Die Elemente waren in Aufruhr. Die glatten, schwarzen Felsen der Xandimküste verloren sich unter den gnadenlosen, weißen Fangzähnen der Wellenbrecher. Eine anschwellende, stahlgraue Brandung wogte gegen die unverwüstlichen Steine am Ufer. Der Sturmwind heulte seine eigene schrille Melodie, die sich in das donnernde Dröhnen der Brandung einfügte, in das Brüllen und Fauchen der bezwungenen Wellen. Ein salziger Nebel, der seinen Ursprung in der vom Wind aufgepeitschten Gischt hatte, legte eine klebrige Schicht auf Aurians Haut und brannte in Anvars eiskaltem Gesicht, während er in die Düsternis spähte. Die Magusch leckte sich den Salzgeschmack von den Lippen und zog die Kapuze ihres Umhangs noch fester um den Kopf.
»Das mußte wohl früher oder später passieren!« rief sie, wobei sie ihre Worte gleichzeitig in Gedanken wiederholte, so daß Anvar sie trotz des Heulen des Sturmes hören konnte. Die beiden Magusch waren ein kleines Stück von Chiamh und den großen Katzen weggegangen, um über dieses neue Problem zu sprechen, mit dem sie nun fertigwerden mußten. »Das war zu erwarten, nachdem Eliseth der Welt so lange ihren Winter aufgezwungen hat. Anschließend haben wir dann einen für die Jahreszeit viel zu warmen Frühling geschaffen … Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Elemente beruhigt haben.«
»Ich hoffe nur, wir haben nicht zu großen Schaden angerichtet – das ist ein ziemliches Unwetter. Der Sturm weht jetzt schon seit zwei Tagen und zwei Nächten.« Anvar biß sich auf die Unterlippe und schaute stirnrunzelnd über den aufgewühlten Ozean. Er fragte sich, wie seine Seelengefährtin es fertigbrachte, so ruhig zu klingen.
Aurian zuckte mit den Achseln. »Eliseth hat damit angefangen. Ich bezweifle, daß wir mit unserem Versuch, das wieder in Ordnung zu bringen, noch mehr Schaden angerichtet haben. Schließlich ist die Welt viel größer, als wir ermessen können – selbst mit unserer Magie. Das Wetter nimmt einfach wieder seinen gewohnten Zyklus auf. Nur … Ich wünschte, es hätte sich nicht ausgerechnet jetzt dazu entschlossen. Was uns betrifft, hätte es zu keinem schlechteren Zeitpunkt sein können.« Sie schaute über die Schulter, wo sich die nassen, durchgefrorenen und verdreckten Xandim zusammenscharten, denen es in diesem Sturm nicht gelungen war, ihre Zelte aufzubauen. Jetzt drängten sie sich hinter den Magusch auf der Landspitze zusammen und schauten sie erwartungsvoll an.
Anvar verstand Aurians Besorgnis. Die letzten Tage waren für keinen von ihnen einfach gewesen. Als Rudelfürst hatte Schiannath viele der Pferdeleute überreden können, ihn und Chiamh nach Norden zu begleiten, um Aurian bei ihrem Feldzug beizustehen, aber es hatten sich auch viele mahnende Stimmen erhoben. Wenn es jetzt zu lange dauerte, bis sie ein geeignetes Transportmittel fanden, um über das Meer zu kommen, dann würden sich auch die Freiwilligen möglicherweise noch einmal anders entscheiden.
»Möchtest du, daß ich uns davon befreie?« Anvars Hand stahl sich in seinen Umhang, um die Harfe der Winde zu berühren, die er sich mit Lederriemen auf den Rücken geschnallt hatte. Eine herrliche Melodie von Sternengesang hallte in seinem Kopf und sandte ein köstliches Schaudern über seinen ganzen Körper, als er den Kristallrahmen berührte. Anvar biß die Zähne zusammen, um dieser Verlockung zu widerstehen. Denn er hatte es bisher noch nicht geschafft, die Macht des Artefakts ganz zu zähmen, und die Harfe versuchte immer wieder, ihn mit ihrer Sirenenmusik dazu zu bringen, ihre Magie auf die Welt loszulassen.
