.


Shia hatte Khanu den Berg hinaufgeschickt, um Wolf und seine Zieheltern in Chiamhs Tal zu begleiten. Nachdem Aurian sie dann darum gebeten hatte, war sie in die unteren Bereiche der Festung zurückgekehrt und hatte sich entlang der schmalen Felsvorsprünge hinter dem massiven Gebäude auf die Suche nach Bohan begeben. Obwohl sie es sich nur ungern eingestand, war sie doch von einer wachsenden Angst um den Eunuchen erfüllt. »Warum taucht er nicht auf?« murmelte Shia bei sich. »Großer, tolpatschiger Ochse – ist wahrscheinlich über seine eigenen Füße gestolpert.« Der Gedanke brachte sie mit einem Schaudern zum Stehen. Auf diesen uralten, zerfallenen Felsen konnte ein einziger Fehler schon tödlich sein. Sie näherte sich gerade der Festung, als ein Schrei durch die Nacht hallte.

Ein Schrei? Shia legte die Ohren an. Das konnte unmöglich sein, aber … Fauchend sprang sie von einem Felsvorsprung zum anderen den Berg hinunter, als würde sie von einer Horde Dämonen verfolgt. Es war unmöglich, dieses gefährliche Gebiet im Laufschritt hinter sich zu bringen, aber Shia, die vor Angst und Wut außer sich war, legte ein gefährliches Tempo vor, wobei sie die Krallen ausgestreckt hielt, um besseren Halt zu finden. Als sie den Abgrund direkt vor der Festung erreichte, wurde ihr Herz plötzlich zu einem Eisklumpen. Bohan, dessen Augen in einem vor Entsetzen grau gewordenen Gesicht hervortraten, hielt sich mit den Fingern an dem morschen Felsvorsprung fest, der unter dem Gewicht seines gewaltigen Körpers beinahe ganz abgebrochen war. Irgendwie hatte er es im Fallen geschafft, sich an der Kante des abgebrochenen Steins festzuhalten, und hing jetzt über dem Abgrund.

Vor Shias entsetzten Augen glitten seine Finger, die kaum noch Kraft hatten, ein Stückchen weiter ab. Die Katze sprang nach vorn und bohrte ihre Fangzähne in Bohans Gewand, wobei sie ihre Krallen mit aller Kraft in den Stein grub, um nicht selbst abzurutschen. Das Gewicht des Eunuchen zerrte sie in die Tiefe, und sie mußte die Muskeln in ihrem Kiefer und in ihrem Hals bis an die Grenze des Erträglichen anspannen, aber sie hielt ihn fest und versuchte, ihm so viel wie möglich von seinem Gewicht abzunehmen. Das war alles, was sie für ihn tun konnte. Den Rest würde Bohan selbst erledigen müssen, aber er schien wie gelähmt vor Entsetzen zu sein und außerstande, seinen ohnehin allzu dürftigen Halt aufs Spiel zu setzen, indem er versuchte, sich weiter hochzuziehen.

Shias Gedanken flogen zurück in die Tunnel unterhalb von Dhiammara, in denen sie bei ihrem Kampf gegen jene Spinnenkreatur beinahe in den Abgrund gestürzt wäre und Bohan ihr denselben Dienst erwiesen hatte, um ihr das Leben zu retten. Bohan war ihr schweigsamer, aber beharrlicher Kamerad gewesen seit dem Tag, an dem sie aus der Arena der Khazalim entkommen waren, und seitdem hatte er die Tage ihrer Freiheit mit ihr geteilt. Er war ihr Freund. Sie konnte ihn nicht fallenlassen. Beweg dich, du großer Hornochse, dachte sie verzweifelt. Zieh dich hoch. Ich kann dich nicht ewig so festhalten.

Sie bohrte ihre Kiefer noch fester in den kleinen Stoffetzen, den sie im Maul hielt, und versuchte, sich ein wenig nach hinten zu bewegen. Sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, zu versuchen, den Eunuchen allein hochzuziehen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Das leise, harte Geräusch zerreißenden Stoffs schien durch die Nacht zu gellen und klang in Shias Ohren lauter als ein Donnerschlag.

Bohan!

Der Eunuch sah ihr in die Augen und sagte ganz deutlich: »Shia. Meine Freundin.« Seine Finger kratzten fruchtlos über den Stein, als der Stoff endgültig nachgab, und dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Shia hörte den Aufprall eines Körpers weit unten in der Schlucht.

Dann herrschte Stille, und man hörte nur noch den Wind.

Shia ließ sich auf ihre Hinterbeine sinken und heulte den gleichgültigen Bergen ihren Gram entgegen.


Anvars Welt war zu einem Alptraum aus Qualm und Blut und blitzenden Klingen geworden. Obwohl Aurian ihn auf ihrer Reise in der Benutzung eines Schwerts unterwiesen hatte, war dies doch sein erster richtiger Kampf, und sobald er sich in ihn hineingestürzt hatte, mußte er feststellen, daß all ihre sorgfältigen Lektionen plötzlich wie ausgelöscht waren. Er konnte nur noch auf die Bewegungen seines Gegners reagieren, auf das nächste Schwert, das der nächste Feind gegen ihn erhob. Aus einer kleinen Schnittwunde in seinem Unterarm, wo die Spitze einer feindlichen Klinge ihn getroffen hatte, sickerte warmes Blut, aber in der Hitze des Kampfes spürte er keinen Schmerz. Er wehrte einen Schlag ab; übersah eine Gelegenheit, zuzustoßen, und fluchte; drehte seine Klinge um, um den Schlag mit der Rückhand zu parieren. Denselben Fehler beging er nicht noch einmal. Die Lektionen, die Aurian ihm erteilt hatte, trugen schließlich doch Früchte und leiteten seine Instinkte, so daß er mit dem Schwert die Deckung seines Gegners durchbrach und dem Mann den Bauch aufschlitzte. Der Xandim stürzte zu Boden, und sofort tauchte ein anderer auf, der seinen Platz einnahm.

