»Ach ja, das kenne ich. Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn Natascha. »Ich war noch ganz klein, da begegnete mir das einmal. Erinnerst du dich, ich wurde einmal wegen Pflaumenabpflückens bestraft, und ihr tanztet alle, und ich saß im Unterrichtszimmer und schluchzte; das werde ich nie vergessen: ich war traurig, und alle Menschen taten mir leid, ich selbst und alle; alle taten sie mir leid. Und, was die Hauptsache war, ich war unschuldig gewesen. Erinnerst du dich wohl noch?«
»Jawohl, ich erinnere mich«, antwortete Nikolai. »Ich erinnere mich, daß ich nachher zu dir kam und dich trösten wollte, und weißt du: ich hatte ein Gefühl, als müßte ich mich schämen. Wir waren furchtbar komisch. Ich hatte damals ein Spielzeug, ein ausgestopftes Tier, und das wollte ich dir geben. Besinnst du dich noch?«
»Und besinnst du dich noch«, sagte Natascha mit gedankenvollem Lächeln, »wie uns vor langer, langer Zeit, wir waren noch ganz klein, der Onkel in sein Zimmer rief, es war noch im alten Haus, und es war dunkel; wir kamen hin, und auf einmal stand da …«
»Ein Neger«, fiel Nikolai mit vergnügtem Lächeln ein. »Wie werde ich mich denn daran nicht erinnern? Ich weiß auch heute noch nicht, ob wirklich ein Neger da war oder wir es nur geträumt haben oder jemand es uns erzählt hat.«
»Er war nicht schwarz, sondern grau, erinnerst du dich? und hatte weiße Zähne. Er stand da und sah uns an …«
»Erinnern Sie sich auch noch daran, Sonja?« fragte Nikolai.
»Ja, ja, ich erinnere mich auch an so etwas Ähnliches«, antwortete Sonja schüchtern.
»Ich habe nachher nach diesem Neger Papa und Mama gefragt«, sagte Natascha. »Sie sagten, es sei kein Neger dagewesen. Aber du erinnerst dich doch auch daran!«
»Gewiß, ich erinnere mich an seine Zähne, wie wenn es heute gewesen wäre.«
»Wie sonderbar das ist; gerade als ob es uns geträumt hätte. So etwas habe ich gern.«
»Und erinnerst du dich noch, wie wir einmal im Saal mit Ostereiern trudelten, und auf einmal waren da zwei alte Frauen und drehten sich auf dem Teppich herum? War das nun Wirklichkeit oder nicht? Erinnerst du dich, wie schön es war?«
»Ja. Und erinnerst du dich, wie Papa in seinem blauen Pelz auf der Freitreppe mit der Flinte schoß?«
So durchmusterten sie lächelnd mit dem Genuß, den eine nicht greisenhaft-traurige, sondern jugendlich-poetische Rückerinnerung gewährt, die aus der fernsten Vergangenheit noch haftenden Eindrücke, bei denen Traum und Wirklichkeit zusammenfließen. Und sie lachten leise und freuten sich.
Sonja blieb, wie immer, hinter ihnen zurück, obgleich diese Erinnerungen eigentlich ihnen allen dreien gemeinsam waren.
Sonja konnte sich an vieles von dem nicht erinnern, woran sich die beiden andern erinnerten; und auch das, woran sie sich erinnerte, erregte bei ihr nicht jene poetische Empfindung, welche die andern dabei genossen. Sie hatte ihr Vergnügen nur an der Freude der beiden und bemühte sich, eine ähnliche Freude zu zeigen.
Wirklichen Anteil nahm sie erst dann, als erwähnt wurde, wie sie selbst zuerst zu der Familie gekommen sei. Sonja erzählte, wie sie sich vor Nikolai gefürchtet hätte, weil an seinem Jäckchen Schnüre gewesen wären und die Kinderfrau ihr gesagt habe, sie würde an diese Schnüre festgenäht werden.
»Und ich erinnere mich: mir sagten sie, du wärest unter einem Kohlkopf geboren«, sagte Natascha, »und ich erinnere mich, daß ich das damals nicht zu bezweifeln wagte, obwohl ich wußte, daß es nicht wahr sein konnte; und das war mir ein unheimliches Gefühl.«
Während dieses Gespräches schob sich durch die hintere Tür des Sofazimmers der Kopf eines Stubenmädchens hindurch.
»Gnädiges Fräulein, der Hahn ist gebracht worden«, meldete das Mädchen flüsternd.
»Ich brauche ihn nicht mehr, Polja, laß ihn nur wieder wegbringen«, sagte Natascha.
Als das Gespräch im Sofazimmer im besten Gang war, kam Herr Dümmler herein und ging zu der Harfe, die in einer Ecke stand. Er nahm den Überzug ab, wobei das Instrument einen häßlingen Klang gab.
»Eduard Karlowitsch, bitte, spielen Sie mir doch mein Lieblings-Notturno von Monsieur Field«, rief die alte Gräfin aus dem Salon.
Dümmler griff einen Akkord und sagte, zu Natascha, Nikolai und Sonja gewendet: »Wie nett und friedlich das junge Volk da so zusammensitzt!«
»Ja, wir philosophieren«, antwortete Natascha, sich einen Augenblick nach ihm hinwendend, und fuhr dann in dem Gespräch fort. Es war jetzt von Träumen die Rede.
Dümmler begann zu spielen. Natascha ging leise, auf den Fußspitzen, zum Tisch hin, nahm die Kerze, trug sie hinaus und setzte sich, als sie zurückkam, still wieder auf ihren Platz. Im Zimmer, und besonders bei dem Sofa, auf dem sie saßen, war es dunkel; aber durch die großen Fenster fiel das silberne Licht des Vollmondes auf die Dielen.
»Wißt ihr, ich glaube«, flüsterte Natascha, an Nikolai und Sonja näher heranrückend, als Dümmler schon das Musikstück beendet hatte und nun noch dasaß und leise hier und da eine Saite mit den Fingern berührte, augenscheinlich nicht recht wissend, ob er zu spielen aufhören oder etwas Neues anfangen sollte, »ich glaube, wenn man sich so erinnert und erinnert und immer weiter erinnert, dann bringt man es schließlich in der Erinnerung so weit, daß man sich an das erinnert, was geschehen ist, ehe man noch auf der Welt war.«
»Das ist die Metempsychose, die Seelenwanderung«, sagte Sonja, die in der Schule immer gut gelernt hatte und alles dort Gelernte noch wußte. »Die Ägypter glaubten, unsere Seelen hätten vorher in Tierleibern gesteckt und würden auch wieder in Tierleiber einziehen.«
»Nein, weißt du, das glaube ich nicht, daß wir Tiere gewesen sind«, erwiderte Natascha, immer noch in demselben Flüsterton, obwohl die Musik schon zu Ende war, »aber ich weiß bestimmt, daß wir einmal Engel waren, dort irgendwo, und daß wir auch hier unten waren, und uns daher an alles erinnern …«
»Darf ich mich zu Ihnen gesellen?« fragte Herr Dümmler, der leise herangetreten war, und setzte sich zu ihnen hin.
»Wenn wir Engel gewesen wären, wodurch hätten wir es dann verdient, so tief zu fallen?« entgegnete Nikolai. »Nein, das ist nicht möglich!«
»Nicht tief! Wer hat dir gesagt, daß das so tief ist …?« erwiderte Natascha. Und im Ton fester Überzeugung fuhr sie fort: »Und woher ich das weiß, was ich früher gewesen bin? Die Seele ist ja unsterblich … folglich, wenn ich immer leben werde, so habe ich auch vorher gelebt, von Ewigkeit her gelebt.«
»Ja, aber es fällt uns doch schwer, uns die Ewigkeit vorzustellen«, bemerkte Dümmler, der zwar ursprünglich mit einem Lächeln freundlicher Geringschätzung zu den jungen Leuten getreten war, nun aber ebenso ruhig und ernst redete wie sie.
»Warum soll es so schwer sein, sich die Ewigkeit vorzustellen?« sagte Natascha. »Sie ist heute, wird morgen sein, wird immer sein und war gestern und vorgestern …«
»Natascha, jetzt kommst du an die Reihe!« rief die Gräfin. »Sing mir etwas! Was sitzt ihr da alle zusammen wie die Verschwörer?«
»Ach, Mama, ich habe eigentlich gar keine Lust«, antwortete Natascha, stand aber doch gleichzeitig auf.
Sie hatten alle, selbst der schon bejahrte Dümmler, keine Lust, das Gespräch abzubrechen und aus dem Eckchen des Sofazimmers herauszukommen; aber Natascha war schon aufgestanden, und Nikolai setzte sich ans Klavier. Natascha stellte sich, wie immer, in die Mitte des Saales, wodurch sie sich den besten Platz für die Resonanz auswählte, und begann das Lieblingslied ihrer Mutter zu singen.
Sie hatte zwar gesagt, daß sie keine Lust zum Singen habe; aber dennoch sang sie lange Zeit vorher und nachher nicht so gut wie gerade an diesem Abend. Graf Ilja Andrejewitsch hörte ihren Gesang von seinem Arbeitszimmer aus, wo er mit dem Geschäftsführer Dmitri eine Besprechung hatte, und wie ein Schüler, der sich beeilt mit seinen Schularbeiten fertigzuwerden, um zum Spielen zu gehen, machte er bei den Weisungen, die er dem Geschäftsführer erteilte, lauter Konfusion und schwieg endlich ganz; und Dmitri stand, gleichfalls zuhörend, schweigend und lächelnd vor dem Grafen. Nikolai verwandte kein Auge von seiner Schwester und holte in Übereinstimmung mit ihr Atem. Sonja dachte beim Zuhören, was für ein gewaltiger Unterschied doch zwischen ihr und ihrer Freundin bestehe, und daß es ihr schlechterdings unmöglich sei, auch nur für eine kleine Weile eine so bezaubernde Wirkung auf andere auszuüben wie ihre Kusine.
Die alte Gräfin saß mit einem glücklichen und zugleich traurigen Lächeln und mit Tränen in den Augen da und wiegte manchmal den Kopf hin und her. Sie dachte sowohl an Natascha als auch an ihre eigene Jugend und konnte nicht von dem Gedanken loskommen, daß in dieser bevorstehenden Verheiratung Nataschas mit dem Fürsten Andrei etwas Unnatürliches und Besorgniserregendes liege.
Dümmler hatte sich neben die Gräfin gesetzt und hörte mit geschlossenen Augen zu.
»Nein, Gräfin«, sagte er endlich, »das ist ja ein Talent, wie man es in ganz Europa nur selten findet. Sie braucht nichts mehr hinzuzulernen; diese Weichheit, diese Zartheit, diese Kraft …!«
»Ach, wie ich mich um sie ängstige, wie ich mich um sie ängstige!« sagte die Gräfin, ohne zu bedenken, mit wem sie sprach. Ihr mütterliches Gefühl sagte ihr, daß bei Natascha irgendeine Art von Übermaß vorhanden sei und sie infolgedessen nicht glücklich sein werde.
Natascha hatte ihren Gesang noch nicht beendet, als der vierzehnjährige Petja ganz entzückt mit der Nachricht ins Zimmer gelaufen kam, es seien Vermummte gekommen.
Natascha brach plötzlich ab.
»Dummkopf!« rief sie ihrem Bruder zu, lief zu einem Stuhl, ließ sich darauf niederfallen und schluchzte dermaßen, daß sie lange Zeit nicht imstande war damit aufzuhören.
»Es hat nichts zu bedeuten, Mamachen; es hat wirklich nichts zu bedeuten; es kommt nur davon, daß mich Petja so erschreckt hat«, sagte sie und versuchte zu lächeln; aber die Tränen flossen immer noch, und das Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu.
Die vermummten Gutsleute, welche Bären, Türken, Schankwirte, Damen vorstellten und sämtlich schrecklich und lächerlich anzusehen waren, brachten kalte Luft und Fröhlichkeit mit sich, drängten sich aber zunächst schüchtern im Vorzimmer zusammen; dann allmählich schoben sie sich, einer sich hinter dem andern versteckend, in den Saal hinein und begannen, anfangs verlegen, dann immer lustiger und zuversichtlicher, ihre Gesänge, Tänze, Reigen und Weihnachtsspiele. Die Gräfin begab sich, nachdem sie die einzelnen Vermummten erkannt und ein wenig über sie gelacht hatte, wieder in den Salon. Graf Ilja Andrejewitsch aber blieb mit strahlendem Lächeln im Saal sitzen und spendete den Spielenden Beifall. Die jungen Leute waren verschwunden, niemand wußte, wohin.
Eine halbe Stunde darauf tauchten im Saal unter den andern Vermummten noch einige neue auf: eine alte Dame im Reifrock; dies war Nikolai. Eine Türkin war in Wirklichkeit Petja. Ein Bajazzo; das war Dümmler. Ein Husar: Natascha, und ein Tscherkesse: Sonja, mit Augenbrauen und Schnurrbart, die mit angebranntem Kork gemalt waren.
Nachdem die Nichtverkleideten ein freundliches Staunen gezeigt, die Vermummten eine Zeitlang nicht erkannt und dann die Verkleidungen gebührendermaßen gelobt hatten, fanden die jungen Leute ihre Kostüme so schön, daß sie für nötig erachteten, sie auch sonst noch jemandem zu zeigen.
Nikolai, der bei der vorzüglichen Schlittenbahn große Lust hatte, alle mit seinem Dreigespann zu fahren, machte den Vorschlag, etwa ein Dutzend von den vermummten Gutsleuten mitzunehmen und zum Onkel zu fahren.
»Nein, wozu wollt ihr den alten Mann stören!« sagte die Gräfin. »Und es ist auch bei ihm so wenig Raum, daß ihr euch kaum umdrehen könntet. Wenn ihr einmal fahren wollt, dann fahrt doch zu Meljukows.«
Frau Meljukowa war Witwe und wohnte mit ihren in verschiedenem Lebensalter stehenden Kindern und deren Gouvernanten und Erziehern vier Werst von Rostows entfernt.
»Hör mal, meine Liebe, das ist ein gescheiter Gedanke von dir«, fiel der alte Graf ein, der ganz vergnügt geworden war. »Wißt ihr was? Ich will mich auch schnell verkleiden und mit euch fahren. Ich werde Pelagia schon amüsieren.«
Aber die Gräfin war dagegen und wollte den Grafen nicht weglassen, weil er doch alle diese Tage Schmerzen im Bein gehabt habe. Das Schlußresultat war: Ilja Andrejewitsch solle nicht mitfahren; aber wenn Luisa Iwanowna (das war Madame Schoß) mit von der Partie sein wolle, dann dürften auch die jungen Mädchen zu Frau Meljukowa fahren. Sonja, die sonst immer so zaghaft und schüchtern war, bestürmte jetzt dringender als alle andern Luisa Iwanowna mit Bitten, ihnen das doch nicht abzuschlagen.
Sonjas Verkleidung war die schönste von allen. Der Schnurrbart und die starken Augenbrauen standen ihr außerordentlich gut. Alle sagten ihr, sie sehe sehr hübsch aus, und sie befand sich in einer ihr sonst fremden, angeregten, tatenlustigen Stimmung. Eine innere Stimme sagte ihr, heute oder nie werde sich ihr Schicksal entscheiden, und sie schien in ihrem Männerkostüm ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Luisa Iwanowna willigte ein, und eine halbe Stunde darauf fuhren vier Schlitten, jeder mit drei Pferden bespannt, unter lustigem Geläut der Glöckchen und Schellen und starkem Quieken und Pfeifen der eisenbeschlagenen Kufen auf dem gefrorenen Schnee, vor der Haustür vor.
Natascha war die erste, die den Ton weihnachtlicher Lustigkeit anschlug, und diese Lustigkeit, die sich von einem auf den andern übertrug, steigerte sich immer mehr und mehr und war auf den höchsten Grad gelangt, als alle in die Kälte hinaustraten und eifrig miteinander redend und einander zurufend, lachend und schreiend sich in die Schlitten verteilten.
Zwei der Dreigespanne waren gewöhnliche Gutspferde; das dritte Dreigespann, welches das besondere Eigentum des alten Grafen war, hatten einen Orlow-Traber in der Deichsel; das vierte, mit einem kleinen, zottigen Rappen als Deichselpferd, gehörte Nikolai. Nikolai, der über sein Kostüm als alte Dame einen durch einen Gurt zusammengehaltenen Husarenmantel angezogen hatte, stand mitten in seinem Schlitten und hielt die Zügel straff. Es war so hell, daß er die im Mondlicht blitzenden Metallplatten an den Köpfen der Pferde und die Augen der Pferde sah, die sich erschrocken nach der Reisegesellschaft umschauten, welche unter dem Schutzdach vor der Haustür, wo es dunkel war, einen solchen Lärm vollführte.
In Nikolais Schlitten nahmen Natascha, Sonja, Madame Schoß und zwei Gutsmädchen Platz; in den Schlitten des alten Grafen stiegen Dümmler mit seiner Frau und Petja; die übrigen beiden füllten die vermummten Gutsleute an.
»Fahr voran, Sachar!« rief Nikolai dem Kutscher seines Vaters zu, um die Möglichkeit zu haben, ihn unterwegs zu überholen.
Der Schlitten des alten Grafen, in welchem Dümmler und seine Fahrtgenossen saßen, fuhr mit einem Aufkreischen der Kufen, als ob sie am Schnee angefroren wären, ab; in tiefem Ton klingelte sein Glöckchen. Die Seitenpferde drängten sich an die Gabeldeichsel und sanken tief in den wie Zucker festen, glänzenden Schnee ein, den sie in Mengen in die Höhe schleuderten.
Nach dem ersten Schlitten fuhr Nikolai ab; dahinter folgten klingelnd und knirschend die übrigen. Anfangs fuhren sie in kurzem Trab auf schmalem Weg. Solange sie am Garten entlangfuhren, legten sich oft die Schatten der kahlen Bäume quer über den Weg und verbargen das helle Licht des Mondes; aber sowie sie über den Garten hinausgekommen waren, erschloß sich auf allen Seiten die unbeweglich daliegende Schneefläche, die ganz vom Mondlicht überflutet war und wie Diamanten, mit einem bläulichen Schimmer, blitzte. Einmal und noch einmal stieß der vorderste Schlitten rumpelnd in ein ausgefahrenes Loch im Weg; und genau dieselben Stöße wiederholten sich beim folgenden Schlitten und bei den übrigen. So zogen sich die Schlitten in langer Reihe einer hinter dem andern dahin und störten keck die ringsum herrschende tiefe Stille.
»Eine Hasenspur, eine Menge Spuren!« erklang Nataschas Stimme in der vom Frost wie zusammengeschmiedeten Luft.
»Wie deutlich alles zu sehen ist, Nikolai!« sagte Sonja.
Nikolai drehte sich nach Sonja um und beugte sich nieder, um aus größerer Nähe ihr Gesicht unterscheiden zu können. Ein ganz neues, allerliebstes Gesichtchen, mit schwarzen Augenbrauen und schwarzem Schnurrbart, das im Mondlicht nah und fern zugleich erschien, blickte ihm aus dem Zobelpelzwerk entgegen.
»Das war doch früher Sonja?« dachte Nikolai. Er rückte mit seinem Gesicht noch etwas näher heran, um sie genauer zu sehen, und lächelte.
»Was haben Sie, Nikolai?«
»Oh, nichts!« antwortete er und wandte sich wieder zu den Pferden hin.
Als sie auf die vielbefahrene große Landstraße hinauskamen, die von den Schlittenkufen geglättet und, was man im Mondschein deutlich sehen konnte, von den Hufeisendornen ganz zerhackt war, da begannen die Pferde ganz von selbst die Zügel auszuziehen und ihren Lauf zu beschleunigen. Das linke Seitenpferd bog den Kopf nach unten und machte Sprünge, von denen die Stränge jedesmal einen Ruck bekamen. Das Deichselpferd wiegte sich hin und her und bewegte die Ohren, als ob es fragen wollte: »Soll ich nun anfangen, oder ist es noch zu früh?« Vorn, schon weit voraus, sah man deutlich gegen den weißen Schnee das schwarze Dreigespann Sachars. Man hörte das sich immer mehr entfernende tieftönende Glöckchen klingen, und wie die Verkleideten in dem Schlitten schrien und lachten und miteinander redeten.
»Na, nun aber, meine lieben Tierchen!« schrie Nikolai; gleichzeitig zupfte er mit der einen Hand an den Zügeln und streckte die andere Hand mit der Peitsche aus.
Und nur aus dem anscheinend stärker entgegenwehenden Wind und den zuckenden Bewegungen der sich ausstreckenden und immer schneller springenden Seitenpferde war zu merken, wie schnell der Schlitten dahinflog.
Nikolai blickte zurück: mit quiekenden Kufen, unter lautem Geschrei der Kutscher, die die Peitschen schwangen und die Deichselpferde zum Galopp antrieben, suchten die anderen Schlitten mitzukommen. Nikolais Deichselpferd wiegte sich ruhig unter dem Joch hin und her und dachte gar nicht daran, in eine andere Gangart überzugehen; indes merkte man ihm an, daß es seine Schnelligkeit noch erheblich steigern könne, wenn es nötig sein sollte.
Nikolai hatte den ersten Schlitten eingeholt. Sie fuhren eine Anhöhe hinunter und kamen auf einen in bedeutender Breite befahrenen Weg, der an einem Fluß hin über eine Wiese führte.
»Wo fahren wir denn eigentlich?« dachte Nikolai. »Doch wohl über die Schräge Wiese. Aber nein, das ist etwas Neues, was ich noch nie gesehen habe. Das ist nicht die Schräge Wiese und nicht die Djomkina-Höhe, sondern Gott weiß was! Das ist etwas ganz Neues, Zauberhaftes. Na, mag es sein, was es will!« Er schrie die Pferde an und begann den ersten Schlitten zu überholen.
Sachar verhielt seine Pferde ein wenig und wendete sein schon bis an die Brauen mit Reif bedecktes Gesicht zurück.
Nikolai ließ seinen Pferden die Zügel schießen; Sachar streckte beide Arme nach vorn, schnalzte mit der Zunge und ließ auch seinen Pferden volle Freiheit.
»Na, nun nimm dich zusammen, Herr!« rief er.
Noch schneller flogen die Dreigespanne nebeneinander dahin, und geschwind lösten die Beine der galoppierenden Pferde einander ab. Nikolai begann voranzukommen. Sachar hob, ohne die Haltung der ausgestreckten Arme zu verändern, den einen Arm mit den Zügeln in die Höhe.
»Bilde dir nur nichts ein, Herr!« rief er Nikolai zu.
Nikolai ließ nun auch das Mittelpferd in Galopp übergehen und überholte Sachar. Die Pferde überschütteten die Gesichter der Insassen mit feinem, trockenem Schnee; stürmisch ertönte das Läuten und Klingeln; die sich schnell bewegenden Pferdebeine und die Schatten des überholten Dreigespannes bildeten ein wirres Durcheinander. Hier wie dort hörte man die Kufen auf dem Schnee pfeifen und Weiberstimmen kreischen.
Nikolai hielt die Pferde wieder zurück und warf einen Blick um sich. Ringsumher breitete sich immer noch dieselbe, vom Mondlicht tief durchtränkte, zauberhafte Ebene aus, die wie mit Sternen übersät blitzte.
»Sachar ruft, ich solle nach links wenden; aber warum nach links?« dachte Nikolai. »Sind wir denn wirklich auf dem richtigen Weg zu Meljukows, und ist das wirklich Meljukowka? Wir fahren ja Gott weiß wo, und Gott weiß, was mit uns vorgeht – aber das, was mit uns vorgeht, ist sehr seltsam und schön.« Er blickte in seinen Schlitten zurück.
»Sieh nur, sein Schnurrbart und seine Wimpern, alles ist ganz weiß«, sagte eines der im Schlitten sitzenden sonderbaren, hübschen, fremden Wesen, das einen feinen schwarzen Schnurrbart und schwarze Augenbrauen hatte.
»Das war doch, wie mir scheint, Natascha«, dachte Nikolai. »Und das da ist Madame Schoß, aber vielleicht auch nicht; aber wer dieser Tscherkesse mit dem Schnurrbart ist, das weiß ich nicht; aber ich liebe dieses Mädchen.«
»Friert euch auch nicht?« fragte er.
Sie antworteten nicht und lachten nur. Dümmler rief etwas von dem hinteren Schlitten her, wahrscheinlich etwas Komisches; aber es war für Nikolai unmöglich, zu verstehen, was er rief.
»Ja, ja«, antworteten lachende Stimmen.
Aber das war ja eine Art von Zauberwald, in welchem dunkle Schatten und ein Geglitzer wie von Diamanten durcheinanderflossen, und da war ja eine lange Reihe von Marmorstufen und silberne Dächer zauberhafter Gebäude, und da erscholl ein durchdringendes Kreischen irgendwelcher wilden Tiere. »Aber wenn das wirklich Meljukowka sein sollte, so ist noch seltsamer, daß wir Gott weiß wo gefahren und doch nach Meljukowka gelangt sind«, dachte Nikolai.
Es war wirklich Meljukowka, und mit Lichtern in den Händen kamen Mädchen und Diener mit vergnügten Gesichtern vor die Haustür gelaufen.
»Wer ist es denn?« wurde dort gefragt.
»Es sind Vermummte von dem gräflichen Gute; ich sehe es an den Pferden«, lautete die Antwort.
XI
Pelagia Danilowna Meljukowa, eine Frau von kräftigem Körperbau und energischem Charakter, saß, mit einer Brille und in einem offenstehenden Kapotrock, im Salon, umgeben von ihren Töchtern, denen sie die Langeweile zu vertreiben suchte. Sie gossen stillschweigend Wachs und betrachteten die Schatten der dabei entstandenen Figuren; da wurden im Vorzimmer die Schritte und die Stimmen der Ankömmlinge vernehmbar.
Die Husaren, Damen, Hexen, Bajazzos und Bären machten sich zuerst im Vorzimmer zurecht, indem sie sich tüchtig räusperten und sich die von der Kälte ganz mit Reif bedeckten Gesichter abwischten, und traten dann in den Saal, wo eilig die Lichter angezündet wurden. Der Bajazzo Dümmler und die Dame Nikolai eröffneten den Tanz. Umringt von den kreischenden Kindern machten die Vermummten, die ihre Gesichter verbargen und ihre Stimmen verstellten, der Hausfrau ihre Verbeugung und begrüßten sie; dann verteilten sie sich im Saal.
»Ach, aber auch gar nicht zu erkennen! Das ist ja Natascha! Seht nur, wem sieht sie ähnlich? Wirklich, sie erinnert mich an jemand! Und Eduard Karlowitsch, wie schön der aussieht! Ich hatte ihn gar nicht erkannt. Und wie er tanzt! Ach, herrje! auch eine Art Tscherkesse! Wahrhaftig, das Kostüm steht Sonja wundervoll! Und wer ist denn das noch? Na, da habt ihr uns einmal ein hübsches Vergnügen bereitet! Nikita, Iwan, nehmt doch die Tische weg! Und wir saßen so still und einsam da!« So redeten die größeren Meljukowschen Töchter.
»Hahaha! … Nein, der Husar! Sieh doch nur den Husaren! Ganz wie ein junger Mann; und die Beine! … Ich kann gar nicht sehen …!« riefen die Kinder.
Natascha, die bei den jungen Meljukows ganz besonders beliebt war, verschwand mit ihnen zusammen nach den hinteren Zimmern, wohin sie sich dann einen Kork und verschiedene Herrenschlafröcke und andere Herrenkleider bringen ließen; nackte Mädchenarme nahmen diese Dinge dem Diener durch die nur ein wenig geöffnete Tür ab. Zehn Minuten darauf gesellte sich das ganze junge Volk der Familie Meljukow zu den Vermummten.