»Anvar – warte!« Aurian fing seine Hand auf. Sie wußte aus ihren eigenen frühen Erfahrungen mit dem Stab der Erde von seinen Schwierigkeiten, die Harfe unter Kontrolle zu halten, und hatte ihm in den vergangenen Tagen ungeheuer geholfen. Als sie seinen Seufzer hörte, drückte sie mitleidig seine Hand. »Keine Angst – du wirst sicher bald deine Chance erhalten. Aber da dieser verwünschte Sturm jetzt schon seit zwei Tagen bläst, kann niemand wissen, wie lange er noch andauern wird. Wenn wir Parrics Nachtfahrerfreunde dazu bewegen könnten, uns ihre Schiffe zu schicken, brauchen wir dich vielleicht, um den Ozean zu beruhigen, damit wir die Überfahrt wagen können. Wenn wir uns in diesem Stadium zu sehr ins Wetter einmischen, könnte das die Probleme später noch verschlimmern.«
»Aber wie willst du den Leviathan dann erreichen?« wandte Anvar ein.
»Ich werde mich jetzt auf die Suche nach ihm machen.« Aurians Gedankenstimme duldete keinen Widerspruch. Sie hatte bereits die Hände gehoben, um ihren Umhang zu öffnen. »Ich will verdammt sein, wenn ich hier noch länger rumstehe und warte.«
»Aurian, das ist Wahnsinn!« Anvar hielt ihre Hände fest. »Du bringst dich um.« Seine alte Angst vor tiefem Wasser kehrte plötzlich zurück und drohte, ihn zu überwältigen.
»Keine Angst.« Ganz sanft befreite sich Aurian aus seinem Griff. »Wenn ich das wirklich befürchtete, würde ich diese Sache nicht mal in Erwägung ziehen, glaub mir – nicht jetzt, da ich dich und Wolf habe.« Ihre Gedankenstimme wurde weicher, und sie lächelte ihm zu. »Weißt du nicht mehr, daß es für eine Magusch unmöglich ist, zu ertrinken? Außerdem war der Sturm in jener Nacht des Schiffsunglücks viel schlimmer als heute, und damals haben wir beide mit Hilfe des Leviathans überlebt. Ich muß lediglich darauf achten, daß die Felsen mich nicht in Stücke reißen, und wenn du zur östlichen Seite der Landzunge schaust, wirst du eine Art Meeresarm sehen. Wenn ich dort an der richtigen Stelle ins Wasser gehe, müßte die Strömung mich eigentlich von den Felsen wegführen.«
»Was?« fragte Anvar. »Hast du den Verstand verloren?«
»Nein – nur die Geduld«, erwiderte Aurian, während sie sich, wahrscheinlich zum hundertsten Mal, das Haar aus den Augen strich, das der Wind ihr ins Gesicht wehte. »Wenn ich von meiner letzten Begegnung mit den Leviathanen ausgehe, denke ich, daß sie vielleicht eine Weile brauchen, bis sie sich dazu durchringen, uns zu helfen. Wenn ich jetzt Kontakt mit ihnen aufnehmen und ihnen unsere Lage schildere, können wir alle in diese Fischersiedlung zurückkehren, an der wir vorbeigekommen sind, um ganz bequem abzuwarten; und wenn alles gutgeht, können die Boten aufbrechen, sobald sich der Sturm gelegt hat.«
Anvar seufzte. Er kannte das sture Glitzern in den Augen seiner Seelengefährtin und wußte, daß er sie nicht von ihrer Idee würde abbringen können, sosehr er sich auch anstrengen mochte. Es würde eine Menge Zeit sparen, wenn er sich einfach dem Unvermeidlichen beugte, ihrem Urteil vertraute und sie ziehen ließ, damit sie die Sache endlich hinter sich bringen konnte. »Dann geh – aber um aller Götter willen, paß auf dich auf!«
Aurian küßte ihn. »Keine Angst. Um deinetwillen und um Wolfs willen werde ich vorsichtig sein.« Dann war sie fort und lief die Landzunge hinunter, den schmalen Pfad entlang, den die Xandimfischer dort geschaffen hatten.
Als Anvar sie einholte, der durch die verwirrten Fragen von Chiamh und Shia aufgehalten worden war, stand sie bereits auf dem felsigen Ufer des Meeresarms und streifte ihre Kleider ab. »Uh!« murmelte sie durch klappernde Zähne. »Ich und meine klugen Ideen.«
»Geschieht dir ganz recht«, sagte Anvar unbarmherzig, während er ihren Umhang, das Leinenhemd und den Lederrock sowie ihre Stiefel einsammelte – alles Xandimkleider –, damit der Wind sie nicht wegwehte. Dann beschwerte er die Kleider mit ihrem Schwert und den Stiefeln; den Erdenstab, den sie ihm vorsichtig in die Hände legte, schob er sich jedoch in den eigenen Gürtel, wo beide Artefakte ihre Energien in einem Aufblitzen fröhlichen Leuchtens zusammenfließen ließen, bis sogar die Luft summte und glitzerte, so gewaltig war die gemeinsame Macht von Erdenstab und Windharfe.