Anvars Schwert hatte plötzlich ein Eigenleben, hieb und schlug zu, parierte und wehrte ab, und er sah nur noch die Feinde um sich herum und die schattenhaften Gestalten von Schiannath und Yazour, die an seiner Seite kämpften. Ganz schwach wurde ihm bewußt, daß ihm ihre überlegenen Kampfkünste bei seiner Verteidigung halfen, aber für Dankbarkeit hatte er im Augenblick keine Zeit. Er durfte nur an sein eigenes Überleben denken. Und doch nahm er irgendwo am Rande seines Bewußtseins immer die hochgewachsene Gestalt mit dem flammend roten Haar wahr, die auf der anderen Seite des tobenden, halb wahnsinnigen Mobs stand.

Aurian rückte ihm langsam näher – oder er rückte ihr näher. In jeder Minute, die verging, verringerte sich die Zahl der Feinde zwischen ihnen. Die Magusch hatte sich gerade eines Gegners entledigt und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Als sie sich näherte, spürte Anvar die prickelnde Macht des magischen Schilds, den sie um sich und ihre Kameraden errichtet hatte, und sah, wie die angreifenden Xandim vor der Barriere zischender Funken zurückprallten. Mit einer Woge der Erleichterung darüber, daß der Kampf vielleicht bald ein Ende haben würde, vereinigte er seine Kraft mit der seiner Seelengefährtin, um den Schild weiter auszubauen und zu stärken.

»Zurück in den Turm!« schrie Aurian mit einer Stimme, die es mit Forrals kampferprobtem Brüllen durchaus hätte aufnehmen können. Aber gerade in dem Augenblick, als die beiden Magusch inmitten des Kampfgetümmels aufeinandertrafen, ging plötzlich alles auf entsetzliche Weise schief. Anvar sah Sangra und Iscalda die Stufen des Turms hinunterlaufen, und die beiden Frauen schrien ihm irgend etwas über einen abgebrochenen Felsvorsprung zu, etwas, das für ihn absolut keinen Sinn ergab. Aurian, die mit Shia enger verbunden war als er, empfing die Botschaft einen Augenblick früher. Anvar sah seine Seelengefährtin stürzen, ihre Augen waren ausdruckslos und ihr Gesicht totenbleich. Während der Schild langsam in sich zusammensank, stieß der Feind erneut vor.

»Nein!« Im selben Augenblick, in dem Aurian dieser Schrei tiefster Trauer entfuhr, drang die Wucht von Shias Gefühlen in Anvars Gedanken ein. Bohan? Tot? Er konnte es nicht fassen.

»Paß auf, du Idiot!« Der Befehl riß Anvar in die Gegenwart zurück. Ein Schwert blitzte auf, um die Klinge abzuwehren, die auf ihn zuschoß, und ein Funkenregen versengte sein Gesicht, der nur um Haaresbreite seine Augen verfehlte. Anvar riß sich zusammen und stieß dem Angreifer seine Klinge in die Brust; der Schwung seiner Bewegung ließ ihn herumwirbeln, und er sah Yazour neben sich, der es nun mit einem weiteren Feind aufnahm. Hinter ihnen beschützte Schiannath Aurian auf dieselbe Weise, während Chiamh neben Parric kämpfte, an dessen Seite Sangra und Iscalda den Eingang zum Turm verteidigten.

»Aurian!« schrie er und war erleichtert, als er sah, daß ihre Augen wieder einen klaren Blick angenommen hatten und gleich darauf zornig aufblitzten. Mit einem lauten Fluch riß sie den Schild wieder hoch – und das mit solcher Gewalt, daß mehrere Xandimsoldaten zurück in den Korridor geschleudert wurden. Anvar rannte auf die Magusch zu und griff nach ihrer Hand, um sie in Sicherheit zu bringen, damit sie in ihrem Zorn über Bohans Tod nicht auf die Idee verfiel, es ganz allein mit sämtlichen Xandim aufzunehmen. Selbst in einem Augenblick von solcher Verzweiflung spendete seine Berührung ihr Trost, und Aurian war außerdem auch zu klug, um einen so ungleichen Kampf fortführen zu wollen. Also nutzten sie das Entsetzen und die Verwirrung ihrer Feinde aus und stürzten die Turmtreppe hinauf. Als sie allesamt sicher auf dem oberen Treppenabsatz angelangt waren, drehte sich Aurian mit flammenden Augen um und feuerte einen gewaltigen Energiestrahl auf die gewölbte Decke des Treppenhauses unter sich ab. Ein Aufschrei empörten Schmerzes von Basileus hallte in Anvars Gedanken wider, und das Dach fiel in einer krachenden Lawine von Schutt und Staub in sich zusammen.

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