Nachdem Pelagia Danilowna alles Erforderliche angeordnet hatte, damit es den Gästen nicht an Raum mangelte und sowohl die Herrschaften als auch die Gutsleute bewirtet würden, ging sie, ohne die Brille abzunehmen, mit einem stillen Lächeln unter den Vermummten umher und sah ihnen aus der Nähe in die Gesichter, aber ohne jemand zu erkennen. Sie erkannte weder die Rostows noch Herrn Dümmler, ja nicht einmal ihre eigenen Töchter, auch nicht die von ihrem seligen Mann herrührenden Schlafröcke und Uniformen, welche sie anhatten.
»Wer ist denn eigentlich die da?« sagte sie, zu ihrer Gouvernante gewendet, indem sie ihrer eigenen Tochter ins Gesicht blickte, die einen Kasanschen Tataren vorstellte. »Doch wohl eine der Rostowschen Damen. Nun, und Sie, Herr Husar, in welchem Regiment dienen Sie?« sagte sie zu Natascha. »Reich dem Türken Obstmarmelade«, sagte sie zu dem Diener, der den Gästen Erfrischungen präsentierte. »Das ist ihnen durch ihr Gesetz nicht verboten.«
Manchmal, wenn sie die sonderbaren, komischen Pas ansah, die die Tänzer ausführten, welche sich ein für allemal gesagt hatten, sie seien Vermummte und würden von niemand erkannt, und daher keine Verlegenheit fühlten, dann hielt sich Pelagia Danilowna das Taschentuch vor das Gesicht, und ihr ganzer wohlgenährter Körper wurde von jenem unaufhaltsamen, gutmütigen Lachen erschüttert, wie es alten Damen eigen ist.
»Nein, meine Alexandra! Nun sehen Sie nur meine Alexandra!« rief sie.
Nachdem die russischen Tänze und Reigen vorgeführt waren, ließ Pelagia Danilowna alle, die Gutsleute und die Herrschaften, zusammen einen großen Kreis bilden; ein Ring, ein langer Bindfaden und ein Rubelstück wurden gebracht, und es wurden gemeinsame Spiele gespielt.
Nach Verlauf einer Stunde waren sämtliche Kostüme verdrückt und in Unordnung. Die mit Kork gemalten Schnurrbärte und Augenbrauen hatten sich auf den mit Schweiß bedeckten, erhitzten, lustigen Gesichtern verwischt. Pelagia Danilowna begann die Vermummten zu erkennen, erging sich in Äußerungen des Entzückens darüber, wie geschickt die Kostüme hergestellt seien, wie schön sie namentlich den jungen Damen ständen, und dankte allen dafür, daß sie ihr so viel Heiterkeit ins Haus gebracht hätten. Die Gäste wurden zum Abendessen in den Salon gebeten, im Saal wurden Einrichtungen für die Bewirtung der Gutsleute getroffen.
»Nein, im Badehäuschen das Orakel zu befragen, das ist entsetzlich!« bemerkte beim Abendessen ein altes Fräulein, das bei Meljukows wohnte.
»Wieso denn?« fragte die älteste Tochter der Frau Meljukowa.
»Nun, ihr werdet doch nicht hingehen; dazu gehört viel Mut …«
»Ich gehe hin«, erklärte Sonja.
»Erzählen Sie doch, wie es dem jungen Fräulein ging«, bat die zweite Meljukowsche Tochter.
»Nun ja, da ging also ein Fräulein hin«, erzählte die alte Jungfer, »sie nahm einen Hahn mit und Tischgerät für zwei Personen, alles, wie es sein muß, und setzte sich hin. So saß sie eine Weile; auf einmal hört sie, es kommt etwas gefahren, ein Schlitten kommt mit Glöckchen und Schellen; sie hört Schritte. Es kommt jemand herein, ganz in Menschengestalt, wie ein wirklicher Offizier; er trat zu ihr heran und setzte sich neben sie, zu dem freien Gedeck.«
»Ah! Ah!« rief Natascha und riß vor Schrecken die Augen weit auf.
»Und was tat er dann weiter? Redete er auch?«
»Ja, wie ein Mensch, alles, wie es sich gehört; und er suchte sie zu bereden; aber sie hätte ihn mit Gesprächen bis zum Hahnenschrei beschäftigen müssen; aber sie bekam es mit der Angst, und in der Angst bedeckte sie das Gesicht mit den Händen. Er griff auch wirklich schon nach ihr. Es war nur gut, daß in diesem Augenblick Mädchen aus dem Haus dazugelaufen kamen …«
»Aber wozu erschrecken Sie mir das junge Volk!« schalt Pelagia Danilowna.
»Mamachen, Sie haben doch selbst einmal das Orakel befragt …«, sagte eine der Töchter.
»Und wie befragt man denn das Orakel im Speicher?« fragte Sonja.
»Das ist so: man geht, etwa so wie jetzt, auf den Speicher und horcht. Was man nun gerade hört: wenn es klopft und pocht, das ist schlecht; aber wenn es klingt, als ob Getreide geschaufelt wird, das bedeutet etwas Gutes; und das trifft dann auch ein.«
»Mamachen, erzählen Sie doch, was Sie im Speicher erlebt haben.«
Pelagia Danilowna lächelte.
»Ach was! Das habe ich schon vergessen …«, antwortete sie. »Von euch geht ja doch niemand hin.«
»Doch! Ich gehe hin. Pelagia Danilowna, erlauben Sie es mir; ich möchte hingehen«, sagte Sonja.
»Nun meinetwegen, wenn du dich nicht fürchtest.«
»Luisa Iwanowna, darf ich?« fragte Sonja.
Ob sie nun mit dem Ring, dem Bindfaden oder dem Rubelstück spielten oder sich wie jetzt mit Gesprächen unterhielten: Nikolai wich nicht von Sonjas Seite und betrachtete sie mit ganz neuen Augen. Dank diesem mit Kork aufgemalten Schnurrbart schien es ihm, daß er sie heute zum erstenmal vollständig kennenlernte. Sonja war an diesem Abend wirklich so heiter, lebhaft und hübsch, wie Nikolai sie noch nie vorher gesehen hatte.
»Also so ein Mädchen ist sie, und was bin ich für ein Dummkopf gewesen!« dachte er, während er ihre glänzenden Augen und das glückselige, entzückte Lächeln betrachtete, bei dem sich unter dem aufgemalten Schnurrbart Grübchen auf den Wangen bildeten; ein solches Lächeln hatte er an ihr noch nie gesehen.
»Ich fürchte mich vor nichts«, sagte Sonja. »Kann ich jetzt gleich hingehen?« Sie stand auf.
Man beschrieb ihr, wo der Speicher war, gab ihr Anweisung, wie sie sich schweigend hinstellen und horchen müsse, und reichte ihr einen Pelz. Sie zog ihn sich über den Kopf und warf dabei einen Blick nach Nikolai hin.
»Wie reizend dieses Mädchen ist!« dachte er. »Wie konnte ich nur bisher Bedenken haben!«
Sonja ging auf den Korridor hinaus, um sich nach dem Speicher zu begeben. Nikolai trat schnell durch die vordere Haustür auf die dortige Freitreppe, nachdem er vorher geäußert hatte, es sei ihm gar zu heiß. Und es war tatsächlich in den Zimmern eine drückende Schwüle von den vielen Menschen, die sich darin drängten.
Draußen herrschte noch immer dieselbe starre Kälte, und derselbe Mondschein überflutete alles; nur war er noch heller geworden. Die Helligkeit war so stark, und es blitzten so viel Sterne auf dem Schnee, daß man gar keine Lust hatte nach dem Himmel zu blicken und die wirklichen Sterne dagegen unscheinbar aussahen. Am Himmel war es dunkel und öde; auf der Erde war es lustig.
»Ich Dummkopf! Oh, ich Dummkopf! Worauf habe ich bis jetzt gewartet?« dachte Nikolai, lief die Freitreppe hinunter und bog um die Hausecke auf dem Steig, der nach der hinteren Freitreppe führte. Er wußte, daß Sonja hier herauskommen mußte. Auf der Hälfte des Weges nach dem Speicher standen aufgeschichtete Klafter Brennholz, die mit Schnee bedeckt waren und dunklen Schatten warfen; über sie hinweg und seitwärts von ihnen fiel in wirrer Verästelung der Schatten alter, kahler Lindenbäume auf den Schnee und den Steig. Dieser Steig führte zum Speicher. Die Balkenwand des Speichers und das mit Schnee bedeckte Dach desselben glänzten im Mondschein, wie wenn sie aus irgendeinem Edelstein geschnitten wären. Im Garten bekam ein Baum mit lautem Knacken einen Riß; dann war alles wieder völlig still. Die Brust schien nicht Luft einzuatmen, sondern gleichsam ewig junge Kraft und Freude.
Auf den Stufen der Freitreppe, die von dem Mädchenzimmer herkam, ertönten Schritte; sie knirschten laut auf der letzten Stufe, die beschneit war. Nikolai hörte, wie das alte Fräulein sagte:
»Immer geradeaus, immer geradeaus, hier den Steig hinunter, gnädiges Fräulein. Sie dürfen sich nur nicht umsehen.«
»Ich fürchte mich nicht«, antwortete Sonjas Stimme, und auf dem Steig in der Richtung auf Nikolai zu kamen quietschend und pfeifend Sonjas Füßchen in den feinen Schuhen über den Schnee.
Sonja schritt, in ihren Pelz fest vermummt, dahin. Sie war nur noch zwei Schritte von Nikolai entfernt, als sie ihn erblickte; auch sie erblickte ihn nicht in der Gestalt, in der sie ihn sonst zu sehen gewohnt war, und in der er ihr immer ein wenig Angst eingeflößt hatte. Er trug jetzt Frauenkleider; das Haar war ihm wirr und unordentlich geworden, und er lächelte mit einem glückseligen Ausdruck, der für Sonja etwas ganz Neues war. Sie trat schnell an ihn heran.
»Sie ist so ganz verändert, und doch dieselbe«, dachte Nikolai, als er in ihr Gesicht blickte, das vom Mondlicht hell beschienen war. Er schob die Hände unter den Pelz, der ihren Kopf verhüllte, umfaßte diesen, zog ihn an sich heran und küßte sie auf die Lippen, über denen der Schnurrbart gemalt war und die nach gebranntem Kork rochen. Sonja küßte ihn mitten auf den Mund; sie machte ihre kleinen Hände aus dem Pelz los und faßte ihn von beiden Seiten an die Wangen.
»Sonja!« – »Nikolai!« Weiter sagten sie nichts. Sie liefen zusammen zum Speicher hin und kehrten dann ins Haus zurück, ein jeder durch die Tür, durch die er gekommen war.
XII
Als alle sich anschickten, von Pelagia Danilowna wieder nach Hause zu fahren, richtete Natascha, die immer alles sah und bemerkte, es beim Platznehmen so ein, daß Luisa Iwanowna und sie in den Schlitten zu Herrn Dümmler stiegen, Sonja aber zu Nikolai und den Gutsmädchen.
Nikolai veranstaltete jetzt auf dem Rückweg nicht wieder ein Wettfahren, sondern fuhr gleichmäßig dahin, betrachtete bei dem seltsamen Mondschein fortwährend Sonja und suchte bei diesem alles verändernden Licht hinter den falschen Brauen und dem Schnurrbart jene seine frühere und seine jetzige Sonja zu finden, von der er sich nie mehr zu trennen beschlossen hatte. Er betrachtete sie, und als er erkannte, daß sie ganz dieselbe und doch ganz verändert sei, und als der Korkgeruch, den er noch zu spüren meinte und der sich mit der Empfindung des Kusses verbunden hatte, ihn an das kurz vorher Geschehene erinnerte, da zog er mit ganzer Brust die kalte Winterluft in sich hinein; und als er die hinter ihn zurückweichende Erde und den gestirnten Himmel ansah, fühlte er sich wieder in ein Zauberland versetzt.
»Sonja, ist dir wohl?« fragte er ab und zu.
»Ja«, antwortete Sonja, »und dir?«
Auf der Hälfte des Weges übergab Nikolai dem Kutscher das Amt, die Pferde zu lenken; er selbst aber lief für einen Augenblick zu Nataschas Schlitten hin und stellte sich auf das Trittbrett.
»Natascha«, flüsterte er ihr auf französisch zu, »weißt du, ich bin in betreff Sonjas zu einem Entschluß gelangt.«
»Hast du es ihr gesagt?« fragte Natascha. Ihr ganzes Gesicht strahlte plötzlich vor Freude.
»Ach, wie sonderbar du mit diesem Schnurrbart und diesen Augenbrauen aussiehst, Natascha! Freust du dich?«
»Ich freue mich sehr; sehr freue ich mich! Ich war auf dich schon ordentlich böse. Ich wollte es dir nicht sagen; aber du hast schlecht an ihr gehandelt. Sie hat ein so goldenes Herz, Nikolai. Wie ich mich freue! Ich bin manchmal recht garstig«, fuhr Natascha fort, »aber ich habe mir doch ein Gewissen daraus gemacht, daß ich allein so glücklich war und Sonja nicht. Jetzt bin ich so froh! Nun laufe aber nur wieder zu ihr hin.«
»Nein, laß mich noch einen Augenblick hierbleiben; wie komisch du aussiehst!« sagte Nikolai, der sie immerzu betrachtete und auch an seiner Schwester etwas Neues, Ungewohntes, Liebliches, Entzückendes fand, das er früher an ihr nicht gesehen hatte. »Natascha, es ist alles so zauberhaft, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete sie, »du hast sehr recht getan.«
»Hätte ich Natascha früher so gesehen, wie sie jetzt ist«, dachte Nikolai, »so hätte ich sie längst gefragt, was ich tun sollte, und hätte alles getan, was sie mich hätte tun heißen, und alles wäre gut gewesen.«
»Also du freust dich, und ich habe recht getan?«
»Ach ja, sehr recht! Ich habe mich neulich mit Mama darüber gestritten. Mama sagte, Sonja wolle dich kapern. Wie kann man nur so etwas sagen? Ich hätte mich mit Mama beinahe ernstlich gezankt. Und ich werde nie dulden, daß jemand etwas Schlechtes von ihr sagt oder denkt; denn in ihrer Seele wohnt nichts als Gutes.«
»Also ich habe recht getan?« fragte Nikolai noch einmal und betrachtete noch einmal prüfend den Gesichtsausdruck seiner Schwester, um sicher zu sein, ob es auch wahr wäre; dann sprang er mit knarrenden Stiefeln vom Trittbrett herunter und lief wieder zu seinem Schlitten hin. Dort saß immer noch derselbe glückselig lächelnde Tscherkesse mit dem Schnurrbärtchen und den glänzenden Augen und blickte unter der Zobelkappe hervor ihn an; und dieser Tscherkesse war Sonja, und diese Sonja war mit Sicherheit seine künftige glückliche, liebende Frau.
Als sie nach Hause gekommen waren und alle drei der Mutter erzählt hatten, wie sie die Zeit bei Meljukows verbracht hatten, begaben sich die beiden jungen Mädchen auf ihr Zimmer. Nachdem sie sich ausgezogen hatten, ohne jedoch die mit Kork gemalten Schnurrbärte wegzuwischen, saßen sie noch lange da und redeten miteinander von ihrem Glück. Sie sprachen davon, wie sie nach der Verheiratung leben würden, und wie ihre Männer miteinander Freundschaft schließen würden, und wie glücklich sie als Frauen sein würden. Auf Nataschas Tisch standen noch vom Abend her zwei Spiegel, die Dunjascha da bereitgestellt hatte.
»Aber wann, wann wird das alles geschehen? Ich fürchte, niemals … Es wäre gar zu schön!« sagte Natascha, stand auf und trat zu den Spiegeln hin.
»Setz dich hin, Natascha; vielleicht wirst du ihn sehen«, sagte Sonja.
Natascha zündete die Kerzen an und setzte sich.
»Ich sehe jemand mit einem Schnurrbart«, sagte Natascha, die ihr eigenes Gesicht sah.
»Man darf dabei nicht lachen, gnädiges Fräulein«, ermahnte Dunjascha.
Natascha fand mit Hilfe Sonjas und des Stubenmädchens die richtige Stellung der Spiegel heraus; ihr Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, und sie verstummte. Lange saß sie so da, blickte auf die Reihe der sich immer weiter entfernenden Kerzen in den Spiegeln und erwartete, aufgrund früher gehörter Erzählungen, in diesem letzten, verschwimmenden, undeutlichen Rechteck bald einen Sarg, bald ihn, den Fürsten Andrei, zu sehen. Aber trotz aller ihrer Bereitwilligkeit, den kleinsten Fleck für das Bild eines Menschen oder auch eines Sarges zu nehmen, sah sie schlechthin gar nichts. Sie begann häufig mit den Augen zu zwinkern und trat von den Spiegeln zurück.
»Warum sehen andere etwas, und ich sehe nichts?« sagte sie. »Nun, setz du dich hin, Sonja; heute mußt du es unbedingt tun«, fuhr sie fort. »Tu es nur für mich. Mir ist heute so bange!«
Sonja setzte sich an die Spiegel, brachte die Stellung in Ordnung und begann hineinzusehen.
»Ja, Fräulein Sonja wird ganz bestimmt etwas sehen«, flüsterte Dunjascha. »Aber Sie lachen ja immer.«
Sonja hörte diese Worte und hörte auch, wie Natascha flüsternd sagte:
»Ich bin auch überzeugt, daß sie etwas sehen wird; sie hat auch im vorigen Jahr etwas gesehen.«
Etwa drei Minuten lang schwiegen sie alle. »Ganz bestimmt …«, flüsterte Natascha, brachte aber den begonnenen Satz nicht zu Ende, da Sonja plötzlich denjenigen Spiegel, den sie hielt, wegstieß und die Augen mit der Hand bedeckte.
»Ach, Natascha!« sagte sie.
»Hast du etwas gesehen? Hast du etwas gesehen? Was hast du gesehen?« rief Natascha und fing schnell den Spiegel auf, so daß er nicht hinfiel.
Sonja hatte überhaupt nichts gesehen; als sie Natascha sagen hörte: »Ganz bestimmt …«, hatte sie gerade mit den Augen blinzeln und aufstehen wollen. Denn sie hatte Dunjascha und Natascha nicht dadurch, daß sie tat, als sähe sie etwas, täuschen wollen, und es war ihr lästig geworden, so dazusitzen. Sie wußte selbst nicht, wie und infolge wovon ihr der Schrei entfahren war, als sie die Augen mit der Hand bedeckte.
»Hast du ihn gesehen?« fragte Natascha und ergriff ihre Hand.
»Ja. Warte mal … ich … ich habe ihn gesehen«, antwortete Sonja unwillkürlich, wiewohl sie noch nicht einmal wußte, wen Natascha mit dem Wort »ihn« meinte, ob den Fürsten Andrei oder Nikolai.
»Aber warum soll ich denn nicht sagen, daß ich etwas gesehen habe?« ging es ihr schnell durch den Kopf. »Es sehen ja doch andere Mädchen etwas! Und wer kann mir beweisen, ob ich etwas gesehen habe oder nicht?«
»Ja, ich habe ihn gesehen«, sagte sie.
»Wie denn, wie denn? Stand er oder lag er?«
»Nein, ich sah … Anfangs war lange nichts da, und auf einmal sah ich, daß er dalag.«
»Andrei lag da? Er ist also krank?« fragte Natascha erschrocken und blickte ihre Freundin mit starren Augen an.
»Nein, im Gegenteil, im Gegenteil, sein Gesicht war heiter, und er wandte sich zu mir um.« Und in dem Augenblick, wo sie sprach, glaubte sie selbst, das, was sie berichtete, gesehen zu haben.
»Nun, und dann, Sonja?«
»Dann konnte ich nichts mehr deutlich erkennen; es war etwas Blaues und Rotes da …«
»Sonja! Wann wird er zurückkommen? Wann werde ich ihn wiedersehen? Mein Gott, wie ich mich ängstige, daß ihm oder mir etwas zustößt; um alles ängstige ich mich …«, rief Natascha, und ohne auf Sonjas Tröstungen zu antworten, legte sie sich ins Bett und lag noch lange, nachdem das Licht ausgelöscht war, mit offenen Augen, ohne sich zu rühren, da und blickte nach dem kalten Licht des Mondes, das durch die befrorenen Fensterscheiben drang.
XIII
Einige Tage darauf machte Nikolai seiner Mutter Mitteilung von seiner Liebe zu Sonja und von seinem festen Entschluß, sie zu heiraten. Die Gräfin, die schon längst bemerkt hatte, was zwischen Sonja und Nikolai vorging, und diese Mitteilung erwartet hatte, hörte ihren Sohn schweigend an und erwiderte ihm dann, er könne heiraten, wen er wolle; aber weder sie noch der Vater würden ihm zu einer solchen Ehe ihren Segen geben. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Nikolai, daß seine Mutter mit ihm unzufrieden sei und trotz all ihrer Liebe zu ihm nicht nachgeben werde. Mit kühler Miene, und ohne ihren Sohn anzusehen, ließ sie ihren Mann rufen; als dieser gekommen war, wollte sie ihm kurz und in kaltem Ton in Nikolais Gegenwart mitteilen, um was es sich handelte; aber sie vermochte sich doch nicht zu beherrschen, brach in Tränen des Ingrimms aus und verließ das Zimmer. Der alte Graf begann, in unsicherer Art Nikolai zu ermahnen und ihn zu bitten, er möge doch diese Absicht wieder aufgeben. Nikolai erwiderte, er könne sein gegebenes Wort nicht brechen, und der Vater, der augenscheinlich verlegen war, hörte sehr bald mit dem Zureden auf und ging zur Gräfin. Bei allen Differenzen mit seinem Sohn konnte der Graf das Bewußtsein nicht loswerden, daß er diesem gegenüber durch die von ihm verschuldete Zerrüttung der Vermögensverhältnisse sich vergangen habe, und er war daher außerstande, dem Sohn zu zürnen, wenn dieser sich weigerte, ein reiches Mädchen zu heiraten, und die mitgiftlose Sonja wählte; es kam ihm bei diesem Anlaß nur noch deutlicher zum Gefühl, daß, wenn die Verhältnisse nicht so zerrüttet wären, sich gar keine bessere Frau für Nikolai wünschen ließe als gerade Sonja, und daß an dieser Zerrüttung der Verhältnisse nur er allein die Schuld trage, wegen seines Dmitri und wegen seiner Lebensgewohnheiten, die aufzugeben er nicht die Kraft besitze.
Vater und Mutter redeten über diese Angelegenheit nicht mehr mit dem Sohn; aber einige Tage darauf ließ die Gräfin Sonja zu sich rufen und machte mit einer Härte, die nicht nur dieser überraschend kam, sondern deren auch die Gräfin selbst sich nicht für fähig gehalten hätte, ihrer Nichte den Vorwurf, Nikolai verführt und dadurch ihnen mit Undank gelohnt zu haben. Sonja hörte schweigend mit niedergeschlagenen Augen die harten Worte der Gräfin an und verstand gar nicht, was diese nun eigentlich von ihr verlangte. Sie war bereit, für ihre Wohltäter jedes Opfer zu bringen, wie denn überhaupt der Gedanke der Selbstaufopferung ihre Lieblingsidee war; aber in diesem Fall war sie nicht imstande zu begreifen, wem sie ein Opfer bringen und worin es bestehen solle. Es war ihr gar nicht anders möglich, als die Gräfin und die ganze Familie Rostow zu lieben; aber auch die Liebe zu Nikolai konnte sie sich nicht aus dem Herzen reißen, und sie war fest überzeugt, daß sein Glück von dieser Liebe abhing. So schwieg sie denn traurig und antwortete nicht auf die ihr gemachten Vorwürfe.
Nikolai war, wie er meinte, nicht imstande, diesen Zustand länger zu ertragen, und ging zu seiner Mutter, um sich mit dieser darüber auszusprechen. Zuerst bat er seine Mutter inständig, ihm und Sonja zu verzeihen und in ihre Ehe zu willigen; dann drohte er der Mutter, wenn sie nicht aufhöre, Sonja zu peinigen, so werde er sich mit ihr sofort heimlich verheiraten.
Die Gräfin antwortete ihm mit einer Kälte, die er an ihr noch nie kennengelernt hatte: er sei mündig; Fürst Andrei wolle ja ebenfalls ohne die Einwilligung seines Vaters heiraten, und so könne er ja dasselbe tun; aber sie werde diese Intrigantin niemals als Schwiegertochter anerkennen.
Empört über den Ausdruck »Intrigantin«, erwiderte Nikolai seiner Mutter mit erhobener Stimme, er habe nicht gedacht, daß sie ihm zumuten werde, seine Gefühle für Geld zu verkaufen; wenn dem aber doch so sei, so sage er zum letztenmal … Aber er kam nicht dazu, jenes entscheidende Wort auszusprechen, das seine Mutter nach seinem Gesichtsausdruck mit Schrecken erwartete, und welches vielleicht für immer als peinliche Erinnerung zwischen ihnen gestanden hätte. Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, weil in diesem Augenblick Natascha, die an der Tür gehorcht hatte, mit ernstem, blassem Gesicht ins Zimmer trat.
»Lieber Nikolai, du redest Unsinn; sei still, sei still! Ich sage dir, sei still …!« rief sie, fast schreiend, um seine Stimme zu übertönen.
»Mama, liebste, teuerste Mama, die Sache hängt ja ganz anders zusammen … Beste Mama, Sie arme …«, wandte sie sich an die Mutter, welche in dem Gefühl, daß ein unheilbarer Bruch unmittelbar bevorstehe, ihren Sohn voll Entsetzen ansah, aber aus Hartnäckigkeit und Kampfeseifer nicht nachgeben wollte und konnte.
»Lieber Nikolai, ich will es dir nachher gleich erklären, geh jetzt hinaus; hören Sie mich an, beste Mama!« sagte sie zu der Mutter.
Ihre Worte waren ja sinnlos; aber sie erzielten die Wirkung, die sie mit ihnen beabsichtigte.
Die Gräfin verbarg, krampfhaft aufschluchzend, ihr Gesicht an der Brust der Tochter; Nikolai aber stand auf, griff sich an den Kopf und ging aus dem Zimmer.
Natascha machte es sich zur Aufgabe, das Werk der Versöhnung durchzuführen, und brachte es dahin, daß Nikolai von der Mutter das Versprechen erhielt, Sonja werde rücksichtsvoll behandelt werden, und selbst versprach, nichts ohne Vorwissen der Eltern zu unternehmen.
Mit dem festen Vorsatz, sobald er seine Angelegenheiten beim Regiment geordnet haben würde, den Abschied zu nehmen, nach Hause zurückzukehren und Sonja zu heiraten, reiste Nikolai, in ernster, trüber Stimmung wegen der Mißhelligkeit mit seinen Eltern, aber, wie es ihm wenigstens vorkam, leidenschaftlich verliebt, Anfang Januar wieder zu seinem Regiment.
Nach Nikolais Abreise wurde es im Rostowschen Haus trauriger als je vorher. Die Gräfin erkrankte infolge der seelischen Erregungen.
Sonja war niedergeschlagen, sowohl infolge der Trennung von Nikolai als auch in noch höherem Grad infolge des feindseligen Tones, dessen sich die Gräfin im Verkehr mit ihr nicht enthalten konnte. Der Graf steckte tiefer als je in Sorgen wegen des üblen Zustandes seiner Angelegenheiten, zu dessen Behebung irgendwelche entscheidenden Maßnahmen erforderlich waren. Es mußten notwendig das Haus in Moskau und das Landhaus bei Moskau verkauft werden, und um diesen Verkauf zu bewerkstelligen, mußten sie nach Moskau fahren. Aber der Gesundheitszustand der Gräfin veranlaßte, daß die Abreise von einem Tag zum andern verschoben wurde.