»Laßt das!« murmelte Anvar gereizt, denn er wollte sich ganz auf Aurian konzentrieren. Als er seinen Willen ausstreckte, um dieser Woge der Macht Einhalt zu gebieten, erstarb das schimmernde, grünweiße Leuchten, und nur ein leises, trotziges Summen blieb zurück. Als Anvar wieder aufblickte, war Aurian bereits eine bleiche, ferne Gestalt, die vorsichtig und barfuß über die Klippen lief, die in die kleine Bucht hineinragten.
»Du hättest ruhig warten können.« Anvar sandte ihr in Gedanken eine verletzt klingende Botschaft nach.
»Warum? Damit ich erfriere?« erklang die geistesabwesende Antwort. »Ich kann genausogut von hier aus mit dir reden – autsch! Diese verfluchten Felsen sind aber auch spitz!«
Bereits im nächsten Augenblick war nichts mehr von ihr zu sehen, nachdem sie am Ende der Landzunge in die aufgewühlten Wellen eingetaucht war. Anvar seufzte und setzte sich, ihr Kleiderbündel an die Brust gepreßt, auf einen Felsbrocken in der Nähe, um auf ihre Rückkehr zu warten. Sie hatte recht, dachte er, als er immer heftiger zu zittern begann. Diese verwünschten Felsen waren wirklich spitz. Nach einer Weile gesellten sich Shia und Chiamh zu ihm, nachdem sie die anderen in die Fischersiedlung zurückgeschickt hatten, die Aurian erwähnt hatte. Während der bewölkte Himmel der Nacht entgegendunkelte, warteten die drei Freunde gemeinsam auf dem windgepeitschten Strand auf Aurians Rückkehr.
Aurian kämpfte sich zitternd an den bösartigen, messerscharfen Felsen entlang und fragte sich, wie sie den Mut aufbringen sollte, ihre Lungen zum ersten Mal mit Wasser vollzusaugen, um auf diese Weise ihre Atmung den Bedingungen des Meeres anzupassen. Wie sich herausstellte, hätte sie sich keine Sorgen zu bereiten brauchen. Als sie ins Wasser sprang, war das Meer so kalt, daß sie unwillkürlich aufkeuchte, und nach einem Augenblick verzweifelten Umsichschlagens, in dem Schmerz und Panik sie schier zu überwältigen drohten, stellte sie fest, daß sie unterhalb der Wasseroberfläche ganz natürlich atmen konnte.
Es war ein Glück, daß dieser Kampf nur kurze Zeit dauerte. Schon jetzt veränderte sich die Strömung und versuchte, sie zu den grausamen Felsen des Riffs zurückzuziehen. Aurian hielt sich unter Wasser, außerhalb der Reichweite der krachenden Wogen über ihr, und begann zu schwimmen, wobei sie mit aller Kraft gegen die Strömung ankämpfte. Da sie auf diese Weise von der schlimmsten Wucht des Sturms verschont blieb, gelangte sie leichter voran, als sie erwartet hatte, und schon bald fand sie ihren eigenen Rhythmus. Wäre das Wasser nicht so schlammig gewesen und so vom Sand durchsetzt, den der heftige Wellengang vom Boden aufgewirbelt hatte, und wäre nicht die unerbittliche Kälte des nördlichen Ozeans gewesen, hätte sie ihren Ausflug sogar genossen.
Als sich die Magusch weiter von der Küste entfernte, stellte sie fest, daß das tiefere Wasser viel klarer war, und jetzt versuchte auch die Strömung nicht mehr, sie bald hierhin und bald dorthin zu zerren. Sie konnte daher tiefer tauchen, in noch ruhigeres Wasser, wo der Zorn des Sturmes, kaum mehr war als eine ferne Erinnerung. Schließlich fand sie, daß sie weit genug geschwommen war, und begann, den Leviathan herbeizurufen.