Natascha, welche die erste Zeit der Trennung von ihrem Bräutigam leicht und sogar fröhlich überstanden hatte, wurde jetzt mit jedem Tag aufgeregter und unruhiger. Der Gedanke, daß ihre beste Lebenszeit, die sie auf die Liebe zu ihm hätte verwenden können, nun so unnütz und zwecklos verlorenging, ohne daß jemand etwas davon hatte, dieser Gedanke quälte sie unaufhörlich. Seine Briefe verstimmten sie meistens. Es war ihr kränkend, denken zu müssen, daß, während sie nur in dem Gedanken an ihn lebte, er ein wahres, volles Leben führte, neue Orte und neue Menschen sah, die ihn interessierten. Je frischer und lebhafter seine Briefe waren, um so mehr Verdruß erregten sie ihr. Ihre eigenen Briefe an ihn gewährten ihr keinen Trost, sondern bildeten für sie nur eine widerwärtige Pflicht, bei deren Erfüllung sie sich nicht so geben konnte, wie es ihre Natur war. Sie verstand nicht zu schreiben, weil sie es nicht für möglich hielt, in einem Brief wahrheitsgemäß auch nur den tausendsten Teil dessen zum Ausdruck zu bringen, was sie mit der Stimme, dem Lächeln und dem Blick auszudrücken gewohnt war. Sie schrieb ihm schematisch einförmige, trockene Briefe, denen sie selbst keinen Wert beimaß, und bei denen die Gräfin ihr im unreinen die orthographischen Fehler korrigierte.
Das Befinden der Gräfin wollte sich immer noch nicht bessern; aber ein weiterer Aufschub der Reise nach Moskau war nicht mehr möglich. Es mußte die Aussteuer beschafft und das Haus verkauft werden; dazu kam noch, daß sich erwarten ließ, Fürst Andrei werde sich zuerst in Moskau aufhalten, wo in diesem Winter Fürst Nikolai Andrejewitsch wohnte; ja, Natascha war sogar davon überzeugt, daß ihr Bräutigam bereits dort angekommen sei.
So blieb denn die Gräfin auf dem Land, während der Graf Ende Januar nach Moskau reiste und Sonja und Natascha mitnahm.
Achter Teil
I
Pierre hatte nach der Verlobung des Fürsten Andrei mit Natascha auf einmal ohne jeden sichtbaren Grund die Empfindung, daß er sein bisheriges Leben nicht fortsetzen könne. Wie fest er auch von den Wahrheiten überzeugt war, die ihm sein Freund und Wohltäter eröffnet hatte, wie freudenreich ihm auch jene erste Zeit der Begeisterung für die innerliche Arbeit der Selbstvervollkommnung gewesen war, eine Arbeit, der er sich mit dem größten Eifer gewidmet hatte: nach der Verlobung des Fürsten Andrei mit Natascha und nach dem Tod Osip Alexejewitschs (er erhielt beide Nachrichten fast zu gleicher Zeit) war der ganze Reiz dieses bisherigen Lebens für ihn plötzlich dahin. Was ihm vom Leben blieb, war gleichsam nur ein trockenes Skelett: sein Haus mit der schönen Frau, die eine so glänzende Stellung einnahm und sich jetzt der Gunst einer sehr hohen Persönlichkeit erfreute, die Bekanntschaft mit ganz Petersburg und der Kammerherrndienst mit seinen langweiligen Formalitäten. Und dieses bisherige Leben erschien ihm plötzlich und unerwartet als etwas Garstiges, Widerwärtiges. Er hörte auf, sein Tagebuch zu führen, mied die Gesellschaft seiner Brüder, der Freimaurer, begann wieder den Klub zu besuchen, fing wieder an stark zu trinken, verkehrte wieder in den Kreisen von Junggesellen und begann ein solches Leben zu führen, daß die Gräfin Jelena Wasiljewna für nötig hielt, ihm ernste Vorhaltungen zu machen. Pierre fühlte, daß sie recht hatte, und um seine Frau nicht zu kompromittieren, siedelte er nach Moskau über.
Sobald er in Moskau wieder in sein gewaltiges Haus mit den vertrockneten und vertrocknenden Prinzessinnen und der großen Dienerschaft eingezogen war; sobald er bei einer Fahrt durch die Stadt die Iberische Kapelle mit den zahllosen brennenden Kerzen vor den goldstrotzenden Heiligenbildern und den Kremlplatz mit der unzerfahrenen Schneefläche und die Droschkenkutscher und die elenden, kleinen Hütten in der Siwzew-Wraschek-Straße gesehen hatte; als er die alten Moskauer Herren wiedersah, die nichts weiter wünschten und erstrebten und in größter Seelenruhe ihren Lebensabend verbrachten, und die betagten Moskauer adligen Damen und die Moskauer Bälle und den Moskauer Englischen Klub: da hatte er die Empfindung, daß er daheim sei, im stillen Hafen. Er fühlte sich in Moskau ruhig, warm und behaglich wie in einem alten, schmutzigen Schlafrock.
Die gesamte Moskauer Gesellschaft, von den alten Damen bis herunter zu den Kindern, nahm ihn wie einen altbekannten, längst erwarteten Gast auf, für den ein Platz immer reserviert und bereitgehalten war. Für die besseren Kreise Moskaus war Pierre ein sehr liebenswürdiger, braver, verständiger, heiterer, hochherziger Sonderling, ein zerstreuter, herzensguter russischer Edelmann vom alten Schlag. Seine Geldbörse war immer leer, weil sie für alle offen war.
Billetts zu Benefizvorstellungen, schlechte Gemälde und Statuen, Wohltätigkeitsvereine, Zigeuner, Schulen, Subskriptionslisten für Diners und Gelage, Freimaurer, Kirchen, Bücher: für niemand und für nichts hatte er eine abschlägige Antwort, und wenn nicht zwei seiner Freunde, die viel Geld von ihm borgten, ihn gewissermaßen unter ihre Vormundschaft genommen hätten, so hätte er alles weggegeben. Im Klub fand kein Diner und kein Abendessen statt, ohne daß er dabeigewesen wäre. Sobald er nach zwei Flaschen Margaux sich auf seinem gewöhnlichen Sofaplatz hingerekelt hatte, sammelte sich ein Kreis von Bekannten um ihn; man plauderte, disputierte und scherzte. Entstand ein ernstlicher Streit, so stellte er schon allein durch sein gutmütiges Lächeln und durch ein wohlangebrachtes Scherzwort den Frieden wieder her. Die freimaurerischen Tafellogen waren öde und langweilig, wenn er nicht daran teilnahm.
Wenn er nach einem Junggesellensouper, den Bitten der lustigen Gesellschaft nachgebend, sich mit seinem gutmütigen, angenehmen Lächeln erhob, um mit ihnen, man kann leicht denken, wohin, zu fahren, so brachen die jungen Leute in ein frohes Jubelgeschrei aus. Auf Bällen tanzte er, wenn es an Herren mangelte. Die jungen Frauen und Mädchen mochten ihn gern, weil er nicht einer einzelnen den Hof machte, sondern gegen alle in gleicher Weise liebenswürdig war, namentlich nach dem Souper. »Il est charmant; il n’a pas de sexe«, sagten sie von ihm.
Pierre war ein Kammerherr a.D., der in Moskau harmlos dahinlebte, ein Mann, wie es deren dort Hunderte gab.
Was hätte er für einen Schreck bekommen, wenn ihm sieben Jahre vorher, als er soeben aus dem Ausland heimgekehrt war, jemand gesagt hätte, er brauche gar nichts Neues zu suchen und zu ersinnen, er werde in dem längst ausgefahrenen, ihm von Ewigkeit her vorausbestimmten Geleis dahinleben und werde, wie auch immer er sich drehen und wenden möge, doch genau ebenso ein Mensch sein, wie alle in seiner Lage. Das wäre ihm ganz unglaublich erschienen! Hatte er denn nicht von ganzem Herzen gewünscht, in Rußland die Republik einzuführen, oder selbst ein Napoleon zu werden, oder ein Philosoph, oder ein Feldherr, der durch seine überlegene Taktik diesen Napoleon besiegte? Hatte er denn nicht den leidenschaftlichen, ihm erfüllbar scheinenden Wunsch gehegt, eine Wiedergeburt des lasterhaften Menschengeschlechts herbeizuführen und sich selbst zur höchsten Stufe der Vollkommenheit zu bringen? Hatte er denn nicht Schulen und Krankenhäuser gegründet und seinen Leibeigenen die Freiheit geschenkt?
Und statt alles dessen, was war er nun? Der reiche Gatte einer untreuen Ehefrau, ein Kammerherr a.D., ein Mann, der gern gut aß und trank und, wenn er sich nach Tisch den Rock aufgeknöpft hatte, gern ein wenig über die Regierung schimpfte, Mitglied des Moskauer Englischen Klubs und allgemein beliebtes Mitglied der Moskauer Gesellschaft. Er konnte sich lange Zeit nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er nun gerade so ein Moskauer Kammerherr a.D. sei wie andere, eine Menschenklasse, die er vor sieben Jahren so tief verachtet hatte.
Manchmal tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er diese Lebensweise ja nur für eine kleine Weile, nicht für die Dauer, führen werde; aber dann erschreckte ihn ein anderer Gedanke: daß bereits unzählige Leute, genau so wie er, nur für eine kleine Weile, nicht für die Dauer, mit sämtlichen Zähnen im Mund und dichtem Haar auf dem Kopf in diese Lebensweise und in diesen Klub eingetreten und so lange darin geblieben waren, bis sie keine Zähne und keine Haare mehr hatten.
Wenn er in Augenblicken des Stolzes über seine Lage nachdachte, so wollte es ihm scheinen, daß er ein ganz andersartiger und von denjenigen, die er früher verachtet hatte, grundverschiedener Kammerherr a.D. sei; jenes seien geringwertige, dumme Menschen, die mit ihrer Lage zufrieden seien und sich in ihr ganz wohl befänden; »aber ich«, sagte er sich in solchen Augenblicken des Stolzes, »ich bin auch jetzt stets unzufrieden und habe stets den Wunsch, etwas für die Menschheit zu tun.« In Augenblicken der Bescheidenheit jedoch sagte er sich: »Aber vielleicht haben auch jene meine Schicksalsgenossen alle, ganz ebenso wie ich, gerungen und einen neuen, individuellen Lebensweg gesucht und sind dann, ebenso wie ich, durch die Gewalt der Umstände, der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Herkunft, durch jene elementare Gewalt, gegen die der Mensch nichts auszurichten vermag, ebendahin geführt worden wie ich.« Und nachdem er eine Weile in Moskau gelebt hatte, verachtete er jene seine Schicksalsgenossen nicht mehr, sondern begann sie gern zu haben, sie zu achten und sie ebenso wie sich selbst zu bedauern.
Es kamen jetzt nicht mehr über ihn wie früher Augenblicke der Verzweiflung, der Schwermut und des Ekels vor dem Leben; aber jene Krankheit, die sich früher in scharfen Anfällen bekundet hatte, war nur nach innen zurückgedrängt und wich keinen Augenblick von ihm. »Wie geht es in der Welt zu? Warum und wozu das alles?« so fragte er sich verständnislos mehrmals im Laufe jedes Tages, wenn er unwillkürlich über Sinn und Wert der einzelnen Erscheinungen des Lebens nachzudenken anfing; aber da er aus Erfahrung wußte, daß es auf diese Fragen keine Antworten gab, so suchte er eilig von ihnen loszukommen, griff nach einem Buch oder machte, daß er in den Klub oder zu Apollon Nikolajewitsch kam, um dort Stadtklatsch anzuhören und darüber mitzureden.
»Jelena Wasiljewna, die niemals etwas anderes geliebt hat als ihren eigenen Körper und eines der dümmsten Frauenzimmer auf der ganzen Welt ist«, meditierte Pierre, »gilt den Leuten als der Gipfel der Klugheit und des feinen Geschmackes, und alles beugt sich vor ihr. Napoleon Bonaparte wurde von allen geringgeschätzt, solange er ein wahrhaft großer Mann war, und nachdem er ein kläglicher Komödiant geworden ist, beeifert sich Kaiser Franz, ihm seine Tochter als illegitime Gemahlin anzubieten. Die Spanier senden durch die katholische Geistlichkeit Dankgebete zu Gott empor, weil sie am vierzehnten Juni die Franzosen besiegt haben, und die Franzosen senden durch dieselbe katholische Geistlichkeit Dankgebete empor, weil sie am vierzehnten Juni die Spanier besiegt haben. Meine Brüder, die Freimaurer, schwören einen feierlichen Eid, daß sie stets bereit sein werden, alles für den Nächsten zum Opfer zu bringen; aber bei den Kollekten für die Armen bezahlen sie pro Monat nicht einmal einen Rubel; und Asträa intrigiert gegen die Mannasucher, und sie reißen sich um einen echten schottischen Teppich und um ein Schriftstück, dessen Sinn nicht einmal der versteht, der es verfaßt hat, und von dem niemand einen Nutzen hat. Wir alle bekennen das christliche Gebot, das uns befiehlt, Beleidigungen zu verzeihen und unsern Nächsten zu lieben, ein Gebot, demzufolge wir in Moskau unzählige Kirchen errichtet haben; aber gestern ist ein Deserteur mit der Knute zu Tode geprügelt worden, und ein Diener eben dieses Gesetzes der Liebe und Vergebung, ein Geistlicher, hat dem Soldaten vor der Exekution das Kreuz zum Küssen hingehalten.« So meditierte Pierre; und diese ganze, allgemein verbreitete, von allen zugegebene Lüge und Unwahrhaftigkeit setzte ihn, wie sehr er auch an sie gewöhnt war, dennoch jedesmal wie etwas Neues in Erstaunen. »Ich erkenne diese Lüge und Verwirrung«, dachte er, »aber wie soll ich es anfangen, den Menschen alles das, was ich erkenne, darzulegen? Ich habe es versucht und habe dann immer gefunden, daß auch sie in der Tiefe ihrer Seele dasselbe erkennen wie ich, sich aber bemühen, diese Lüge und Unwahrhaftigkeit nicht zu sehen. Also ist da nichts zu ändern. Aber ich, wie soll ich mich nun dazu stellen?« fragte sich Pierre. Er besaß die unglückliche Eigenschaft vieler Menschen (und sie ist in Rußland besonders häufig): an die Möglichkeit des Guten und der Wahrheit zu glauben und das Böse und die Lüge im Leben zu deutlich zu erkennen, als daß man es über sich gewinnen könnte, an diesem Leben ernsthaften Anteil zu nehmen. Jedes Arbeitsgebiet war in seinen Augen mit Schlechtigkeit und Betrug verbunden. Was auch immer er zu sein versuchen mochte, zu welcher Tätigkeit auch immer er greifen mochte, Schlechtigkeit und Lüge stießen ihn überall ab und versperrten ihm alle Wege des Wirkens. Aber dabei mußte er doch leben, mußte irgendwie beschäftigt sein. Es war eine gar zu schreckliche Empfindung, unter dem steten Druck dieser ungelösten Lebensfragen zu stehen, und so ergab er sich den ersten besten Vergnügungen, um nur jene Fragen zu vergessen. Er besuchte alle möglichen Gesellschaften, trank viel, kaufte Gemälde und baute; und vor allen Dingen las er viel.
Er las, und zwar las er alles, was ihm in die Hände kam, und las mit solcher Gier, daß, wenn er abends nach Hause kam und die Diener ihn noch auskleideten, er schon zum Buch griff und las. Und von der Lektüre ging er zum Schlaf über, und vom Schlaf zum Geplauder in den Salons und im Klub, vom Geplauder zum Schlemmen und zu den Weibern, vom Schlemmen wieder zum Geplauder, zur Lektüre und zum Wein. Das Weintrinken wurde ihm mehr und mehr zu einem physischen und zugleich zu einem geistigen Bedürfnis. Obwohl ihm die Ärzte sagten, daß ihm bei seiner Korpulenz der Weingenuß gefährlich sei, trank er sehr viel. Völlig wohl wurde ihm erst dann, wenn er, ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, in seinen großen Mund mehrere Gläser Wein hineingestürzt hatte; dann empfand er eine angenehme Wärme im Körper, eine Zärtlichkeit gegen alle, mit denen er in Berührung kam, und eine Bereitwilligkeit, sich mit jedem Gedanken in oberflächlicher Weise abzufinden, ohne auf den eigentlichen Kern desselben einzugehen. Erst nachdem er eine und noch eine zweite Flasche Wein getrunken hatte, gelangte er zu der verschwommenen Vorstellung, daß jener wirre, furchtbare Knoten des Lebens, der ihn vorher erschreckt hatte, doch nicht so furchtbar sei, wie es ihm vorgekommen war. Er sah diesen Knoten zwar auch im Zustand leiser Berauschtheit unaufhörlich von der einen oder andern Seite, mochte er nun plaudern oder Gespräche mitanhören oder nach dem Mittagessen und Abendessen lesen; aber unter der Einwirkung des Weines sagte er sich dann: »Das hat nichts weiter auf sich. Das werde ich schon entwirren. Ich weiß schon, wie ich alles lösen werde; aber jetzt habe ich keine Zeit; später werde ich das alles überdenken!« Aber dieses »Später« kam eben niemals.
Frühmorgens, ehe er etwas genossen hatte, erschienen ihm dann alle diese Fragen wieder ebenso unlösbar und furchtbar wie früher; und er griff eilig nach einem Buch und freute sich, wenn jemand zu ihm kam.
Manchmal erinnerte sich Pierre an eine eigentümliche Beobachtung, von der er früher einmal gehört hatte: daß im Krieg die Soldaten, wenn sie in einer Position beschossen werden und dagegen nichts tun können, sich absichtlich irgendeine Beschäftigung suchen, um die Gefahr leichter zu ertragen. Und es wollte ihm scheinen, daß es alle Menschen ähnlich machten wie solche Soldaten: sie suchten sich vor den schweren Fragen des Lebens zu retten, der eine durch Ehrgeiz, ein anderer durch Kartenspiel, ein anderer durch Abfassen von Gesetzen, ein anderer durch Weiber, ein anderer durch Spielereien, ein anderer durch Pferde, ein anderer durch die Politik, ein anderer durch den Wein, ein anderer durch Amtstätigkeit. »Da ist nichts wertlos und nichts wichtig; es ist alles gleich: wenn ich mich nur vor jenen schweren Fragen rette, so gut ich es vermag!« dachte Pierre. »Wenn ich sie nur nicht sehe, diese furchtbaren Dinge!«
II
Zu Anfang des Winters war Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski mit seiner Tochter nach Moskau übergesiedelt. Wegen seiner Vergangenheit, seines Verstandes und seiner Originalität, besonders aber infolge des damaligen Abflauens der Begeisterung für die Regierung Kaiser Alexanders und infolge der franzosenfeindlichen, patriotischen Richtung, die damals in Moskau herrschte, wurde Fürst Nikolai Andrejewitsch alsbald ein Gegenstand besonderer Verehrung für die Moskauer und der eigentliche Mittelpunkt der Moskauer Opposition gegen die Regierung.
Der Fürst war im letzten Jahr recht alt geworden. Es traten bei ihm in scharfer Deutlichkeit die Anzeichen des Greisenalters hervor: häufiges, unerwartetes Einschlafen, Vergeßlichkeit für zeitlich ganz naheliegende Ereignisse und ein gutes Gedächtnis für weit zurückliegende, dazu die kindische Eitelkeit, mit der er die Rolle eines Führers der Moskauer Opposition übernommen hatte. Aber trotz alledem: wenn der alte Mann, namentlich bei Abendgesellschaften in seinem Haus, zum Tee in seinem Pelz und mit seiner gepuderten Perücke erschien und, von jemand dazu angeregt, in bruchstückartiger, zerhackter Manier aus der Vergangenheit erzählte oder in noch kürzerer Form scharf tadelnde Urteile über die Gegenwart abgab, so rief er bei all seinen Gästen das gleiche Gefühl respektvoller Verehrung hervor. Den Besuchern bot dieses gesamte altertümliche Haus ein Schauspiel dar, das ebenso großartig wie angenehm wirkte: mit den gewaltigen Wandspiegeln, mit dem aus einer längst vergangenen Zeit stammenden Mobiliar, mit diesen gepuderten Dienern, mit ihm selbst, diesem barschen, klugen Greis, der dem vorigen Jahrhundert angehörte, und mit seiner sanften Tochter und der hübschen Französin, die in Ehrerbietung vor ihm vergingen. Aber die Besucher bedachten nicht, daß außer den zwei bis drei Stunden, während deren sie mit den Hausgenossen zusammen waren, der Tag noch etwa zweiundzwanzig Stunden hatte, in denen das verborgene, innere Leben des Hauses weiterging.
Dieses innere Leben war in der letzten Zeit, während des Aufenthalts in Moskau, für die Prinzessin Marja recht drückend geworden. Sie entbehrte hier in Moskau ihre beiden besten Freuden: die Gespräche mit den Gottesleuten und die Einsamkeit. Beides hatte in Lysyje-Gory dazu geholfen, sie frisch zu erhalten; von dem hauptstädtischen Leben dagegen hatte sie keinen Vorteil und keine Freude. In Gesellschaft ging sie nicht: alle wußten, daß ihr Vater sie nicht von sich ließ, selbst aber wegen seiner Kränklichkeit keine Gesellschaften außer dem Haus besuchen konnte; und so lud man sie denn gar nicht mehr zu Diners und Soupers ein. Die Hoffnung, sich zu verheiraten, hatte Prinzessin Marja ganz aufgegeben. Sie sah, wie kalt und grimmig Fürst Nikolai Andrejewitsch die jungen Männer aufnahm und abfertigte, die manchmal in ihrem Haus erschienen und vielleicht als Bewerber auftreten konnten. Freundinnen hatte Prinzessin Marja keine: während dieses Aufenthalts in Moskau hatte sie an den beiden, die ihr am nächsten gestanden hatten, Enttäuschungen erlebt. Mademoiselle Bourienne, mit der sie auch früher schon nicht völlig offenherzig hatte verkehren können, war ihr jetzt geradezu zuwider geworden, und sie zog sich aus gewissen Gründen immer mehr von ihr zurück. Und was Julja betraf, die in Moskau wohnte und mit welcher Prinzessin Marja fünf Jahre lang einen ununterbrochenen Briefwechsel unterhalten hatte, so stellte sich jetzt, als Prinzessin Marja wieder persönlich mit ihr zusammenkam, heraus, daß sie ihr ganz fremd, ein grundverschiedenes Wesen geworden war. Julja, die nun infolge des Todes ihrer Brüder eine der reichsten Partien in ganz Moskau geworden war, überließ sich ganz und gar dem Strudel der gesellschaftlichen Vergnügungen. Sie sah sich stets von jungen Männern umringt, die, wie sie meinte, auf einmal zur Erkenntnis ihres wahren Wertes gelangt waren. Julja befand sich in jener Lebensperiode eines bereits alternden Mädchens, in welcher ein solches fühlt, daß jetzt die letzte Möglichkeit einer Verheiratung da ist, und daß sich sein Schicksal jetzt oder nie entscheiden muß. Mit trübem Lächeln dachte Prinzessin Marja an jedem Donnerstag daran, daß sie jetzt an niemand zu schreiben hatte, da Julja (diese Julja, von deren Anwesenheit sie keine Freude hatte) mit ihr an demselben Ort war und sie einander jede Woche sahen. Es ging ihr ähnlich wie jenem alten Emigranten, der darauf verzichtete, die Dame zu heiraten, bei der er mehrere Jahre lang seine Abende verlebt hatte: Prinzessin Marja bedauerte, daß Julja mit ihr in derselben Stadt wohnte und sie nun niemand hatte, an den sie schreiben konnte. Prinzessin Marja hatte in Moskau niemand, mit dem sie hätte offen reden und dem sie ihr Leid hätte anvertrauen können, und es war damals viel neues Leid zu dem alten noch hinzugekommen.
Der in Aussicht genommene Termin für die Rückkehr des Fürsten Andrei und für seine Verheiratung rückte heran, und der Auftrag, den er ihr erteilt hatte, den Vater darauf vorzubereiten, war nicht ausgeführt worden; ja, die Sache schien im Gegenteil ganz schlimm zu stehen, da schon die bloße Erwähnung der Komtesse Rostowa ausreichte, um den alten Fürsten, der sowieso schon fast immer übler Laune war, ganz außer sich zu bringen.
Als eine neue Quelle des Leides waren in letzter Zeit für die Prinzessin Marja noch die Unterrichtsstunden hinzugekommen, die sie ihrem sechsjährigen Neffen erteilte. Bei ihrem Verkehr mit Nikolenka nahm sie mit Schrecken an sich selbst jene Reizbarkeit wahr, die ein Charakterzug ihres Vaters war. Sie sagte sich immer von neuem, sie müsse sich beim Unterricht ihres Neffen beherrschen und dürfe nicht hitzig werden; aber fast jedesmal, wenn sie sich mit der französischen Fibel und dem Zeigestift hingesetzt hatte, geriet sie in einen solchen Eifer, ihr eigenes Wissen möglichst schnell und möglichst leicht gleichsam in das Kind hineinzugießen, das von vornherein in Angst war, die Tante würde im nächsten Augenblick zornig werden – sie geriet in einen solchen Eifer, daß sie bei der geringsten Unaufmerksamkeit von seiten des Knaben zusammenzuckte, hastig und hitzig wurde, die Stimme erhob und ihn manchmal am Ärmchen schüttelte und in die Ecke stellte. Wenn sie ihn nun in die Ecke gestellt hatte, so begann sie selbst über ihren bösen, schlechten Charakter zu weinen, und Nikolenka, der in unwillkürlichem Nachahmungstrieb ebenfalls schluchzte, kam dann ohne Erlaubnis aus seiner Ecke heraus, ging zu ihr hin, zog ihr die tränenfeuchten Hände vom Gesicht und tröstete sie.
Aber den größten, allergrößten Kummer bereitete der Prinzessin die Reizbarkeit ihres Vaters, die sich immer gegen die Tochter richtete und in der letzten Zeit geradezu zur Grausamkeit ausgeartet war. Hätte er sie gezwungen, ganze Nächte lang vor den Heiligenbildern unter tiefen Verbeugungen zu beten, hätte er sie geschlagen, hätte er ihr befohlen, Holz und Wasser zu schleppen, so wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihre Lage für drückend zu halten; aber dieser liebende Peiniger, dessen Grausamkeit eben daher rührte, daß er sie liebte und zur Strafe dafür sich und sie peinigte, legte es nicht nur absichtlich darauf an, sie zu kränken und zu demütigen, sondern er suchte ihr auch noch jedesmal zu beweisen, daß sie immer und an allem schuld sei. In der letzten Zeit war bei ihm eine neue Absonderlichkeit hervorgetreten, die der Prinzessin Marja mehr Qual bereitete als alles andere: das war seine immer mehr wachsende Zuneigung zu Mademoiselle Bourienne. Als er seinerzeit zuerst von der Absicht seines Sohnes, sich wieder zu verheiraten, gehört hatte, da war ihm im ersten Augenblick wie eine Art von Witz der Gedanke gekommen, wenn Andrei heirate, so könne auch er selbst Mademoiselle Bourienne zu seiner Frau machen; aber dieser Gedanke gefiel ihm offenbar mit der Zeit immer besser, und in der letzten Zeit legte er mit einer gewissen Hartnäckigkeit und, wie es der Prinzessin Marja schien, lediglich mit der Absicht, sie zu kränken, eine ganz besondere Freundlichkeit gegen Mademoiselle Bourienne an den Tag und brachte seine Unzufriedenheit mit seiner Tochter dadurch zum Ausdruck, daß er dieser Frau seine Zuneigung bezeigte.