Aurian versuchte, ihn sowohl mit ihrer Stimme als auch mit ihren Gedanken zu erreichen, und fing an, die getragene, ergreifende, wirbelnde Melodie zu singen, die viele Meilen durch das Wasser dringen und das Walvolk von seinen fernen Wanderungen herbeirufen würde. Sie rief vor allem nach Ithalasa, dem alten Freund, der sie nach dem Schiffsunglück gerettet und ihr neben weisen Ratschlägen auch in jeder anderen erdenklichen Hinsicht geholfen hatte.
Sie sang eine lange Zeit, bevor sie schließlich lauschte und betete, aus der Ferne eine Antwort zu erhalten. Aber es kam nichts. Aurian unterdrückte einen Anflug von Ungeduld und ruhte sich eine Weile aus, denn das Singen des hohen, klagenden Walgesangs hatte sie erschöpft. Dann begann sie wieder zu singen, begann mit dem langen Gesangszyklus, der ganz am Anfang des Liedes stand – und diesmal erhielt sie eine Antwort.
Der ferne Ruf war so schwach, daß sie ihn zuerst nur in ihren Gedanken und nicht mit ihren Ohren hören konnte. Aurian wartete darauf, daß sich der Sänger näherte, und stimmte jetzt selbst einen Grußgesang an. Schon bald wurde die anfangs nur schwach hörbare Stimme deutlicher.
»Magusch? O Magusch?«
Es war Ithalasa. »Ithalasa! Wie schön, dich wiederzusehen!« rief Aurian freudig. »Was für ein unglaubliches Glück, daß du es bist, der mir entgegenschwimmt.«
»Kein Glück, Magusch, aber es erklärt, warum wir so lange mit der Antwort gezögert haben«, erwiderte der Leviathan. »Einige meiner Schwestern hörten weit draußen im Ozean deinen Gesang und beschlossen, daß wieder mal ich derjenige sein sollte, der unsere Rasse repräsentiert, denn ich habe ja schon einmal mit dir gesprochen. Sie haben mich gerufen – und ich bin gekommen.«
Binnen weniger Minuten war er bei Aurian und schwamm kurz an die Oberfläche, um zu blasen und einen neuerlichen, mächtigen Atemzug zu tun, bevor er wieder zu der Magusch zurücktauchte. Sein massiger, stromlinienförmiger Körper hing reglos in der Strömung; nur seine geschwungenen Schwanzflossen pendelten leicht hin und her. Sein riesiger Leib ließ Aurian wie eine Zwergin erscheinen.
»Nun«, sagte Ithalasa gutgelaunt, »wo liegt diesmal dein Problem, Kleine? Ich sehe hier kein Schiffswrack.«
»Das kannst du auch nicht – ich bin von der Küste der Xandim aus hierhergeschwommen, um dich zu suchen«, erklärte Aurian.
»Das hast du getan? Bei diesem Sturm?« Die Stimme des Leviathan klang überrascht und enthielt eine gute Portion Respekt. »Dann muß dein Problem tatsächlich groß sein.«
»Das ist es auch, aber noch dringender muß ich aus dem Wasser heraus, bevor ich vor Kälte erstarre«, sagte Aurian zu ihm. Sie konnte ihn jetzt nur noch mit ihrer Maguschsicht erkennen, denn das Wasser war mit dem Einbruch der Nacht tiefschwarz geworden. Ihre Arme und Beine waren taub und bleich, und sie konnte spüren, wie ihre Gedanken immer träger wurden. »Ich glaube nicht, daß ich noch viel länger hierbleiben kann, Ithalasa. Würde es dir etwas ausmachen, mich ans Ufer zu bringen, damit ich mich von dort aus mit dir unterhalten kann?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein. Und es wird schön sein, wieder einmal mit dir zu schwimmen, Kleine.«
Hilfsbereit streckte der Leviathan ihr eine große, geschwungene Flosse entgegen. »Kannst du auf meinen Rücken klettern, wie du es schon einmal getan hast?«
Aurian stellte fest, daß sie das, was sie damals mit solcher Leichtigkeit geschafft hatte, heute, von der Kälte geschwächt, große Mühe kostete. Aber schließlich gelang es ihr, sich von der ausgestreckten Flosse hochzustemmen und das kleine Stück nach oben zu schwimmen, bis sie Ithalasas breiten, grauen Rücken unter sich sah. Der Leviathan schwamm nun langsam an die Oberfläche und schob sie mit sich hoch, wobei er sehr vorsichtig vorging, damit ihr Körper sich an die veränderten Druckverhältnisse gewöhnen konnte. Schließlich brach er durch die Oberfläche ins Freie, und die Magusch lag auf seinem Rücken, keuchte, würgte und hustete das Wasser aus ihren Lungen, während sie sich von neuem daran gewöhnen mußte, wieder Luft zu atmen.
Nun weiß ich auch, wie sich eine ertrunkene Ratte fühlt, dachte Aurian kläglich. Sie lag keuchend und zitternd auf Ithalasas Rücken und hatte nicht mal mehr die Energie, sich zu bewegen, denn in dem kalten Wind fror sie genauso, wie sie es vorher im Meer getan hatte. Die Wellen brachen sich über ihr, während sich Ithalasa durch das tobende Wasser kraftvoll seinen Weg zurück ans Land bahnte. Und wieder und wieder wurde Aurian in den Ozean zurückgeworfen, denn auf dem gesprenkelten, muschelbedeckten Rücken gab es nur einen Halt: den leichten Höcker der Rückenflosse, die in anderen Clans der Leviathanrasse so deutlich betont war.
Mit Rücksicht auf ihren erbärmlichen Zustand untersagte Ithalasa es sich, der Magusch Fragen zu stellen, während er sie an die Küste brachte. Es dauerte nicht lange, da konnte Aurian in den Blitzen, die das Meer viele Meilen weit erhellten, den dunklen Flecken der Xandimküste erkennen. Beim nächsten Blitz erschien ihr das Land dann schon sehr viel näher.
Das Wasser war tief genug, um Ithalasa bis in den Eingang des Meeresarmes vorzulassen, und Aurian brauchte nur noch wenige Meter zu schwimmen, um das Felsenriff zu erreichen, von dem aus sie aufgebrochen war. Sie dankte den Göttern, daß der Weg nicht länger war. Anvar, der am Ende der Felszunge auf sie wartete, hielt ihr eine starke Hand hin, um sie aus dem Wasser zu ziehen, und ohne seine Hilfe hätte sie es nie geschafft. Ganz schwach hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken, als er den Leviathan begrüßte – dann wurde sie sich einer segensreichen Wärme bewußt, als er ihren Umhang um sie wickelte. Anvar hob Aurian hoch und trug sie sicher über die schlüpfrigen, scharfkantigen Steine zum Strand, wo sie Shia und Chiamh und zu ihrem großen Entzücken ein riesiges Lagerfeuer aus Treibholz sah, das mitten im Toben des Sturmes hellauf brannte. Anvar hielt es wohl mit seiner Magie am Leben.
Anvar setzte sie am Feuer ab und ging daran, ihren Körper mit dem rauhen Umhang abzureiben und so das Blut in ihre starren Glieder zurückzubringen, bevor er ihr schließlich seinen eigenen, trockneren Mantel umlegte. Aurians Glück war schließlich vollkommen, als das Windauge ihr einen Becher von seinem dampfenden Kräutertee reichte, den er großzügig mit Honig und dem starken Xandimschnaps gewürzt hatte. Anvar half ihr, den Becher festzuhalten. Aurian zwang das irdene Gefäß zwischen ihre klappernden Zähne und nahm einen tiefen Schluck. Augenblicklich breitete sich Wärme in ihrem durchgefrorenen Leib aus. Binnen weniger Sekunden fühlte sie sich schon viel besser, wenn sie auch ein wenig schläfrig und immer noch unsicher war, ob es ihr wohl jemals wieder wirklich warm werden würde.