Eines Tages während des Aufenthalts in Moskau küßte der alte Fürst in Gegenwart der Prinzessin Marja (sie war der Ansicht, der Vater tue es absichtlich in ihrer Gegenwart) der Mademoiselle Bourienne die Hand, zog sie an sich heran und umarmte sie zärtlich. Prinzessin Marja wurde dunkelrot und lief aus dem Zimmer. Einige Minuten darauf trat Mademoiselle Bourienne lächelnd bei ihr ein und erzählte mit ihrer wohlklingenden Stimme irgend etwas Lustiges. Prinzessin Marja wischte sich schnell die Tränen ab, ging festen Schrittes auf die Französin zu und schrie sie, offenbar ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, mit zorniger Stimme und in einer sich überstürzenden Hast an: »Das ist gemein, unwürdig, herzlos, eine Schwäche so zu mißbrauchen …« Sie ließ ihre Scheltrede unvollendet. »Gehen Sie hinaus aus meinem Zimmer!« schrie sie und brach in Schluchzen aus.
Am andern Tag sagte der Fürst zu seiner Tochter kein einziges Wort; aber es fiel ihr auf, daß er beim Mittagessen befahl, die Speisen sollten zuerst der Mademoiselle Bourienne präsentiert werden. Und als zu Ende des Mittagessens der Diener den Kaffee herumreichte und nach früherer Gewohnheit wieder bei der Prinzessin anfing, geriet der Fürst plötzlich in Wut, warf mit seinem Krückstock nach Philipp und ordnete an, er solle sofort unter die Soldaten gesteckt werden.
»Er hört nicht … zweimal habe ich es gesagt …! er hört nicht! Sie ist die Erste in diesem Haus; sie ist meine beste Freundin«, schrie der Fürst. »Und wenn du«, schrie er zornig, indem er zum erstenmal an diesem Tag Prinzessin Marja anredete, »und wenn du dir noch einmal erlaubst, wie du dich gestern erdreistet hast, dich ihr gegenüber zu vergessen, so werde ich dir zeigen, wer Herr im Haus ist. Hinaus! Ich will dich nicht eher wiedersehen, ehe du sie nicht um Verzeihung gebeten hast!«
Prinzessin Marja bat ihre Gesellschafterin, ihr zu vergeben, und ebenso bat sie den Vater um Verzeihung für sich und den Diener Philipp, der sie angefleht hatte, ein gutes Wort für ihn einzulegen.
In solchen Augenblicken bildete sich in der Seele der Prinzessin Marja ein Gefühl heraus, das wie eine Art von Stolz auf das von ihr gebrachte Opfer aussah. Und dann traf es sich plötzlich, daß unmittelbar nach einer solchen Szene in ihrer Gegenwart dieser Vater, dessen Benehmen sie innerlich als hart und ungerecht verurteilte, seine Brille suchte, indem er neben ihr umhertastete, ohne sie zu sehen, oder etwas vergaß, was soeben geschehen war, oder mit seinen schwach gewordenen Beinen einen unsicheren Schritt tat und sich umsah, ob auch niemand seine Schwäche bemerkt habe, oder, was das Schlimmste war, beim Mittagessen, wenn keine Gäste da waren, die ihn sonst munter erhielten, plötzlich einschlummerte, die Serviette hinfallen ließ und sich mit seinem zitternden Kopf über den Teller neigte. »Er ist alt und schwach, und ich erdreiste mich, ihn zu verurteilen!« dachte sie in solchen Augenblicken, mit Abscheu gegen sich selbst.
III
Im Jahre 1810 lebte in Moskau ein französischer Arzt namens Métivier, der schnell Mode geworden war. Er war ein schöner Mann, von sehr hohem Wuchs, liebenswürdig wie alle Franzosen und, wie man in Moskau allgemein sagte, als Arzt außerordentlich tüchtig. Er verkehrte in den vornehmsten Häusern nicht als Arzt, sondern wie ein Gleichgestellter.
Fürst Nikolai Andrejewitsch spottete zwar über die medizinische Wissenschaft, hatte aber dennoch in der letzten Zeit auf Mademoiselle Bouriennes Rat diesen Arzt zu sich kommen lassen und sich dann an ihn gewöhnt. Métivier kam etwa zweimal wöchentlich zum Fürsten.
Am Nikolaustag, dem Namenstag des Fürsten, stellte sich ganz Moskau am Portal seines Hauses ein; aber er hatte Befehl gegeben, niemand anzunehmen und nur einige wenige, von denen er der Prinzessin Marja ein Verzeichnis eingehändigt hatte, zum Mittagessen einzuladen.
Métivier, der am Morgen zum Gratulieren kam, hielt sich in seiner Eigenschaft als Arzt für berechtigt, die Absperrung zu durchbrechen, wie er zu der Prinzessin Marja sagte, und ging zum Fürsten hinein. Es traf sich, daß der alte Fürst gerade am Morgen dieses Namenstages besonders schlechter Laune war. Er wanderte den ganzen Morgen durch das Haus, suchte mit allen, die er traf, Händel und stellte sich, als ob er nicht verstände, was sie zu ihm sagten, und als ob sie ihn nicht verständen. Prinzessin Marja kannte diesen Zustand stiller, verbissener Knurrigkeit, der gewöhnlich mit einem Wutausbruch endete, ganz genau und ging den ganzen Morgen über umher, wie wenn eine geladene Flinte mit aufgezogenen Hähnen auf sie gerichtet wäre und sie den unausbleiblichen Schuß erwartete. Die Stunden vor der Ankunft des Arztes waren glücklich vorübergegangen. Nachdem Prinzessin Marja den Arzt hereingelassen hatte, setzte sie sich im Salon mit einem Buch in die Nähe der Tür, von wo aus sie alles hören konnte, was im Zimmer ihres Vaters vorging.
Zuerst hörte sie nur die Stimme Métiviers, dann die Stimme ihres Vaters; dann sprachen beide Stimmen zugleich; beide Flügel der Tür wurden heftig aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien Métivier mit seinem vollen, schwarzen Haar, auf dem schönen Gesicht den Ausdruck der Bestürzung, und der Fürst in Nachtmütze und Schlafrock mit wutentstelltem Gesicht und rollenden Augen.
»Du verstehst mich nicht?« schrie der Fürst. »Aber ich durchschaue dich! Du französischer Spion, Sklave Bonapartes, du Spion, hinaus aus meinem Haus! Hinaus, sage ich …!« Er schlug die Tür zu.
Métivier trat, die Achseln zuckend, zu Mademoiselle Bourienne, die auf das Geschrei aus dem Nebenzimmer herbeigelaufen kam.
»Der Fürst ist nicht ganz wohl«, sagte er. »Galle und Blutandrang nach dem Gehirn. Beruhigen Sie sich; ich komme morgen wieder heran.« Er legte einen Finger an die Lippen und entfernte sich eilig.
Durch die geschlossene Tür konnte man hören, wie der Fürst in seinen Pantoffeln hin und her ging und schrie: »Spione, Verräter, überall Verräter! Im eigenen Haus hat man keinen Augenblick Ruhe!«
Nach Métiviers Weggang rief der alte Fürst seine Tochter zu sich, und nun brach die ganze Wucht seines Zornes über sie herein. Sie sei daran schuld, daß der Spion zu ihm gelassen worden sei. Er habe doch gesagt, habe ihr gesagt, es solle niemand vorgelassen und nur diejenigen, die auf der Liste ständen, zum Mittagessen eingeladen werden. Warum sei nun dieser Schurke doch hereingelassen? Sie sei an allem schuld. Wenn er mit ihr zusammenlebe, habe er keinen Augenblick Ruhe und könne nicht ruhig sterben. So zeterte er.
»Nein, mein Kind, wir müssen uns trennen, müssen uns trennen! Das mögen Sie wissen, das mögen Sie wissen! Ich kann das nicht länger ertragen!« rief er und ging aus dem Zimmer. Und als ob er fürchtete, sie könnte die Sache irgendwie nicht ernst genug nehmen, kehrte er noch einmal zu ihr zurück und fügte, indem er eine ruhige Miene anzunehmen suchte, hinzu: »Glauben Sie nicht, daß ich das nur so in einem Augenblick des Zornes zu Ihnen sage; ich bin ganz ruhig und habe es mir wohl überlegt. Und es wird auch geschehen; wir müssen uns trennen; suchen Sie sich einen andern Ort zum Wohnen …!« Aber er konnte sich doch nicht länger beherrschen, und mit jener Bosheit, deren nur ein Mensch fähig ist, der sein Opfer doch liebt, schüttelte er, offenbar selbst unter seiner Handlungsweise leidend, die Fäuste und schrie ihr zu:
»Wenn sie doch irgendeinen Dummkopf fände, der sie heiratete!« Er schlug die Tür hinter sich zu; dann steckte er noch einmal den Kopf hindurch und rief Mademoiselle Bourienne zu sich, und nun wurde es in seinem Zimmer still.
Um zwei Uhr trafen die sechs Personen ein, die für das Diner auserwählt waren.
Die Gäste – nämlich der bekannte Graf Rastoptschin, Fürst Lopuchin mit seinem Neffen, General Tschatrow, ein alter Kriegskamerad des Fürsten, und zwei jüngere Leute: Pierre und Boris Drubezkoi – erwarteten den alten Fürsten im Salon.
Boris, der vor kurzem auf Urlaub nach Moskau gekommen war, hatte den lebhaften Wunsch gehabt, dem Fürsten Nikolai Andrejewitsch vorgestellt zu werden, und es dermaßen verstanden, sich dessen Gunst zu erwerben, daß der Fürst, während er sonst unverheiratete junge Männer in seinem Haus nicht verkehren ließ, mit ihm eine Ausnahme machte.
Das Haus des Fürsten nahm nicht eigentlich am gesellschaftlichen Leben teil; aber es kam dort ein kleiner Kreis von Männern zusammen, von dem zwar in der Stadt nicht viel gesprochen wurde, zu welchem zugelassen zu werden aber besonders schmeichelhaft war. Das hatte auch Boris vor einer Woche gemerkt, als in seiner Gegenwart der Oberkommandierende den Grafen Rastoptschin auf den Nikolaustag zum Diner eingeladen und dieser ihm erwidert hatte, er könne nicht kommen:
»An diesem Tag begebe ich mich immer zu den Gebeinen des Fürsten Nikolai Andrejewitsch, um ihnen meine Verehrung zu erweisen.«
»Ach ja, ja, richtig«, hatte der Oberkommandierende geantwortet. »Was macht er denn?«
Die kleine Gesellschaft, die sich vor dem Diner in dem altmodischen, hohen, mit alten Möbeln ausgestatteten Salon versammelt hatte, machte den Eindruck eines feierlichen Gerichtstribunals. Alle schwiegen, und wenn sie redeten, so taten sie es nur in gedämpftem Ton. Nun trat Fürst Nikolai Andrejewitsch ein, ernst und schweigsam. Prinzessin Marja schien noch stiller und schüchterner zu sein als gewöhnlich. Die Gäste redeten sie nur ungern an, weil sie sahen, daß sie keine Neigung hatte sich mit ihnen zu unterhalten. Graf Rastoptschin hielt ganz allein das Gespräch im Gang, indem er die letzten Neuigkeiten aus der Stadt und aus der Politik erzählte. Lopuchin und der alte General beteiligten sich am Gespräch nur ab und zu.
Fürst Nikolai Andrejewitsch hörte zu, so wie ein höherer Richter die Berichte anhört, die ihm erstattet werden, und bekundete nur von Zeit zu Zeit durch eine stumme Gebärde oder durch ein kurzes Wort, daß er das, was ihm berichtet wurde, zur Kenntnis nahm. Aus dem Ton des Gesprächs war zu entnehmen, daß keiner das billigte, was im politischen Leben vorging. Es wurden Ereignisse erzählt, welche deutlich zeigten, daß alles einen immer schlechteren Gang nahm; aber bei jeder Erzählung und Kritik war auffallend, daß der Redende jedesmal an demjenigen Punkt entweder selbst innehielt oder von einem andern angehalten wurde, wo die Kritik sich auf die Person des Kaisers zu beziehen begann.
Bei Tisch kam das Gespräch auf die letzte politische Neuigkeit: die Annexion der Länder des Herzogs von Oldenburg durch Napoleon und die gegen Napoleon gerichtete Note, welche die russische Regierung an alle europäischen Höfe gesandt hatte.
»Bonaparte verfährt mit Europa wie ein Pirat mit einem eroberten Schiff«, bemerkte Graf Rastoptschin und wiederholte damit eine Wendung, deren er sich an anderen Stellen bereits mehrmals bedient hatte. »Man kann sich nur über die Langmut oder die Verblendung der Herrscher wundern. Jetzt kommt nun der Papst an die Reihe: Bonaparte, der sich vor nichts mehr zu scheuen scheint, will das Oberhaupt der katholischen Kirche stürzen – und alle schweigen dazu! Der einzige, der gegen die Einziehung der Besitzungen des Herzogs von Oldenburg protestiert hat, ist unser Kaiser, und das …« Hier brach Graf Rastoptschin ab, da er merkte, daß er an die Grenze gelangt war, bei der die Kritik haltzumachen hatte.
»Es sind ihm andere Besitzungen an Stelle des Herzogtums Oldenburg angeboten worden«, sagte Fürst Nikolai Andrejewitsch. »Gerade wie ich Bauern von Lysyje-Gory nach Bogutscharowo und den Rjasanschen Gütern versetzt habe, so macht er es mit Herzögen.«
»Der Herzog von Oldenburg erträgt sein Unglück mit einer bewundernswerten Charakterstärke und Ergebung«, beteiligte sich Boris respektvoll an dem Gespräch.
Er sagte das deswegen, weil er auf der Fahrt von Petersburg die Ehre gehabt hatte, dem Herzog vorgestellt zu werden. Fürst Nikolai Andrejewitsch sah den jungen Mann so an, als wollte er ihm etwas darauf erwidern; aber er besann sich eines andern, da er ihn dafür denn doch für zu jung erachtete.
»Ich habe unseren Protest in der oldenburgischen Angelegenheit gelesen und bin über die schlechte Form, in der die Note abgefaßt ist, erstaunt gewesen«, sagte Graf Rastoptschin in dem lässigen Ton eines Mannes, der über eine Sache urteilt, in der er gut Bescheid weiß. Pierre blickte den Grafen Rastoptschin mit naiver Verwunderung an und begriff nicht, warum ihn die schlechte Fassung der Note so verdrießen könne.
»Ist es denn nicht ganz gleich, wie die Note geschrieben ist, Graf«, sagte er, »wenn nur ihr Inhalt kräftig und energisch ist?«
»Mein Lieber, mit unseren fünfmalhunderttausend Mann Soldaten ist es eigentlich leicht, einen guten Stil zu schreiben«, erwiderte Graf Rastoptschin. Pierre begriff nun, was dem Grafen Rastoptschin an der Fassung der Note mißfiel.
»Die Sorte der schlechten Schreiber scheint sich gewaltig vermehrt zu haben«, sagte der alte Fürst. »Da in Petersburg schreibt jeder Mensch, und nicht nur Noten; sie schreiben auch neue Gesetze. Mein Andrei hat für Rußland einen ganzen Band neuer Gesetze zusammengeschrieben. Heutzutage schreibt eben jeder!« Er lachte in gekünstelter Art.
Das Gespräch verstummte einen Augenblick; dann zog der alte General dadurch, daß er sich räusperte, die Aufmerksamkeit auf sich.
»Haben Sie schon von den Vorfällen bei den letzten Paraden in Petersburg gehört? Der neue französische Gesandte hat sich in einer unerhörten Weise benommen!«
»Ja, ich habe etwas davon gehört; er hat in Gegenwart Seiner Majestät etwas Ungehöriges gesagt.«
»Seine Majestät lenkte bei der vorletzten Parade die Aufmerksamkeit des Gesandten auf die Grenadierdivision und ihren Parademarsch«, fuhr der General fort, »aber der Gesandte soll gar nicht danach hingesehen, sondern gesagt haben: ›Wir legen bei uns in Frankreich auf solche nutzlosen Äußerlichkeiten keinen Wert.‹ Der Kaiser hat ihm darauf nichts erwidert. Aber bei der folgenden Parade hat er ihn, wie es heißt, nicht ein einziges Mal angeredet.«
Alle schwiegen; über diese Tatsache, die auf den Kaiser persönlich Bezug hatte, durfte keinerlei Kritik ausgesprochen werden.
»Eine freche Sorte!« sagte der Fürst. »Kennen Sie Métivier? Ich habe ihn heute aus meinem Haus gejagt. Er war hier; man hatte ihn zu mir hereingelassen, obwohl ich angeordnet hatte, niemandem den Eintritt zu gestatten«, fügte er mit einem zornigen Blick auf seine Tochter hinzu.
Und nun erzählte er sein ganzes Gespräch mit dem französischen Arzt und führte die Gründe an, die ihn zu der Überzeugung gebracht hatten, daß Métivier ein Spion sei. Obgleich diese Gründe sehr unzulänglich und unklar waren, wandte dennoch niemand etwas dagegen ein.
Nach dem Braten wurde Champagner gereicht. Die Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und beglückwünschten den alten Fürsten. Auch Prinzessin Marja trat zu ihm.
Er sah sie mit einem kalten, grimmigen Blick an und hielt ihr seine runzlige, rasierte Wange zum Kuß hin. Der gesamte Ausdruck seines Gesichtes sagte ihr, daß er das Gespräch vom Vormittag keineswegs vergessen habe, daß sein Entschluß in voller Kraft bestehen bleibe, und daß er ihr das nur mit Rücksicht auf die Anwesenheit der Gäste nicht mit Worten ausspreche.
Als alle aus dem Speisezimmer wieder zum Kaffee in den Salon gegangen waren, setzten sich die alten Herren zusammen.
Fürst Nikolai Andrejewitsch wurde nun lebhafter und legte seine Ansicht über den bevorstehenden Krieg dar.
Er sagte, unsere Kriege mit Bonaparte würden so lange einen unglücklichen Verlauf nehmen, als wir Bündnisse mit den Deutschen suchten und uns in die europäischen Angelegenheiten einmischten, in die uns der Tilsiter Friede hineingezogen habe. Wir dürften weder für Österreich noch gegen Österreich Krieg führen. Unsere Politik habe sich ganz auf den Osten zu beschränken, und was Bonaparte beträfe, so sei das einzig Richtige eine starke Truppenmacht an der Grenze und eine feste, energische Politik; dann werde er nie wieder wagen, die russische Grenze zu überschreiten, wie im Jahre 1807.
»Aber wie wäre es denn möglich, daß wir mit den Franzosen Krieg führten, Fürst!« entgegnete Graf Rastoptschin. »Können wir denn gegen unsere Lehrmeister und Abgötter die Waffen erheben? Sehen Sie nur unsere Jugend an, sehen Sie nur unsere Damen an! Die Franzosen sind unsere Abgötter, und Paris ist unser Himmelreich.«
Er begann lauter zu sprechen, offenbar damit alle ihm zuhören möchten:
»Wir tragen französische Kleider, wir denken und fühlen wie Franzosen! Da haben Sie nun diesen Métivier mit einem Fußtritt hinausspediert, weil er ein Franzose und ein Nichtswürdiger ist; aber unsere Damen rutschen vor ihm auf den Knien herum. Gestern war ich auf einer Abendgesellschaft; da waren unter fünf anwesenden Damen drei Katholikinnen, die sich vom Papst besonderen Dispens haben geben lassen, am Sonntag auf Kanevas zu sticken; aber dabei saßen sie beinahe nackt da, wie die Figuren auf den Aushängeschildern der öffentlichen Badehäuser, mit Erlaubnis zu sagen. Ach, wenn ich so unsere jungen Leute ansehe, Fürst, da möchte ich am liebsten den alten Stock Peters des Großen aus der Kunstkammer nehmen und ihnen auf russische Manier den Buckel vollhauen; da sollte ihnen ihre Narrheit wohl vergehen!«
Alle schwiegen. Der alte Fürst sah Rastoptschin lächelnd an und wiegte beifällig den Kopf hin und her.
»Nun, dann leben Sie wohl, Euer Durchlaucht, und halten Sie sich alle Krankheit vom Leib«, sagte Rastoptschin, indem er mit den ihm eigenen schnellen Bewegungen aufstand und dem Fürsten die Hand hinstreckte.
»Lebe wohl, mein Bester; deine Tonart höre ich immer mit großer Freude!« sagte der alte Fürst; er hielt die Hand Rastoptschins in der seinigen fest und hielt ihm die Wange zum Kuß hin. Gleichzeitig mit Rastoptschin hatten sich auch die andern erhoben.
IV
Prinzessin Marja, die mit im Salon gesessen und diese Gespräche und tadelnden Urteile der alten Herren mit angehört hatte, hatte von dem Gehörten nichts verstanden; sie hatte immer nur gedacht, ob auch die Gäste die feindliche Stimmung des Vaters ihr gegenüber nicht bemerkten. Sie hatte nicht einmal die besonderen Aufmerksamkeiten und Liebenswürdigkeiten bemerkt, die Drubezkoi, der schon zum drittenmal bei ihnen im Hause war, während der ganzen Zeit, als sie bei Tisch saßen, ihr erwiesen hatte.
Prinzessin Marja wandte sich mit einem zerstreuten, fragenden Blick zu Pierre, der als letzter der Gäste mit dem Hut in der Hand lächelnd zu ihr trat, als der Fürst bereits hinausgegangen war und sie beide allein im Salon zurückgeblieben waren.
»Darf ich mich noch einen Augenblick zu Ihnen setzen?« fragte er, indem er seinen dicken Körper bequem in einen Sessel neben der Prinzessin Marja sinken ließ.
»Bitte sehr«, antwortete sie; aber ihr Blick fragte: »Sie haben nichts bemerkt?«
Pierre befand sich in der angenehmen Stimmung, die ihn oft nach dem Mittagessen überkam. Er blickte vor sich hin und lächelte leise.
»Kennen Sie diesen jungen Mann schon lange, Prinzessin?« fragte er.
»Welchen jungen Mann?«
»Drubezkoi.«
»Nein, lange kenne ich ihn noch nicht.«
»Nun, und gefällt er Ihnen?«
»O ja, er ist ein angenehmer, junger Mann … Warum fragen Sie mich danach?« erwiderte Prinzessin Marja, dachte aber dabei immer noch an das Gespräch, das sie am Vormittag mit dem Vater gehabt hatte.
»Weil ich eine Beobachtung gemacht habe: die jungen Männer, die von Petersburg auf Urlaub nach Moskau gehen, verfolgen gewöhnlich nur den Zweck, ein reiches Mädchen zu heiraten.«
»Haben Sie das beobachtet?« fragte Prinzessin Marja.
»Ja«, antwortete Pierre lächelnd, »und dieser junge Mann hat es sich jetzt offenbar zum Grundsatz gemacht, überall da zu sein, wo ein reiches heiratsfähiges Mädchen ist. Ich lese in ihm wie in einem Buch. Er ist jetzt noch unentschlossen, gegen wen er seine Attacke richten soll, ob gegen Sie oder gegen Mademoiselle Julja Karagina. Er ist sehr hinter ihr her.«
»Er verkehrt bei Karagins?«
»Ja, und recht viel. Und kennen Sie auch die neueste Art, wie man einer Dame den Hof macht?« fragte Pierre mit vergnügtem Lächeln; er befand sich augenscheinlich in jener heiteren Stimmung gutmütiger Spottlust, die er sich in seinem Tagebuch so oft zum Vorwurf gemacht hatte.
»Nein«, antwortete Prinzessin Marja.
»Man muß jetzt, um den Moskauer jungen Damen zu gefallen, melancholisch sein. Und er ist im Umgang mit Mademoiselle Karagina sehr melancholisch«, sagte Pierre.
»Wirklich?« erwiderte Prinzessin Marja; sie sah dabei in Pierres gutes Gesicht und dachte unaufhörlich an ihren Kummer. »Es würde mir leichter ums Herz werden«, dachte sie, »wenn ich mich entschlösse, jemandem all das anzuvertrauen, was mich quält. Und gerade diesem Pierre möchte ich gern alles sagen. Er ist so gut und hat eine edle Gesinnung. Es würde mir leichter ums Herz werden. Er würde mir einen Rat geben!«
»Würden Sie ihn heiraten?« fragte Pierre.
»Ach, mein Gott, Graf, es gibt Augenblicke, wo ich bereit wäre, jeden Beliebigen zu heiraten«, erwiderte Prinzessin Marja; die Antwort war ihr wider ihren Willen entfahren, und man hörte ihrer Stimme an, daß ihr die Tränen nahe waren. »Ach, wie schmerzlich ist es, wenn man jemand, der einem nahesteht, liebt und sich dabei sagen muß, daß …«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »… daß man für ihn weiter nichts tun kann als sich grämen; wenn man weiß, daß man nichts ändern kann. Dann ist das einzige, was einem übrigbleibt, fortzugehen; aber wohin soll ich gehen?«
»Was haben Sie? Was ist Ihnen, Prinzessin?«
Aber die Prinzessin brach, ohne zu Ende zu sprechen, in Tränen aus.
»Ich weiß nicht, was mit mir heute ist. Hören Sie nicht auf mich; vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«
Pierres ganze Heiterkeit war verschwunden. Er drang mit teilnahmsvollen Fragen in die Prinzessin, bat sie, alles auszusprechen, ihm ihr Leid anzuvertrauen: aber sie wiederholte nur, sie bitte ihn, zu vergessen, was sie gesagt habe; sie erinnere sich selbst des Gesagten nicht und habe keinen andern Kummer als den, welchen er kenne: den Kummer darüber, daß die Heirat des Fürsten Andrei Vater und Sohn miteinander zu entzweien drohe.
»Haben Sie etwas von der Familie Rostow gehört?« fragte sie, um den Gegenstand des Gespräches zu wechseln. »Es ist mir gesagt, sie würden bald herkommen. Auch meinen Bruder erwarte ich alle Tage. Es wäre mir lieb, wenn das erste Wiedersehen hier stattfände.«
»Und wie sieht er jetzt die Sache an?« fragte Pierre, wobei er unter »er« den alten Fürsten verstand.
Prinzessin Marja schüttelte den Kopf.
»Aber was läßt sich dagegen tun? Von dem Jahr, bis zu dessen Ablauf der Vater die Hochzeit verschoben wissen wollte, sind nur noch einige Monate übrig. Und ich sehe noch gar keine Möglichkeit. Könnte ich meinem Bruder nur über die ersten Augenblicke der Wiederbegegnung mit dem Vater hinweghelfen. Es wäre mir lieb, wenn die Rostows noch vor Andrei hier einträfen. Ich hoffe, daß ich mit ihr gut harmonieren werde. Sie kennen die Familie ja schon lange; sagen Sie mir, Hand aufs Herz, die ganze, lautere Wahrheit: was ist sie für ein Mädchen, und wie finden Sie sie? Aber die ganze Wahrheit; denn Sie begreifen wohl: wenn Andrei das gegen den Willen seines Vaters tut, so setzt er so viel aufs Spiel, daß ich gern wissen möchte …«
Ein unklares, instinktives Gefühl sagte Pierre, daß in diesen vorausgeschickten Redewendungen und den wiederholten Bitten, die ganze Wahrheit zu sagen, eine Abneigung der Prinzessin Marja gegen ihre künftige Schwägerin zum Ausdruck kam, und daß sie im stillen wünschte, Pierre möchte die Wahl des Fürsten Andrei nicht gutheißen. Aber Pierre antwortete aufrichtig, und zwar sprach er mehr seine Empfindung als ein Urteil aus.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihre Frage beantworten soll«, erwiderte er und errötete dabei, ohne selbst zu wissen warum. »Ich weiß schlechterdings nicht, was sie für ein Mädchen ist, und bin nicht imstande, ihren Charakter in seinen Einzelheiten zu schildern. Sie ist entzückend; aber woher das eigentlich kommt, das weiß ich nicht. Das ist alles, was ich über sie sagen kann.«
Prinzessin Marja seufzte, und ihre Miene besagte: »Ja, das hatte ich erwartet und gefürchtet.«
»Ist sie klug?« fragte Prinzessin Marja.
Pierre überlegte.
»Ich glaube: nein«, antwortete er; »übrigens doch, ja. Sie legt nur keinen Wert darauf, klug zu sein … Aber sie ist entzückend, weiter nichts als entzückend.«
Prinzessin Marja schüttelte wieder mißfällig den Kopf.
»Ach, ich wünsche so sehr, sie liebzugewinnen! Sagen Sie ihr das nur, wenn Sie sie früher sehen sollten als ich.«
»Wie ich gehört habe, werden sie in den nächsten Tagen hier eintreffen«, sagte Pierre.
Prinzessin Marja teilte ihm nun noch ihren Plan mit, wie sie, sobald Rostows würden angekommen sein, mit ihrer künftigen Schwägerin in nähere Beziehung treten und sich auch bemühen werde, den alten Fürsten an sie zu gewöhnen.
V
In Petersburg war es Boris nicht gelungen, eine reiche Frau zu bekommen, und so war er denn in derselben Absicht nach Moskau gereist. In Moskau schwankte er, welches von zwei sehr reichen Mädchen er wählen sollte, ob Julja oder Prinzessin Marja. Obgleich ihm Prinzessin Marja trotz ihres unschönen Äußeren anziehender erschien als Julja, fand er es schwierig, ihr den Hof zu machen. Als er das letztemal mit ihr zusammengewesen war, am Namenstag des alten Fürsten, hatte sie bei allen seinen Versuchen, mit ihr von Gefühlen zu reden, schiefe Antworten gegeben und offenbar auf das, was er sagte, gar nicht hingehört.
Im Gegensatz dazu nahm Julja seine Liebenswürdigkeiten gern entgegen, wiewohl auf eine besondere, ihr eigene Manier.
Julja war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Durch den Tod ihrer Brüder war sie sehr reich geworden. Sie war jetzt geradezu unschön; aber sie meinte nicht nur ebenso hübsch wie früher, sondern noch weit anziehender zu sein. In diesem Irrtum erhielten sie zwei Umstände: erstens war sie eine sehr reiche Partie geworden, und zweitens war sie, je älter sie wurde, um so ungefährlicher für die Männer, und um so unbefangener konnten diese mit ihr verkehren und, ohne irgendwelche Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die Soupers, die Soireen und die muntere Gesellschaft genießen, die sich im Karaginschen Haus zu versammeln pflegte. Viele Männer, die sich zehn Jahre vorher gescheut hätten, täglich ein Haus zu besuchen, wo eine siebzehnjährige Tochter war, um sie nicht zu kompromittieren und sich nicht zu binden, kamen jetzt dreist täglich zu ihr und verkehrten mit ihr nicht wie mit einem heiratsfähigen Fräulein, sondern wie mit einer guten Bekannten, die »kein Geschlecht hat«.
Das Karaginsche Haus war in diesem Winter eines der angenehmsten, gastfreisten Häuser in ganz Moskau. Abgesehen von den Soupers und Diners, zu denen Einladungen ergingen, versammelte sich jeden Abend bei Karagins eine große Gesellschaft, namentlich von Herren; es wurde um Mitternacht soupiert, und man saß dann noch bis gegen drei Uhr zusammen. Es fand kein Schlittenkorso, kein Ball, keine Theatervorstellung statt, woran Julja nicht teilgenommen hätte. Sie trug immer die modernsten Toiletten. Aber trotzdem schien Julja von allem enttäuscht zu sein und sagte jedem, sie glaube weder an Freundschaft noch an Liebe, noch an irgendwelche Lebensfreuden mehr und erhoffe Ruhe nur im Jenseits. Sie hatte sich den Ton eines Mädchens zu eigen gemacht, das eine große Enttäuschung zu ertragen gehabt hat, eines Mädchens, das etwa einen geliebten Mann verloren hat oder von ihm grausam betrogen worden ist. Obgleich ihr nichts dergleichen zugestoßen war, sahen ihre Bekannten sie doch als eine solche Schwergeprüfte an, und sie glaubte sogar selbst, sie habe im Leben viel gelitten. Aber diese Melancholie war weder ihr selbst hinderlich, sich auf alle mögliche Art zu amüsieren, noch bildete sie für die jungen Leute, die bei Karagins verkehrten, ein Hindernis, die Zeit vergnüglich zu verbringen. Jeder Gast, der zu ihnen kam, entrichtete zunächst der melancholischen Stimmung der Tochter vom Haus seinen Tribut und vergnügte sich dann an Gesprächen, wie sie in der Gesellschaft üblich sind, am Tanz, an Spielen, bei denen Verstand und Witz zur Geltung kamen, und an Reimturnieren, wie sie bei Karagins Mode waren. Nur einige junge Männer, zu denen auch Boris gehörte, gingen tiefer auf Juljas melancholische Stimmung ein, und mit diesen jungen Männern führte sie dann längere, einsame Gespräche über die Eitelkeit alles irdischen Treibens und zeigte ihnen ihre Alben, welche bildliche Darstellungen traurigen Inhalts sowie Sinnsprüche und Verse gleicher Art enthielten.
Gegen Boris war Julja besonders freundlich: sie bedauerte ihn, weil ihn das Leben so früh schon enttäuscht habe, bot ihm jene Tröstungen der Freundschaft an, die sie in der Lage war ihm anzubieten, da sie selbst im Leben schon so viel gelitten hatte, und ließ ihn ihre Alben sehen. Boris zeichnete ihr in eines derselben zwei Bäume und schrieb in französischer Sprache dazu: »Ihr Bäume der ländlichen Flur, eure dunklen Zweige schütten Finsternis und Schwermut auf mich herab.«
An einer andern Stelle zeichnete er ein Grabmal mit der Beischrift:
»La mort est secourable et la mort est tranquille.
Ah! contre les douleurs il n’y a pas d’autre asile.«1
Julja sagte, das sei wunderschön.
»Es liegt etwas so Entzückendes in dem Lächeln der Schwermut«, äußerte sie einmal im Gespräch mit Boris; es war dies eine Stelle, die sie sich wörtlich so aus einem französischen Buch abgeschrieben hatte. »Dieses Lächeln ist ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, ein Mittelding zwischen dem Schmerz und der Verzweiflung, welches auf die Möglichkeit eines Trostes hindeutet.«
Daraufhin schrieb Boris ihr folgende Verse ein:
»Aliment de poison d’une âme trop sensible,
Toi, sans qui le bonheur me serait impossible,
Tendre mélancolie, ah, viens me consoler,
Viens calmer les tourments de ma sombre retraite
Et mêle une douceur secrète
A ces pleurs que je sens couler.«2
Julja spielte ihm auf der Harfe die traurigsten Notturnos. Boris las ihr »Die arme Lisa«3 vor und mußte mehrmals im Vorlesen innehalten, da ihm die innere Erregung den Atem benahm. Wenn sie einander in großer Gesellschaft begegneten, so betrachteten Julja und Boris einander als die einzigen Menschen auf der Welt, die gleichgestimmte Seelen hatten und sich wechselseitig verstanden.
Anna Michailowna, welche Karagins häufig besuchte, spielte mit der Mutter Karten und stellte dabei die genauesten Erkundigungen darüber an, was Julja mitbekommen sollte (sie sollte die beiden Güter im Gouvernement Pensa und Wälder im Gouvernement Nischni-Nowgorod als Mitgift erhalten). Mit Ergebung in den Willen der Vorsehung und mit inniger Rührung beobachtete Anna Michailowna den feinfühligen Kummer, welcher ein Band zwischen ihrem Sohn und der reichen Julja bildete.
»Unsere liebe Julja ist doch immer ebenso schwermütig wie liebenswürdig«, sagte sie zu der Tochter. – »Boris sagt, daß ihm in Ihrem Haus die Seele aufgeht; er hat so viele Enttäuschungen zu tragen gehabt und hat ein so tief empfindendes Gemüt«, sagte sie zu der Mutter. – »Ach, lieber Sohn«, sagte sie zu Boris, »welch eine herzliche Zuneigung habe ich in der letzten Zeit für Julja gefaßt; ich kann es dir gar nicht mit Worten schildern! Und wer sollte sie auch nicht lieb haben? Sie ist eine Art von überirdischem Wesen! Ach, Boris, Boris!« Sie schwieg einen Augenblick. »Und wie leid mir ihre Mama tut«, fuhr sie fort; »heute zeigte sie mir Abrechnungen und Berichte, die sie von ihren Verwaltern aus dem Pensaschen erhalten hat (Karagins besitzen dort sehr große Güter), und sie, die Ärmste, muß das alles selbst erledigen und steht so ganz allein da: da wird sie gewaltig betrogen.«
Boris lächelte ganz leise, als er seine Mutter so sprechen hörte. Ihre naive Schlauheit amüsierte ihn; aber er hörte doch solche Mitteilungen immer aufmerksam an und erkundigte sich mehrmals mit Interesse nach den Besitzungen in den Gouvernements Pensa und Nischni-Nowgorod.
Julja erwartete schon lange einen Antrag von seiten ihres melancholischen Verehrers und war bereit, den Antrag anzunehmen; aber ein gewisses geheimes Gefühl der Abneigung gegen sie und gegen ihren leidenschaftlichen Wunsch sich zu verheiraten und gegen das Gekünstelte ihres ganzen Wesens, sowie ein Gefühl des Schreckens vor dem Verzicht auf die Möglichkeit einer wahren Liebe hielten Boris immer noch zurück. Sein Urlaub näherte sich bereits seinem Ende. Jeden Tag, den Gott werden ließ, brachte Boris von früh bis spät bei Karagins zu, und an jedem Tag sagte er, wenn er abends beim Schlafengehen die Angelegenheit für sich allein durchdachte, zu sich: »Morgen will ich meinen Antrag machen.« Aber wenn er dann am andern Tag wieder bei Julja war und ihr rotes Gesicht sah und ihr fast immer gepudertes Kinn und ihre feuchten Augen und ihren gespannten Gesichtsausdruck, der deutlich besagte, daß er jeden Augenblick bereit war aus der Melancholie sofort in eine erkünstelte Schwärmerei für das Eheglück überzugehen: dann fühlte sich Boris außerstande, das entscheidende Wort zu sprechen, trotzdem er sich in seinen Gedanken schon längst als den Eigentümer der Pensaschen und Nischni-Nowgoroder Besitzungen betrachtete und über die Verwendung der Einkünfte daraus seine Dispositionen getroffen hatte. Julja bemerkte seine Unschlüssigkeit, und mitunter kam ihr der Gedanke, sie müsse ihm wohl zuwider sein; aber der übliche Selbstbetrug der Frauen spendete ihr dann immer sogleich wieder Trost, und sie sagte sich, er sei nur aus Liebe so schüchtern.
Jedoch begann ihre Melancholie schon in Nervosität überzugehen, und kurz vor dem Termin, an welchem Boris abreisen mußte, brachte sie einen energischen Plan zur Ausführung. Gerade zu dieser Zeit, wo Boris’ Urlaub zu Ende ging, erschien Anatol Kuragin in Moskau und selbstverständlich auch im Salon der Karaginschen Damen, und Julja gab auf einmal ihre Melancholie auf, wurde sehr heiter und benahm sich gegen Kuragin sehr liebenswürdig.
»Lieber Sohn«, sagte Anna Michailowna zu Boris, »ich weiß aus guter Quelle, daß Fürst Wasili seinen Sohn nach Moskau geschickt hat, damit er Julja heirate. Ich habe Julja so lieb, daß sie mir leid tun würde. Wie denkst du darüber, lieber Sohn?«
Der Gedanke, leer auszugehen und ausgelacht zu werden und diesen ganzen Monat schweren melancholischen Minnedienstes bei Julja ohne jeden Nutzen verloren zu haben und all die Einkünfte von den Pensaschen und Nischni-Nowgoroder Besitzungen, die er in seinen stillen Überlegungen bereits für diesen und jenen Zweck ordnungsmäßig bestimmt und verwendet hatte, in den Händen eines andern und ganz besonders in den Händen des dummen Anatol zu sehen, dieser Gedanke versetzte Boris in Entrüstung. Er fuhr zu Karagins mit dem festen Vorsatz, seinen Antrag zu machen. Julja empfing ihn mit heiterer, unbefangener Miene, redete in lässiger Manier davon, wie gut sie sich auf dem gestrigen Ball amüsiert habe, und fragte ihn, wann er abreise. Obgleich Boris in der Absicht gekommen war, von seiner Liebe zu reden, und daher vorhatte, zärtlich zu sein, begann er doch in gereiztem Ton von der Unbeständigkeit der Frauen zu sprechen: die Frauen brächten es mit Leichtigkeit fertig, von Traurigkeit zu Freude überzugehen, und ihre Gemütsstimmung hänge nur davon ab, wer ihnen gerade den Hof mache. Julja nahm das übel und erwiderte, da habe er ganz recht; eine Frau brauche Abwechslung, und immer ein und dasselbe würde einer jeden langweilig.
»Zu diesem Zweck würde ich Ihnen raten …«, begann Boris in der Absicht, ihr eine Bosheit zu sagen; aber in diesem Augenblick fuhr ihm der peinliche Gedanke durch den Kopf, er könne in die Lage kommen, aus Moskau abreisen zu müssen, ohne trotz so vieler aufgewendeter Mühe seinen Zweck erreicht zu haben (was ihm noch nie auf irgendwelchem Gebiet begegnet war).
Er hielt mitten im Satz inne, schlug die Augen nieder, um den unfreundlichen, gereizten, wankelmütigen Ausdruck ihres Gesichtes nicht zu sehen, und sagte:
»Ich bin ganz und gar nicht in der Absicht hergekommen, mit Ihnen zu streiten. Im Gegenteil …«
Er warf ihr einen Blick zu, um sich zu überzeugen, ob er fortfahren dürfe. All ihre Gereiztheit war mit einem Schlag verschwunden, und ihre unruhigen, fragenden Augen waren in begieriger Erwartung auf ihn gerichtet. »Ich werde es ja immer so einrichten können, daß ich sie nur selten sehe«, dachte Boris. »Aber ich habe die Sache einmal in Angriff genommen und muß sie nun auch durchführen!« Er wurde dunkelrot, hob die Augen zu ihr auf und sagte:
»Sie kennen meine Gefühle für Sie!«
Mehr zu sagen war eigentlich nicht erforderlich; denn auf Juljas Gesicht strahlte bereits ein Lächeln des Triumphes und des befriedigten Ehrgeizes. Aber sie zwang Boris dazu, ihr alles zu sagen, was bei solchen Gelegenheiten gesagt zu werden pflegt, ihr zu sagen, daß er sie liebe und nie ein Weib mehr geliebt habe als sie. Sie wußte, daß sie das für die Güter im Gouvernement Pensa und die Waldungen im Gouvernement Nischni-Nowgorod verlangen konnte, und sie erhielt, was sie verlangte.
Als Braut und Bräutigam dachten sie nicht mehr an die Bäume, welche Dunkelheit und Schwermut über sie herabschütteten, sondern entwarfen Pläne über die künftige Einrichtung eines glänzenden Hauses in Petersburg, machten Visiten und trafen alle Vorbereitungen für eine prunkvolle Hochzeit.
Fußnoten
1 Ein Helfer ist der Tod, ein stiller Ruheport;
Er ist für Gram und Leid der einz’ge Zufluchtsort.
2 Du, Gift zugleich und Kost für Seelen voll Gefühl,
Die du mich mehr beglückst als eitles Weltgewühl,
O sanfte Schwermut, komm und lindre meinen Schmerz,
In düstrer Einsamkeit erfreue du mein Herz,
Und mit geheimer Lust versüße
Die Tränenflut, die ich vergieße.
3 Eine sentimentale Novelle von Karamsin, erschienen im Jahre 1792.
Anmerkung des Übersetzers.
VI
Graf Ilja Andrejewitsch traf Ende Januar mit Natascha und Sonja in Moskau ein. Die Gräfin kränkelte dauernd und konnte nicht mitfahren; und auf ihre Genesung zu warten war nicht möglich: Fürst Andrei wurde täglich in Moskau erwartet; ferner mußte die Aussteuer eingekauft werden; es war notwendig, das Landhaus bei Moskau zu verkaufen, und endlich mußte die Anwesenheit des alten Fürsten in Moskau benutzt werden, um ihm seine künftige Schwiegertochter vorzustellen. Das Rostowsche Haus in Moskau war ungeheizt; auch kamen sie nur auf kurze Zeit, und die Gräfin war nicht dabei: aus diesen Gründen entschloß sich Ilja Andrejewitsch, in Moskau bei Marja Dmitrijewna Achrosimowa abzusteigen, die ihm schon lange ihre Gastfreundschaft angeboten hatte.
Spätabends kamen die vier Rostowschen Schlitten auf Marja Dmitrijewnas Hof in der Staraja-Konjuschennaja-Straße gefahren. Marja Dmitrijewna wohnte allein: ihre Tochter war schon verheiratet, und ihre Söhne befanden sich sämtlich in dienstlichen Stellungen.
Sie hielt sich immer noch ebenso aufrecht wie früher, sagte immer noch ebenso geradeheraus, laut und entschieden allen Leuten ihre Meinung und machte gewissermaßen durch ihr ganzes Wesen anderen Menschen Vorwürfe wegen all der Schwächen, Leidenschaften und törichten Neigungen, deren Existenzberechtigung sie nicht anerkannte. Vom frühen Morgen an beschäftigte sie sich in einer bequemen Jacke mit der Hauswirtschaft. Darauf fuhr sie an Festtagen zur Messe und von der Messe nach den Gefängnissen und Kerkern, wo sie eine Tätigkeit ausübte, von der sie zu niemand sprach; an Werktagen empfing sie, nachdem sie sich angekleidet hatte, bei sich zu Hause Bittsteller der verschiedensten Lebensstellungen, deren sich täglich eine Menge bei ihr einfand. Dann aß sie zu Mittag; an ihrem kräftigen, wohlschmeckenden Mittagessen nahmen stets drei bis vier Gäste teil; nach dem Mittagessen spielte sie eine Partie Boston; vor dem Schlafengehen ließ sie sich die Zeitungen und neue Bücher vorlesen, während sie selbst strickte. Besuche machte sie nur ganz selten und ausnahmsweise, und wenn sie es tat, dann nur bei den vornehmsten Persönlichkeiten in der Stadt.
Sie hatte sich noch nicht hingelegt, als Rostows eintrafen und im Vorzimmer die Rolle der Tür knarrte, durch welche Rostows und deren Dienerschaft aus der kalten Luft hereinkamen. Marja Dmitrijewna stand mit ihrer Brille, die sie tief auf die Nase hinabgeschoben hatte, und mit zurückgelegtem Kopf in der Saaltür und blickte die Eintretenden mit ernster, strenger Miene an. Man hätte denken können, sie sei über die Ankömmlinge ärgerlich und werde sie sogleich wieder wegjagen, wenn sie nicht gleichzeitig ihren Dienstboten sorgfältige Anweisungen über die Unterbringung der Gäste und ihres Gepäckes gegeben hätte.
»Ist das hier das Gepäck des Grafen? Das trage dorthin«, sagte sie, ohne jemand zu begrüßen, indem sie auf die Koffer wies. »Die Fräulein kommen dorthin, nach links. Na, was macht ihr da für unnütze Komplimente!« rief sie den Dienstmädchen zu. »Zündet den Samowar an! Du bist voller und hübscher geworden«, bemerkte sie und zog die von der Kälte gerötete Natascha an der Pelzkappe zu sich heran. »Hu, wie kalt bist du!« Und dem Grafen, der herantreten wollte, um ihr die Hand zu küssen, schrie sie zu: »So zieh dir doch nur schnell erst den Pelz aus! Du bist ja wohl ganz durchgefroren. Stellt zum Tee Rum auf den Tisch! Bon jour, Sonja!« sagte sie zu dieser und deutete durch diese französische Begrüßung ihre bei aller Freundlichkeit doch ein wenig geringschätzige Gesinnung gegen Sonja an.
Nachdem alle Ankömmlinge ihre winterlichen Reisehüllen abgelegt und sich von der Reise wieder in Ordnung gebracht hatten, erschienen sie zum Tee, und nun küßte Marja Dmitrijewna alle der Reihe nach.
»Ich freue mich von ganzem Herzen, daß ihr nach Moskau gekommen seid und daß ihr bei mir logiert«, sagte sie. »Es ist hohe Zeit«, fuhr sie mit einem bedeutsamen Blick auf Natascha fort. »Der Alte ist hier, und der Sohn wird von Tag zu Tag erwartet. Ihr müßt euch unter allen Umständen mit dem Alten bekanntmachen. Na, darüber reden wir später noch«, fügte sie hinzu, indem sie Sonja mit einem Blick streifte, welcher besagte, daß sie in deren Gegenwart nicht darüber reden möge. »Nun höre«, wandte sie sich an den Grafen, »was hast du denn für morgen für Wünsche? Wen soll ich dir einladen? Schinschin?« Sie bog einen Finger ein. »Die weinerliche Anna Michailowna? Zwei. Sie hat jetzt ihren Sohn hier bei sich und verschafft ihm eine Frau! Dann Besuchow, nicht wahr? Der ist auch mit seiner Frau hier. Er war ihr weggelaufen; aber sie ist ihm schleunigst nachgereist. Er ist Mittwoch bei mir zu Tisch gewesen. Na, und diese beiden«, sie zeigte auf die jungen Damen, »die werde ich morgen in die Iberische Kapelle führen, und dann wollen wir zu der Ober-Schelmin fahren. Ihr werdet euch ja doch wohl lauter neue Garderobe machen lassen? Nach mir könnt ihr euch darin nicht richten; jetzt werden Ärmel getragen – so! von der Größe! Neulich besuchte mich die junge Prinzessin Irina Wasiljewna: es sah ganz verdreht aus; als ob sie sich zwei Fässer über die Arme gezogen hätte. Es ist ja jetzt alle Tage eine andere Mode. Na, und du, was hast du für Geschäfte?« wandte sie sich mit strenger Miene zum Grafen.
»Es ist auf einmal alles zusammengekommen«, antwortete der Graf. »Plunderzeug muß ich einkaufen, und dann habe ich hier einen Käufer für das Landhaus vor der Stadt und für das Stadthaus in Aussicht. Wenn Ihre Güte mit das gestatten sollte, so würde ich mir eine passende Zeit aussuchen und auf einen Tag nach Marinskoje hinausfahren und Ihnen solange meine Mädchen aufpacken.«
»Gut, gut; sie werden bei mir wohlbehütet sein. Bei mir sind sie wie im Vormundschaftsrat selbst. Ich werde sie ausführen, wohin es nötig ist, und werde sie nach Bedarf schelten und streicheln«, sagte Marja Dmitrijewna und tippte mit ihrer großen Hand Natascha, die ihr Liebling und Patenkind war, an die Wange.
Am andern Tag führte Marja Dmitrijewna vormittags die beiden jungen Mädchen in die Iberische Kapelle und zu Madame Auber-Chalmé, die vor Marja Dmitrijewna solche Angst hatte, daß sie ihr ihre Putzsachen und Kostüme immer mit Verlust abließ, nur um diese resolute Kundin möglichst schnell wieder loszuwerden. Marja Dmitrijewna bestellte dort fast die ganze Aussteuer. Als sie wieder nach Hause gekommen waren, trieb sie alle außer Natascha aus dem Zimmer und forderte ihren Liebling auf, sich dicht neben ihren Lehnstuhl zu setzen.
»Na, also jetzt wollen wir ein bißchen miteinander reden. Ich wünsche dir Glück zu deinem Bräutigam. Da hast du dir einen recht braven Menschen geangelt! Ich freue mich um deinetwillen; ich kenne ihn von der Zeit her, wo er noch so klein war.« Sie zeigte etwa zwei Fuß von der Erde. Natascha errötete vor Freude. »Ich habe ihn und seine ganze Familie sehr gern. Nun höre zu. Du weißt ja, der alte Fürst Nikolai ist sehr dagegen, daß sein Sohn sich wieder verheiratet. Ein wunderlicher alter Mann! Es versteht sich von selbst: Fürst Andrei ist kein Kind und kann ohne Zustimmung seines Vaters tun, was er will; aber wenn du gegen den Willen des Vaters in die Familie einträtest, so wäre das doch ein übles Ding. Das muß in Frieden und Freundschaft geschehen. Du bist ja klug und wirst wissen, wie du dich zu benehmen hast. Benimm dich herzlich und verständig. Dann wird schon alles gut werden.«
Natascha schwieg, wie Marja Dmitrijewna meinte, aus Schüchternheit; aber in Wirklichkeit war es ihr unangenehm, daß sich jemand in ihr und des Fürsten Andrei Liebesverhältnis einmischte. Dieses Verhältnis erschien ihr als etwas von allen andern menschlichen Verhältnissen derart Verschiedenes, daß, nach ihrer Auffassung, niemand dafür ein Verständnis haben konnte. Sie liebte und kannte nur den Fürsten Andrei, und er liebte sie und mußte in den nächsten Tagen eintreffen und sie holen. Von weiteren Dingen wollte sie nichts wissen.
»Siehst du wohl, ich kenne ihn schon lange, und auch deine Schwägerin Marja habe ich sehr gern. Man sagt sonst: Schwägerin, Verklägerin; aber diese tut keiner Fliege etwas zuleide. Sie hat mich gebeten, sie mit dir bekanntzumachen. Du wirst morgen mit deinem Vater zu ihr fahren; da schmeichle dich nur recht artig ein: du bist jünger als sie. Wenn dann dein Bräutigam kommt, so sieht er, daß du schon mit seiner Schwester und mit seinem Vater bekannt bist und sie dich liebgewonnen haben. Hab ich recht oder nicht? So ist es doch wohl am besten?«
»Gewiß, so ist es am besten«, antwortete Natascha ohne rechte Herzensfreudigkeit.
VII
Am folgenden Tag fuhr Graf Ilja Andrejewitsch auf Marja, Dmitrijewnas Rat mit Natascha zum Fürsten Nikolai Andrejewitsch. Der Graf schickte sich in recht mißvergnügter Stimmung zu diesem Besuch an: es war ihm bänglich zumute. Er mußte an seine letzte Begegnung mit dem Fürsten anläßlich der Einberufung der Landwehr denken, wo ihm als Antwort auf seine Einladung zum Diner von dem Fürsten ein sehr scharfer Verweis zuteil geworden war, weil er seine Mannschaften nicht gestellt hatte. Natascha dagegen, die ihr schönstes Kleid angelegt hatte, befand sich in heiterster Gemütsverfassung. »Es ist ja unmöglich, daß sie mich nicht liebgewinnen sollten«, dachte sie; »bis jetzt haben mich immer alle Leute gern gehabt. Und ich bin von Herzen bereit, ihnen alles zuliebe zu tun, was sie nur wünschen mögen, bin willens, ihn zu lieben, weil er der Vater, und sie, weil sie die Schwester ist, so daß sie keinen Grund haben werden, mir ihre Liebe zu verweigern!«
Sie fuhren bei dem alten, finsterblickenden Haus in der Wosdwischenka-Straße vor und traten in den Flur.
»Nun, Gott gebe uns seinen Segen!« sagte der Graf halb im Scherz, halb im Ernst; aber Natascha bemerkte, daß ihr Vater nicht mit seiner sonstigen Ruhe und Gemächlichkeit in das Vorzimmer trat und schüchtern mit leiser Stimme fragte, ob der Fürst und die Prinzessin zu Hause seien.