Der Schlaf jedoch würde warten müssen, denn sie hatten den geduldigen Leviathan nun lange genug warten lassen. Mit Anvars Unterstützung mühte sich Aurian wieder in ihre Kleider und leistete keinen Widerstand, als seine Hilfe sich in eine schnelle Umarmung verwandelte. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen«, murmelte sie, »und dankbar, daß du nicht gesagt hast, du hättest mich ja gewarnt.«
»Nun, das habe ich – aber immerhin hattest du Erfolg, also will ich dich diesmal ungeschoren davonkommen lassen.« Er grinste sie an. »Geht es dir jetzt besser?«
Aurian nickte. »Es wird Zeit, daß wir mit Ithalasa reden.«
»Ich bin glücklich, dich wieder mit deinem Gefährten zusammen zu sehen, nach all euren Mißgeschicken und Streitereien im Süden«, war die erste Bemerkung, die der Leviathan Aurian gegenüber äußerte. Dann hörte er sich die Geschichte an, wie die beiden Seelengefährten einander gefunden hatten, und zeigte sich nicht überrascht darüber, daß Anvar ebenfalls ein Magusch war. Ithalasa freute sich, von der sicheren Geburt des Kindes der Magusch zu erfahren und zu hören, daß das Kleine im Augenblick mit seinen wölfischen Wächtern in der Fischersiedlung war. (Sie hatten Sangra bei ihnen gelassen, die die ganze Zeit über düster vor sich hin gemurmelt hatte, daß sie eine Kriegerin sei und keine verdammte Amme.) Da sowohl Shia als auch Chiamh der Gedankenrede mächtig waren, konnten die Magusch dem Leviathan ihre Freunde vorstellen, und er begrüßte sie freundlich und mit einer gehörigen Portion Neugier – vor allem in bezug auf die ungewöhnliche Natur der Kräfte, über die das Windauge verfügte. Aber als Aurian und Anvar, die auf den sturmgepeitschten Felsen nebeneinanderstanden, ihm erzählten, wie sie in den Besitz des Erdenstabes und der Windharfe gelangt waren, war alles andere plötzlich vergessen. Sie konnten Ithalasas wachsende Erregung spüren, in die sich deutlich erkennbar Sorge mischte.
»Ich dachte schon, daß ich hier die Macht der Hohen Magie spüre!« rief er aus. »Und was ist mit dem Flammenschwert?«
»Genau deswegen brauchen wir ja deine Hilfe.« Hastig erklärte ihm Aurian ihre schwierige Situation.
»Ich verstehe …«, sagte Ithalasa. »Also müßt ihr euren Freunden drüben am nördlichen Ozean eine Botschaft zukommen lassen, damit sie euch Schiffe entgegenschicken können?«
»So ist es«, sagte Anvar. »Du kannst uns nicht alle auf deinem Rücken mitnehmen. Und Wolf wäre viel zu klein für eine solche Reise.«
»Aber wie soll ich eine Botschaft überbringen? Ich kann nur mit euch Magusch reden.«
»Nun«, sagte Aurian, »wir hofften, daß du einen oder zwei von uns nach Wyvernesse bringen kannst, damit wir mit den Nachtfahrern sprechen können.« Plötzlich spürte sie das Zögern des Leviathans, und ihr Herz krampfte sich zusammen, obwohl sie etwas in der Art erwartet hatte.
»Ja, Kleine«, hallte die gewaltige Stimme in ihren Gedanken wider. »Wie du bereits erraten hast, bedeutet eine solche Tat, daß die Leviathane wieder einmal an den Kriegen der Macht Anteil nehmen. Nach der Verheerung haben wir geschworen, uns nie wieder in die Angelegenheiten der Magusch einzumischen – und doch haben wir das bereits getan, denn ohne unsere Hilfe hättet ihr die beiden ersten Artefakte niemals gewonnen. Bevor ich dich irgendwo hinbringen kann, damit du das Flammenschwert erringst, muß ich mich noch einmal mit meinem Volk beraten.«
»Das habe ich mir gedacht.« Aurian seufzte. »Aber Ithalasa – bist du sicher, daß du das wirklich noch einmal auf dich nehmen willst?«
»Ich bin sicher, Kleine. Was mich betrifft, vertraue ich darauf, daß ihr die Waffen weise gebrauchen werdet. Ob meine Brüder und Schwestern genauso denken, muß sich erst noch zeigen …« Er zögerte, aber als er dann wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme sehr entschieden. »Nein – ich weiß schon, wie ihre Antwort aussehen wird. Das letzte Mal haben sie mir erlaubt, dir zu helfen, weil sie nicht glaubten, daß du die verlorenen Artefakte wirklich finden würdest. Diesmal wird es anders sein, denn ihr habt ja schon die Harfe und den Stab, und die Gefahr einer neuerlichen Verheerung ist sehr nahe gerückt. Sie werden mir nicht erlauben, mich noch einmal einzumischen – und darum dürfen sie nichts davon erfahren. Kehrt an diesen Ort zurück, sobald der Sturm sich ein wenig gelegt hat, und ich werde eure Boten nach Norden bringen.«
»Warte«, wandte Aurian ein. »Wenn sie herausfinden, was du getan hast, werden sie dich dann nicht bestrafen? Ithalasa, ich kann nicht zulassen, daß du ein solches Risiko auf dich nimmst!«
»Du hast recht«, sagte Ithalasa. »Wenn sie es herausfinden, werde ich für mein Vergehen zahlen müssen – aber das ist mein Risiko. Nun komm, Kleine, welche Wahl hast du denn? Du mußt mein Angebot annehmen. Wie sonst wollt ihr über den Ozean kommen?«
Aurian wußte, daß er recht hatte. Sie hatte keine Wahl – aber das machte die Sache keinen Deut besser. Also nahm sie Ithalasas tapferes Angebot mit der ganzen Dankbarkeit an, die er verdiente, bevor die beiden Magusch sich verabschiedeten. Durch den schier undurchdringlichen Regen sahen sie den mächtigen Leviathan anmutig aus dem Wasser aufsteigen, als er sich zum Abschied hoch aus dem Wasser aufrichtete. Dann war Ithalasa fort und schwamm hastig dem offenen Meer entgegen.