Nach der Meldung von ihrer Ankunft war bei der Dienerschaft des Fürsten eine gewisse Unruhe und Bestürzung wahrzunehmen. Der Diener, der hineingeeilt war, um die Meldung abzustatten, wurde auf dem Rückweg von einem andern, alten Diener im Saal angehalten, und sie flüsterten miteinander. Auch kam ein Stubenmädchen in den Saal gelaufen und sagte hastig etwas, worin der Name der Prinzessin vorkam. Endlich kam der alte Diener mit ernster, strenger Miene in das Vorzimmer, in dem die beiden Rostows warteten, und meldete ihnen, der Fürst könne sie nicht empfangen, aber die Prinzessin lasse bitten, auf ihr Zimmer zu kommen.
Die erste, die die Gäste begrüßte, war Mademoiselle Bourienne. Sie befleißigte sich gegen Vater und Tochter ganz besonderer Höflichkeit und führte sie zu der Prinzessin. Die Prinzessin, mit aufgeregtem, erschrockenem, von roten Flecken überdecktem Gesicht, kam mit ihren schweren Schritten ihren Gästen entgegen, indem sie den vergeblichen Versuch machte, unbefangen und erfreut zu erscheinen. Natascha machte beim ersten Blick auf Prinzessin Marja keinen angenehmen Eindruck; sie kam ihr zu geputzt, leichtfertig und eitel vor. Prinzessin Marja war sich dessen nicht bewußt, daß sie schon, ehe sie ihre künftige Schwägerin noch erblickt hatte, aus mehreren Gründen schlecht gegen sie gestimmt gewesen war: weil sie sie unwillkürlich wegen ihrer Schönheit, ihrer Jugend und ihres Glückes beneidete, und weil sie ihr aus Eifersucht die Liebe ihres Bruders nicht gönnte. Abgesehen von diesem unüberwindlichen Gefühl der Abneigung gegen Natascha war Prinzessin Marja in diesem Augenblick auch noch dadurch aufgeregt, daß der Fürst bei der Meldung von der Ankunft der Rostows geschrien hatte, er wolle von ihnen nichts wissen; wenn Prinzessin Marja wolle, so möge sie sie empfangen; in sein Zimmer aber sollten sie nicht hereingelassen werden. Prinzessin Marja hatte bei der Meldung gesagt, sie wolle Rostows empfangen, fürchtete nun aber jeden Augenblick, der Fürst könne irgendeinen Akt der Unhöflichkeit und Feindseligkeit begehen, da ihn die Ankunft der beiden Rostows sehr aufgeregt zu haben schien.
»Nun, liebe Prinzessin, da habe ich Ihnen also meine kleine Heidelerche gebracht«, sagte der Graf mit einer Verbeugung und blickte sich dabei unruhig um, als fürchtete er, der alte Fürst könnte eintreten. »Ich freue mich außerordentlich, daß Sie einander kennenlernen … Schade, schade, daß der Fürst immer noch unpäßlich ist …« Und nachdem er noch einige allgemeine Redensarten gemacht hatte, stand er auf. »Wenn Sie erlauben, Prinzessin, überlasse ich Ihnen meine Natascha auf ein Viertelstündchen; ich möchte gern hier ganz in der Nähe einen Besuch machen, auf dem Sobatschja-Platz, bei Anna Semjonowna, und hole meine Tochter dann wieder von hier ab.«
Ilja Andrejewitsch hatte diesen diplomatischen Trick ersonnen, um den künftigen Schwägerinnen eine bessere Möglichkeit zu geben, sich ungeniert miteinander auszusprechen (diesen Grund teilte er nachher seiner Tochter mit), und dann auch, um eine mögliche Begegnung mit dem Fürsten zu vermeiden, vor dem er sich fürchtete. Dies sagte er seiner Tochter nicht; aber Natascha merkte den Grund der ängstlichen Unruhe ihres Vaters und empfand das als eine Kränkung. Sie errötete über die Situation ihres Vaters, ärgerte sich noch mehr eben darüber, daß sie errötet war, und sah nun die Prinzessin mit einem dreisten, herausfordernden Blick an, welcher besagen sollte, sie fürchte sich vor niemand. Die Prinzessin sagte zu dem Grafen, sie freue sich sehr und bitte ihn, nur recht lange bei Anna Semjonowna zu bleiben. Ilja Andrejewitsch entfernte sich.
Prinzessin Marja, welche mit Natascha gern unter vier Augen gesprochen hätte, warf Mademoiselle Bourienne unruhige Blicke zu; aber diese ging trotzdem nicht aus dem Zimmer und plauderte unentwegt von den Moskauer Theatern und sonstigen Vergnügungen. Natascha fühlte sich gekränkt durch die Verlegenheit des Dienstpersonals, die sie vom Vorzimmer aus gemerkt hatte, durch die Unruhe ihres Vaters und durch den gezwungenen Ton der Prinzessin, die ihr (wenigstens schien es Natascha so) eine Gnade damit zu erweisen glaubte, daß sie sie empfing. Und daher war ihr alles zuwider. Prinzessin Marja gefiel ihr nicht; sie kam ihr sehr häßlich in ihrer äußeren Erscheinung sowie heuchlerisch und herzlos vor. Natascha zog sich auf einmal, in geistigem Sinn gesagt, zusammen und nahm unwillkürlich einen lässigen Ton an, dessen Wirkung nur sein konnte, Prinzessin Marja noch mehr abzustoßen. Nachdem das mühsam sich hinschleppende, gekünstelte Gespräch fünf Minuten gedauert hatte, hörten sie, wie sich schnelle Schritte in Pantoffeln näherten. Auf dem Gesicht der Prinzessin Marja malte sich ein jähes Erschrecken; die Tür des Zimmers öffnete sich, und der Fürst, in weißer Nachtmütze und weißem Schlafrock, trat herein.
»Ah, gnädiges Fräulein«, begann er, »gnädiges Fräulein, Komtesse … Komtesse Rostowa, wenn ich nicht irre … ich bitte um Verzeihung, bitte um Verzeihung … Ich wußte nicht, gnädiges Fräulein, bei Gott, ich wußte nicht, daß Sie uns mit Ihrem Besuch beehrten; ich wollte in diesem Kostüm nur zu meiner Tochter kommen. Bitte um Verzeihung … bei Gott, ich wußte nicht«, sagte er noch einmal, das Wort »Gott« stark betonend, in so unnatürlicher, unangenehmer Weise, daß Prinzessin Marja mit niedergeschlagenen Augen dastand und weder ihren Vater noch Natascha anzublicken wagte.
Natascha, die aufgestanden war und einen Knicks gemacht hatte, wußte ebenfalls nicht, was sie tun sollte. Nur Mademoiselle Bourienne lächelte freundlich.
»Ich bitte um Verzeihung, bitte um Verzeihung; bei Gott, ich wußte nicht …«, brummte der Alte, und nachdem er Natascha vom Kopf bis zu den Füßen gemustert hatte, ging er wieder hinaus.
Mademoiselle Bourienne war die erste, die nach diesem Erscheinen des Fürsten die Fassung wiedergewann und über die Krankheit des Fürsten zu sprechen anfing. Natascha und Prinzessin Marja sahen einander schweigend an, und je länger sie einander so anblickten, ohne das zu sagen, was sie eigentlich doch gern gesagt hätten, um so unfreundlicher dachten sie beide voneinander.
Als der Graf wiederkam, freute sich Natascha in unhöflicher Weise über seine Rückkehr und hatte es eilig mit dem Aufbruch: sie hatte in diesem Augenblick beinahe einen Haß auf die alte, trockene Prinzessin, die ihr eine so unbehagliche Situation bereitet und es fertiggebracht hatte, mit ihr eine halbe Stunde lang zusammenzusein, ohne ein Wort über den Fürsten Andrei zu sagen. »Ich meinerseits konnte doch in Gegenwart dieser Französin nicht anfangen von ihm zu sprechen«, dachte Natascha. Gleichzeitig quälte Prinzessin Marja sich mit ganz demselben Gedanken. Sie hatte gewußt, was sie zu Natascha sagen mußte; aber sie hatte es nicht über sich bringen können, dies zu tun, einerseits weil ihr Mademoiselle Bourienne im Weg war, und dann, weil es ihr, ohne daß sie selbst recht gewußt hätte warum, so überaus peinlich war, von dieser Ehe zu sprechen. Als der Graf bereits aus dem Zimmer heraus war, trat Prinzessin Marja mit schnellen Schritten an Natascha heran, ergriff ihre Hand und sagte mit einem schweren Seufzer:
»Bleiben Sie noch einen Augenblick; ich möchte …«
Natascha blickte mit einem spöttischen Lächeln (sie wußte selbst nicht warum) Prinzessin Marja an.
»Liebe Natalja«, sagte Prinzessin Marja, »ich möchte Ihnen noch sagen, wie sehr ich mich darüber freue, daß mein Bruder in Ihnen sein Glück gefunden hat …«
Sie stockte, da sie fühlte, daß sie die Unwahrheit sprach. Natascha bemerkte dieses Stocken und erriet dessen Ursache.
»Ich glaube, Prinzessin, daß jetzt keine gelegene Zeit ist, um darüber zu sprechen«, erwiderte Natascha, äußerlich gemessen und kühl, aber sie fühlte die nahen Tränen in der Kehle.
»Was habe ich gesagt, was habe ich getan!« dachte sie sowie sie das Zimmer verlassen hatte.
An diesem Tag ließ Natascha beim Mittagessen sehr lange auf sich warten. Sie saß in ihrem Zimmer und weinte wie ein kleines Kind, schluchzend und sich häufig die Nase putzend. Sonja stand neben ihr, beugte sich über sie und küßte sie auf das Haar.
»Natascha, worüber weinst du denn?« sagte sie. »Was gehen dich diese Leute an? Es geht alles vorüber, Natascha.«
»Nein, wenn du wüßtest, wie kränkend es war … als ob ich …«
»Sprich nicht mehr davon, Natascha; du kannst ja nichts dafür; also was kümmert es dich? Gib mir einen Kuß!« tröstete Sonja.
Natascha hob den Kopf in die Höhe, küßte ihre Freundin auf die Lippen und drückte ihr feuchtes Gesicht an deren Körper.
»Ich kann gar nicht sagen, wie es gekommen ist; ich weiß es nicht«, sagte Natascha. »Niemand anders kann dafür; ich bin allein daran schuld. Aber es ist ein furchtbarer Schmerz. Ach, warum kommt er nicht …!«
Mit geröteten Augen kam sie endlich zu Tisch. Marja Dmitrijewna, welche bereits gehört hatte, wie die beiden Rostows vom Fürsten empfangen waren, tat, als bemerke sie Nataschas verstörtes Gesicht nicht, und scherzte in ihrer energischen, lauten Art bei Tisch mit dem Grafen und den andern Gästen.
VIII
Am Abend dieses Tages fuhren Rostows in die Oper, zu welcher Marja Dmitrijewna ihnen Billetts besorgt hatte. Natascha hatte eigentlich gar keine Lust hinzufahren; aber sie durfte Marja Dmitrijewnas Freundlichkeit, die ausschließlich ihr galt, nicht ablehnen. Als sie fertig angekleidet in den Saal kam, um dort auf ihren Vater zu warten, und, sich in dem großen Spiegel betrachtend, sah, daß sie hübsch, sehr hübsch war, da wurde ihr noch trauriger zumute; aber mit der Traurigkeit paarte sich eine süße Liebessehnsucht.
»O Gott, wenn er jetzt hier wäre, dann würde ich ihn nicht so umarmen wie früher, wo ich mich dummerweise, ich weiß nicht wovor, scheute, sondern in einer neuen Art, einfach und natürlich, und ich würde mich an ihn schmiegen und ihn dazu bringen, mich mit jenen suchenden, forschenden Augen anzusehen, mit denen er mich so oft angesehen hat, und dann würde ich ihn dazu bringen, so zu lachen, wie er damals lachte. Und seine Augen! Wie ich sie vor mir sehe, diese Augen!« dachte Natascha. »Und was gehen mich sein Vater und seine Schwester an: ich liebe ihn, nur ihn, ihn, mit diesem Gesicht und diesen Augen, mit seinem zugleich männlichen und kindlichen Lächeln … Nein, ich will lieber nicht an ihn denken, will diese Zeit über nicht an ihn denken, ihn vergessen, ganz vergessen. Sonst ertrage ich diesen Zustand des Wartens nicht, ich fange gleich an loszuschluchzen.« Sie trat vom Spiegel weg, indem sie sich Gewalt antat, nicht in Tränen auszubrechen. »Wie bringt es Sonja nur fertig, Nikolai so ruhig und gleichmäßig zu lieben und so lange und mit solcher Geduld zu warten!« dachte sie, als sie Sonja erblickte, die, gleichfalls in Toilette, mit dem Fächer in der Hand, eintrat. »Nein, sie hat eine ganz andere Natur als ich. Ich kann das nicht!«
Natascha fühlte sich in diesem Augenblick so weich und zärtlich gestimmt, daß es ihr nicht genügte, zu lieben und sich geliebt zu wissen; sie sehnte sich danach, jetzt, jetzt gleich den geliebten Mann zu umarmen und ihm die Liebesworte zu sagen, von denen ihr Herz voll war, und ebensolche Worte von ihm zu hören. Während sie, neben ihrem Vater sitzend, im Wagen dahinrollte und gedankenvoll nach der befrorenen Fensterscheibe hinblickte, hinter der die Lichter der Laternen flimmernd vorbeihuschten, fühlte sie sich noch stärker von Liebessehnsucht und Traurigkeit ergriffen und vergaß ganz, mit wem und wohin sie fuhr. Der Wagen, in welchem Rostows fuhren, schwenkte nun in die lange Reihe von Equipagen ein und rückte, langsam mit den Rädern über den Schnee hinknirschend, bis zum Theater vor. Hurtig sprangen Natascha und Sonja, ihre Kleider zusammenraffend, heraus; auch der Graf stieg, von den Dienern unterstützt, aus, und zwischen den hineingehenden Damen und Herren und den Zettelverkäufern hindurch begaben sie sich alle drei in den Korridor der Parkettlogen. Durch die angelehnten Türen hindurch waren schon die Klänge der Musik zu hören.
»Natascha, dein Haar …«, flüsterte Sonja.
Der Logenschließer glitt höflich und eilig vor den Damen her und öffnete die Tür der Loge. Die Musik wurde deutlicher vernehmbar; im Rahmen der Tür zeigten sich die strahlend hell erleuchteten Reihen der Logen mit den entblößten Schultern und Armen der Damen und das lärmende, von Uniformen glänzende Parkett. Eine Dame, die in die Nachbarloge eintrat, richtete einen frauenhaft neidischen Blick auf Natascha. Der Vorhang war noch nicht aufgezogen; es wurde erst die Ouvertüre gespielt. Natascha schritt, nachdem sie noch ihr Kleid geordnet hatte, mit Sonja durch die Tür, setzte sich und betrachtete die erleuchteten Reihen der gegenüberliegenden Logen. Das Bewußtsein, welches sie seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte, daß Hunderte von Blicken sich auf ihre nackten Arme und auf ihren nackten Hals richteten, dieses Bewußtsein erregte bei ihr jetzt auf einmal eine halb angenehme, halb unangenehme Empfindung und rief einen Schwarm damit in Zusammenhang stehender Erinnerungen, Wünsche und unruhiger Gedanken hervor.
Die beiden auffällig hübschen Mädchen, Natascha und Sonja, nebst dem Grafen Ilja Andrejewitsch, den man in Moskau lange nicht gesehen hatte, zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem hatten alle eine wenn auch unsichere Kenntnis von Nataschas Verlobung mit dem Fürsten Andrei, wußten, daß Rostows seitdem auf dem Land gelebt hatten, und betrachteten nun neugierig die Braut eines der besten Heiratskandidaten in ganz Rußland.
Natascha war, wie ihr alle Bekannten gesagt hatten, auf dem Land noch schöner geworden, und an diesem Abend erschien sie infolge der innerlichen Erregung ganz besonders schön. Sie überraschte durch ihre Lebhaftigkeit und Schönheit, im Verein mit einer großen Gleichgültigkeit gegen ihre ganze Umgebung. Ihre schwarzen Augen blickten auf die Menschenmenge, ohne irgendeinen einzelnen zu suchen, und während der dünne, bis über den Ellbogen entblößte Arm auf der samtenen Brüstung ruhte, schloß und öffnete sich offenbar unbewußt ihre Hand nach dem Takt der Ouvertüre und zerknitterte den Theaterzettel.
»Sieh mal, da ist Fräulein Alenina«, sagte Sonja; »ich glaube, mit ihrer Mutter.«
»Herrje! Michail Kirillowitsch ist noch dicker geworden!« rief der alte Graf erstaunt.
»Seht nur, da ist unsere Anna Michailowna, und mit was für einer Toque!«
»Frau Karagina ist da, mit Julja, und Boris ist auch bei ihnen. Daraus kann man doch gleich sehen, daß die beiden Braut und Bräutigam sind.«
»Drubezkoi hat seinen Antrag gemacht. Es ist sicher, ich habe es heute erfahren«, sagte Schinschin, der in die Rostowsche Loge hereingekommen war.
Natascha schaute nach der Richtung, nach der ihr Vater hinsah, und erblickte Julja, die, eine Perlenschnur um den dicken, roten (wie Natascha wußte: gepuderten) Hals, mit glückstrahlendem Gesicht neben ihrer Mutter dasaß. Hinter ihnen war der glatt frisierte Kopf des schönen Boris sichtbar; Boris lächelte und beugte sich mit dem Ohr zu Juljas Mund hinab. Unter der Stirn hervor blickte er nach Rostows hin und sagte lächelnd etwas zu seiner Braut.
»Sie sprechen von uns, von meiner früheren Beziehung zu ihm!« dachte Natascha. »Boris beschwichtigt gewiß die Eifersucht seiner Braut auf mich; sie machen sich unnütze Sorgen! Wenn sie wüßten, wie gleichgültig sie mir alle sind!«
Dahinter saß, eine grüne Toque auf dem Kopf, mit glücklicher, feierlicher Miene, welche ihre Ergebung in den Willen Gottes zum Ausdruck brachte, Anna Michailowna. In dieser Loge herrschte offenbar jene Stimmung, die durch die Anwesenheit eines Brautpaares hervorgerufen zu werden pflegt, eine Stimmung, die Natascha so gut kannte und so sehr liebte. Sie wandte sich ab, und plötzlich kam ihr all das Demütigende in den Sinn, das der von ihr am Vormittag gemachte Besuch für sie gehabt hatte.
»Was hat er für ein Recht, meiner Aufnahme in seine Familie zu widerstreben? Ach, das beste ist, gar nicht daran zu denken, nicht daran zu denken, ehe er nicht angekommen ist!« sagte sie zu sich selbst und begann nun, die bekannten und unbekannten Gesichter im Parkett zu mustern. Vorn im Parkett, gerade in der Mitte, mit dem Rücken sich gegen die Rampe lehnend, stand Dolochow mit seinem gewaltigen, nach oben hinaufgekämmten Schopf krauser Haare, in persischem Kostüm. Er stand an der sichtbarsten Stelle des ganzen Theaters; aber obwohl er wußte, daß er die Aufmerksamkeit des gesamten Publikums auf sich zog, stand er geradeso ungeniert da, wie wenn er sich in seinem eigenen Zimmer befände. Um ihn standen in dichtem Schwarm die vornehmsten jungen Lebemänner Moskaus, und er nahm unter ihnen augenscheinlich die Stelle des Matadors ein.
Graf Ilja Andrejewitsch stieß lachend die errötende Sonja an, indem er auf ihren ehemaligen Verehrer zeigte.
»Hast du ihn erkannt?« fragte er sie. Dann wandte er sich an Schinschin: »Von wo mag der sich hier wieder eingefunden haben? Er war ja ganz verschwunden, irgendwohin, weit weg.«
»Ganz richtig«, antwortete Schinschin. »Er war im Kaukasus; aber er desertierte dort, wurde, wie es heißt, Minister bei irgendeinem regierenden Fürsten in Persien und ermordete dort den Bruder des Schahs: na, die Moskauer Damen sind wie verrückt nach ihm! Der Perser Dolochow, das ist jetzt der Clou. Das dritte Wort heißt bei uns jetzt immer Dolochow: man betrachtet ihn als Ideal; man lädt, wie auf einem Sterlet, Gäste auf ihn ein. Dolochow und Anatol Kuragin haben bei uns allen Damen geradezu die Köpfe verdreht.«
In die benachbarte Loge trat eine schöne Frau von hohem Wuchs, mit einer außerordentlich starken Haarflechte, die volle, weiße Büste sehr tief dekolletiert; um den Hals trug sie eine doppelte Schnur großer Perlen. Es dauerte lange, bis sie, mit ihrem starren seidenen Kleid raschelnd, zum Sitzen kam.
Natascha betrachtete unwillkürlich diesen Hals, diese Schultern, diese Perlen, diese Frisur und bewunderte die Schönheit der Schultern und der Perlen. Während sie bereits zum zweitenmal die Dame musterte, wandte diese sich um, und als ihre Blicke denen des Grafen Ilja Andrejewitsch begegneten, nickte sie ihm zu und lächelte. Dies war die Gräfin Besuchowa, Pierres Frau. Ilja Andrejewitsch, der alle Leute auf der Welt kannte, bog sich hinüber und knüpfte ein Gespräch mit ihr an.
»Sind Sie schon lange in Moskau, Gräfin?« fragte er. »Ich werde mir erlauben herumzukommen und Ihnen die Hand zu küssen. Ich bin in geschäftlichen Angelegenheiten nach Moskau gekommen und habe meine Mädchen mitgebracht. Die Semjonowa soll ja unvergleichlich spielen«, redete er weiter. »Graf Peter Kirillowitsch hat sich unser immer freundlich erinnert. Ist er hier?«
»Ja, er wollte herkommen«, erwiderte Helene und musterte Natascha mit großer Aufmerksamkeit.
Graf Ilja Andrejewitsch setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Sie ist schön, nicht wahr?« fragte er Natascha flüsternd.
»Ganz wunderschön!« erwiderte Natascha. »In die kann sich einer schon verlieben!«
In diesem Augenblick erklangen die letzten Akkorde der Ouvertüre, und der Stab des Kapellmeisters klopfte auf. Im Parkett begaben sich einige Herren, die sich verspätet hatten, eilig auf ihre Plätze, und der Vorhang ging in die Höhe.
Sowie der Vorhang in die Höhe ging, wurde in den Logen und im Parkett alles still, und alle Herren, alte und junge, in Uniformen und in Fracks, alle Damen mit kostbaren Steinen an den nackten Körperteilen richteten in lebhafter Spannung ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne. Natascha blickte ebenfalls dorthin.
IX
Auf der Bühne war in der Mitte ein ebener Bretterboden; auf beiden Seiten standen bemalte Pappwände, welche Bäume darstellten; hinten war senkrecht auf dem Bretterboden eine Leinwand ausgespannt. In der Mitte der Bühne saßen Mädchen in roten Miedern und weißen Röcken. Ein sehr dickes Mädchen in einem weißseidenen Kleid saß für sich allein auf einem niedrigen Bänkchen, an welches von hinten eine grüne Pappe angeklebt war. Alle sangen irgend etwas. Als sie mit ihrem Gesang fertig waren, trat die im weißen Kleid an den Souffleurkasten, und zu ihr trat ein Mann in seidenen Hosen, die ihm sehr straff auf den dicken Beinen saßen, mit einer Feder auf dem Hut und einem Dolch im Gürtel, und fing an zu singen und mit den Händen zu gestikulieren.
Nachdem der Mann in den straff sitzenden Hosen gesungen hatte, sang sie. Dann schwiegen sie beide, die Musik spielte, und der Mann berührte mit den Fingern die Hand des Mädchens im weißen Kleid; er wartete offenbar wieder auf den Takt, um nun seinen Part mit ihr zusammen zu beginnen. Sie sangen nun zu zweien, und alle im Theater fingen an zu klatschen und zu schreien; der Mann und das Mädchen auf der Bühne aber, welche Verliebte darstellten, lächelten, gestikulierten mit den Armen und verbeugten sich.
Nach dem Aufenthalt auf dem Land und bei der ernsten Stimmung, in der sich Natascha befand, erschien ihr dies alles sonderbar und verwunderlich. Sie war nicht imstande, dem Gang der Handlung zu folgen, ja nicht einmal ordentlich auf die Musik zu hören; sie sah nur bemalte Pappwände und seltsam ausstaffierte Männer und Frauen, die sich in heller Beleuchtung sonderbar bewegten und sonderbar redeten und sangen; sie wußte zwar, was dies alles vorstellen sollte; aber dies alles war so verschnörkelt, gekünstelt und unnatürlich, daß sie sich halb für die Schauspieler schämte, halb über sie lachen mußte. Sie blickte um sich herum nach den Gesichtern der Zuschauer und suchte auf ihnen dasselbe Gefühl des Spottes und der Verwunderung, welches sie erfüllte; aber alle Gesichter waren aufmerksam auf das gerichtet, was auf der Bühne vorging, und drückten ein, wie es ihr vorkam, gemachtes Entzücken aus. »Gewiß muß das alles so sein«, dachte Natascha. Sie betrachtete abwechselnd bald diese langen Reihen pomadisierter Köpfe im Parkett, bald die halbnackten Damen in den Logen, namentlich ihre Nachbarin Helene, die, fast vollständig unbekleidet, mit stillem, ruhigem Lächeln unverwandt nach der Bühne blickte; und zugleich kam ihr die starke Helligkeit, die durch den ganzen Saal ausgegossen war, und die hohe Temperatur der von der Menschenmenge erwärmten Luft zum Bewußtsein. Natascha geriet allmählich in einen der Berauschtheit ähnlichen Zustand hinein, in dem sie sich seit langer Zeit nicht mehr befunden hatte. Sie wußte nicht mehr, wer sie war und wo sie war und was vor ihren Augen geschah. Sie sah und dachte, und die sonderbarsten Gedanken huschten ihr überraschend und ohne jede Verknüpfung durch den Kopf. Bald kam ihr der Einfall, auf die Rampe zu springen und die Arie, welche die Sängerin da sang, selbst zu singen, bald fühlte sie sich gelockt, einen nicht weit von ihr sitzenden alten Herrn mit dem Fächer anzustoßen, bald sich zu Helene hinüberzubiegen und sie zu kitzeln.
In einem Augenblick, als gerade auf der Bühne alles still geworden war, da eine Arie beginnen sollte, knarrte die Eingangstür des Parketts auf der Seite, wo die Rostowsche Loge war, und es wurden die Schritte eines Herrn, der sich verspätet hatte, hörbar. »Da ist er, Kuragin!« flüsterte Schinschin. Die Gräfin Besuchowa wandte sich um und lächelte dem Eintretenden zu. Natascha schaute dahin, wohin die Augen der Gräfin Besuchowa gerichtet waren, und erblickte einen ungewöhnlich schönen Adjutanten, der mit selbstbewußter, aber zugleich weltmännisch höflicher Miene sich der Loge näherte, in der sie mit den Ihrigen saß. Es war Anatol Kuragin, den sie vor langer Zeit einmal auf einem Ball in Petersburg gesehen und bemerkt hatte. Er trug jetzt die Adjutantenuniform mit Epauletten und Achselschnüren. Seine langsame, forsche Art zu gehen hätte etwas Komisches gehabt, wenn er nicht eine so schöne Erscheinung gewesen wäre und wenn nicht auf seinem hübschen Gesicht ein solcher Ausdruck gutmütiger Zufriedenheit und Heiterkeit gelegen hätte. Trotzdem auf der Bühne gespielt wurde, schritt er ohne Eile, leise mit den Sporen und dem Säbel klirrend, den schönen, parfümierten Kopf frei und hoch tragend, über den Teppich des Ganges dahin. Als er Natascha erblickte, trat er zu seiner Schwester heran, legte die in einem Glacéhandschuh steckende Hand auf die Brüstung ihrer Loge, nickte ihr mit dem Kopf zu, beugte sich zu ihr und fragte sie etwas, wobei er nach Natascha hinwies.
»Ganz allerliebst!« sagte er offenbar mit Bezug auf Natascha, was diese nicht sowohl hörte als aus der Bewegung seiner Lippen abnahm. Dann ging er weiter zur ersten Reihe und setzte sich neben Dolochow, indem er diesen, gegen den sich andere so liebedienerisch benahmen, freundschaftlich und lässig mit dem Ellbogen anstieß. Er zwinkerte ihm vergnügt zu, lächelte ihn an und stemmte den Fuß gegen die Rampe.
»Wie ähnlich Bruder und Schwester einander sind!« sagte der Graf. »Und wie schön alle beide!«
Schinschin begann dem Grafen halblaut ein Skandalgeschichtchen von einer Liebesaffäre zu erzählen, die Kuragin in Moskau gehabt hatte. Natascha hörte auf die Erzählung besonders deshalb hin, weil Anatol von ihr »Ganz allerliebst!« gesagt hatte.
Der erste Akt war zu Ende; im Parkett standen alle auf, mischten sich untereinander, gingen und kamen.
Boris kam in die Rostowsche Loge, nahm in sehr ruhiger Art die Glückwünsche entgegen, richtete mit emporgezogenen Brauen und einem zerstreuten Lächeln an Natascha und Sonja die Bitte seiner Braut aus, sie möchten doch zu ihrer Hochzeit kommen, und ging wieder weg. Natascha hatte heiter und kokett gelächelt, während sie mit eben jenem Boris plauderte und ihm zu seiner Verlobung gratulierte, in den sie früher verliebt gewesen war. In dem Zustand des Berauschtseins, in welchem sie sich befand, erschien ihr das alles als etwas ganz Einfaches und Natürliches.
Die halbnackte Helene saß neben ihr und lächelte allen in gleicher Weise zu, und genau in derselben Weise hatte Natascha Boris zugelächelt.
Helenes Loge füllte sich mit Besuchern und wurde auch von der Parkettseite her von den vornehmsten und geistreichsten Männern umringt, welche, wie es schien, miteinander wetteiferten, aller Welt zu zeigen, daß sie mit ihr bekannt seien.
Kuragin stand während dieses ganzen Zwischenaktes mit Dolochow vorn an der Rampe und blickte nach der Rostowschen Loge hin. Natascha wußte, daß er von ihr sprach, und dies machte ihr Vergnügen. Sie drehte sich sogar so, daß er ihr Profil in der, nach ihrer Ansicht, vorteilhaftesten Stellung sehen konnte. Vor dem Beginn des zweiten Aktes erschien im Parkett auch die schwerfällige Gestalt Pierres, den Rostows seit ihrer Ankunft noch nicht zu sehen bekommen hatten. Sein Gesicht trug einen schwermütigen Ausdruck, und er war noch dicker geworden, seit ihn Natascha zum letztenmal gesehen hatte. Ohne jemand zu beachten, ging er bis zu den vordersten Reihen hindurch. Anatol trat zu ihm und begann mit ihm ein Gespräch, wobei er nach der Rostowschen Loge hinblickte und hindeutete. Sowie Pierre Natascha erblickte, wurde sein Wesen lebhafter, und er ging eilig durch die Bankreihen zu ihrer Loge hin. Als er zu den Rostows hingelangt war, lehnte er sich mit dem Ellbogen auf die Brüstung und redete lange lächelnd mit Natascha. Während ihrer Unterhaltung mit Pierre hörte Natascha in der Loge der Gräfin Besuchowa eine Männerstimme und erkannte, ohne zu wissen woran, daß es Kuragin war. Sie sah sich um und begegnete seinem Blick. Er sah ihr mit einem so entzückten, freundlichen, beinahe lächelnden Blick in die Augen, daß es ihr sonderbar erschien, ihm so nah zu sein, ihn so anzusehen, so sicher zu wissen, daß sie ihm gefiel, und doch nicht mit ihm bekannt zu sein.
Im zweiten Akt stellten die Pappwände Grabmäler vor, und es war ein Loch in der Leinwand, das den Mond vorstellte, und das Licht der Lampen an der Rampe war durch hochgeschobene Schirme gedämpft, und die Trompeten und Kontrabässe spielten in tiefen Tönen, und von rechts und von links kamen viele Leute in schwarzen Mänteln. Diese Leute schwenkten die Arme hin und her und hatten eine Art von Dolchen in den Händen; dann kamen noch einige Leute herbeigelaufen und schickten sich an, jenes Mädchen wegzuschleppen, das vorher ein weißes Kleid angehabt hatte und jetzt ein himmelblaues trug. Sie schleppten sie aber nicht sofort weg, sondern sangen lange mit ihr, und dann schleppten sie sie wirklich weg, und hinter den Kulissen wurde dreimal auf etwas Metallisches geschlagen, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Mehrmals wurden alle diese Handlungen von begeisterten Beifallsrufen der Zuschauer unterbrochen.
Jedesmal, wenn Natascha während dieses Aktes ins Parkett blickte, sah sie Anatol Kuragin, wie er den Arm über die Rücklehne seines Sessels gelegt hatte und sie betrachtete. Es war ihr eine angenehme Empfindung, zu sehen, daß sie ihn so fesselte, und es kam ihr gar nicht der Gedanke, daß darin etwas Schlechtes liegen könne.
Als der zweite Akt zu Ende war, stand die Gräfin Besuchowa auf, wendete sich nach der Rostowschen Loge hin (ihre Brust war vollständig entblößt), winkte mit einem behandschuhten Finger den alten Grafen zu sich heran, ohne sich um die Herren zu kümmern, die zu ihr in die Loge gekommen waren, und begann, liebenswürdig lächelnd, eine Unterhaltung mit ihm.
»Machen Sie mich doch mit Ihren reizenden jungen Damen bekannt«, sagte sie. »Die ganze Stadt redet von ihnen, und ich kenne sie nicht.«
Natascha stand auf und machte der schönen Gräfin einen Knicks. Das Lob von seiten dieser glänzenden Schönheit machte ihr so viel Vergnügen, daß sie vor Freude errötete.
»Ich will jetzt ebenfalls eine Moskauerin werden«, fuhr Helene fort. »Machen Sie sich denn gar kein Gewissen daraus, solche Perlen in der Einsamkeit des Landlebens zu verbergen?«
Die Gräfin Besuchowa stand verdientermaßen in dem Ruf, eine bezaubernde Frau zu sein. Sie besaß die Fähigkeit, das, was sie gar nicht dachte, doch in einer vertrauenerweckenden Weise auszusprechen und namentlich in einer ganz schlicht und natürlich aussehenden Art Schmeicheleien zu sagen.
»Ja, lieber Graf, erlauben Sie mir, mich Ihrer jungen Damen anzunehmen. Ich bin freilich jetzt nur auf kurze Zeit hier, ebenso wie Sie; aber ich werde mir Mühe geben, Ihre Damen zu amüsieren.« Und mit ihrem gleichmäßigen, schönen Lächeln sagte sie zu Natascha: »Ich habe schon in Petersburg viel von Ihnen gehört und sehr gewünscht, Sie kennenzulernen. Ich habe von Ihnen sowohl durch meinen Pagen Drubezkoi gehört (Sie wissen wohl schon, daß er sich verlobt hat?), als auch durch einen Freund meines Mannes, Bolkonski, den Fürsten Andrei Bolkonski.« Sie legte auf diesen Namen einen besonderen Nachdruck und deutete damit an, daß sie sein Verhältnis zu Natascha kenne. Sie bat noch, der Graf möge, damit sie besser miteinander bekannt würden, einer der jungen Damen erlauben, während des noch übrigen Teiles der Vorstellung bei ihr in ihrer Loge zu sitzen. So ging denn Natascha zu ihr herum.
Im dritten Akt war auf der Bühne ein Palast dargestellt, in dem viele Kerzen brannten und Bilder hingen, die Ritter mit kleinen Bärten darstellten. In der Mitte standen zwei Personen, wahrscheinlich der König und die Königin. Der König gestikulierte mit dem rechten Arm, sang etwas, aber schlecht, offenbar weil er ängstlich war, und setzte sich dann auf seinen karmesinroten Thron. Das Mädchen, das anfangs ein weißes, dann ein himmelblaues Kleid angehabt hatte, war jetzt im bloßen Hemd, mit aufgelöstem Haar, und stand bei dem Thron. Sie sang, zur Königin gewendet, irgend etwas Kummervolles; aber der König winkte streng mit der Hand, und von rechts und links kamen Männer mit nackten Beinen und Frauen mit nackten Beinen herein und fingen alle zusammen an zu tanzen. Dann spielten die Geigen in sehr hohen Tönen sehr lustig; eines der Mädchen, welches recht dicke nackte Beine und magere Arme hatte, sonderte sich von den andern ab, ging halb hinter die Kulissen, schob ihr Mieder zurecht, trat dann in die Mitte und begann zu springen und schnell mit einem Bein auf das andere zu schlagen.
Alle Leute im Parkett klatschten in die Hände und schrien »Bravo«. Dann stellte sich einer der Männer zunächst in eine Ecke. Im Orchester begannen die Zimbeln und Trompeten sehr laut zu spielen, und nun fing dieser nacktbeinige Mann an allein sehr hoch zu springen und mit den Füßen zu trippeln. (Dieser Mann war Duport, der für diese Kunst jährlich sechzigtausend Rubel erhielt.) Alle Leute im Parkett, in den Logen und auf der Galerie klatschten und schrien aus Leibeskräften, und der Mann blieb stehen, lächelte und verbeugte sich nach allen Seiten. Dann tanzten wieder andere Menschen mit nackten Beinen, Männer und Frauen; dann rief wieder der König etwas mit Musikbegleitung, und alle fingen an zu singen. Aber plötzlich brach ein Sturm los; im Orchester erklangen chromatische Tonleitern und Akkorde in der kleinen Septime, und alle fingen an zu laufen und schleppten wieder einen von den Anwesenden hinter die Kulissen, und der Vorhang wurde heruntergelassen. Wieder erhob sich unter den Zuschauern ein furchtbarer Lärm und Tumult, und alle schrien mit entzückten Gesichtern: »Duport! Duport! Duport!« Natascha fand das jetzt nicht mehr sonderbar. Vergnügt und fröhlich lächelnd blickte sie um sich.
»Ist Duport nicht bewundernswert?« fragte Helene, sich zu ihr wendend.
»O gewiß!« antwortete Natascha.
X
In der Pause drang auf einmal ein kalter Luftzug in Helenes Loge; die Tür öffnete sich, und mit gebücktem Kopf und bemüht, niemand anzustoßen, trat Anatol herein.
»Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Bruder vorzustellen«, sagte Helene; ihre Augen liefen unruhig zwischen Natascha und Anatol hin und her. Natascha wandte über ihre nackte Schulter hinweg ihr hübsches Köpfchen zu dem schönen Mann hin und lächelte. Anatol, der in der Nähe ebenso schön war wie von weitem, setzte sich zu ihr und sagte, er habe schon längst gewünscht, dieses Vergnügen zu haben, schon seit dem Ball in Petersburg, bei dem er die ihm unvergeßliche Freude gehabt habe, sie zu sehen. Kuragin benahm sich im Verkehr mit Frauen weit verständiger und natürlicher als in Männergesellschaft. Er redete einfach und ohne Scheu, und Natascha fühlte sich seltsam und angenehm dadurch überrascht, daß an diesem Mann, von dem so viel Arges erzählt wurde, nichts Furchtbares zu bemerken war, sondern daß er im Gegenteil in durchaus harmloser, heiterer, gutmütiger Weise lächelte.
Kuragin fragte sie, welchen Eindruck die Vorstellung auf sie mache, und erzählte ihr, bei der vorigen Aufführung sei die Semjonowa während des Spieles hingefallen.
»Wissen Sie, Komtesse«, sagte er, indem er auf einmal zu ihr in einem Ton redete, als wäre sie eine gute, alte Bekannte, »es wird jetzt in unserm Kreis ein Karussell in Kostümen arrangiert; daran sollten Sie teilnehmen: es wird sehr lustig dabei zugehen. Wir kommen alle immer bei Karagins zusammen. Bitte, kommen Sie auch hin; Sie werden doch? Nicht wahr?« bat er.
Während er das sagte, wendete er seine lächelnden Augen keinen Augenblick von Nataschas Gesicht, Hals und entblößten Armen ab. Natascha wußte mit voller Sicherheit, daß er von ihr entzückt war. Das war ihr eine angenehme Empfindung; aber trotzdem rief seine Gegenwart bei ihr ein unklares Gefühl der Beklommenheit hervor. Wenn sie ihn auch nicht ansah, so fühlte sie doch, daß er ihre Schultern betrachtete, und unwillkürlich suchte sie seinen Blick aufzufangen, damit er ihr lieber in die Augen sehen möchte. Aber wenn sie ihm dann in die Augen sah, so wurde sie sich mit Schrecken bewußt, daß zwischen ihm und ihr jene Schranke der Schamhaftigkeit gar nicht mehr vorhanden war, die sie immer zwischen sich und andern Männern fühlte. Sie fühlte, daß sie (sie wußte selbst nicht, wie es gekommen war) in fünf Minuten diesem Menschen erschreckend nahegetreten war. Wenn sie sich abwandte, so fürchtete sie, er könne sie von hinten an den nackten Armen fassen oder sie auf den Hals küssen. Sie redeten von den allergewöhnlichsten Dingen, aber sie fühlte, daß sie ihm so nahestand, wie sie nie einem Mann gestanden hatte. Natascha sah sich nach Helene und nach ihrem Vater um, als ob sie diese beiden fragen wollte, was das alles zu bedeuten habe; aber Helene war im Gespräch mit einem General begriffen und antwortete nicht auf ihren Blick, und der Blick des Vaters sagte ihr nichts, als was er immer sagte: »Du bist vergnügt; nun, das freut mich.«
Mitunter traten Augenblicke peinlichen Stillschweigens ein, während deren Anatol mit weitgeöffneten Augen sie ruhig und unverwandt betrachtete; in einem solchen Augenblick fragte ihn Natascha, um das Stillschweigen zu unterbrechen, wie ihm Moskau gefalle. Sowie sie das gefragt hatte, errötete sie. Es schien ihr beständig, als tue sie etwas Unpassendes, wenn sie ihn anrede. Anatol lächelte, wie wenn er sie ermutigen wollte.
»Anfangs gefiel es mir wenig; denn was eine Stadt angenehm macht, das sind ja doch hübsche Frauen, nicht wahr? Nun, aber jetzt gefällt es mir sehr«, antwortete er und sah sie bedeutsam an. »Kommen Sie zu unserem Karussell, Komtesse? Bitte, kommen Sie«, fuhr er fort, und indem er die Hand nach ihrem Bukett ausstreckte und die Stimme senkte, fügte er hinzu: »Sie werden die Schönste sein. Kommen Sie, liebe Komtesse, und als Unterpfand geben Sie mir diese Blume.«
Natascha verstand das, was er sagte, nicht in demselben Sinn wie er; aber sie fühlte, daß hinter seinen ihr unverständlichen Worten eine ungehörige Absicht steckte. Sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte, und wandte sich ab, als ob sie das, was er gesagt hatte, nicht gehört hätte. Aber kaum hatte sie sich abgewandt, so mußte sie wieder denken, daß er da war, hinter ihr, so nahe bei ihr.
»Was macht er jetzt? Ist er verlegen? Aufgebracht? Muß ich mein Benehmen wiedergutmachen?« fragte sie sich selbst. Sie konnte es nicht lange aushalten, so dazusitzen, ohne sich umzuwenden. Sie blickte ihm gerade in die Augen, und seine Nähe und sein ruhiges Selbstgefühl und sein gutmütiges, freundliches Lächeln besiegten sie. Sie lächelte ganz ebenso wie er, während sie ihm gerade in die Augen sah. Und wieder fühlte sie mit Schrecken, daß zwischen ihm und ihr keine Schranke mehr vorhanden war.
Der Vorhang ging wieder in die Höhe. Anatol verließ mit ruhiger, heiterer Miene die Loge. Natascha kehrte zu ihrem Vater in dessen Loge zurück, schon vollständig im Bann der Welt, in der sie sich jetzt befand. Alles, was vor ihren Augen vorging, erschien ihr jetzt bereits als etwas ganz Natürliches; alle früheren Gedanken dagegen, die Gedanken an ihren Bräutigam, an Prinzessin Marja, an das Leben auf dem Land, kamen ihr nicht ein einziges Mal mehr in den Sinn, als ob das alles einer weit, weit zurückliegenden Vergangenheit angehörte.
Im vierten Akt kam ein Teufel vor, welcher so lange sang und die Arme umherschwenkte, bis unter ihm ein Brett weggezogen wurde und er versank. Das war das einzige, was Natascha vom ganzen vierten Akt sah: sie fühlte sich erregt und unruhig, und die Ursache dieser Unruhe war Kuragin, den sie unwillkürlich beobachtete. Als Rostows das Theater verließen, trat Anatol zu ihnen, rief ihren Wagen heran und half ihnen beim Einsteigen. Als er Natascha diesen Dienst leistete, drückte er ihr den Arm oberhalb des Ellbogens. Natascha blickte sich, aufgeregt und errötend, nach ihm um. Er sah sie zärtlich lächelnd mit glänzenden Augen an.
Erst als sie nach Hause gekommen waren, war Natascha imstande, alles das, was ihr begegnet war, klar zu überdenken, und als ihr dabei Fürst Andrei einfiel, bekam sie auf einmal einen furchtbaren Schreck; in Gegenwart aller stöhnte sie am Teetisch, um den sich alle nach dem Theater versammelt hatten, laut auf und lief errötend aus dem Zimmer.
»Mein Gott, ich bin verloren!« sagte sie zu sich selbst. »Wie konnte ich es nur dahin kommen lassen?« Lange saß sie da, das glühende Gesicht mit den Händen bedeckend, und suchte sich Rechenschaft von dem zu geben, was ihr begegnet war, konnte aber weder das, was ihr begegnet war, noch ihre eigenen Empfindungen begreifen. Alles erschien ihr dunkel, undeutlich und furchtbar. Dort in jenem gewaltig großen, hellerleuchteten Saal, wo Duport in einem kurzen mit Flittern besetzten Jäckchen auf den feuchten Brettern nach dem Klang der Musik mit seinen nackten Beinen herumgesprungen war und junge Mädchen und alte Männer und diese halbnackte Helene mit ihrem ruhigen, stolzen Lächeln voll Entzücken Bravo gerufen hatten, dort, in der Atmosphäre dieser Helene, dort war das alles klar und natürlich gewesen; aber jetzt, wo sie mit sich selbst allein war, erschien es ihr unbegreiflich. »Was hat das zu bedeuten? Was bedeutet diese Furcht, die ich vor ihm empfand? Was bedeuten diese Gewissensbisse, die ich jetzt spüre?« fragte sie sich.
Nur der alten Gräfin, ihrer Mutter, hätte Natascha bei Nacht in deren Bett alles mitteilen können, was ihr Herz bewegte. Sonja (das wußte sie), Sonja mit ihrer strengen, reinen Anschauungsweise würde entweder gar nichts davon begreifen oder über ihr Geständnis einen gewaltigen Schreck bekommen. So suchte denn Natascha für sich allein über das, was sie quälte, zur Klarheit zu gelangen.
»Bin ich der Liebe des Fürsten Andrei unwürdig geworden oder nicht?« fragte sie sich und gab sich mit einem Lächeln der Beruhigung die Antwort: »Was bin ich für eine Törin, so zu fragen! Was ist denn mit mir geschehen? Nichts. Ich habe nichts getan, habe diesen Mann in keiner Weise herausgefordert. Niemand wird etwas erfahren, und ich werde ihn nie mehr wiedersehen«, sagte sie zu sich selbst. »Somit ist klar, daß nichts geschehen ist, und daß ich nichts zu bereuen habe, und daß Fürst Andrei mich auch so, wie ich jetzt bin, lieben kann. Aber wie bin ich denn jetzt? In welchem Zustand befinde ich mich? Ach mein Gott, mein Gott, warum ist er nicht hier?« Natascha beruhigte sich für einen Augenblick; aber dann sagte ihr wieder eine Art von instinktivem Gefühl, daß das zwar alles wahr sei und sich nichts begeben habe, daß aber doch die volle frühere Reinheit ihrer Liebe zum Fürsten Andrei dahin sei. Und nun wiederholte sie sich wieder in Gedanken ihr ganzes Gespräch mit Kuragin und vergegenwärtigte sich das Gesicht und die Gebärden und das zärtliche Lächeln dieses schönen, kecken Menschen in dem Augenblick, wo er ihr den Arm drückte.
XI
Anatol Kuragin lebte in Moskau, weil ihn sein Vater aus Petersburg weggeschickt hatte, wo er die ihm gewährten zwanzigtausend Rubel jährlich verausgabt und noch ebensoviel Schulden dazu gemacht hatte, deren Bezahlung die Gläubiger dann vom Vater verlangten.
Der Vater hatte dem Sohn erklärt, er wolle zum letztenmal die Hälfte seiner Schulden bezahlen, aber nur unter der Bedingung, daß er nach Moskau gehe, dort eine Stellung als Adjutant des Oberkommandierenden übernehme, die er ihm durch seine Bemühungen verschafft hatte, und sich ebendort bemühe, endlich eine gute Partie zu machen. Er hatte ihn auf Prinzessin Marja und auf Julja Karagina hingewiesen.
Anatol hatte sich damit einverstanden erklärt, war nach Moskau gereist und hatte sich dort bei Pierre einquartiert. Pierre hatte ihn zwar zuerst nur ungern bei sich aufgenommen, sich aber dann an ihn gewöhnt. Manchmal fuhr er mit Anatol zu dessen Gelagen mit und gab ihm auch, unter dem unzutreffenden Namen eines Darlehens, Geld.
Anatol hatte, wie Schinschin ganz richtig von ihm gesagt hatte, seit er nach Moskau gekommen war, allen Moskauer Damen die Köpfe verdreht, und zwar namentlich dadurch, daß er sie vernachlässigte und ihnen unverhohlen Zigeunerinnen und französische Schauspielerinnen vorzog, mit deren renommiertester, Mademoiselle Georges, er, wie es hieß, nähere Beziehungen unterhielt. Er ließ kein Gelage bei Danilow und anderen lebenslustigen Patronen Moskaus unbesucht, trank ganze Nächte hindurch, trank alle unter den Tisch und war auf allen Soireen und Bällen der vornehmsten Gesellschaftskreise zu finden. Es wurden mehrere pikante Liebesaffären erzählt, die er mit Moskauer verheirateten Damen gehabt hatte, und er machte auch auf den Bällen einigen den Hof; aber mit den jungen Mädchen, und namentlich mit den reichen in heiratsfähigem Alter, die größtenteils häßlich waren, ließ er sich nicht näher ein, um so weniger, da er, was nur seine nächsten Freunde wußten, sich vor zwei Jahren verheiratet hatte.
Vor zwei Jahren, als Anatols Regiment in Polen stand, hatte ihn ein unbemittelter polnischer Gutsbesitzer gezwungen, seine Tochter zu heiraten. Anatol hatte seine Frau sehr bald wieder verlassen; er hatte sich verpflichtet, seinem Schwiegervater zu bestimmten Terminen Geld zu schicken, und sich dafür das Recht ausbedungen, als ledig zu gelten.
Anatol war stets mit seiner Lage, mit sich selbst und mit den anderen Menschen zufrieden. Er war instinktiv in tiefster Seele davon überzeugt, daß es ihm unmöglich sei, anders zu leben, als er wirklich lebte, und daß er nie in seinem Leben etwas Schlechtes getan habe. Er war nicht imstande, zu überlegen, weder welche Wirkungen seine Handlungen auf andere Menschen ausüben könnten, noch was aus der einen oder andern seiner Handlungen hervorgehen könne. Er war überzeugt, daß, wie die Ente für das Leben im Wasser geschaffen sei, so auch er von Gott so geschaffen sei, daß er eine Jahreseinnahme von dreißigtausend Rubeln haben und stets eine glänzende Stellung einnehmen müsse. Daran glaubte er so fest, daß auch andere, wenn sie ihn ansahen, derselben Überzeugung wurden und ihm weder eine glänzende Stellung in der Gesellschaft noch Geld verweigerten, das er, augenscheinlich ohne die Rückzahlung in Aussicht zu nehmen, dem ersten besten, der ihm in den Weg kam, borgte.
Er war kein Spieler; wenigstens kam es ihm nie darauf an zu gewinnen. Er war nicht eitel; mochte man von ihm denken, was man wollte: ihm war das völlig gleichgültig. Noch weniger konnte man ihn des Ehrgeizes beschuldigen; er hatte mehrmals seines Vaters Bemühungen zu dessen großem Verdruß dadurch vereitelt, daß er sich seine Karriere verdarb, und machte sich über alle Ehren und Würden lustig. Er war nicht geizig und schlug nie eine an ihn gerichtete Bitte um Geld ab. Das einzige, was er liebte, war das Vergnügen und die Frauen; und da nach seiner Anschauung in diesen Neigungen nichts Unedles lag und er nicht imstande war, zu erwägen, welche Folgen für andere Menschen die Befriedigung dieser seiner Neigungen hatte, so hielt er sich in seinem Herzen für einen tadellosen Menschen, hegte eine aufrichtige Verachtung gegen Schurken und schlechte Kerle und trug mit ruhigem Gewissen seinen Kopf hoch.
Die vergnügungssüchtigen Lebemänner, diese sozusagen männlichen Magdalenen, haben im stillen, gerade wie die weiblichen Magdalenen, die Vorstellung, daß sie frei von Schuld seien, und diese Vorstellung gründet sich bei beiden auf die Hoffnung, daß ihnen Vergebung werde zuteil werden. »Ihr wird alles vergeben, weil sie viel geliebt hat«, heißt es im Evangelium, und so denkt auch der Lebemann, es werde ihm alles vergeben werden, weil er sich viel vergnügt habe.
Dolochow, der nach seiner Verbannung und seinen persischen Abenteuern im Laufe des letzten Jahres wieder in Moskau erschienen war und ein luxuriöses Leben führte, dessen wesentliche Bestandteile Hasardspiel und Gelage bildeten, war in nähere Beziehung zu seinem alten Petersburger Kameraden Kuragin getreten und bediente sich dieser Bekanntschaft zu seinen Zwecken.
Anatol hatte eine aufrichtige Zuneigung zu Dolochow, weil ihm dessen Klugheit und Bravour imponierten. Dolochow dagegen, welchem Anatols Name, Stand und Verbindungen sehr willkommen waren, um reiche junge Leute in seinen Spielzirkel hineinzulocken, nutzte die Bekanntschaft mit Kuragin aus, ohne es diesen merken zu lassen. Auch diente ihm Kuragin, von dem praktischen Zweck ganz abgesehen, als amüsantes Spielzeug; denn einen fremden Willen bald so bald so zu lenken, diese Tätigkeit war ihm schon an sich ein Genuß, eine Gewohnheit und ein Bedürfnis.