Diesmal waren beide Magusch von der schäumenden Gischt tropfnaß, und Aurian war Chiamh sehr dankbar, als er ihnen anbot, sie auf seinem Rücken zu den Fischerleuten zu tragen. Diese hießen die Kameraden ihres Rudelführers mit einer warmen Mahlzeit und gewaltigen, lodernden Feuern willkommen. Man hatte ihnen das größte Haus überlassen, denn Schiannaths Vater war ein Abkömmling dieses Küstenclans, und sie hatten Schiannaths Sieg in der Herausforderung als ihren eigenen Triumph betrachtet. Nachdem die beiden Magusch es schließlich geschafft hatten, der überschwenglichen Gastfreundschaft der Fischer zu entkommen, war Aurian so dankbar wie selten zuvor in ihrem Leben, neben Anvar in ein warmes, weiches Bett zu kriechen, aber als sie dann endlich dort lag, konnte sie die ganze Nacht aus Sorge um den Leviathan und das Risiko, das er für sie auf sich nahm, nicht schlafen.
Der Sturm wütete noch den ganzen nächsten Tag bis in die folgende Nacht hinein, pfiff in den tropfnassen Strohdächern und donnerte gegen die kräftigen Steinhäuser der Xandimfischer. Die kleine Fischergemeinschaft, die an das unstete Wetter der Küste gewöhnt war, hatte, außer im Sommer, nicht viel übrig für Zelte – eine Tatsache, für die Aurian im Augenblick extrem dankbar war. Obwohl sie sich über die Verzögerung ärgerte, gab diese ihr die Zeit, ihre Gefährten über das Ergebnis ihres Gesprächs mit Ithalasa zu informieren. Die beiden Magusch, Aurian mit Wolf auf dem Schoß, versammelten sich mit Shia, Khanu und Chiamh um den großen Kamin in der Mitte des Hauses, der den allgemeinen Wohnraum des großen Steinbaus erwärmte. Auch Parric, Sangra, Yazour, der Xandimrudelführer und seine Schwester hatten sich zu ihnen gesellt. Bei einer Flasche Met begannen sie, Pläne zu schmieden.
Da es eine Weile dauern würde, bis die Xandim den Weg über das Meer zurücklegen konnten, widerstrebte es Aurian und Anvar, zu früh nach Norden aufzubrechen, weil sie fürchteten, Miathan und Eliseth könnten die Gegenwart der Artefakte spüren und den Kampf gegen die Magusch eröffnen, bevor diese ihre Kameraden bei sich hatten. Obwohl es ihnen leid tat, auf die Reise mit Ithalasa zu verzichten, trafen sie den Entschluß, daß Parric und Sangra an ihrer Stelle gehen sollten, denn diese hatten bereits bei den Nachtfahrern gelebt und sich damit einen Anspruch auf ihre Freundschaft erworben. Chiamh sollte sie begleiten, um mit dem Leviathan zu reden. Außerdem konnten seine Kräfte als Windauge möglicherweise von großem Nutzen sein, falls sich das Wetter während der Überfahrt noch einmal verschlechtern sollte.
Sobald sie alle im Norden waren, würden sie jedoch so schnell wie möglich zu Eilins Tal aufbrechen. Aurian wollte auf der Suche nach dem Schwert keine Zeit vergeuden. Was danach geschehen würde, war immer noch völlig ungeklärt. Sie diskutierten die verschiedenen Möglichkeiten bis spät in die Nacht hinein, bevor sie schließlich übereinkamen, daß die Zukunft auf sich selbst achtgeben mußte.
Am folgenden Morgen stellten die Kameraden fest, daß der Sturm endlich vorüber war, und sie konnten hinaus in die durchweichte Dünenlandschaft treten, wo das Marram-Gras vom Zorn der Elemente gnadenlos gebeutelt worden war. Nach einem hastigen Frühstück gingen sie in dem kühlen, nebligen Sonnenlicht die Landzunge hinunter, während am Himmel hohe, dünne Wolken dahinhuschten. Das Windauge schaute stirnrunzelnd zu dem unsteten Himmel auf. »Ich fürchte, das schlechte Wetter ist noch nicht fertig mit uns – aber wenn der Leviathan wirklich so schnell schwimmt, wie du sagst, müßten wir zumindest genug Zeit haben, um die Überfahrt vor dem nächsten Sturm zu schaffen.«
»Ich hoffe es«, erwiderte Aurian schaudernd.
»Falls es wieder stürmisch wird, bevor ihr Wyvernesse erreicht habt, versucht Kontakt mit uns aufzunehmen«, riet Anvar Chiamh. »Ich werde mein Bestes tun, das Unwetter mit der Harfe aufzuhalten, bis ihr sicher am anderen Ufer gelandet seid.«
Als sie die Bucht erreichten, sahen sie, daß die riesigen Wellenbrecher fort waren, obwohl das Meer immer noch kabbelig war und weiße Gischt die schnell dahintreibenden Wellen krönte. »Ob mit oder ohne Sturm, für mich sieht es aus, als würde das eine verflucht nasse Überfahrt werden«, sagte Parric düster – und verstummte jäh, als er zum ersten Mal einen Blick auf die lange, dunkle Gestalt Ithalasas werfen konnte, der geduldig in der funkelnden See jenseits der Landspitze wartete. »Beim Barte Chathaks!« murmelte der kleine Kavalleriehauptmann. »Ich wußte gar nicht, daß ein Wal so groß ist!« Auch Sangra sah plötzlich ziemlich blaß aus, und Aurian kicherte über ihr Unbehagen.
»Keine Sorge«, beruhigte sie die beiden. »Er kann euch nicht beißen – er hat nämlich keine Zähne.«
»Die braucht er auch nicht«, erwiderte Sangra. »Er könnte uns mit einem einzigen Schluck hinunterspülen.«
Aurian seufzte und gab es auf. Einige Leute würden nie begreifen, daß Ithalasa trotz seiner ungeheuren Größe und seines fremden Aussehens ein kluges, sanftes und intelligentes Wesen war. Voller Traurigkeit dachte sie an die Opfer, die Ithalasa auf sich nahm, um diesen starrköpfigen Landbewohnern zu helfen. Sie dankte den Göttern, daß Chiamh bereit war, zusammen mit den Kriegern diese Reise zu unternehmen. Wenn Parric und Sangra mit dem Leviathan Kontakt aufnehmen konnten, würden sie sicher schon bald ihre Ängste verlieren.
»Kleine, sind deine Gefährten bereit?« drängte Ithalasa Aurian sanft. Plötzlich begriff die Magusch, daß er vor dieser Reise genausoviel Angst hatte wie Parric und Sangra.
»Jawohl«, antwortete sie.
Obwohl die Fischer ihnen ein kleines Holzboot gegeben hatten, damit sie die Reisenden zu dem Leviathan hinausrudern konnten und die beiden ihre Überfahrt zumindest in trockenem Zustand antreten konnten, zog Aurian es für sich persönlich vor, zu Ithalasa hinauszuschwimmen, um ein letztes Mal mit ihm zu reden, bevor er aufbrach. Nicht einmal Anvar hatte eine Ahnung von dem, was zwischen den beiden in diesen letzten Augenblicken geschah, aber als die Magusch aus dem Ozean zurückkehrte, um ihren scheidenden Freunden nachzuwinken, vermutete er, daß die Röte in ihren Augen nicht nur vom Salzwasser rührte.
Er nahm ihren Umhang von den Steinen, auf denen sie ihn liegengelassen hatte, legte ihn ihr um die zitternden Schultern und zog sie fest an sich. »Weißt du, wenn du das öfter machst, holst du dir mit Sicherheit eine abscheuliche Erkältung«, tadelte er sie sanft.
Aurian schaute der glatten, immer kleiner werdenden Gestalt des Leviathans sehnsüchtig nach. »Es wäre die Sache wert«, sagte sie leise.