Natascha hatte auf Kuragin einen starken Eindruck gemacht. Als er nach dem Theater mit Dolochow soupierte, setzte er diesem in der kunstgemäßen Manier eines Kenners die Schönheit ihrer Arme, ihrer Schultern, ihrer Füße und ihres Haares auseinander und erklärte, er habe vor, eine regelrechte Attacke auf sie zu machen. Was ein solches Benehmen für Folgen haben konnte, das zu überlegen und zu begreifen war Anatol nicht imstande, wie er sich denn niemals darüber klar war, was aus dieser oder jener seiner Handlungen hervorgehen werde.
»Hübsch ist sie, Bruder; aber sie ist nichts für uns«, bemerkte Dolochow.
»Ich will meiner Schwester sagen, sie möchte sie zum Diner einladen«, sagte Anatol. »Was meinst du?«
»Warte lieber, bis sie verheiratet ist …«
»Du weißt«, erwiderte Anatol, »was man so ›ein junges Blut‹ nennt, ist meine besondere Passion; so eine ist immer gleich ganz hin.«
»Du bist schon einmal mit so einem jungen Blut hereingefallen«, entgegnete Dolochow, der von Anatols Heirat Kenntnis hatte. »Sieh dich vor!«
»Na, zweimal kann es ja doch nicht passieren! Nicht wahr?« sagte Anatol, gutmütig lachend.
XII
Am Tag nach diesem Theaterbesuch fuhren Rostows nirgendwohin, und es kam auch niemand zu ihnen. Marja Dmitrijewna hatte mit dem Grafen Ilja Andrejewitsch eine Unterredung, deren Gegenstand sie vor Natascha zu verheimlichen suchte. Indes erriet diese, daß sie von dem alten Fürsten gesprochen und irgendeinen Plan ersonnen hatten, und dies beunruhigte sie und verletzte ihr Ehrgefühl. Sie erwartete jeden Augenblick den Fürsten Andrei und schickte zweimal im Laufe dieses Tages den Hausknecht nach der Wosdwischenka-Straße, um in Erfahrung zu bringen, ob er nicht vielleicht schon angekommen sei. Er war nicht angekommen. Ihre Stimmung war jetzt bedrückter als in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft. Zu der Ungeduld und dem trüben Sehnen nach ihrem Bräutigam gesellten sich noch die unangenehme Erinnerung an die Begegnung mit der Prinzessin Marja und mit dem alten Fürsten, sowie eine Angst und Unruhe, deren Ursache ihr nicht bekannt war. Sie hatte immer die Empfindung, als ob entweder ihr Bräutigam überhaupt nie wiederkommen oder ihr noch vor seiner Ankunft irgend etwas Schlimmes widerfahren werde. Sie war nicht wie früher imstande, wenn sie für sich allein war, ruhig und lange an ihn zu denken.
Sobald sie ihre Gedanken auf ihn richtete, mischten sich in die Erinnerung an ihn die Erinnerung an den alten Fürsten, an die Prinzessin Marja und an die letzte Opernvorstellung und an Kuragin. Es drängte sich ihr wieder die Frage auf, ob sie sich auch nicht etwas habe zuschulden kommen lassen, ob sie nicht bereits die Treue gegen den Fürsten Andrei verletzt habe, und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie sich bis in die kleinsten Einzelheiten jedes Wort, jede Gestikulation, jede Nuance des Mienenspieles auf dem Gesicht dieses Mannes ins Gedächtnis zurückrief, der in ihrer Seele ein ihr unbegreifliches, furchtbares Gefühl zu erwecken verstanden hatte. Nach der Ansicht ihrer Hausgenossen zeigte sich Natascha jetzt lebhafter als sonst; aber in Wirklichkeit war sie bei weitem nicht so ruhig und glücklich wie früher.
Am Sonntag vormittag forderte Marja Dmitrijewna ihre Gäste auf, mit ihr zur Messe in ihre Pfarrkirche, die Kirche zu Mariä Himmelfahrt auf dem Gottesacker, zu gehen.
»Ich kann diese modernen Kirchen nicht leiden«, sagte sie, offenbar stolz auf ihr selbständiges Urteil. »Gott ist überall ein und derselbe. Wir haben bei uns einen sehr braven Popen, der den Gottesdienst in anständiger Art abhält, so recht würdig; und der Diakonus auch. Verleiht denn das der Sache eine größere Heiligkeit, wenn auf dem Chor ganze Gesangskonzerte veranstaltet werden? Ich kann das nicht leiden; das sind törichte Possen, weiter nichts!«
Marja Dmitrijewna hatte die Sonntage gern und verstand es, sie zu feiern. Sonnabends wurde ihr ganzes Haus gescheuert und gesäubert; am Sonntag arbeitete weder sie selbst noch das Gesinde; alle waren festtäglich gekleidet, und alle wohnten der Messe bei. Dem Mittagessen der Herrschaft wurden einige Gerichte hinzugefügt, und das Gesinde erhielt Branntwein und Gänsebraten oder Ferkelbraten. Aber an nichts im ganzen Haus war der Feiertag so deutlich zu merken wie an Marja Dmitrijewnas breitem, ernstem Gesicht, das an diesem Tag einen unveränderlichen, feierlichen Ausdruck annahm.
Als sie nach der Messe im Salon, wo von den Möbeln die Überzüge abgenommen waren, Kaffee getrunken hatten, erhielt Marja Dmitrijewna von einem Diener die Meldung, daß der Wagen bereit sei. Mit ernster Miene erhob sie sich, legte ihr Gala-Umschlagetuch an, welches sie immer bei Visiten trug, und erklärte, sie fahre zu dem Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, um mit ihm eine Aussprache über Natascha zu haben.
Nachdem Marja Dmitrijewna weggefahren war, stellte sich bei Rostows eine Gehilfin von Madame Chalmé ein, und Natascha, sehr zufrieden über diese Ablenkung ihrer Gedanken, beschäftigte sich in dem Zimmer neben dem Salon mit dem Anprobieren neuer Kleider, nachdem sie die Verbindungstür nach dem Salon zugemacht hatte. Als sie gerade eine vorläufig nur zusammengeheftete, noch ärmellose Taille angezogen hatte und mit zurückgedrehtem Kopf im Spiegel prüfte, wie das Rückenteil saß, da hörte sie im Salon die Stimme ihres Vaters in lebhaftem Gespräch mit einer anderen, weiblichen Stimme, die ihr das Blut ins Gesicht trieb. Dies war Helenes Stimme. Natascha hatte noch nicht Zeit gehabt, die Taille, die sie anprobierte, auszuziehen, als die Tür aufging und die Gräfin Besuchowa ins Zimmer trat, mit einem strahlenden, freundlich-wohlwollenden Lächeln auf dem Gesicht, in einem dunkellila Samtkleid mit hohem Kragen.
»Ah, mein liebes Kind, wie entzückend!« sagte sie zu der errötenden Natascha. »Allerliebst! Nein, das wäre ja unerhört, mein lieber Graf«, wandte sie sich zu dem hinter ihr eintretenden Ilja Andrejewitsch. »Wie kann man in Moskau wohnen und nirgends hingehen? Nein, ich lasse mir von Ihnen keine abschlägige Antwort geben! Heute abend deklamiert bei mir Mademoiselle Georges, und es kommen dazu ein paar Bekannte. Wenn Sie da nicht Ihre schönen jungen Damen zu mir bringen, von denen Mademoiselle Georges in den Schatten gestellt werden wird, dann kündige ich Ihnen die Freundschaft auf. Mein Mann ist nicht da; er ist nach Twer gefahren; sonst hätte ich den hergeschickt, um Sie einzuladen. Sie müssen unbedingt kommen, unbedingt; bitte zwischen acht und neun Uhr.«
Sie nickte der ihr bekannten Modistin zu, die ihr einen respektvollen Knicks machte, und setzte sich auf einen Sessel neben dem Spiegel, wobei sie dem Rock ihres Samtkleides einen malerischen Faltenwurf verlieh. Sie hörte nicht auf, freundlich und heiter zu plaudern, und erging sich fortwährend in Ausdrücken des Entzückens über Nataschas Schönheit. Sie musterte ihre Kleider und lobte sie; auch rühmte sie eines ihrer eigenen Kleider, ein Kleid aus Metallgaze, das sie sich aus Paris hatte kommen lassen, und riet Natascha, sich auch so eines machen zu lassen.
»Indessen, Ihnen steht ja alles gut, meine reizende Kleine«, sagte sie.
Ein Lächeln froher Befriedigung wich während dieses ganzen Gesprächs nicht von Nataschas Gesicht. Sie fühlte sich glücklich und blühte gleichsam auf unter den Lobsprüchen dieser liebenswürdigen Gräfin Besuchowa, die ihr früher als eine so unnahbare, große Dame erschienen war und die ihr jetzt so viel Wohlwollen bezeigte. Natascha war ganz vergnügt geworden und hatte sich beinahe verliebt in diese so schöne, so gutherzige Frau. Helene ihrerseits war wirklich von Natascha entzückt und wünschte ihr ein Vergnügen zu bereiten. Anatol hatte sie gebeten, ihm ein Zusammensein mit Natascha in ihrem Haus zu ermöglichen, und zu diesem Zweck war sie zu Rostows gekommen. Der Gedanke, ihren Bruder mit Natascha zusammenzubringen, amüsierte sie.
Obwohl sie früher gegen Natascha von einem gewissen Groll erfüllt gewesen war, weil diese ihr in Petersburg den netten Boris abspenstig gemacht hatte, dachte sie jetzt daran überhaupt nicht mehr und wünschte in ihrer Weise Natascha von ganzem Herzen Gutes. Als sie von Rostows wieder wegfahren wollte, rief sie ihren Schützling beiseite.
»Gestern war mein Bruder bei uns zum Mittagessen«, sagte sie. »Mein Mann und ich, wir haben uns halb totgelacht: er aß nichts und seufzte immer nach Ihnen, mein reizendes Kind. Er ist närrisch, geradezu närrisch verliebt in Sie, meine Teure.«
Natascha wurde dunkelrot, als sie dies hörte.
»Wie sie rot wird, wie sie rot wird, die allerliebste Kleine!« fuhr Helene fort. »Sie müssen unbedingt kommen. Wenn Sie jemand lieben, Sie entzückendes Wesen, so ist das noch kein Grund, sich wie eine Nonne von der Welt abzuschließen. Und selbst wenn Sie verlobt sind, bin ich überzeugt, daß Ihr Bräutigam es lieber sehen würde, daß Sie in seiner Abwesenheit in Gesellschaft gehen, als daß Sie vor Langeweile umkommen.«
»Also weiß sie«, dachte Natascha, »daß ich verlobt bin; sie und ihr Mann, Pierre, dieser rechtlich denkende Pierre, haben also davon gesprochen und darüber gelacht. Also ist weiter nichts dabei.« Und wieder erschien ihr das, was ihr vorher schrecklich vorgekommen war, unter Helenes Einwirkung als etwas ganz Einfaches und Natürliches. »Und sie, eine so große Dame, ist so liebenswürdig gegen mich und hat mich offenbar ganz in ihr Herz geschlossen«, dachte Natascha. »Und warum sollte ich mir auch nicht ein Amüsement gönnen?« dachte sie weiter und blickte Helene mit bewundernden, weitgeöffneten Augen an.
Zum Mittagessen kehrte Marja Dmitrijewna zurück, ernst und schweigsam: sie hatte augenscheinlich bei dem alten Fürsten eine Niederlage erlitten. Sie war von dem stattgefundenen Streit noch zu erregt, als daß sie imstande gewesen wäre, das Geschehene ruhig zu berichten. Auf die Frage des Grafen antwortete sie, es stehe alles gut und sie werde morgen das Nähere mitteilen. Als sie hörte, daß die Gräfin Besuchowa dagewesen sei und Rostows zum Abend eingeladen habe, bemerkte sie:
»Mit der Besuchowa verkehre ich nicht gern und rate auch euch nicht dazu; na aber«, fügte sie, zu Natascha gewendet, hinzu, »wenn du es einmal versprochen hast, dann fahre nur hin; es wird für dich eine Zerstreuung sein.«
XIII
Graf Ilja Andrejewitsch fuhr mit seinen beiden jungen Damen zu der Gräfin Besuchowa. Es waren ziemlich viel Gäste bei der Abendgesellschaft; aber Natascha kannte fast niemand von ihnen. Graf Ilja Andrejewitsch bemerkte mit großem Mißvergnügen, daß diese Gesellschaft vorzugsweise aus solchen Herren und Damen bestand, die durch ihre freien Umgangsformen bekannt waren. Mademoiselle Georges stand, von jungen Männern umringt, in einer Ecke des Salons. Auch einige Franzosen waren da, und unter ihnen Métivier, der seit Helenes Ankunft bei ihr als Hausfreund verkehrte. Graf Ilja Andrejewitsch nahm sich vor, sich nicht an den Kartentisch zu setzen, nicht von seinen Mädchen zu weichen und, sowie Mademoiselle Georges ihren Vortrag beendet haben würde, wieder wegzufahren.
Anatol hatte auf die Ankunft der Rostows augenscheinlich an der Tür gewartet. Sowie er den Grafen begrüßt hatte, trat er sogleich zu Natascha und ging dann hinter ihr her. Bei seinem Anblick hatte sich Nataschas wieder jenes selbe Gefühl bemächtigt wie im Theater, ein Gefühl eitler Freude darüber, daß sie ihm gefiel, und ängstlicher Beklemmung wegen des Fehlens der moralischen Schranken zwischen ihr und ihm.
Helene empfing Natascha sehr herzlich und sprach laut ihr Entzücken über deren Schönheit und Toilette aus. Bald nach der Ankunft der Rostows verließ Mademoiselle Georges das Zimmer, um sich umzukleiden. Im Salon wurden die Stühle in halbkreisförmige Reihen gestellt, und man setzte sich. Anatol rückte für Natascha einen Stuhl zurecht und wollte sich neben sie setzen; aber der Graf, der kein Auge von Natascha verwandte, kam ihm zuvor und nahm den Platz neben ihr selbst ein. Anatol setzte sich hinter sie.
Mademoiselle Georges erschien wieder: ihre dicken Arme mit den Grübchen darin waren nackt; über die eine Schulter hatte sie einen roten Schal geworfen. Sie trat in den für sie freigelassenen Raum zwischen den Sesseln und blieb dort in einer unnatürlichen Haltung stehen. Ein Flüstern des Entzückens ging durch die Reihen der Anwesenden.
Mademoiselle Georges ließ einen strengen, düsteren Blick über ihr Publikum gleiten und begann französische Verse zu sprechen, in denen von ihrer verbrecherischen Liebe zu ihrem Sohn die Rede war. An einzelnen Stellen erhob sie die Stimme; an anderen flüsterte sie, indem sie den Kopf feierlich in die Höhe hob; wieder an anderen hielt sie inne, röchelte und preßte die Augen heraus.
»Staunenswert, himmlisch, entzückend!« erscholl es von allen Seiten.
Natascha blickte nach der dicken Georges hin; aber sie hörte nichts, sah nichts und verstand nichts von dem, was vor ihr vorging; sie fühlte sich nur wieder von neuem unwiederbringlich in jene seltsame, sinnlose Welt hineinversetzt, die so weit von der Welt entfernt war, in der sie früher gelebt hatte, in jene Welt, in der man nicht wissen konnte, was gut und was böse war, was vernünftig und was unvernünftig. Hinter ihr saß Anatol; sie empfand seine Nähe und erwartete ängstlich irgend etwas.
Nach dem ersten Monolog stand die ganze Gesellschaft auf, umringte Mademoiselle Georges und sprach ihr in begeisterten Ausdrücken ihr Entzücken aus.
»Wie schön sie ist!« sagte Natascha zu ihrem Vater, der mit den anderen zugleich aufgestanden war und durch den Schwarm hindurch zu der Schauspielerin hinstrebte.
»Das finde ich nicht, wenn ich Sie ansehe«, sagte Anatol, der hinter Natascha herging. Er sagte dies in einem Augenblick, wo nur sie ihn hören konnte. »Sie sind reizend … Von dem Augenblick an, wo ich Sie erblickte, habe ich unaufhörlich …«
»Komm her, komm her, Natascha!« rief der Graf, der zurückkehrte, um weiter auf seine Tochter zu achten. »Ja, sie ist sehr schön.«
Natascha trat, ohne ein Wort zu sagen, zu ihrem Vater hin und sah ihn mit erstaunt fragenden Augen an.
Nachdem Mademoiselle Georges mehrere Stücke deklamiert hatte, fuhr sie wieder weg, und die Gräfin Besuchowa lud die Gesellschaft ein, in den Saal zu gehen.
Der Graf wollte aufbrechen; aber Helene bat ihn inständig, ihr nicht den improvisierten Ball zu verderben. Rostows blieben. Anatol forderte Natascha zum Walzer auf und sagte ihr während des Walzers, indem er ihre Taille und ihre Hand drückte, sie sei bezaubernd schön und er liebe sie. Bei der Ekossaise, die sie wieder mit ihm tanzte, sagte er, während sie miteinander allein waren, nichts zu ihr, sondern sah sie nur an. Natascha war im Zweifel, ob sie das, was er ihr beim Walzer gesagt hatte, nicht etwa nur geträumt habe. Am Schluß der ersten Tour drückte er ihr wieder die Hand. Natascha hob ihre ängstlichen Augen zu ihm auf; aber in seinem freundlich lächelnden Blick lag ein Ausdruck solcher Zuversichtlichkeit und Zärtlichkeit, daß sie nicht imstande war, das, was sie ihm zu sagen beabsichtigte, auszusprechen, während sie ihn ansah. Sie schlug die Augen nieder.
»Sagen Sie so etwas nicht zu mir; ich bin verlobt und liebe einen andern«, stieß sie schnell heraus. Dann sah sie ihn wieder an.
Anatol war durch das, was sie zu ihm gesagt hatte, weder in Verwirrung gesetzt noch zeigte er sich gekränkt.
»Reden Sie mir nicht davon. Was geht es mich an?« erwiderte er. »Ich sage weiter nichts, als daß ich wahnsinnig, ganz wahnsinnig in Sie verliebt bin. Was kann ich dafür, daß Sie so bezaubernd schön sind? Aber wir müssen die zweite Tour anfangen.«
Erregt und unruhig blickte Natascha mit weitgeöffneten, ängstlichen Augen um sich und machte den Eindruck, als ob sie heiterer als sonst sei. Fast nichts von dem, was an diesem Abend geschah, kam ihr zum rechten Bewußtsein. Es wurde Ekossaise und Großvater getanzt; ihr Vater redete ihr zu, aufzubrechen; sie bat ihn, noch zu bleiben. Wo auch immer sie war, mit wem auch immer sie sprach, sie fühlte Anatols Blick auf sich gerichtet. Sie erinnerte sich später, daß sie ihren Vater um Erlaubnis gebeten hatte, in das Garderobenzimmer zu gehen, um etwas an ihrem Kleid in Ordnung zu bringen; daß Helene ihr dorthin gefolgt war und lachend zu ihr von der Liebe ihres Bruders gesprochen hatte, und daß sie in dem kleinen Sofazimmer wieder mit Anatol zusammengetroffen war; daß Helene sich unbemerkt entfernt hatte und sie beide miteinander allein geblieben waren und Anatol ihre Hand ergriffen und in zärtlichem Ton gesagt hatte:
»Ich kann nicht zu Ihnen in Ihre Wohnung kommen; aber soll ich Sie denn wirklich niemals mehr wiedersehen? Ich liebe Sie bis zum Wahnsinn. Wirklich niemals?« Er vertrat ihr den Weg und näherte sein Gesicht dem ihrigen.
Seine großen, glänzenden Männeraugen waren den ihrigen so nahe, daß sie nichts sah als diese Augen.
»Natalja?!« flüsterte seine Stimme in fragendem Ton, und Natascha fühlte, daß er ihr schmerzhaft die Hand drückte. »Natalja?!«
»Ich verstehe Sie nicht; ich habe Ihnen nichts zu sagen«, antwortete ihr Blick.
Heiße Lippen drückten sich auf ihre Lippen; im selben Augenblick fühlte sie sich wieder frei und hörte an dem Geräusch von Schritten und dem Rascheln eines Kleides, daß Helene wieder ins Zimmer trat.
Natascha blickte sich nach ihr um; dann richtete sie, errötend und zitternd, einen erschrockenen, fragenden Blick auf Anatol und ging zur Tür.
»Nur noch ein Wort, hören Sie, nur noch ein einziges Wort, um Gottes willen!« bat Anatol.
Sie blieb stehen. Sie wünschte sehnlich, daß er ihr dieses Wort sagen möchte, das ihr zum Verständnis des Vorgefallenen verhülfe und worauf sie ihm dann antworten könnte.
»Natalja, nur noch ein Wort, ein einziges Wort!« sagte er noch einmal; er wußte offenbar nicht, was er sagen sollte, und wiederholte diese Worte so lange, bis Helene zu ihnen herantrat.
Helene kehrte mit Natascha zusammen wieder in den Salon zurück. Rostows blieben nicht zum Souper da, sondern empfahlen sich vorher.
Natascha konnte, als sie nach Hause gekommen war, die ganze Nacht nicht schlafen; es quälte sie die ungelöste Frage, wen sie nun eigentlich liebe, den Fürsten Andrei oder Anatol. Den Fürsten Andrei liebte sie; sie erinnerte sich klar, wie stark ihre Liebe zu ihm gewesen war. Aber auch diesen Anatol liebte sie; das stand außer Zweifel. »Hätte dies alles denn sonst geschehen können?« dachte sie. »Wenn ich nach dem Vorgefallenen, beim Abschied von ihm, sein Lächeln mit einem Lächeln erwidern konnte, wenn ich es bis dahin kommen lassen konnte, so folgt daraus, daß ich ihm vom ersten Augenblick an liebgewonnen habe, und daß er ein guter, schöner, edler Mensch ist, und daß es gar nicht anders möglich war, als daß ich ihn liebgewann. Was soll ich aber nun anfangen, wenn ich ihn liebe und zugleich auch den andern liebe?« fragte sie sich, ohne auf diese furchtbare Frage eine Antwort zu finden.
XIV
Der Morgen kam heran und brachte das gewöhnliche geschäftige Treiben. Alle standen auf, bewegten sich durcheinander und redeten miteinander; wieder kamen Modistinnen, und wie immer erschien Marja Dmitrijewna und rief zum Tee. Natascha sah mit weitgeöffneten Augen, wie wenn sie jeden auf sie gerichteten Blick auffangen wollte, unruhig einen nach dem andern an und gab sich Mühe, so zu scheinen, wie sie immer gewesen war.
Nach dem Frühstück (dies war ihr die angenehmste Zeit) setzte sich Marja Dmitrijewna in ihren Lehnstuhl und ließ Natascha und den alten Grafen zu sich rufen.
»Na also, meine Freunde«, begann sie, »jetzt habe ich die ganze Sache überdacht, und nun sollt ihr meinen Rat haben. Wie ihr wißt, war ich gestern bei dem Fürsten Nikolai; na ja, ich habe mit ihm geredet … Er ließ sich beikommen, mich anzuschreien. Aber überschreien lasse ich mich nicht! Ich habe ihm gehörig meine Meinung gesagt!«
»Und wie hat er sich dazu gestellt?« fragte der Graf.
»Wie er sich dazu gestellt hat? Er ist ein Querkopf, will auf nichts hören; na, aber wozu sollen wir weiter darüber reden; wir haben das arme Mädchen so schon genug gequält«, sagte Marja Dmitrijewna. »Mein Rat ist nun aber der: erledigt hier eure Geschäfte und fahrt nach Hause, nach Otradnoje, und wartet dort das weitere ab …«
»Ach nein!« rief Natascha.
»Doch, doch! Fahrt nach Hause und wartet dort das weitere ab«, sagte Marja Dmitrijewna noch einmal. »Wenn der Bräutigam jetzt während eurer Anwesenheit hier eintrifft, so ist ein arger Zank unvermeidlich; wenn er aber mit dem Alten hier allein ist, so kann er alles mit ihm besprechen und dann zu euch kommen.«
Ilja Andrejewitsch stimmte diesem Vorschlag bei, da er ihn sofort als einen durchaus verständigen erkannte. Wenn der alte Fürst sich milder stimmen ließ, so konnten sie später mit besserer Aussicht auf Erfolg entweder wieder nach Moskau oder auch nach Lysyje-Gory zu ihm fahren; wenn nicht, so konnte eine wider seinen Willen stattfindende Trauung nur in Otradnoje vollzogen werden.
»Das ist durchaus richtig«, sagte er. »Es tut mir nur leid, daß ich ihn überhaupt hier aufgesucht und ihm meine Tochter zugeführt habe.«
»Nicht doch! Das brauchst du dir nicht leid sein zu lassen. Da ihr einmal hier wart, mußtet ihr ihm notwendig eure Aufwartung machen. Aber wenn er nun nicht will, so ist das seine Sache«, erwiderte Marja Dmitrijewna, während sie etwas in ihrem Ridikül suchte. »Die Aussteuer ist ja auch in der Hauptsache fertig; worauf wollt ihr noch warten? Und was noch nicht fertig ist, das schicke ich euch hin. Es tut mir zwar leid, euch nicht länger bei mir zu haben; aber es ist das beste; also reist mit Gott.«
Als sie in ihrem Ridikül gefunden hatte, was sie suchte, reichte sie es Natascha hin; es war ein Brief von Prinzessin Marja.
»Sie schreibt an dich. Wie sie sich mit ihren Gedanken quält, die Ärmste! Sie fürchtet, du könntest denken, daß sie dich nicht lieb hätte.«
»Sie hat mich auch nicht lieb«, entgegnete Natascha.
»Unsinn! Rede nicht so etwas!« rief Marja Dmitrijewna.
»Das soll mir niemand einreden; ich weiß, daß sie mich nicht lieb hat«, erwiderte Natascha dreist, indem sie den Brief hinnahm, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck einer kalten, ingrimmigen Entschlossenheit an, wodurch sich Marja Dmitrijewna veranlaßt sah, sie schärfer anzublicken und die Stirn zu runzeln.
»So darfst du nicht antworten, mein Kind«, sagte sie. »Was ich sage, ist die Wahrheit. Du mußt ihr auf ihren Brief eine Erwiderung schreiben.«
Natascha antwortete nicht und ging auf ihr Zimmer, um den Brief der Prinzessin Marja zu lesen.
Prinzessin Marja schrieb, sie sei in Verzweiflung über das zwischen ihnen vorgefallene Mißverständnis. Welches auch die Gefühle ihres Vaters sein möchten, schrieb Prinzessin Marja, so bäte sie doch Natascha zu glauben, daß ihr Herz sie antreibe, sie als die Auserwählte ihres Bruders zu lieben, für dessen Glück sie jedes Opfer zu bringen bereit sei.
»Glauben Sie übrigens nicht«, schrieb sie, »daß mein Vater Ihnen abgeneigt wäre. Er ist ein kranker, alter Mann, mit dem man Nachsicht haben muß; aber er ist gut und großherzig und wird diejenige, die seinen Sohn glücklich macht, lieben.« Ferner bat Prinzessin Marja, Natascha möchte eine Zeit bestimmen, wo sie einander wiedersehen könnten.
Nachdem Natascha den Brief durchgelesen hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch, um eine Antwort zu schreiben. Schnell und mechanisch schrieb sie die Überschrift »Teure Prinzessin!« hin; aber dann hielt sie inne. Was konnte sie nach dem, was gestern geschehen war, noch weiterschreiben? »Ja, ja, das ist alles einmal gewesen, und jetzt ist alles anders«, dachte sie, während sie über den angefangenen Brief gebeugt dasaß. »Ich muß ihm eine Absage schreiben. Muß ich das wirklich? Es ist furchtbar …!« Und um von diesen entsetzlichen Gedanken loszukommen, ging sie zu Sonja und suchte mit ihr Stoffmuster aus.